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Gewinner des Selfpublishing-Buchpreis 2022
Das Ende der Leidenschaft ist der Anfang der Reue.
Wenn Kit Camino das Cembalo spielt, färbt ihre Welt sich bunt. Jeden Ton sieht sie als Farbe. Doch diese Welt, die Welt ihres Vaters, hat sie hinter sich gelassen. Sie meidet ihn, das Instrument und alles, was sie daran erinnern könnte. Zu viel ist zwischen ihnen vorgefallen.
Als ihr Vater unerwartet verstirbt, erschüttert es Kit mehr, als sie sich eingestehen möchte. Er hinterlässt ihr Winters Weiher, das Landhaus der Familie und Sehnsuchtsort ihrer Kindheit. Dort hofft sie, endlich neu anfangen zu können.
Ihr Vater macht es ihr jedoch nicht leicht, ihn und das Cembalo zu vergessen, und die Sehnsucht nach der Musik ist stark. Wird es Kit gelingen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, bevor sie sich selbst verliert?
Ein gefühlvoller Roman über die Kraft der Vergebung und die Farben der Musik.
Mit „Der Klang von Feuerblau“ ist Johanna Gerhard ein gefühlsgewaltiger Debütroman über die Farben der Musik und die Gewalt von Gefühlen gelungen. (Martina Raschke, Tolino Media)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Präludium
Fis in Rot
Diludium
C in Grün
H in Gelbgrün
E in Violett
Diludium
Ais in Gelb
Dis in Indigo
Diludium
F in Purpur
G in Rotorange
Diludium
A in Gold
Gis in Orange
Tradimento
Diludium
Cis in Blaugrün
D in Feuerblau
Nachwort
Danksagung
Über die Autorin
Deutsche Erstveröffentlichung, Oktober 2021
Johanna Gerhard, Kiebitzweg 12, 21339 Lüneburg
www.johannagerhard.de
Umschlaggestaltung: Sarah Scheumer, www.sarahscheumer.de
Bildquelle: Shutterstock
Lektorat: Mea Kalcher, www.meakalcher.de
Korrektorat: Martha Wilhelm, www.textwinkel.de
ISBN Print: 978-3-96966-850-4
ISBN eBook: 978-3-75469-231-8
Für Jonas,
Liebe meines Lebens
Es ruht ein Leben in den Saiten
Und Geister wohnen in dem Klang.
Emil Rittershaus (1834-1897)
Die Tasten geben unter dem Druck meiner Finger nach. Die Töne verschmelzen zu einem farbigen Schleier, der sich über das Zimmer legt und auch nicht verschwindet, als ich die Augen schließe. Ich lasse die Klänge aus mir hinausfließen und die Farben tropfen von den Saiten, bis ich entspannt in den bunten Wogen treibe.
Ich liebe das Cembalo. Die schillernden Töne. Früher hat Vater gesagt, ich könne Musik malen. Genau wie er. Damals, als er selbst Musik gemalt hat, die nach leuchtenden Diamanten klang.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr über der Tür und lasse die Töne verklingen. Noch fünf Minuten. Das Leuchten der Musik verschwindet und hinterlässt eine kalte Leere. Mit jedem Schritt, den sich der Sekundenzeiger ruckartig nach vorn bewegt, wächst meine Anspannung. Ich presse die Hände in den Schoß, um das Zittern zu unterdrücken, das mich immer überkommt, wenn ich auf ihn warte.
Das Sonnenlicht wirft tanzende Flecken in den Raum. Die Strahlen wärmen den Nacken. Es fühlt sich an wie einer der längst vergangenen Sommertage in Winters Weiher. Wie an meinem zehnten Geburtstag, als die Welt in Ordnung und mein Leben nicht die Hölle war. Vier Jahre ist das schon her.
Kälte kriecht mir durch den Körper und vertreibt die Sonne. Noch zwei Minuten.
Wie lange wird es heute dauern, bis er mich gehen lässt?
Ich starre auf die Tür und bete, dass sie geschlossen bleibt. Dass er nicht kommt. Dass er mich in Ruhe lässt.
Der Minutenzeiger rückt auf die Zwölf vor. Die Tür rührt sich nicht.
Ich wage es kaum, zu hoffen.
Schritte auf dem Flur. Er ist es. Ich erkenne es am Gang. Lange, schwere Schritte. Die Tür wird geöffnet und er tritt ein.
Mein Körper verkrampft sich.
