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Vor sechzehn Jahren hat sich Will Sterling in das Mädchen seiner Träume verliebt, ohne dass er sie je gesehen hat. Der Klang ihres Lachens hat ihn mitten ins Herz getroffen, als er unter ihrem Balkon stand. Bis heute ist die Erinnerung an sie nie verblasst, dabei weiß er nicht mal, wie sie damals ausgesehen hat. Die unerwartete Erbschaft eines Mietshauses führt ihn an den Ort zurück, an dem alles begann - aber an Liebe denkt Will dabei auf keinen Fall. So schnell wie möglich möchte er das Haus loswerden, doch er trifft auf Nora Clarke, die entschlossen ist, ihn von seinen Plänen für das Gebäude abzubringen - und deren Stimme ihm sehr vertraut ist … »Die entzückendsten Charaktere, die ich seit Ewigkeiten in einem Roman getroffen habe … ein wahres Meisterwerk moderner Frauenunterhaltung.« New-York-Times-Bestsellerautorin Christina Lauren »Clayborns Erzählstil ist bemerkenswert.« Frederick News Post
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Seitenzahl: 461
Zum Buch
Nur ein einziges Mal hatte Will als Teenager seinen Onkel in Chicago besucht, und es war keine schöne Begegnung gewesen. Doch damals verliebte er sich in die Stimme eines Mädchens hoch über ihm auf einem Balkon, ohne das dazugehörige Gesicht erkennen zu können. Nun ist sein Onkel gestorben und hat Will die Wohnung in dem Haus vermacht, mit der Auflage, sie ein Jahr lang nicht zu verkaufen. Weil er dort nicht wohnen will, plant er, sie möbliert auf Zeit zu vermieten, was auf massiven Widerwillen bei den anderen Wohnungsbesitzern stößt – allen voran jener Frau, deren Stimme ihn einst so fasziniert hatte. Längst glaubt er nicht mehr an die große Liebe, weshalb er sich gegen seine Gefühle für Nora sträubt. Zunächst fliegen also die Fetzen, doch kann Nora es schaffen, Will zu beweisen, dass wahre Liebe eine Chance wert ist?
Zur Autorin
Kate Clayborn lebt in Virginia. Zu Hause schreibt sie, denkt über neue Romane nach oder macht lange Spaziergänge, auf denen ihr Ehemann oder ihr süßer Hund sich ihre Geschichten übers Schreiben anhören.
Lieferbare Titel
So schreibt man Liebe
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem TitelLove at first bei Kensington Books, NY.
© 2021 by Kate Clayborn Deutsche Erstausgabe © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP., NEW YORK, NY 10018 USA Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover. Covergestaltung von Nele Schütz Design, München Coverabbildung von Shutterstock / Innakote, Vektortwins E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749951253www.harpercollins.de
Für Noni
Du wurdest so geliebt.
Du fehlst so sehr.
Du (und dein Romeo) lebst in unserer Erinnerung weiter.
Als er Nora Clarke zum ersten Mal sah, konnte Will Sterling kaum irgendetwas erkennen.
Aus dem kühlen Schatten des großen Ahorns, an dessen Stamm er an jenem sonnigen Sommertag lehnte, wirkte die übrige Welt verschwommen. Das Laub über ihm war grün, aber konturenlos, die Gartenmöbel links von ihm bloß ein dumpfes Schwarz, und das Gebäude vor ihm hoch und sandfarben. Die Hintertüren der Wohnungen waren kaum mehr als dunkle, vage Rechtecke hinter den hölzernen Balkonbrüstungen. Will musste blinzeln, damit sie nicht zu Wellenlinien zerflossen.
Er hatte sich an das Verschwommene gewöhnt. Oder vielleicht hatte er es gar nicht gemusst, denn er erinnerte sich nicht mehr daran, wann er die Augen nicht hatte verengen müssen, um seinen Blick zu fokussieren. Allerdings war ihm bewusst, dass es schlimmer geworden war. Es reichte nicht mehr, in den meisten seiner Kurse in der zweiten Reihe zu sitzen. Schon im letzten Jahr war er manchmal wegen hämmernder Kopfschmerzen nach der dritten Stunde gegangen – Literatur, sein einziger Kurs mit Caitlin, die gern ganz hinten saß. Beim Baseball war das mattweiße Leder zum Wichtigsten geworden. Am besten konnte er es vor einem klaren blauen Himmel erkennen, während es an bewölkten Tagen sehr wahrscheinlich war, dass der Coach ihn zusammenfaltete.
Und sofern er nicht ganz dicht vor ihr stand, konnte er nicht immer sagen, ob seine Mutter lächelte oder nicht.
Aber eine Brille? Will Sterling mit Brille? Draußen auf dem Spielfeld mit solch einer riesigen Sportbrille wie Brandon Tenney herumlaufen?
Das kam nicht infrage. Also hatte er sich das ganze letzte Jahr vor der Augenuntersuchung bei der Schulschwester gedrückt und bei den Mitschülern direkt neben ihm abgeschrieben anstatt von der Tafel oder dem Projektorbild, wobei er natürlich immer erst fragte – höflich und, wie er hoffte, charmant. Und er drückte die Daumen, dass es sonnig blieb.
Er ließ seinen unzuverlässigen Blick zurück zu dem schwarzen Rechteck wandern, das er vor allem beobachten wollte. Aus jener Tür war er erst vor knapp zwanzig Minuten gescheucht worden.
»Warte draußen«, hatte seine Mutter in einem ungewohnt scharfen Ton befohlen, als klar wurde, dass sich die Dinge nicht so entwickelten, wie sie es für den Tag geplant hatte. Zweieinhalb Stunden waren sie nach Chicago fahren, wo Will nie zuvor gewesen war. Er hatte versprechen müssen, seinem Vater nichts zu erzählen, und mit keinem Wort hatte man ihn auf jenen Moment vorbereitet, als sie auf dem dämmrigen Korridor standen und seine Mom mit einer Wucht an die Tür klopfte, die sich beinahe unverschämt anfühlte.
»Das ist dein Onkel«, hatte sie gesagt, als ein gedrungener Fremder mit gewölbter Brust öffnete. Will war nahe genug, um zu sehen, wie dem Mann für einen Augenblick der Mund offenstand, bevor er ihn schloss und die Zähne zusammenbiss.
»Mein Bruder«, hatte seine Mutter mit leicht zittriger Stimme ergänzt.
Du hast einen Bruder? hatte er verwirrt gedacht. Jetzt war auch in seinem Kopf alles verschwommen. Dennoch hatte er dem Mann – seinem Onkel – die Hand gereicht.
»Ich bin Will«, hatte er automatisch gesagt und war froh, dass seine Stimme in den letzten Monaten, fast genau seit seinem fünfzehnten Geburtstag, aufgehört hatte zu kippen. Für ihn klang sie nun erwachsener und weniger überrascht, als er war.
Doch der Mann – dieser Onkel, von dem Will nie gehört hatte – schüttelte ihm nicht die Hand. Er beachtete Will gar nicht, sondern starrte dessen Mutter an, als wäre sie ein Geist oder lebendig, allerdings von den Toten auferstanden.
In der Wohnung roch es nach Zigaretten und der gleichen Möbelpolitur, die seine Mutter zu Hause benutzte. Keiner machte Anstalten, sich hinzusetzen; keiner sprach. Sein Onkel – Donny, wie seine Mutter endlich sagte, da der Mann selbst nicht interessiert schien, sich vorzustellen – stand neben einem braunen Fernsehsessel (für Wills Augen ein großer Klumpen), die Hände tief in seinen Jeanstaschen vergraben. Seine Mutter blieb nahe der Tür und Will neben ihr. Sie hatte vermutlich erwartet, dass sie richtig hereingebeten wurde.
Doch selbst Will begriff, dass dies nicht geschehen würde.
»Ich mach das nicht mit deinem Kind hier«, hatte Donny nach einer ganzen Weile gesagt. Es waren die ersten Worte, die Will jemals von ihm vernahm.
Deinem Kind, hatte Will im Geiste wiederholt und die Botschaft verstanden. Dieser Donny mochte sein Onkel sein, hatte aber eindeutig nicht vor, Teil seiner Familie zu werden. Und Will sagte sich, dass es ihm nur recht war. Immerhin war er ein Einzelkind und hatte bis eben geglaubt, auch seine Eltern wären Einzelkinder. Seine Mitschüler hatten Großeltern, Cousins, Cousinen und große Familientreffen an den Feiertagen. Der Sterling-Haushalt hingegen war eine kleine Einheit. Nur sie drei. Nicht mal ein Hund, eine Katze oder ein Goldfisch, um die Dinge zu verkomplizieren.
