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Die mythologische Gestalt des Kairos (griech. Καιρός) steht für den rechten Augenblick, den es zu erkennen gilt. René Kanzler greift dieses Motiv in Form von dithyrambischer Lyrik neu auf: Aus dem wagemutigen Kampf eines Menschen mit sich und mit seiner Umwelt ergibt sich die Erkenntnis der scheinbar alternativlosen Monotonie des Alltagslebens. Doch durch was zeichnet sie sich aus? Was sind die alltäglich lähmenden Kreisgleichschrittgänge? Und noch wichtiger: Welche Alternativen gibt es? Heute ist es mehr denn je an der Zeit, den Kreis zu verlassen, diese Wiederkehr des ewig Gleichen zu durchbrechen. In seinen »Reden« wird uns der Protagonist schließlich konkrete Vorschläge vermitteln, wie dieser gewaltige Schritt möglich wird. So erfährt was 1883 von Friedrich Nietzsche ins Leben gerufen wurde im ›Kairos‹ eine Wiedergeburt. Doch vieles wird hier weiter zurückgedacht, neugedacht, umgedacht: »Lächerlich ist das Ziel des Übermenschen; wir müssen alles daran setzen, erst einmal wieder Menschen zu werden!«
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Seitenzahl: 60
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»Denken wir uns ein Theater, der Vorhang ginge auf und wir sähen einen Menschen allein in seinem Zimmer auf und ab gehen, sich eine Zigarette anzünden, sich niedersetzen, u.s.f., so, daß wir plötzlich von außen einen Menschen sähen, wie man sich sonst nie sehen kann; wenn wir quasi ein Kapitel einer Biographie mit eigenen Augen sähen, – das müßte unheimlich und wunderbar zugleich sein. Wunderbarer als irgend etwas, was ein Dichter auf der Bühne spielen oder sprechen lassen könnte, wir würden das Leben selbst sehen. – Aber das sehen wir ja alle Tage, und es macht uns nicht den mindesten Eindruck! Ja, aber wir sehen es nicht in der Perspektive.«
»Manchmal kann ein Satz nur verstanden werden, wenn man ihn im richtigen Tempo liest.«
Ludwig Wittgenstein,›Vermischte Bemerkungen‹
Liebe Leserin, lieber Leser,
dieses Buch ist durch die Lektüre Nietzsches beeinflusst. Das will ich bemerken, da das Buch ein ehrliches ist. Nun solltest du, der die Verse lesen wird, nicht daraus schließen, dass alles eine Wiederholung von bereits Gesagtem sei. Hier und da wirst du Bezüge zum Philosophen feststellen. Allzu oft aber bemühte ich mich, meinen Protagonisten weiterdenken oder auch einen gedanklichen Schritt zurück oder entgegen des Altphilologen wagen zu lassen.
Und was hat es mit den Wittgenstein-Zitaten auf sich? Sie unterstützen dieses Vorwort. Ich möchte dir zu verstehen geben, dass das Buch keines ist, durch welches man einmal durchblättern kann. Es ist keine bloße Sammlung von Gedichten, die keine Bezüge untereinander hätten. Vielmehr hat es einen erwählten, mehr oder minder strengen Aufbau. Hast du es einmal komplett gelesen, steht es dir natürlich frei, den einen oder anderen Text losgelöst von allen anderen zu betrachten. Das ist hochtrabend gesagt und wirkt fast wie eine Phrasendrescherei irgendeines Autors des Alltags. Insofern ich aber richtig gearbeitet habe, habe ich Grund zum Ernst in dieser Aussage. Das heißt: Ich werbe nicht für irgendeine vermeintliche Tiefsinnigkeit irgendwelcher Gedanken, sondern möchte dir, liebe Leserin, lieber Leser, wenigstens hier meine Hand reichen, sodass du in diesem Buche nicht irrend umherreist, sondern durchaus zu einem Ziel, zu deinem Ziel gelangst.
Viel mehr bleibt mir nicht zu sagen, außer vielleicht: Lass die Reise beginnen!
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Gleichschritt ist dein Schicksalslos.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Gleichheit macht uns alle groß.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Einzelheit ist falsch und schlecht.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Einerlei ist gut und recht.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Schau’nicht vor und nicht zurück.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Komm’mit uns zum wahren Glück.
Im Gleichschritttakt
lief er zu oft.
Sein Leben macht
ihn lebensmüde.
Der Schlaf will kommen.
