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1929: Täglich gingen Kunden ein und aus, doch einer blieb der damals 19 jährigen Ilse Gruber im Gedächtnis. Karl Steinbach. Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Was Ilse jedoch nicht ahnt ist, dass ihre später Liebe zueinander viele Hürden überwinden muss. Nach Anfang des 2 Weltkriegs erreicht das Ehepaar eine unerwartete Nachricht und das Glück wird in den Schatten geworfen. Karl muss nun im besetzten Frankreich seine Aufgaben erledigen. Weit weg von seiner Geliebten Familie. Wird die Ehe die Entfernung durchhalten? Trotz der vielen Umstände gelingt es Karl, neben seiner Arbeit bei der SS, die Stadt Paris und die Umgebung zu erforschen. Dabei machte er eines Tages eine unglaubliche Entdeckung, von der er dachte sie sei unmöglich. War das alles nur noch ein glücklicher Zufall oder schon Teil seines Schicksals? Wird diese zufällige Begegnung Auswirkungen auf Karls Leben und das seiner Familie haben? Trotz allem darf nicht vergessen werden: Umso mehr Glück man hat, umso schlimmer sind die Folgen.
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Seitenzahl: 366
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Prolog
Teil I:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Teil II:
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Teil III:
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Anhang
Danksagung
Mit dem Wissen wächst der Zweifel
-Johann Wolfgang von Goethe
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Es sind Momente, die dein Leben prägen; Momente, in denen dir klar wird, dass nichts mehr so sein
wird wie zuvor und die Zeit in zwei Teile geteilt ist: Davor und Danach.
Die Zeit verändert alles und man kann sie daran nicht hindern. Veränderung erlebt man oft, mal ist sie nötig und mal sehr schmerzhaft. In Erinnerungen versunken, die Versuche mit der Zeit mit zuhalten. Wenn man sich ein mal in der Vergangenheit verliert, ist es schwer wieder zurück zu finden, denn wie gesagt die Zeit macht keine extra Pause für dich. Zeit kann zu deiner größten Schwäche werden. Ich spreche aus eigener Erfahrung.
Alles begann im Jahr 1937. Damals war ich 26 Jahre alt und wurde für die Wehrmacht ausgewählt. Es war, wie von vielen Kindern und Jugendlichen aus meinem Dorf, mein größter Wunsch. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt nicht begeistert darüber, dass wenn es Krieg gäbe ihr Sohn für Deutschland kämpfen würde. Vater hingegen war stolz auf mich. Er strahlte eine Zufriedenheit aus, die bis in mein Innerstes drang. So ein Gefühl hatte er mir bisher noch nie zu verspüren gegeben. Die letzten Minuten bei meiner Familie sollten mir Kraft und Mut mit auf den bevorstehenden Weg geben.
Tränen fielen auf das rote Kleid meiner Mutter, trotzdem schenkte sie mir ein Lächeln. Früher sagte sie immer “Egal welchen Weg du einmal gehen wirst, wird von deiner Entscheidung abhängig sein“ und jetzt verstand ich auch die Kernaussage. Schließlich kam der dunkle Transportwagen um die Kurve und zog eine Staubwolke hinter sich her, denn die Straßen, aus unserem Dorf, bestanden noch aus Kieselsteinen und Erde. Aber immerhin konnte man sich darauf fortbewegen. Die Leute schauten sofort aus ihren Fenstern, hörten auf Gartenarbeit zu tätigen, das Gelächter wurde leiser und sofort herrschte tiefe Neugier im Dorf. Die Steine knirschten, als die Reifen darüber fuhren. Das Automobil hielt vor unserem Gartentor an. Auf dem Wagen befanden sich schon junge Männer von nebenan liegenden Wohnorten.
Meinen Rucksack stellte ich zwischen meine Beine und wurde daraufhin herzlich in die Gruppe aufgenommen.
Mit einen meiner neuen Kameraden verstand ich mich am besten. Sein Name war Leopold Kober, aber ich durfte ihn Leo nennen. Er wohnte nicht weit entfernt von meinem Elternhaus. Wenigstens hatte ich jemanden der mich, in jener Sekunde wo ich eingestiegen bin, nicht als Kamerad sondern als Freund angesehen hatte.