Vater steht im Türrahmen, sein Blick ist ausdruckslos. Da, wo früher die rechte Hand war, lugt ein nackter Stumpf aus dem umgeschlagenen Hemdsärmel. In der anderen Hand hält er seinen Taktstock. Meine Handrücken kribbeln.
»Bach, Präludium in C-Dur.«
Die Worte sind ein Schwall kaltes Wasser. Nicht schon wieder. Ich versuche, mich zu entspannen, sonst werde ich heute gar nicht mehr hier rauskommen.
Das Stück ist mir so vertraut wie mein Schulweg. Jede Note hat sich als Farbtupfer in mein Hirn gebrannt. Mechanisch setzen die Hände an, den immer gleichen Bewegungsablauf abzuspulen.
Wird er heute zufrieden sein?
Mühelos gleiten die Finger durch die Partitur, die Töne plätschern wie ein Bachlauf vor sich hin. Das Musikzimmer färbt sich sonnenblumengelb. Das Rot von Himbeeren mischt sich dazu. Beides zerfließt in ein dunkles Blau. Feuerblau hab ich es früher genannt.
Ein Knall.
Ich zucke zusammen und höre auf, zu spielen.
Vater hat die Tür zugeschlagen und starrt mich zornig an. »Das kannst du besser. Noch mal.«
Ich weiß, dass er das Blau dunkler haben möchte. So wie er es früher gespielt hat. Das Legatissimo ein wenig ausdehnen und den Ton kräftiger anschlagen, damit es wie blauer Rauch aussieht. Ein Unterschied, den vermutlich nur er und ich hören und sehen können.
Ich beginne von vorn, doch an der gleichen Stelle unterbricht er mich wieder, indem er den Taktstock gegen den Türrahmen schlägt. Dabei weiß ich genau, dass ich keinen Fehler gemacht habe. Es war schon immer Feuerblau. Damals hat er gesagt, dass es gut zu mir passt.
»Ich habe langsam keine Geduld mehr. Wie oft müssen wir es noch üben, bis du den Unterschied siehst? Oder kannst du ihn nicht sehen? Ist es zu hell hier drin?« Er drückt auf den Schalter neben der Tür und mit einem Rattern setzen sich die Außenjalousien in Bewegung. Dann dreht er den Schlüssel im Schloss.
Das Licht schwindet. Nicht einmal die Luftschlitze lässt er offen. Ich bin gefangen. Wie so oft. Und Mutter ist schon wieder nicht da.
Die Schwärze engt mich ein. Ein tonloser Druck, der mich erstickt. Bildfetzen schießen durch meinen Kopf.
Dunkelheit. Farbstrudel, die hinter der Stirn hämmern. Atemzüge im Nacken. Beißende Schmerzen auf den Handrücken. Und heiße Scham, die sich in mir ausbreitet, als sich die Angst unkontrolliert entleert.
Ich muss mich zwingen, ihn nicht anzuflehen, mich gehen zu lassen. Es würde alles schlimmer machen. Zum Glück kann er nicht sehen, dass ich zittere.
Die Berührung am Rücken schießt wie ein elektrischer Schlag durch meinen Körper. Es ist Vaters Armstumpf. Ein knubbeliges Etwas, das sich drohend an mich presst.
»Sitz gefälligst gerade.«
Ich richte mich auf, so gerade wie möglich. Alles, um dieser verkrüppelten Berührung zu entgehen.
»Und jetzt spiel.«
Ich kann nicht. Ich kann mich nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einem Albtraum, der seit Jahren anhält. Ich will das alles nicht.
»Spiel!« Er haut auf die Tasten und eine Farbexplosion aus Feuerrot, Smaragdgrün und Lila schießt durch meinen Kopf. »Du kommst hier erst raus, wenn du es richtig machst.«
Ich presse mir die Hände auf die Ohren. Es ist zu viel. Zu intensiv. Seine Dunkelheit hält mich fest. Sie schmeckt bitter.
Ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe. Warum meine Leistung nie gut genug ist, obwohl ich die Stücke fehlerfrei beherrsche. Warum tut er mir das an? Jeden Tag aufs Neue. Ich kann nicht anders. Ich weine.
Wieder bohrt sich der Armstumpf in meinen Rücken, Vaters Atem im Nacken ist glühend heiß, während er mich anbrüllt, dass ich spielen soll.
Ein Teil von mir will sich auflehnen, sich weigern. Aufstehen. Gehen. Aber der andere Teil, der, der noch immer hofft, dass alles wieder gut wird, und der alles tun würde, damit mein Vater mich wieder lieb hat, ist stärker.