Trotzdem hatte Will gespürt, wie ihm die Röte den Hals hinaufkroch, ein Feuer in seinem Bauch brannte und sich seine Armmuskeln anspannten. In letzter Zeit war er reizbar, wurde schnell wütend. Wenn er nicht gerade an Mädchen dachte – hauptsächlich Caitlin, aber wenn er ehrlich war, interessierten ihn viele –, konnte er launisch, leicht abzulenken und mürrisch sein. Falls der ganze Kram wahr war, den ihm sein Biolehrer in der Schule erzählte, gehörte es zum Erwachsenwerden. Doch jetzt gerade schienen all seine wirren Gefühle angebracht zu sein. Er war vielleicht erst fünfzehn, aber er war schon größer als dieser Donny und trainierte mit Gewichten, um fit fürs Baseballspielen zu sein. Ihm gefiel nicht, dass jemand so mit seiner Mutter redete.
Da hatte sie ihm befohlen, dass er draußen warten solle. Er war erschrocken, so behandelt zu werden, ja, beinahe … bestraft zu werden. Zu Hause waren seine Eltern immer locker, nachgiebig, ein bisschen geistesabwesend, obwohl Will glaubte, dass es weniger ein Erziehungsstil war, als ihr Wunsch, Zeit für sich und ihre manchmal peinliche Zuneigung zueinander zu haben, nun ja … zumindest durfte er so abends länger wegbleiben als andere; er musste nicht für alles um Erlaubnis bitten, abends seine Hausaufgaben vorzeigen oder anrufen, wenn es beim Training später wurde.
Deshalb war er vor lauter Schreck – ob allem, was zu diesem Moment geführt hatte – nach draußen gegangen. Allerdings durch die Hintertür, eben jenes verschwommene Rechteck, das er nun beobachtete. Er konnte weder auf seine Augen noch auf die helle Julisonne zählen, dass sie ihm verraten würden, was drinnen los war, also hatte er die Glastür hinter sich offen gelassen und nur die Fliegentür geschlossen. Auf dem ausgetretenen Holzboden war er nach links gebogen, die wenigen wackligen Stufen vom Balkon nach unten und über den verbrannten Rasenstreifen zu dem Baum gegangen, der zu groß für den Innenhof war.
Und er hatte gewartet.
Hatte versucht, seine Augen und seinen Verstand zu fokussieren.
Was bedeutete es, dass er nie von diesem Onkel gehört hatte? Was sollte es heißen, dass seine Mom hergekommen war – und Will mitgenommen hatte –, ohne es seinem Dad zu erzählen? Was hatte es überhaupt zu sagen, dass es in letzter Zeit daheim so ruhig gewesen war und es manchmal so schien, als hätten seine Eltern ebensolche Stimmungsschwankungen wie er? Dass sie sich häufiger als sonst zurückzogen, die Schlafzimmertür schlossen und ihn aussperrten, seine Fragen abtaten, wenn sie endlich wieder rauskamen?
Vielleicht würden andere an Scheidung denken. In Wills Baseballteam hatten viele geschiedene Eltern, und bei einem war es richtig übel gewesen, mit Gerichtsterminen und Sozialarbeitern. Noch immer wollten diese Eltern sich ständig gegenseitig übertreffen, selbst auf der Tribüne bei großen Spielen. Will hingegen konnte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern sich trennen würden. Die Sterlings beteten sich an. Mit all ihren heimlichen, gewöhnlich lächelnden Blicken, ihren Berührungen, ihren Küssen und ihrem Flüstern, wie sie immerzu dicht nebeneinandersaßen, gaben sie Will hin und wieder das Gefühl, er würde stören. Wie ein unerwünschter Hund, eine vermachte Katze oder ein leider geerbter Goldfisch.
Ein Störfaktor.
»Hey!«, unterbrach eine Stimme von oben seine Gedanken.
Eine Mädchenstimme.
Irgendwie eine perfekte Stimme, schon bei dieser einen, kleinen Silbe. Sie klang wie der Beginn eines Lachens.
Er blickte auf – instinktiv und gespannt.
Und dann … schien das Lachen abzuheben. Es rauschte in die Luft über ihm, bevor es von einem der Balkone nach unten sank und bewirkte, dass Will erstarrte und sein Herzschlag auf eine Weise ins Stottern geriet, wie es noch nie geschehen war. Sehr viel später, wenn er sich erlaubte, an diesen Tag zu denken, an dem sich so gut wie alles in seinem Leben verändert hatte, erinnerte er sich, dass das Lachen das Einzige gewesen war, was sich in jenem fremden Innenhof vertraut anfühlte. Nicht wie der nie zuvor gesehene Onkel oder seine plötzlich traurige, wütende und ängstliche Mutter. Es fühlte sich vertraut und willkommen genug an, dass er für einen kurzen Moment alles Verwirrende des Tages vergaß. Auf jeden Fall vergaß er Caitlin, auch wenn es beschämend sein mochte.
»Hey«, wiederholte das Mädchen lauter, und noch ein Lachen folgte. Will stieß sich vom Baumstamm ab und trat einen Schritt vor an den Rand des Laubdachs, damit er sie sehen konnte – zumindest so gut es ging.
Cool bleiben, ermahnte er sich und strich sich das Haar aus der Stirn. Er hatte nicht gedacht, dass man ihn aus den oberen Stockwerken unter dem Baum bemerken würde.
»Weg da!«, rief sie, als er aus dem Schatten trat, und abermals erstarrte er. Zwei Befehle an einem Tag? Das war wirklich ungewohnt, und bei diesem wusste er noch viel weniger, was er falsch gemacht haben könnte.
Doch dann.
Dann sah er sie.
Dritter Stock rechts. Sie war verschwommen – selbstverständlich –, aber der Himmel hinter ihr war strahlend blau, und das Verschwommene schien ebenso sehr ihrer Bewegung wie seinen Augen geschuldet. Sie schwenkte die Arme vor sich, und ihr langer, glatter Pferdeschwanz flog wie ein hellbraunes Seil nach vorn über ihre Schulter auf ihr leuchtend weißes T-Shirt. Die Balkonbrüstung verhinderte, dass er ihre untere Hälfte sah, doch er wusste, dass sie auf und ab sprang, beobachtete, wie ihr Pferdeschwanz wippte, und hörte ihre Füße dumpf auf das Holz schlagen.
»Weg, weg!«, schrie sie, und fast hätte er einen Schritt rückwärts gemacht. Er war schockiert und enttäuscht, so … abgewiesen zu werden. Besonders von ihr. Dann jedoch bemerkte er zwei braune, pelzige Umrisse mit buschigen gebogenen Schwänzen. Sie sprangen vom Balkon auf eine Stromleitung, die quer über dem Innenhof verlief, und huschten weg. Erleichtert stellte Will fest, dass das Mädchen nicht ihn angeschrien hatte.
Sondern die …
»Eichhörnchen, Nonna!«, rief sie über die Schulter zu dem unscharfen dunklen Rechteck hinter ihr. Will runzelte die Stirn, weil er das zweite Wort nicht kannte. Vorsichtig trat er noch einen Schritt vor, verengte die Augen und konnte nun erkennen, dass ihr Gesicht oval war. Oben stemmte sie die Hände in die Hüften und drehte sich zu den fliehenden Eichhörnchen um, als wolle sie sich vergewissern, dass sie auch wirklich verschwanden. Hatte Wills Herz eben noch einen Schlag ausgesetzt, verfiel es jetzt in einen schnellen, verzweifelten Rhythmus.
Es war anders als das, was er empfand, wenn er Caitlin sah. Anders als das, was er bei irgendeinem der vielen anderen Mädchen empfunden hatte, in die er sich in den letzten paar Jahren verliebt hatte. Etwas fühlte sich anders an. In seinem Kopf und in seinem Herzen.
Sie stieß einen frustrierten Laut aus, nahm die Hände herunter und beugte sich vor, um irgendetwas anzuschauen. Zum ersten Mal nahm Will mehr auf dem Balkon wahr als nur sie. Zwischen den Holzlatten der Balkonbrüstung und darüber war Grün zu sehen. Er verlor das Mädchen dahinter aus dem Blick und verfluchte das Grün wie auch sein dürftiges Sehvermögen. Würde er es überhaupt erkennen, wenn sie zu ihm nach unten schaute? Konnte sie ihn jetzt durch all das Holz und die Pflanzen sehen? Er musste sich etwas ausdenken, was er zu ihr sagte. Sollte er die Eichhörnchen ansprechen? Sie fragen, was Nonna bedeutete? Fiel ihm irgendetwas ein, was ihn nicht wie einen unheimlichen Spanner klingen ließ, obwohl er sich wahrscheinlich gerade genau wie einer verhielt?