Ja, irgendwann
und irgendwo
in einer Stadt
der Vielzuvielen,
da hält er inne.
Er schaut sich um
und gähnt bereits.
Die Arme zittern.
Es beißt die Kälte.
Sein Ende naht.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Muss verlassen, was mich quält.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Gibt es etwas, das noch zählt?
Gefangen hält sie mich
und raubt mir täglich alles Leben.
Bald muss sie sicherlich
nur einen Stoß noch geben.
Und alles, was ich tu’,
ist schmerzlich zu erblicken,
wie alle doch im Nu
mit mir geduldig still ersticken.
Ich hasse ihre Luft,
verachte ihre Gleichtaktschritte
und diesen Leichenduft.
Er stinkt nach Gleichtaktsitte!
An diesem schwarzen Ort
will ich und kann ich nicht verweilen.
Drum fort! Ja, endlich fort!
Sonst wird mich rasch der Tod ereilen.
Bedächtig schleiche ich
durch lichterleere Nächtegassen,
denn dort hört niemand mich,
den kerkergleichen Ort verlassen.
Horch! Es ist nicht mehr weit.
Muss nur die letzten Schritte wagen
mit steter Sicherheit,
doch just erklingt ein forsches Fragen:
»Wieso willst du der Stadt
mit heimlich-stillem Schritt entweichen?«
»Ich habe sie entschieden satt!
Das sollte dir als Antwort reichen.«
»So geh’nur weg von hier,
ich hind’re dich nicht an der Reise«,
spricht jemand knapp zu mir.
Er geht alsdann und singt ganz leise:
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Gehe fort im Nächtelicht.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Flüchten aber kannst du nicht.
Der Himmel färbt sich blau,
das Sternennächteschwarz verschwindet.
Sanft weicht der letzte Tau,
der sich auf allen Gräsern findet.
Ein alter Traum wird wahr,
als erste Morgensonnenstrahlen,
so herrlich rein und klar,
die noch verschlaf’ne Welt bemalen.
Ich habe es geschafft
und laufe über weite Felder.
Welch unbekannte Kraft
verführt mich Richtung ferne Wälder?
Mein einst so träger Gang
wird leicht, so leicht, als könnt’ich schweben,
und fühle diesen Drang,
den Willen, wie ein Mensch zu leben.
Mir eilt auf einem Pfad
ein alter Wanderer entgegen.
»Des jungen Frühlings Saat
keimt auf den Wiesen und den Wegen.
Doch halte ein!«, faucht er,
»Die grünen Frühlingskeime lügen!
Sie können nimmermehr
als stets dich listig zu betrügen!
Drum sieh auf all den Tand,
den Gleichschrittgängerhände brachten,
zu was sie dieses Land,
den Wald und alle Wiesen machten!
Beschau’das Totenreich!«
Der Wanderer beginnt zu singen.
Ich werde völlig bleich,
als seine Klänge mich durchdringen.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Das ist unser aller Fluch.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Stadt, oh, spann’dein Leichentuch.
Erneut bin ich allein’,
allein’im stillen Wald der Lügen.
Soll das schon alles sein?
Das kann und soll mir nicht genügen!
Ist das denn, was ich will,
ein blaues Blümchen, bloß Gedanke?
Nein! Dreimal nein, sei still!
Es ist zu spät, oh weh, ich schwanke.
Die Stadt, sie greift nach mir,
sie will mich elend sterben sehen!
Nur zu! Doch jetzt und hier
ist es um mich noch nicht geschehen!
Sie hält mich nicht im Zaum,
denn jetzt kann es nur eines geben:
den altbetagten Traum
vom wahren Menschsein auszuleben.
Ich hetze durch den Wald,
vorbei an letzten Tagesschatten,
doch finde keinen Halt,
obwohl die Beine längst ermatten,
und schreie bitterlich,
als Schmerzen mich entsetzlich quälen,
verscheuch’und jage mich –
Ich kann nichts anderes erwählen!
Und plötzlich zeigt sich mir
ein Klippenrand. Ich bleibe stehen.
Und seufze, denn auch hier
kann ich erneut nur Lügen sehen.
So atme ich tief ein,
schließ’meine Augen, lass mich fallen
und kann ein Mensch nun sein,
als wohlbekannte Töne schallen.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Alles harrt, wovor du fliehst.
Gleichschritt, Gleichschritt überall,
Gleichschritt, Gleichschritt, gleicher Schall.
Wahrheit bleibt, die du nicht siehst!