Also spiele ich. Immer und immer wieder dieselbe Passage. Farbige Blitze im Dunkeln, die meinen Kopf zerreißen. Grell und schmerzhaft.
»Falsch«, brüllt er und peitscht den Stock auf meine Hände. »Falsch, falsch, falsch!«
Ich schreie. Etwas Warmes läuft über meinen Handrücken. Doch ich spiele weiter. Spiele, bis sich alles dreht und ich die Hände nicht mehr spüre. Blauer Schwindel. Taubenblau. Blaugrau. Marineblau. Nie Rauchblau. Der gleiche Ton in unterschiedlichsten Nuancen.
Es hört nicht auf. Vater drückt meinen Kopf in den lauten Ozean von Blautönen. Er lässt nicht los.
Ich ertrinke.
Es fühlte sich gut an, Vaters Gesicht zu zerfetzen. Die Papierschnipsel wirbelten durcheinander und bildeten einen Haufen traurigen Konfettis auf dem Boden des Papierkorbs.
Mein Herz hämmerte im Stakkato, seitdem ich das aktuelle Titelblatt der Musik heute gesehen hatte.
Großzügiges Genie – Nestor Camino gründet Stiftung zur musikalischen Förderung benachteiligter Jugendlicher
Mutters Werk. Ohne Zweifel. Allein kam Vater nicht auf solche Ideen.
Alles in mir verkrampfte sich. Der Zorn war mir so vertraut, dass ich ihn wie einen Freund willkommen hieß. Ich starrte auf die bunten Papierfetzen.
Die Türklingel riss mich aus den Gedanken. Das musste einer der Bewerber sein. Meine Chefin hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein Vorstellungsgespräch nach dem anderen zu führen, um das Angebot an der Musikschule zu erweitern. Was dazu führte, dass ich mein Büro in den letzten Tagen kaum für mich allein gehabt hatte. Die Schule hatte einen außerordentlich guten Ruf.
Als ich die Tür öffnete, stand mir ein junger Mann gegenüber. Er wippte auf den Füßen hin und her und sah aus wie jemand, den man gegen seinen Willen in einen Konfirmandenanzug gesteckt hatte. Ich konnte seine Vorfreude deutlich spüren. Er war mir auf Anhieb unsympathisch.
»Guten Tag. Lars Böttcher. Ich habe um zwei ein Vorstellungsgespräch.«
Ich trat zur Seite. »Kit Camino. Herzlich willkommen.« Sowohl herzlich als auch willkommen waren gelogen. Ich zeigte auf mein Büro. »Bitte nehmen Sie noch einen Moment Platz. Frau Gerlach wird gleich bei Ihnen sein. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Ich spulte mein Programm herunter und war froh, als Herr Böttcher verneinte. Stattdessen sah er sich in meinem Büro um. Es gab nicht viel zu sehen außer kahlen Wänden und verschlossenen Schränken. Ich hatte das Gefühl, dass er augenblicklich ein Urteil übermich fällte, als sein Blick auf der Messingplakette mit der Aufschrift »Sekretariat« hängen blieb. Dem einzigen Gegenstand, der außer Bildschirm, Tastatur und Drucker auf meinem Schreibtisch stand. Von der Zeitschrift mit dem fehlenden Deckblatt abgesehen.
Er setzte sich aufs Sofa. Es entstand ein beinahe behagliches Bild, das nicht zum Rest des sterilen Büros passte.
Wieder an meinem Platz versuchte ich, so zu tun, als wäre ich allein. Leider spürte ich genau, wie Herr Böttcher mich beobachtete. Ich fixierte den Bildschirm, ohne wahrzunehmen, was ich vor mir sah.
Ein Räuspern durchbrach die Stille. Ich schloss die Augen, um mich zu sammeln. Wieso konnten sie mich nie in Ruhe lassen? Lag es an dem Sofa, dass, wer auch immer darauf Platz nahm, mich unbedingt in ein Gespräch verwickeln wollte?
Ich wandte mich Herrn Böttcher zu, wich seinem Blick jedoch aus. Ich wartete immer noch darauf, dass irgendwer daraus schließen würde, dass ich nicht reden wollte. Offensichtlich vergebens, denn auch aus Herrn Böttcher sprudelte ein ganzer Wasserfall.