Er räusperte sich leise, damit seine Stimme ja nicht kippte, und im selben Moment richtete sich das Mädchen wieder auf.
Vielleicht sollte er einfach nur Hallo sagen. Das wäre nicht gruselig, oder?
Er öffnete den Mund, als etwas auf ihn fiel. Direkt auf seinen Kopf. Noch während er danach greifen wollte, landete erneut etwas auf ihm. Nicht schmerzend oder hart. Eher wie die ersten dicken Tropfen eines Gewitterregens. Dieses Etwas prallte von ihm ab und landete im Gras.
Bewarf sie ihn mit irgendwelchen Sachen?
Plumps, plumps, plumps. Er fühlte etwas Warmes und Feuchtes in seinem Haar. Zum ersten Mal seit er ihre Stimme gehört hatte, schaute er nach unten. Vor seinen Füßen lagen kleine, knallrote Kugeln, und er bückte sich, um eine aufzuheben. Es waren reife Kirschtomaten mit den Bissspuren der beiden Eichhörnchen, die das Mädchen vom Balkon verjagt hatte. Zum ersten Mal seit gefühlten Stunden lächelte er wieder. Er hob noch mehr von den Tomaten auf, während weitere von ihnen in den Innenhof hinabregneten. Will stellte sich hin, hielt die Hände in Hüfthöhe und blickte noch oben. Sie hatte das Gesicht von ihm abgewandt und warf die selbstgezogenen Tomaten über die Brüstung, ohne auch nur hinzusehen. Und aus irgendeinem Grund wollte Will sie nun erst recht kennenlernen.
Wieder überquerte er den Hof und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Doch er stieg nicht die Stufen zum Balkon seines Onkels hinauf, sondern blieb neben ihnen stehen, weil er dachte, hier könnte sie ihn besser sehen; er sie vielleicht auch. Er würde nach oben rufen. Hey, würde er sagen, so wie sie zu den Eichhörnchen. Er würde fragen: Hast du etwas fallen gelassen? Dabei würde er lächelnd die Hände heben. Er hoffte, sie konnte gut genug sehen, um den Tomatensamen zu erkennen, der ohne Zweifel in seinem Haar klebte.
Doch dann hörte er die Stimme seiner Mutter durch die Fliegentür vor jenem dunklen Rechteck, von dem er vergessen hatte, dass er es beobachten wollte.
»Wir brauchen Hilfe«, sagte sie. »Mein Mann und ich … wir beide bitten dich um Hilfe.«
Und zum dritten Mal an diesem Tag veränderte sich Wills Herzschlag.
Er zwang sich zu lauschen, vollkommen still zu sein. Falls das Mädchen ihn jetzt sah, könnte es ihn für eine Statue halten. Eine tomatenbesudelte Gartendekoration, die ihr nie zuvor aufgefallen war.
Doch in den langen Minuten, die er seiner Mutter und dem bisher ungekannten Onkel dann zuhörte, wurde seine Haut klamm vor Schreck, und bald dachte er gar nicht mehr an das Mädchen.
Später entsann er sich, wie laut und abrupt es geendet hatte. Seine Mutter hatte die Stimme erhoben, um Donny zu sagen, dass er grausam und stur war und es bereuen würde. Dass er, wenn er sie jetzt wieder fahren ließ, sie und Will nie mehr wiedersehen würde.
Die Reaktion war eisernes Schweigen gewesen.
Will hatte die Hände sinken lassen, als er die Stille vernahm, und kaum bemerkt, wie die Tomaten zu Boden fielen. Er war zur Treppe gegangen, um seine Mutter zu holen, damit sie sofort das Ultimatum einhielt. Sie war schneller, öffnete die Fliegentür und kam ihm blass entgegen. Als sie nahe genug war, konnte er ihre tränennassen Wangen sehen. Sie blickte ihn nicht an, sondern eilte an ihm vorbei. Trotzdem erkannte er, dass sie es wusste.
Sie wusste, dass er mitgehört hatte.
Will folgte ihr zum Wagen, und zum ersten Mal seit Langem musste er sich anstrengen, mit ihren kleineren Schritten mitzuhalten, während sie durch den Innenhof, unter dem Baum hindurch und auf der anderen Seite hinaus in die Seitenstraße lief, wo sie geparkt hatten.
Er saß auf dem Beifahrersitz und beobachtete, wie seine Mutter versuchte, mit zittrigen Händen den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken. Erst jetzt dachte er wieder an das Mädchen. Ihre Stimme, ihr Lachen, ihre »Nonna«, die Eichhörnchen und die angebissenen Tomaten. Er dachte, wie albern es war, dass sie sich so wichtig für ihn angefühlt hatte. Alles an seiner Welt schien so lächerlich zu sein – die Schule, der Sommer, Caitlin, Baseball. Alles außer den Worten, die er seine Mutter hatte sagen hören, und dem Grund, der seine Eltern verzweifelt um Hilfe bitten ließ. Alles an ihm selbst kam Will lächerlich vor – seine Rastlosigkeit, seine Launen, seine absurde Verliebtheit in eine Fremde, die mit Tomaten warf, seine verdammten Augen und seine lachhafte, kindische Eitelkeit.
Er griff nach dem Handgelenk seiner Mutter.
»Mom«, sagte er und traf im selben Moment, in dem er sich sprechen hörte, die Entscheidung. Er sollte genauso erwachsen werden, wie seine Stimme inzwischen klang. Und was er von den Ereignissen aus der Wohnung mitbekommen hatte, musste er das auch.
»Es ist alles gut«, sagte sie, und er dachte, dass sie es vielleicht mehr zu sich selbst als zu ihm sagte. Sie drückte seine Hand, als bräuchte sie Halt.
»Es ist alles gut«, wiederholte sie.
Er sprach es ihr mehrmals nach, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie den Motor anlassen konnte.
Als sie zurücksetzte, wollte er noch einen letzten Blick zurück zum Balkon im dritten Stock werfen. Zu dem Mädchen mit der schönen Stimme und dem langen Pferdeschwanz. Dem Mädchen, das er nicht richtig sehen konnte.
Aber er tat es nicht.
Er war durch mit verschwommenen Ablenkungen. Durch damit, ein Kind zu sein.
Am Montagmorgen machte er einen Termin bei einem Augenarzt in der Ladenzeile, die nahe genug war, um mit dem Fahrrad hinzukommen. Er wusste bereits, dass er bei jedem der Sehtests durchfallen würde. Am selben Nachmittag ging er zum Sommertraining, um sich aus dem Team abzumelden. Die entsetzte Reaktion des Coaches ignorierte er, so wie er Caitlins Worte ignorierte, als er wenige Stunden später mit ihr Schluss machte.
An das Mädchen auf dem Balkon zu denken, erlaubte er sich nicht mehr.
Jetzt sah er klar.
Sechzehn Jahre später
Für Eleanora DeAngelo Clarke war die beste Zeit des Tages gar keine Tageszeit, wie viele Menschen behauptet hätten.
Die beste Zeit war unmittelbar vor Sonnenaufgang.
Diese Vorliebe für die Stunde ab vier Uhr morgens war ziemlich neu. Nach ihrer Rückkehr war es zunächst weniger eine Entscheidung als eine Notwendigkeit gewesen, weil ihre täglichen Aufgaben früh begannen und sich lange hinzogen. Dazu der häufig unterbrochene Schlaf. Vier Uhr morgens fühlte sich an wie jede andere Stunde des Tages auch: dunkler, aber eigentlich nicht besonders. Ein weiterer Aspekt des grauenvollen Abschiednehmens, für das sie sich nie gewappnet gefühlt hatte und wohl auch nie würde.
Als es vorbei gewesen war und sich die lichten Stunden geschäftiger und bürokratischer gestalteten und ihr die Realität ihres neuen Lebens bewusst wurde, hatte vier Uhr morgens begonnen, sie zu verwandeln. Manchmal tat sie kaum mehr, als dazusitzen und ins Nichts zu starren, einen Kaffeebecher in den Händen, aus dem der Dampf zu ihrem tränenfleckigen Gesicht aufstieg. Manchmal schreckte sie aus einem unruhigen Schlaf hoch, ging zur Balkontür, öffnete sie und trat einen Schritt hinaus, um die frische, kühle Herbstluft wie eine heilsame Medizin zu inhalieren. Oder sie setzte sich an den alten Sekretär mit dem Rollladen im Wohnzimmer, wo sie Listen schrieb, die ihr durch den Tag halfen, damit sie das Gefühl hatte, hier alles im Griff zu haben, wo sie es in ihrem bisherigen Leben nie gemusst hatte.