Der Weg zum Quartier war hügelig und uneben. Die Aufregung in jedem von uns wurde durch den strengen Blickaustausch umhüllt. Niemand wollte gleich auffallend wirken und einen Eindruck hinterlassen, der zum Herauswurf führen würde. Denn schließlich möchte jeder fähig sein in die Wehrmacht zu kommen.
Man müsste nur einen Gedanken daran verschwenden, wieder in die Heimat zurückzukehren, weil man wegen der nicht vorhandenen Kontrolle der Gefühle als unbrauchbar eingestuft worden wäre. Der Vater entäuscht, die Mutter die Leidtragende der Meinungsverschiedenheiten des Nachbarschaftkreises.
Eine Person zu werden die ihr Selbstbewusstsein verloren hat und schähmend durch den Alltag läuft.
Jemand, der nicht in der Lage war, für sein Land den Sieg zu erzielen. Es war undenkbar. Eine Schande für Deutschland, welche jede helfende Hand gebrauchen kann. Es kann durch den Verlust einer einzigsten Person alles verloren gehen und der perfekt durchdachte Plan scheitern.
Bald darauf wurden die Bremsen getätig und wir kamen ruckartig zum stehen.
Leo und ich sprangen mit unseren Rucksäcken von dem Transportmittel und waren überglücklich dabei sein zu dürfen. Natürlich war das Gefühl nur innerlich vorhanden, äußerlich wurde immer noch der strenge Gesichtsausdruck beibehalten. Sofort wurden wir zu unserer ersten Lehrstunde geführt. Wir bekamen den Umgang verschiedenster Grundregeln, Waffen, Bomben und Verhaltensweisen ausführlich erklärt.
Nach einem langem Dialog, fand die erste Schussübung statt. Dort zeigte sich gleich, wer aufmerksam zugehört hatte und die erste Regel vorbildlich tätigte. Wie sich es dann herausstellte, war Leo schon vertraut mit dem Wesen und der Nutzung einer Waffe. Ich hingegen feuerte meinen ersten Schuss ab. Es klappte ziemlich gut. Ein Schussgerät benutzen zu können, war schließlich die Voraussetzung der Wehrmacht.
Am Abend gab es Eintopf und eine Rede des Kommandants. Dieser sprach mit Worten, die den Respekt, den du ihm gegenüber haben musstest, deutlich machten. Ebenfalls gab er die bevorstehende Pflichten an. Nachdem er Platz genommen hatte, durften wir mit dem Essen beginnen. Viele Redeten mit ihren neuen Bekanntschaften, doch Leo und ich waren in unseren Gedanken versunken. Mein Gefühl sagte mir, dass er in diesem Moment das gleiche dachte wie ich. Das Ziel für den eigenen Lebensweg rückte immer näher. Jetzt saß man mit Menschen in einem Raum die das gleiche erreichen wollten wie du. Vor einigen Jahren tat man alles mögliche um diese Chance zu erhalten und nun war man dabei sie ausleben zu dürfen.
Mit vollem Herzblut dabei für das bessere Ansehen des Heimatlandes zu sorgen. Mit voller Hingebung dem Herrscher, dem Führer, zur Verfügung zu stehen. Du bist in dieses Land geboren worden und jetzt musst du deiner Pflicht nachgehen. So vormulierte es zumindest der Kommandant.
Mit vollem Bauch, wurden wir alle zu unseren Schlafräumen gebracht. Dort befanden sich einige Betten mit warmhaltenden Decken und Kissen.
Dadurch das die kommenden Nächte, kühle Temperaturen mit sich brachten, musste man eben vorsorgen. Der Herbst in diesem Jahr war um ein paar Tage früher eingetreten als normalerweise. Das Zimmer teilte ich mit Leo und ein paar meiner neuen Kameraden. Am Morgen sollten wir ganz früh bereit sein und deshalb entschlossen wir uns etwas auszuruhen. Manche führten leise Gespräche mit ihrem Zimmergenossen. Mit geschlossen Augen lauschte ich anfangs, doch nach kurzer Zeit wurden die Geräusche von meinen Gedanken übertönt.