»Wissen Sie, Frau Camino, es ist eine große Ehre für mich, Sie kennenzulernen. Ich wusste nicht, dass Sie hier arbeiten. Unterrichten Sie auch?«
Ich ignorierte den Kloß, der sich in der Kehle bildete, und zwang mich zu einer neutralen Antwort. »Das Unterrichten gehört nicht zu meinen Aufgaben.«
»Ich muss ehrlich sagen, dass mich das ein wenig beruhigt. Für einen Moment dachte ich, dass ich gleich wieder gehen könnte. Wozu braucht diese Musikschule einen zweiten Cembalo-Lehrer, wenn Sie hier arbeiten? Aber das erklärt es natürlich.«
Während für Herrn Böttcher die Welt wieder in bester Ordnung war, erstarrte meine. Eine eisige Kälte fraß sich durch meine Eingeweide. Am liebsten hätte ich mich zusammengekrümmt – wenn ich allein gewesen wäre.
Ich bekam nur am Rande mit, dass meine Chefin hereinkam, den Bewerber begrüßte und in ihr Büro bat.
Er spielte Cembalo. Dachte Frau Gerlach etwa darüber nach, in diesem Haus Cembalo-Unterricht anzubieten?
Mit jedem Atemzug strömte weniger Luft in meine Lungen. Als ob nicht so schon jeder Tag schwer genug war. Wie sollte ich da noch ein Cembalo ertragen? Ich hatte mir diese Schule gerade deshalb ausgesucht. Musik ja. Cembalo nein.
Da kam Frau Gerlach noch einmal zurück. »Frau Camino? Würden Sie bitte mitkommen? Mich interessiert Ihre Meinung.«
»Auf keinen Fall.« Die Worte verließen meinen Mund, bevor ich darüber nachdenken konnte, dass etwas Diplomatie meiner Chefin gegenüber angebracht wäre.
Mit den streng zurückgebundenen Haaren, der hellen Bluse und dem knielangen Bleistiftrock sah sie aus, als wäre sie einer Vorstandsetage entflohen. Gleich würde sie mich ermahnen. Doch sie sagte nichts. Stattdessen drehte sie sich um und ging.
Glasklar ertönten etwas später die ersten Klavierklänge. Ich erkannte das Stück sofort: die Toccata in e-Moll von Bach. Eigentlich fürs Cembalo komponiert.
Ein farbiger Schleier legte sich über die Welt und ließ jede Note in ihrer ureigensten Farbe durch meinen Kopf tanzen. Ich kannte den bunten Reigen in- und auswendig. Es war so natürlich wie Atmen, dass jedes Stück seine eigene Farbkomposition trug. Diese hier wurde hin und wieder durch einen falschen Farbtupfer gestört, wenn Herr Böttcher sich verspielte.
Ich wünschte mir, ich könnte ihn korrigieren. Ich wünschte, ich könnte ihm zeigen, wie man es richtig spielte. Nicht auf einem Klavier. Auf einem Cembalo.
Nein! So weit durfte ich nicht denken. Noch gab es hier kein Cembalo und so würde es hoffentlich bleiben. Alles würde weitergehen wie bisher. Ich würde ganz normal weitermachen und meiner Arbeit nachgehen.
Ich atmete tief ein und versuchte, die Eiseskälte abzuschütteln. Das Klavier füllte die Stille, sodass ich ihm ausgeliefert war. Ich ertappte mich dabei, wie ich das Spiel von Herrn Böttcher analysierte: dynamisch, technisch anspruchsvoll, ein wenig emotionslos, zu viele Fehler. Sie alle machten zu viele Fehler. Wirklich perfekt war bisher niemand gewesen. Zumindest niemand in der Musikschule.
Dann kam der Schmerz und ich wünschte, ich wäre taub. Jeder Ton bohrte an einer Erinnerung, die ich vergessen wollte. Ich zwang mich, aufzustehen. Es waren nur ein paar Schritte, trotzdem kam ich nicht voran.
Nach einer gefühlten Ewigkeit drückte ich die Tür zu. Die Töne verblassten, wurden leiser und dumpfer. Ich lehnte mich gegen das Türblatt. Die Begegnung hatte mich ausgelaugt. Als ob bereits Abend wäre.
Ich ging zurück zum Schreibtisch, ließ mich in den Drehstuhl sinken und sah aus dem Fenster. Die Hecke leuchtete in einem viel zu kräftigen C. Doch das seidige D der Vorhänge, die bis zum Boden reichten, war tröstlich.
Kein Tag des letzten Jahres war wirklich gut gewesen. Aber dass ausgerechnet heute alles zusammenkommen musste … Als verhöhnte mich die Welt, während ich mir die Nase am Fenster platt drückte und den anderen beim Leben zusah.