Doch mit jedem Tag nahm vier Uhr morgens einen sanfteren Rhythmus an, und Nora bewegte sich besser im Takt und war nicht mehr so impulsiv wie zuvor. In der pechschwarzen und vollkommenen Stille trank sie ihren Kaffee, blieb drinnen, wenn es kalt war, und ließ ihren Körper und ihren Verstand behutsam wach werden. Sie verschob die Listen auf später und erlaubte sich zu atmen. Sie gestattete sich, zu denken oder nicht, sich zu erinnern oder nicht. Einfach zu sein.
Acht Monate später war vier Uhr zur Gewohnheit geworden, einer geheimen Routine, für die sie sogar einen Namen hatte. Wenn sie ins Bett ging, öffnete sie die Wecker-App auf ihrem Handy und stellte den Alarm auf die »goldene Stunde«. Sie schloss die Augen und freute sich auf sie, auf den »Neustart«, den sie ihr zu geben schien, das sanfte Willkommenheißen des Tages, der vor ihr lag.
Um vier Uhr morgens dachte Nora, sie könnte so ziemlich alles hinbekommen.
Außer.
Außer dem hier.
Zweieinhalb Wochen waren inzwischen vergangen, und seitdem hatte Nora um vier Uhr morgens jeden Tag dasselbe getan wie jetzt: im Pyjama auf dem Balkon gesessen und sich gesorgt.
Was allein Donny Pasternaks Schuld war.
Nora war bewusst, dass es furchtbar war, so zu denken. Wer konnte einem Mann vorhalten, dass er gestorben war? Noch dazu einem so ruhigen und freundlichen Mann wie Donny. Wer wollte über jemanden – einen Nachbarn, einen Freund, quasi ein Familienmitglied – richten, der so plötzlich, unerwartet und vor der Zeit aus dem Leben geschieden war? Wer könnte so … wütend sein?
Die Antwort lautete: Nora.
Nora konnte.
Du bist nicht wütend auf Donny, schalt sie sich. Du weißt, dass es das nicht ist.
Sie trank einen Schluck Kaffee und versuchte, das Goldene-Stunde-Gefühl zu aktivieren. Es war ein perfekter Nicht-ganz-Morgen, warm, trocken und angenehm. Die Art von Morgen, die sie im ersten dunklen, brutalen Winter in Chicago herbeigesehnt hatte.
Es funktionierte nicht.
Sie war wütend. Sie war wütend, gestresst und verängstigt, weil der stille, freundliche Donny Pasternak nicht mehr lebte, was an sich schlimm genug war. Noch schlimmer wurde es dadurch, dass sie erst kurz davor Nonna verloren hatte. Obendrein musste sie feststellen, dass es absolut nichts bedeutete, Donnys Nachbarin, Freundin und fast ein Familienmitglied zu sein, wenn es darum ging, was aus seinem Apartment wurde.
Nora war nie naiv gewesen, was die Meinung Außenstehender zu dem alten Backsteinkomplex mit den sechs Apartments anging. Hier hatte sie ihre erste richtige Wohnung gefunden, seit sie erwachsen war. Und ihr war nicht entgangen, dass sich das Urteil anderer über das Haus im Laufe der Jahre verändert hatte. Als ihre Eltern sie zum ersten Mal besuchen kamen, hatten sie auf der gesamten Fahrt vom Flughafen her nicht allzu leise darüber getuschelt, dass Nonna unfassbar viel Geld in diesem »kleinen Gebäude« versenkte, wo sie doch in ihrem hübschen, abbezahlten Vorstadthaus hätte bleiben können, nachdem ihr Mann, Noras Großvater, gestorben war. Zwei Jahrzehnte später fiel ihr Urteil anders aus: Sah es nicht wie das älteste Haus in der ganzen Straße aus? Sollten sie nicht versuchen, es besser zu erhalten? Hatte niemand überlegt, es heller, moderner zu gestalten? War die gestreifte Tapete im Eingangsbereich aus … Samt?
Das Problem war, dass Menschen einen Klassiker nicht zu schätzen wussten. Loyalität war ihnen fremd!
Das hatte Nonna immer gesagt.
Nora schloss die Augen und überlegte, was Nonna jetzt sagen würde. Wahrscheinlich würde sie sagen, dass Donny nicht zu diesen Menschen gehörte. Sie würde sagen, dass sie Donny vertraute. Dass Donny, wie jeder andere im Haus, der über Jahre ihr Nachbar, ihre Familie (ohne »fast« oder »quasi«!) war, es in gute Hände übergeben und es jemandem vermachen würde, der verstand, worum es hier ging. Tatsächlich schienen das auch alle anderen im Haus zu denken. Schließlich hatte Nonna ihre Wohnung Nora vererbt, weil sie wusste, dass Nora sie sehr gut behandeln würde. Sie hatte gewusst, dass Nora das wunderschöne alte Gebäude genauso sehr liebte wie sie.
»Vielleicht hat er es einem von uns vermacht«, hatte Jonah erst vor einer Woche bei der ersten Hausversammlung seit Donnys Tod gesagt. Nora hatte vorn im Raum gestanden, und der Estrichboden der Waschküche unter ihren Turnschuhsohlen hatte sie fest in der Realität bleiben lassen. Sie beobachtete, wie die Gesichter ihrer Nachbarn hoffnungsvoll aufleuchteten, und dachte an die drei Rückrufbitten, die sie bei Donnys Anwalt hinterlassen hatte.
Das hätten wir schon gehört, hatte sie gedacht. Wenn es einer von uns wäre, hätten wir es schon erfahren.
Doch sie sprach es nicht laut aus. Stattdessen rang sie sich ein Lächeln ab und sagte: »Wir werden wohl abwarten müssen.« Dabei hatte sie die Haussatzung in der Hand gehalten und gar kein gutes Gefühl gehabt. Wenn es keiner von ihnen war, hatte sie nicht die geringste Ahnung, wer es sonst sein könnte. Donny war still und freundlich gewesen, aber, solange sie ihn kannte, auch allein. Es gab keine Lebensgefährtin, keinen Lebensgefährten, keine Freunde und keine Familie außerhalb dieser Mauern.
War vier Uhr morgens zu früh, um es noch einmal bei dem Anwalt zu versuchen?
Sie seufzte so tief, dass sich die Oberfläche ihres Kaffees kräuselte. Fakt war, dass sie ihre Vier-Uhr-Sorgenparade abstellen musste. Vielleicht sollte sie für eine Weile zu ihren Listen zurückkehren, denn die ausbleibenden Rückrufe verhießen garantiert Schlechtes. Womöglich durchkämmte jetzt schon irgendeine gesichtslose Immobilienfirma die Sterbestatistiken von Cook County und suchte nach Investitionsmöglichkeiten, um schnelles Geld zu machen. Sie würden hier aufkreuzen, einen Container vor die Tür stellen und alle Sachen des ruhigen, freundlichen Donny Pasternak lieblos hineinwerfen, während sie sich lauthals über die Tapete im Eingang beschwerten (Keine Loyalität, schimpfte Nonna von irgendwo). Einen Monat später würde ein Zu verkaufen-Schild für Donnys Wohnung mit einem Mindestpreis draußen aufgestellt, der das Ende des Hauses bedeuten würde. Des Gebäudes, in dem Nonna sich ein zweites Leben eingerichtet hatte und mit ein wenig Schicksal und sehr viel Mühe zu einer eigenen Familie geworden war.
Wieder seufzte Nora in ihren Kaffee. In dieser goldenen Stunde fühlte sie sich wahrhaft jammervoll. Sie stand von ihrem Stuhl auf und streckte sich. Es musste etwas geben, was sie tun konnte, statt einfach abzuwarten.
Und in diesem Moment hörte sie, wie unter ihr eine Balkontür aufglitt.
Nora kannte vier Uhr morgens.
Vor allem in diesem Haus.
Und sie wusste, dass niemand außer ihr um diese Zeit jemals auf den Balkon trat.
Niemand außer.
Niemand außer … jemand Neuem.
Es wäre extrem unangemessen, zu ihrer Balkonbrüstung zu laufen, sich über das Geländer zu lehnen und zu fragen, wie die Leute da unten über die Retro-Tapete im Eingangsbereich dachten. Erstens war die Sonne noch nicht mal aufgegangen. Zweitens trug sie keinen BH unter ihrem Pyjama. Und wenn drittens die Tapete ihre einzige Gesprächseröffnung war, wurde es ernsthaft Zeit, dass sie mehr vor die Tür kam.
Könnte es der Anwalt sein, der eine fragwürdige Haltung zur Telefon-Etikette hatte? Oder schlimmer noch! Jemand, der einen anonymen Immobilienhai vertrat? Klar war es früh, aber vielleicht brauchten diese Leute die vollen vierundzwanzig Stunden jedes Tages, um ihre schrecklichen, tapetenverachtenden Pläne zu verwirklichen. Nora war kein bisschen bereit für so eine Konfrontation, nicht ohne BH und eine PowerPoint-Präsentation über die ausufernde Gewinnsucht heutiger Immobilienfirmen.
BH zuerst, sagte sie sich und griff nach der Türklinke, bevor sie innehielt.
Was, wenn es keiner von beiden war?
Sie konnte es nicht recht erklären, denn es war eher ein Gefühl – dass sie nicht gleich wieder nach drinnen gehen sollte. Dass die Person, die jene Tür unten aufgeschoben hatte, jemand war, den sie kennenlernen sollte.
Natürlich blieben die sehr frühe Stunde und ihre fehlende Unterwäsche ein Problem, von ihrer offensichtlichen Ratlosigkeit, was sie sagen sollte, ganz zu schweigen. Deshalb beschloss sie, dass sie diese Begegnung fürs Erste einseitig halten wollte. Vorsichtig stellte sie ihren Kaffeebecher auf den kleinen Balkontisch neben ihrem Stuhl und schlich sich barfuß an die Balkonbrüstung. Langjährige Erfahrung hatte sie gelehrt, welche Bodenbretter knarzten, sodass sie diese mied, während sie sich in die kleine Lücke zwischen ihren Topfpflanzen quetschte.
Dann linste sie über das Geländer nach unten und rüber zu Donnys Balkon.
Zuerst sah sie ihn als einen dunklen Umriss im Licht, das aus der Wohnung nach draußen fiel. Aus ihrer Perspektive konnte sie nur seinen Körper erkennen: Hände an der Brüstung, die weiter nach draußen ragte als Noras; lange, weit ausgebreitete Arme, die mit der schmalen Taille unter dem breiten, gebeugten Rücken ein Dreieck formten. Ein tief geneigter Kopf zwischen angespannten Schultern.
Es war, als würde sie eine Statue betrachten, ein Kunstwerk, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Und darauf bestand, dass man ganz im Moment verweilte und es sich einprägte. Nora hätte immer weiter hinsehen können. Bis die Sonne aufging. Bis die goldene Stunde endgültig vorbei war.
Doch auf einmal begriff sie.
Dies war nicht die Haltung eines Immobilienbesitzers, der eine PowerPoint-Präsentation brauchte.
Der gebeugte Rücken und der gesenkte Kopf sprachen für einen Mann, der … trauerte?
Überrascht holte Nora Luft und wich zu schnell vom Geländer zurück.
Wobei sie eine ihrer Pflanzen umwarf.
Das Geräusch des Terracotta-Topfs, der auf dem Holz aufschlug und aus dem ein Erdklumpen herauspurzelte, während wächserne Blätter erbebten – das alles zusammen kam Nora wie der lauteste Krach in der Geschichte des Universums vor.
Sie kniff die Augen fest zusammen und zwang sich, vollkommen still zu sein, so wie er es getan hatte. Wenn es ihr gelang, würde der Mann auf dem Balkon denken, dass eine Windböe nur den zweiten Stock erwischt hatte. Oder irgendein Tier dahintersteckte? Ja, das würde einleuchten. Ein Waschbär oder ein besonders kräftiges Eichhörn…
»Hallo?«
Seine Stimme war tief, doch er sprach leise, vorsichtig, und Nora vermutete, dass sie es ignorieren und bei ihrer Statuenpose bleiben könnte, bis er wieder nach drinnen verschwand. Später (mitBH) könnte sie nach unten gehen, sich vorstellen, ihr aufrichtiges Mitleid aussprechen und ihre egoistische Hoffnung für sich behalten, dass Donny sich doch noch anständig gegenüber ihnen allen gezeigt hatte.
Es fühlte sich jedoch ein wenig gemein an, den Fremden zu ignorieren, nachdem sie ihn heimlich beobachtet hatte. Sie war die letzte halbe Stunde zu Unrecht wütend auf seinen kürzlich verstorbenen möglichen Angehörigen gewesen. Also ein kurzes Hallo. Eine Entschuldigung, dass sie ihn gestört hatte. Keine Fragen über seine Einstellung zu der klassischen Wanddekoration.
Nora trat wieder an die Brüstung und dachte in letzter Sekunde daran, die Arme vor der Brust zu verschränken.
Als sie diesmal über die Kante blickte, sah er hinauf zu ihr.
Er war groß, wie sie sogar von hier oben erkannte, denn das Gebäude war ihr vertraut genug, um die Relationen zu den Brüstungen, den Überständen und den Türrahmen sicher einzuschätzen. Als er aufrecht stand, wirkten seine Schultern breit, doch insgesamt schien er schmaler zu sein als in der gebeugten Haltung. Vielleicht lag es an seiner Kleidung; sie war sehr dunkel und saß leger, beinahe wie ein Pyjama. Nora gefiel der Gedanke, dass sie beide noch in ihren Schlafsachen auf den Balkon gegangen sein könnten.
Doch was sie von seinem in warmes, goldenes Licht aus der Wohnung getauchten Gesicht sehen konnte, ließ ihren Atem stocken und die Zeit stillstehen. Er war glattrasiert, hatte ein kantiges Kinn, und die gerunzelte Stirn passte zu seinem fragenden Tonfall. Diese klaren Konturen machten ihn an sich schon attraktiv, doch er wurde es umso mehr durch sein dichtes, lockiges Haar. Es war auf eine Weise zerzaust, dass Nora sich fragte, ob im Erdgeschoss eine extrem schmeichelnde Brise wehte. Volle Lippen rahmten einen leicht geöffneten Mund. Was seine Augen anging, konnte sie lediglich raten, denn die lagen hinter einer Brille mit dunklem Gestell verborgen.
Sie schluckte.
»Hi«, flüsterte sie ihm endlich zu.
Sekundenlang rührte er sich nicht, und sie fand, dass er richtig gut darin war, sich vollkommen still zu verhalten. Fast professionell. Vielleicht ist er ein Pantomime, meldete sich ein besonders verblüffter Teil ihres Gehirns. Nein, eine Burgwache, korrigierte sie. Offensichtlich war sie immer noch verwirrt, bedachte man, dass es in Illinois keinerlei Burgen oder Schlösser gab.
Doch dann hob er die rechte Hand. Langsam bewegte er sie zur Mitte seiner Brust, wo er sie über sein Sternum zu seinem Herzen gleiten ließ.
»Sie …«, sagte er und ließ seine Hand dort liegen, was in Nora den Impuls auslöste, die Schläge ihres eigenen Herzens zu zählen. Eins-zwei, eins-zwei.
»… haben mich erschreckt«, beendete er seinen Satz, auch wenn nichts an seiner immer noch ruhigen Stimme darauf schließen ließ, dass er tatsächlich erschrocken war. Dann bewegte er sich wieder und nahm die Hand herunter. Obwohl er die Brille trug, konnte sie seinen Blick deutlich spüren.
»Tut mir sehr leid«, sagte sie, trat näher an die Brüstung und legte ihre verschränkten Arme darauf ab. »Ich wollte nicht …«
»Nein, ich …«, begann er und stockte. Als er weitersprach, war seine Stimme leiser. »Entschuldigung, dass ich Sie geweckt habe, als ich hier rausgekommen bin.«
»Ist schon okay«, antwortete sie und nickte zu dem Haus. Es kam ihr vor, als hätten sie sich hier draußen verschworen, so wie sie miteinander flüsterten. »Sie werden niemanden wecken.«
In drei der sechs Wohneinheiten wohnten Menschen, deren Gehör … nicht mehr allzu gut war, um es milde auszudrücken. Und Benny in dem Apartment unter Noras schwärmte bei jeder sich bietenden Gelegenheit hymnisch von seiner White-Noise-Maschine, also hörte er sie garantiert nicht.
»Und ich bin um diese Zeit immer schon auf«, ergänzte sie und presste sofort die Lippen zusammen. Warum hatte sie ihm das erzählt? Es war ein Geheimnis.
Er neigte den Kopf zur Seite, und seine Miene schien sich komplett zu verändern. Er zog eine Augenbraue hoch, und auch ein Mundwinkel ging nach oben. Etwas an diesem offen interessierten, neugierigen Ausdruck traf Nora an einer empfindlichen, vernachlässigten Stelle.