Ohne dass ich es wollte, musste ich lachen. Es klang selbst in meinen Ohren verbittert.
Ich presste die Handballen auf die Augen und versuchte, die Bilder wegzudrängen, die mich überfluteten.
Kräftige Arme, die mich durch die Luft wirbeln, bis die Welt in ihren Tönen verschwimmt. Eine tiefe Stimme, deren warmes Timbre ein Schlaflied webt, das sich wie eine Decke in allen Farben des Regenbogens über mich legt.
Schritte auf dem Flur holten mich in die Gegenwart zurück.
»Vielen Dank für Ihre Zeit, Herr Böttcher. Ich werde mich innerhalb der nächsten Woche bei Ihnen melden«, sagte Frau Gerlach.
Ich richtete mich auf und versuchte, mich zu fassen; tat so, als würde ich wichtige Dinge in die Tastatur hauen. Da öffnete Frau Gerlach die Tür. Ihre rechteckige Brille saß zu weit vorn auf der Nasenspitze. Sie musterte mich über den Brillenrand hinweg.
»Haben Sie einen Moment Zeit, Frau Camino?«
Ich nickte.
»Dann lassen Sie uns doch mal zusammensetzen.« Sie schob ihre Brille nach oben. Ich wusste, dass dies keine Bitte war.
Ich folgte ihr über den Flur. Die frisch gebohnerten Holzdielen knarzten unter unseren Füßen, was durch den aggressiven Rhythmus von Frau Gerlachs Absätzen fast übertönt wurde. Wie immer war ich mir der Anwesenheit der Kunstdrucke an den Wänden bewusst, die verschiedene Musikinstrumente zeigten. Eines schöner als das andere, doch ich sah sie nicht an, weil eins davon ein Cembalo war.
Wir gingen an den Musikzimmern vorbei, die, obwohl sie geschlossen waren, nach mir riefen. Ich spürte ihren Sog, verführerisch und bedrohlich.
Das Büro von Frau Gerlach passte nicht zum Rest der Musikschule. In den Regalen standen Fotos, die viele lachende Menschen zeigten; auf der Fensterbank Blumentöpfe, in denen Blumen ihren süßen Duft verströmten. Ich setzte mich ihr gegenüber in einen der tiefen Ledersessel. Auf dem Schreibtisch zwischen uns lagen Erinnerungsstücke ans Meer: Muscheln, Steine, ein Buddelschiff, eine Flaschenpost.
Frau Gerlach hatte sich eingerichtet, während ich es nicht über mich brachte, auch nur eine Pflanze auf die Fensterbank zu stellen. Jeden Tag aufs Neue bereit zu flüchten.
Frau Gerlach füllte zwei Gläser mit Wasser. Heute war einer dieser Tage, an dem ich der Welt und ihren Eindrücken nicht gewachsen war. Das Plätschern des Wassers war für meine Ohren unerträglich laut. Frau Gerlachs perfekt manikürte Fingernägel strahlten zu grell in Fis, genau wie ihre Brille. Sie lehnte sich zurück und lächelte.
Ich wich ihrem Blick aus und senkte den Kopf. Ihre Präsenz, die Toccata, meine Erinnerungen. Es war zu viel.
»Frau Camino, wie gefällt es Ihnen bisher? Arbeiten Sie gern hier?«
Mein Körper versteifte sich. Ich wusste nicht, wie ich diese Frage beantworten sollte, weil klar war, worauf es hinauslief. Augen schließen. Luft holen. Nachdenken.
»Ich bin zufrieden.« Ich hoffte, dass meine Antwort sicher klang. Auch wenn ich mich nicht so fühlte. Ich spürte, dass Frau Gerlach mich weiter anlächelte.
»Wissen Sie, was ich nicht verstehe?«
Bitte nicht.
»Warum genügt es einer zwanzigjährigen Frau mit Ihrem Talent, als Sekretärin zu arbeiten?«
Ich hörte das Interesse in ihrer Stimme, konnte mir jedoch nicht helfen: Ich fühlte mich verhört. Und es ging sie nichts an. »Das steht so in meinem Vertrag.«
»Frau Camino, darum geht es nicht. Es geht darum, dass Sie überqualifiziert sind für diese Arbeit.«
Ich atmete scharf ein. »Heißt das, Sie wollen mir kündigen? Warum haben Sie mich dann überhaupt eingestellt?«
»Keine Sorge. Ich hatte lediglich gehofft, dass Sie der Musikschule Ihr Talent zur Verfügung stellen, wenn Sie erst einmal angekommen sind.«
Alles in mir verlangte danach, meine Ablehnung herauszuschreien. Doch ich beherrschte mich. »Was ist mit Herrn Böttcher?«
»Er ist ein guter Kandidat«, sagte Frau Gerlach. Ihre Fingerspitzen schlug sie in einem stetigen Rhythmus gegeneinander, immer um ein Hundertstel neben dem Takt. Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, einen gleichmäßigen Takt zu halten.