Es fühlte sich so lange her an – zig Monate schon –, seit sie sich interessant gefühlt hatte. Oder seit sie jemand Neues kennengelernt hatte.
Ihre Wangen wurden warm vor Freude.
»Sind Sie das?«, fragte er.
»Ja.« Sie wollte es dabei belassen, schon weil es sehr viel atemloser als beabsichtigt herausgekommen war. Doch ehe sie sich bremsen konnte, ergänzte sie: »Es ist die goldene Stunde.«
Nora! schrie ihr Verstand (nicht atemlos). Was redest du denn!
Für einen flüchtigen Moment hoffte sie, dass er es nicht gehört hatte. Dass die Erdgeschoss-Frisierbrise es übertönt hatte.
»Goldene Stunde?«
Okay, also hatte er es gehört.
Sie räusperte sich. Die Frage würde sie kurz und nicht irgendwie komisch (oder gehaucht) beantworten und dann irgendwie zu Donny überleiten und ihr Beileid ausdrücken, was sicher angebracht war.
»So nenne ich diese Tageszeit … obwohl es dann ja noch nicht ganz Tag ist.« Genial, dachte sie und verdrehte innerlich die Augen. »Alles ist so friedlich, finde ich.«
Wieder rührte er sich nicht, runzelte lediglich ein klein wenig die Stirn, als würde er darüber nachdenken. Dann warf er ihr ein schiefes Grinsen zu, das irgendwie gleichzeitig selbstbewusst und selbstironisch war.
»Jetzt ist sie nicht mehr so friedlich«, sagte er, trat einen Schritt näher an die Brüstung, und Nora bemühte sich zu ignorieren, welche Gefühle sein Lächeln und seine nach wie vor leise Stimme in ihr auslösten. Besonders in dem Bereich unter ihren verschränkten Armen.
Oh nein, dachte sie. Tu lieber was dagegen.
Sie drückte die Arme fester gegen ihre Brust.
»Ist schon okay«, wiederholte sie und spürte, wie sie selbst lächelte.
»In meiner Branche bedeutet sie etwas anderes. Die goldene Stunde, meine ich.«
»Sind Sie Fotograf?« Es war der einzige Kontext, in dem sie diesen Ausdruck bisher gehört hatte. Da ging es um das Licht zu einer bestimmten Tageszeit. Und die war natürlich nicht vier Uhr morgens.
Das Grinsen – und das Selbstvertrauen – schwanden. »Ähm, nein. Egal. Es ist nicht … sehr erfreulich.«
Nun war es an Nora, ihn fragend anzusehen. Was konnte denn an einem Ausdruck wie goldene Stunde in irgendeinem Zusammenhang unerfreulich sein?
»Wie meinen Sie das?«
Danach musste sie aber wirklich auf Donny zu sprechen kommen. Und das würde sie auch.
Sein Brustkorb weitete sich, als er tief Luft holte. Und nun kam er Nora fast verlegen vor.
»So nennen wir die Stunde, nachdem sich jemand verletzt hat. Schwer verletzt. Es ist … das beste Zeitfenster, um die Leute zu behandeln.«
»Oh.« Nora blickte wieder auf seine Kleidung, die jetzt mehr Sinn ergab. Was er da trug, war kein Pyjama, sondern eine Krankenhauskluft. »Sind Sie Arzt?«
»Ja.«
Wow, was für ein Glück, dass Mrs. Salas aus der 2B noch nicht auf war. Nora konnte sie förmlich hören. Ein Doktor, Nora! würde sie sagen. Würdest du nicht gerne einen Doktor heiraten?
Abermals räusperte sich Nora, um ihre Gedanken wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Sie sollte auf Donny zu sprechen kommen, und dies war ein günstiger Zeitpunkt.
Stattdessen fragte sie: »Arbeiten Sie nachts?«
»Ich arbeite zu allen möglichen Zeiten«, sagte er, und sie glaubte, die Erschöpfung in seiner Stimme zu hören. »Eigentlich immer.«
Er klang so … resigniert. So müde. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen – dass es ihr leidtat, dass es schwierig klang. Doch er kam ihr zuvor.
»Sie auch?«
»Ob ich immerzu arbeite?«
Er lächelte zu ihr hinauf, und diesmal war es anders. Sie fand, dass es wie ein Sonnenaufgang aussah, auch wenn es um sie herum noch dunkel war. Es überstrahlte jeden anderen Gedanken in ihrem Kopf: Donny, das Apartment, das Gebäude.
»Ob Sie nachts arbeiten«, erklärte er.
»Oh nein. Ich bin eher eine Frühaufsteherin, und ich arbeite tagsüber. Von zu Hause aus.«
Danach hatte er nicht gefragt, oder? Plötzlich hatte diese Unterhaltung für Nora eine ganz eigene Goldene-Stunde-Qualität angenommen. Geheim, besonders und ganz allein ihr gehörend.
»Ach ja?«, fragte er mit dieser wundervoll interessierten Note. Er rückte seine Brille zurecht, und in diesem Moment ließ Nora zu, sich auf absurd schwindelerregende Weise zu ihm hingezogen zu fühlen.
»Was machen Sie beruflich?«
Lächelnd bewegte sie die Füße vor nervöser Vorfreude. Sehr lange schon hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, richtig über ihre Arbeit mit jemandem zu sprechen, der kein Kollege war. Ihr gefiel, was sie tat, ganz gleich, welche Kopfschmerzen es ihr angesichts der neuen Situation bereitete. Sie würde die Frage beantworten und dann auf Donny zu sprechen kommen.
»Ich designe …«
Weiter kam sie nicht, denn es gellte ein Schrei durch die Luft.
»Was war das?«, fragte der Mann und blickte zur Seite in die nicht mehr ganz finstere Nacht.
Nora musste unwillkürlich lachen.
Er sah wieder zu ihr hinauf, wobei er erneut die Hand hob und auf sein Herz legte. Der große, gut aussehende Mann mit der Brille war offenbar schreckhaft, und Nora war … bezaubert. Ja, vollkommen entzückt.
»Eine Katze«, antwortete sie lachend. »Ein Streuner. Wahrscheinlich einer von den großen Katern.«
Ihr Lachen erstarb, als ihr etwas bewusst wurde. Sie hatte die Katzen seit ein paar Wochen nicht mehr gehört, nicht, seit …
»Donny«, platzte sie heraus.
Der Mann auf dem Balkon nahm die Hand von seinem Herzen.
Es entstand eine lange, unangenehme Pause, in der Noras Seele ohne Frage ihren Körper verließ. Das mache ich nicht mit! sagte sie vermutlich und winkte Nora lässig zu, ehe sie davonflog.
Sie räusperte sich. »Er … ähm. Er hat ihnen früher immer Futter hingestellt.«
Nun folgte eine noch längere und noch unangenehmere Stille. Was für ein entsetzlicher Auftakt für eine Beileidsbekundung.
Der Mann schaute in den Innenhof, aus dem der frustrierte Katzenschrei gekommen war, und umklammerte das Balkongeländer fester, als müsste er sich Halt verschaffen. Nora wollte dringend etwas sagen, egal was, ihm aber auch eine Minute geben, falls er sie brauchte. Bei Gott, sie hatte in den vergangenen Monaten eine Menge Minuten gebraucht. Deshalb ja die Stunde ab vier Uhr, oder nicht? Der arme Mann.
Es wunderte sie ein wenig, dass sie ihn nie zuvor gesehen oder gehört hatte, wie Donny ihn erwähnte. Was nicht unbedingt von Bedeutung war. Donny war nicht sehr gesprächig gewesen, hatte wenig von sich erzählt, nicht mal Jonah, den er am längsten kannte. Und er hatte bis zu seinem Todestag gearbeitet, war jeden Werktag um sieben Uhr weggefahren und nicht vor halb sechs abends zurückgekehrt. Er hatte ein komplettes Leben weit weg von hier gehabt, von dem Nora nichts wusste. Vielleicht hatte er massenhaft Leute gekannt, nur nie jemanden zu sich eingeladen.
»War da mal ein Baum?«, unterbrach der Mann auf dem Balkon ihre Gedanken.
»Ja«, sagte sie automatisch, und sofort wanderte ihr Blick zu der Stelle. »Wir mussten ihn ein paar Monate nach meinem Einzug letztes Jahr fällen lassen.«
Sie war kreuzunglücklich gewesen. Ihre erste offizielle Handlung als Vorsitzende der Eigentümergemeinschaft, und es hatte sich wie ein böses Omen angefühlt, erst recht so kurz nach Nonnas Tod. Ich will das nicht tun, hatte sie zu allen gesagt, weil sie sich sorgte, was die anderen dachten. Ich wünschte, es könnte genauso bleiben, wie es ist. Doch der Baum war vollkommen verrottet gewesen, und sie hatten von Glück sagen können, dass er nicht längst umgefallen war. Am Ende hatte sie zugesehen, wie er gefällt wurde. Den ganzen Tag hatten Männer mit Kranwagen und Kettensägen gearbeitet, und Sägespäne waren wie dichter Schnee gefallen. Nora hatte nicht geweint, auch wenn sie es wirklich gern getan hätte.
»Warten Sie«, sagte sie, als ihr ein wichtiger Punkt seiner Frage klar wurde. Sie blickte wieder nach unten und stellte fest, dass er sie beobachtete. »Waren Sie schon mal hier?«
»Einmal als Kind.« Seine Stimme hatte sich verändert, auch wenn Nora nicht benennen konnte, wie. Vielleicht lag es auch nur an der Luft, die nun anders war, weil es vage zu dämmern begann und alles Schwarz in ein samtiges Blauschwarz überging. Und Nora kannte es gut genug, um zu wissen, dass ihre goldene Stunde fast vorbei war.
Er räusperte sich. »Er war mein Onkel.«
Nora sah blinzelnd zu ihm, gleichermaßen erschrocken und erleichtert. Also war er ein Angehöriger. Loyalität! hörte sie Nonna selbstzufrieden sagen, doch sie wollte sich lieber nicht zu früh freuen.
»Ihr Verlust tut mir sehr leid«, sagte Nora. »Mein aufrichtiges Beileid.«
Der Mann senkte den Kopf, was ein Nicken sein konnte oder eine Verneigung aus Respekt vor Donny. Noras Herz krampfte sich vor Mitgefühl zusammen.
Ich hasse es, dass ich hier oben bin, dachte sie, obwohl es definitiv seltsam wäre, dort unten zu sein. Was würde sie denn tun? Ihn in die Arme nehmen? Ohne BH? Gruselig, und extrem unangemessen! Nonna hätte so etwas jedenfalls niemals getan.
»Ich habe ihn nicht sehr gut gekannt«, sagte er, und hier hätte sie den Mund aufmachen können. Doch sein Ton klang leicht verbittert, geradezu verärgert.
Und ein wenig … illoyal.
Nein, Nora, ermahnte sie sich. Das bist nur du um vier Uhr früh, die da reden will. Wahrscheinlich steht er noch unter Schock, so wie du.
Unten griff der Mann wieder an seine Brust und kratzte sich dort. Er räusperte sich aufs Neue. »Gefällt es Ihnen hier?«
Ob es ihr gefiel?
Was für eine Frage! In diesem Ort steckten die schönsten Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend. Und jetzt hatte sie mit Freuden ihr Leben hierher verlegt. Sie könnte den ganzen Morgen über dieses Gebäude reden – daher ihre PowerPoint-Idee. Vielleicht war dies eine Chance, die Tapete anzusprechen! Nein, wahrscheinlich war es sinnvoller, zuerst über die Menschen zu reden und …
Abermals wurden sie unterbrochen, diesmal von einem schrillen Piepen, und rasch klopfte der Mann sich ans Bein. »Mist«, sagte er. »Entschuldigen Sie.« Innerhalb von Sekunden konnte sie nur noch den Teil seines Gesichts sehen, der vom bläulichen Display seines Handys angeleuchtet wurde. Mit seiner freien Hand fuhr er sich geistesabwesend durchs Haar, und Nora beobachtete ihn bezaubert. Er hatte wunderschönes Haar, und solch ein Kompliment machte sie nicht leichthin und würde es erst recht nicht laut äußern.
»Ich muss los«, fuhr er fort. »Eine andere Art goldene Stunde, schätze ich.«
»Ach so.« Plötzlich war Nora hochgradig nervös. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt zu sagen, dass sie Donny gekannt hatte. Keine Chance, ihn so vieles zu fragen – was er zum Beispiel über das Apartment wusste, aber auch eine Kleinigkeit wie seinen Namen. Und sie hatte keine Zeit gehabt, seine Frage zu beantworten, die ihr wie die wichtigste von allen vorkam.
Sie liebte es hier.
»Warten Sie«, begann sie und wollte noch eine Sache loswerden, ehe vier Uhr morgens vorbei war.
Doch er hatte sie eindeutig nicht gehört, denn er bewegte sich bereits Richtung Tür.
Ehe er nach drinnen verschwand, blickte er ein letztes Mal zu ihr auf, und immer noch war die Spiegelung in seinen Brillengläsern zu stark, um seine Augen zu sehen.
»Man sieht sich«, sagte er.
Doch er blieb nicht, um ihre Reaktion zu hören.
Nun, er glaubte, ihre Antwort zu kennen.
Man konnte es dort nicht mögen.
Erstens war da der Geruch. Nicht furchtbar, musste Will zugeben, aber auch keine Duftnote, von der man jedes Mal an der Haustür begrüßt werden wollte. Sie roch ein wenig, als würde man eine modrige Holzkiste öffnen und den Kopf hineinstecken. Und in der Kiste wären nichts als Wollmäuse und vielleicht eine Handvoll alte Pennys.
Zweitens war da das Licht. Wie jeder Mensch, der den Großteil seiner Tage (und oft auch der Nächte) unter den Neonröhren von Krankenhäusern verbrachte, mochte Will gute altmodische Glühbirnen oder sogar moderne LEDs. Was er so gar nicht mochte, war ein bronzefarbener Kronleuchter, der überdies recht tief hing und noch tiefer herunterreichte durch das ganze Glasgeklimper, das an ihm baumelte, und an dem er sich gleich im Hauseingang den Kopf gestoßen hatte, geschweige denn die ebenfalls bronzenen Wandleuchter in Form pausbäckiger Engelchen, die ihn auf dem Weg durch die Halle zu beobachten schienen.
Apropos Eingangshalle: die Tapete! Sie war … golden, oder zumindest war sie das mal gewesen, was im Licht des (gefährlichen) Kronleuchters und der (gruseligen) Wandleuchten jedoch eher an ausgeblichenen Senf erinnerte. Circa alle fünfzehn Zentimeter änderte sich die Textur, und Will hatte die flache Hand darauf gedrückt und gedacht: Das kann nicht wahr sein.
Doch es handelte sich tatsächlich um eine Samttapete. Eine gestreifte obendrein.
Wer konnte das mögen?
Ausgeschlossen, dachte er wieder, nur dass es ihm diesmal nicht um die Tapete ging.
Sie konnte es nicht sein.
Das Mädchen vom Balkon vor sechzehn Jahren konnte nicht die Frau sein, die er heute Morgen gesehen hatte. Das … konnte nicht sein.
Schließlich hatte sie selbst gesagt, dass sie erst letztes Jahr eingezogen war.
Eindeutiger ging es ja wohl kaum.
Sie konnte es nicht sein.
Es war nur … da war etwas an ihr. Etwas an ihrer Stimme, als sie »Hi« sagte, an dem Klang ihres Lachens und der Art, wie ihr der Pferdeschwanz über die Schulter glitt, als sie sich unterhielten. Wie sie da oben auf dem Balkon ausgesehen hatte, egal wie weit entfernt, egal wie dunkel es gewesen war. Sie zu sehen hatte sich wie ein Schluckauf in seiner Brust angefühlt.
Doch darüber durfte er nicht nachdenken.
»Darf ich …?«, unterbrach ihn eine Stimme, und Will blickte zu der vertrauten Barista auf, bei der er seine Bestellung für den Thermobecher aufgegeben hatte, den er in der Hand hielt. Sie lächelte ihm verständnisvoll zu, weil sie an das Krankenhauspersonal gewöhnt war, das sich hier die nächste Wachmacherdosis abholte.
»Oh, entschuldige, Janine«, sagte Will und gab ihr seinen Becher. »Und bitte auch gleich einen Infusionsbeutel von dem Stoff, falls ihr den habt«, ergänzte er. Es war ein lahmer Witz, doch mehr brachte er unter diesen Umständen nicht zustande. Um drei Uhr morgens war er aufgestanden und hatte an die zwanzig Patienten gesehen, seit er vor vier Stunden hergekommen war. Noch dazu konnte er nicht aufhören, an die Frau auf dem Balkon zu denken.
Nein, nicht die Frau. Er durfte nicht hier stehen und über sie nachdenken.
Er würde an das Apartment denken.
Während er am Tresen entlangging, um auf seine Bestellung zu warten, zwang er sich, seine Aufmerksamkeit auf das zu konzentrieren, was wichtig war – zumindest bis er wieder angepiept wurde.