»Aber wieso soll ich jemand Neues einstellen, wenn ich Sie habe?«
Ich ballte die Fäuste, bis ich die Fingernägel in den Handflächen spürte. Der Schmerz hielt mich zusammen. »Ich spiele nicht mehr«, sagte ich. Jedes Wort mit Nachdruck. Akzeptier es einfach.
»Das habe ich gehört. Aber ich wollte nicht glauben, dass Sie freiwillig Ihr Studium abgebrochen haben.«
Warum nicht? Warum kann es nie jemand glauben?
»Es ist aber so.« Ich versuchte, noch mehr Kraft in meine Stimme zu legen. Ich war kurz davor, die Geduld zu verlieren.
»Warum wollen Sie nicht mehr spielen? Sie könnten es so weit bringen.«
Dieses Mal sah ich Frau Gerlach direkt an und wunderte mich, dass sie nicht merkte, wie sehr sie mich aus der Fassung brachte. »Frau Gerlach, bei allem Respekt, das hat persönliche Gründe, über die ich nicht sprechen werde.« Damit sollte das Thema erledigt sein, oder?
»In Ordnung.«
Pause. Ich hoffte.
»Ich möchte Sie nur bitten, darüber nachzudenken. Es wäre dem Ruf unserer Musikschule sehr zuträglich.«
Ich stand auf und stieß dabei gegen den Tisch, was die Gläser zum Schwanken brachte. Der Raum begann, sich zu drehen, und der süße Blumenduft raubte mir die Luft zum Atmen. »Ich glaube, ich fühle mich nicht so gut. Ich würde gern gehen.« Ich griff nach dem Sessel, um mein Gleichgewicht zu halten.
Sie sprang auf, wollte mir helfen, doch ich schüttelte ihren Arm ab.
»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«
Ich wollte ihre Besorgnis nicht. Ich wollte weg hier. »Nein danke. Die frische Luft wird mir guttun.«
»Wie Sie meinen. Melden Sie sich, falls es morgen nicht besser sein sollte.«
Ich nickte und wandte mich ab. Konzentrierte mich auf jeden Schritt, um nicht ins Straucheln zu geraten. Frau Gerlachs Blick bohrte sich in meinen Rücken.
Der Schwindel ließ nach, als ich ihr Büro verließ, dafür verengte sich der Flur. Ich musste hier raus.
Ich holte meine Handtasche und ließ alles andere, wie es war. Die bloße Vorstellung, noch einen Augenblick länger hierzubleiben, brachte meinen Puls zum Rasen. Ich stemmte mich gegen die schwere Holztür, die mir den Weg versperrte. Mich einsperrte. Wertvolle Sekunden lang.
Als die Tür endlich hinter mir ins Schloss fiel, fühlte ich mich befreit. Ich atmete tief ein und aus; versuchte, zur Ruhe zu kommen. Bilder drängten sich in mein Bewusstsein. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte sie nicht sehen.
Mit zittrigen Fingern holte ich das Handy aus der Tasche. Drei verpasste Anrufe von meiner Mutter. Immer Mutter. Nie er.
Keine Enttäuschung, ermahnte ich mich. Das hat er nicht verdient. Dann wählte ich die einzige Nummer, von der ich wusste, dass die Person, der sie gehörte, mich verstehen würde. Es klingelte zwei Mal.
»Kit? Was ist los?« Maja merkte immer, wenn etwas nicht stimmte. Sie ließ mich nie im Stich.
»Kannst du vorbeikommen?«
»Gib mir eine Stunde. Dann hab ich Feierabend.«
♪ ♪ ♪
Ich wartete darauf, dass die Ampel umsprang, und bekam es doch nicht mit. Erst als ich angerempelt wurde, merkte ich, dass ich ins Nichts gestarrt hatte. Und da wurde es auch schon wieder fis.
Ich lief trotzdem über die Straße, ignorierte das Hupen und die Rufe wütender Radfahrer. Vorbei an der Backstube, aus der es nach frischen Brötchen roch.