Das Apartment, okay. Er musste es so schnell wie möglich loswerden.
Was in zwölf Monaten wäre.
Verfluchter Donny.
Diesen Satz wiederholte er im Geiste regelmäßig, seit er in der vergangenen Woche den Anruf des Anwalts bekommen hatte. Donny war da anscheinend schon mehrere Tage tot gewesen, und Will versuchte, die Nachricht vom Ableben seines Onkels so aufzunehmen, wie dieser es verdiente: neutral und mit der Distanziertheit von jemandem, der den Umgang mit dem Tod gewohnt war. Was hatte es schließlich mit ihm zu tun, dass Donny gestorben war? Gar nichts, wie er dem Anwalt höflich zu sagen versuchte.
Doch wie sich herausstellte, stimmte das nicht ganz, da er der einzige Erbe seines Onkels war. Und da dessen Vermögen an ein kleinliches, passiv-aggressives Testament gebunden war, würde sich daran auch eine ganze Weile nichts ändern.
Zwölf Monate, ehe er das Apartment verkaufen konnte. Zwölf Monate mit einem muffigen Hauseingang, gefährlichen Lampen und einer Senftapete.
Zwölf Monate mit der Frau auf dem Balkon, dachte er und biss die Zähne zusammen.
Konzentrier dich, Will.
»Hier, bitte, Dr. Sterling«, sagte Janine und rettete ihn vor sich selbst.
An jedem anderen Tag hätte er sie wahrscheinlich korrigiert. Sie dürfen ruhig Will zu mir sagen, hätte er sie wie immer erinnert, weil er es auch sechs Jahre nach dem Examen noch nicht mochte, außer bei der Arbeit »Doktor« genannt zu werden. Und selbst dort zog er bisweilen seinen Vornamen vor, wenn er glaubte, ein Patient fühle sich damit wohler.
Heute jedoch bedankte er sich nur lächelnd. Er würde sich den ganzen Tag Dr. Sterling nennen lassen, falls es ihm half, einen klaren Kopf zu wahren und die Distanz, die er wollte: die Distanz zwischen dem Mann, der hier in der Krankenhauscafeteria war, und dem Jungen, als der er sich heute am frühen Morgen gefühlt hatte. Als er in die stickige, vollgestellte Wohnung trat, die er seit sechzehn Jahren nicht gesehen hatte.
Und dann, als er draußen auf dem kühlen, dunklen Balkon stand und die Frau sah, die zu ihm nach unten blickte.
Er war tatsächlich nervös gewesen.
»Verfluchter Donny«, murmelte er.
»Und wer ist Donny?«, fragte eine Stimme neben ihm. Für eine Sekunde schloss Will die Augen.
Natürlich. Natürlich war es die Person, die ihn in diesem Krankenhaus am ehesten nervös machte.
»Guten Morgen, Dr. Abraham«, sagte er und hasste es, wie seine Stimme tiefer wurde. Er hatte bereits eine recht tiefe Stimme, aber wenn er mit Gerald Abraham sprach, klang er, als würde er für die Rolle von Darth Vader vorsprechen. Nie wollte er dringender angepiept werden, doch solange das nicht geschah oder sein Handy bimmelte, hing er hier fest. Dr. Abraham war sein direkter Vorgesetzter in der Notaufnahme, aber auch wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wusste so ziemlich jeder hier im Haus, was auch Will in den acht Monaten gelernt hatte, seit er nach seiner Facharztausbildung hier angefangen hatte: Man entkam diesem Mann nicht, wenn er einem eine Frage stellte. Dr. Abraham war einen Meter siebzig groß, sechsundfünfzig Jahre alt und ein todernster Mann. Er hatte ein enzyklopädisches Wissen über Krankenhausabläufe und absolut null Sinn für Humor.
»Sie erwähnten einen Donny?«
Will drehte sich zu seinem Chef um, und der tat, was er immer machte, wenn sie irgendwo zusammenstanden. Er sah ihn nicht an. Sofern Will nicht saß und Dr. Abraham stand, war Augenkontakt ein No-Go, wobei Will inzwischen wusste, dass er es nicht persönlich nehmen sollte. Jetzt gerade starrte Dr. Abraham zu dem Kaffeetresen, dennoch war klar, dass er auf eine Antwort wartete.
»Niemand Wichtiges«, sagte Will.
»Ich hoffe, dass Sie nicht von einem Patienten sprechen.«
»Selbstverständlich nicht.«
Will trank einen Schluck von dem zu heißen Kaffee. Zusätzlich zu seiner Darth-Vader-Stimme verfiel Will in solchen Situationen leider auch oft in den sehr formellen Ton von Dr. Abraham. Ein kürzlich verschiedener Angehöriger, schlug ihm sein Abraham-infiziertes Gehirn vor, und aus lauter Verärgerung über diese innere Stimme, platzte er heraus: »Er ist mein toter Onkel.«
Beinahe hätte der Mann jetzt doch zu ihm geblickt. Stattdessen räusperte er sich und wippte auf seinen Fersen, wie es seine Gewohnheit war. Tat er es auf Station, wenn er Anweisungen zur Medikamentierung gab oder eine Diagnose stellte, wusste man, dass man etwas getan hatte, was ihm missfiel und was er später als »unglückliche Entscheidung« oder »Abweichung von unserem üblichen Prozedere« bezeichnen würde.
Will wartete.
»Ich nehme an, dass er prä oder post mortem etwas getan hat, das diese harsche Ausdrucksweise verdient?«
Wo sollte er anfangen? Will trank noch einen Schluck Kaffee und sagte: »Er hat mir sein Apartment hinterlassen.«
Und alles, was sich darin befand. Soweit Will gesehen hatte, war der braune Liegesessel noch da. Und auch der Geruch war derselbe wie damals und rief lauter schreckliche Erinnerungen an jenen furchtbaren Tag wach. Er hatte aus der Wohnung rausgewollt, deshalb war er auf den Balkon gegangen. Wo er …
»Ein ungewöhnlicher Grund, jemanden zu verfluchen«, sagte Abraham. Janine reichte ihm seinen Kaffee über den Tresen hinweg. Da sie ebenfalls nervös wirkte, warf Will ihr ein Lächeln zu, das so viel bedeuten sollte wie, Ich verstehe Sie, als Dr. Abraham vortrat und anstelle eines Dankeschöns nickte. Abraham war nicht nur ein Besserwisser, sondern darüber hinaus von äußerst sparsamer Höflichkeit. Ein Beleg für Letzteres war, dass er sich umdrehte und wortlos die Cafeteria verließ, wobei er eindeutig erwartete, dass Will ihm folgte.
Und weil der Mann seine Beurteilungen schrieb, gehorchte Will ihm.
»Ist das Apartment hier in der Stadt?«, fragte Abraham, sobald Will neben ihm war.
Will fühlte, wie er wieder die Zähne zusammenbiss, dass sie knirschten. Er verspürte den Impuls, diese Unterhaltung zu beenden, und genau das war das Problem. Seit dem Anruf wusste er, dass er über Donnys Erbe nachdenken sollte – den Papierkram, das Testament, alles –, stattdessen hatte er sich mit allem Möglichen beschäftigt und dafür gesorgt, dass er keine Zeit dafür hatte. Er war lange im Krankenhaus geblieben oder hatte zusätzliche Schichten in der Praxis übernommen, in der er an seinen freien Tagen aushalf, um den Lärm zu verdrängen, der jedes Mal in seinem Kopf anhob, sowie er an Donny und dessen verdammte Wohnung dachte. Als er letzte Nacht wachgelegen und die Stunden gezählt hatte, bis sein Wecker klingelte, hatte er beschlossen, dass er sich lange genug gedrückt hatte. Nach einer sehr kurzen Dusche hatte er sich seine Krankenhausklamotten angezogen und sich auf den Weg zu der Adresse in den Papieren gemacht, die er seit über einer Woche immer wieder anstarrte.
Er war entschlossen gewesen, praktisch und vernünftig zu handeln.
Doch dann war da dieser plötzliche Drang gewesen, raus auf den Balkon zu fliehen, weg von Donnys Sachen. Und seitdem bewirkte dieser unkontrollierbare Reflex, dass er auf diese Frau fixiert war, deren Namen er nicht einmal kannte, anstatt auf das Problem, das er anpacken musste. Drängte ihn nun derselbe Reflex, eine vollkommen harmlose Unterhaltung darüber abzubrechen?
Er benahm sich kindisch!
»Im Norden«, antwortete er bestimmt. »Hinterm Logan Square.«
»Das würde einen langen Arbeitsweg bedeuten, aber …«