Eines Tages wird der Führer dir höchstpersönlich begegnen und wird dich zum Einsatz auszeichen. Dann wird man alles in der Macht stehende tun und mit für die Veränderung des Landes verantwortlich sein. Man kann dann davon ausgehen, das die Arbeit die du leisten wirst in die Geschichte eingehen wird. Du wirst mit Stolz und deinem Selbstwertgefühl den Weg der Vorsehnung gehen, im Gegensatz zu dem jenigen der sich nicht unter Kontrolle hatte als diese notwendig war.
Ein lautes, erschreckendes Geräusch erklang. Mein Körper saß sofort aufrecht auf der Matratze. Als erstes musste ich mein Umfeld erörtern. Wie es aussah, war ich immer noch dort wo ich mich schlafen gelegt hatte.
In windeseile wurde die Tür des Zimmers geöffnet.
Einer der Soldaten sprach in einem schnellen und angespannten Ton „Einer der Schlafräume hat Feuer gefangen! Beeilung!“ Wir sprangen unter unseren Decken hervor und zogen uns im hohen Tempo die Klamotten an. Es verlief alles so schnell, ohne das man auch nur einen Augenblick Ruhe empfinden konnte.
Trubbel war im ganzen Quartier vorhanden. Als ich in die kalte Herbstnacht hinausging sah ich die Flammen die eine hohe, graue Rauchwolke empor steigen ließen.
Der Geruch wurde in der ganzen Luft verteilt. Ein Gewirr bestand aus Stimmen und Leute, die Wasser holten. Mein Körper befand sich noch im reglosen Zustand. Ich hatte keine Kontrolle über ihn. Mein Kopf versuchte mich mit Befehlen fortzubewegen, doch ich blieb regungslos stehen. Die Flammen breiten sich immer weiter auf dem großen Platz aus. Auf einmal hörte ich eine Stimme und öffnete die Augen.
„Oh hatte wohl jemand einen Albtraum“, sprach ein Zimmergenosse lachend.
Meine Augen musterten den Raum. Wurde das Feuer gelöscht und ich rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden? Darauf dachte ich über meine eigene gestellte Frage nach. Also war das alles ein Traum gewesen.
Mein Kamerad lachte immer noch.
„Fischer, solbald irgendwann Krieg ist wirst du es wahrscheinlich nicht aushalten, wenn du jetzt schon schlecht träumst.“
Ich ignorierte die Aussage, aber dachte trotzdem darüber nach. Endlich verließ der unfreundliche Kamerad, welcher sich als Alexander Junk entpupte den Raum.
Daraufhin verließ auch ich das Zimmer, um mich zu den anderen zu begeben. Angekommen, mussten alle jungen Männer wieder einen ausführlichen Dialog anhören, der um das Organisatorische ging. Er erwähnte oft unser Führer und die Reinheit des deutschen Blutes muss erhalten werden. Dafür sollten wir zuständig sein. Wir sollten nie nur eine Sekunde daran denken, Mitleid zu haben. Die Rasse der nicht menschlichen Wesen sollte vollkommen vernichtet werden, nur dann kann unser Land in Zukunft weiterbestehen. Die Worte waren klar und deutlich vormuliert, sodass sie aufgesogen wurden wie Wasser von einem Schwamm.
Mit der Zeit wurden meine Fähigkeiten von Tag zu Tag besser. Die Disziplin war mittlerweile in jedem meiner Kameraden und mir vorhanden. Es dauerte nicht mehr lange bis der Führer unmittelbar vor uns stehen und auszeichen würde. Das deutsche Volk wird dankbar sein, dass junge Männer bereit waren die Unordnung im Volk zu beseitigen. Jedoch konnte ich manchmal die Perspektive des Kommandants nicht verstehen. Diese Meinungsverschiedenheit wurde dann oft unterdrückt wegen der Gedanken, die um meinen Traum kreisten.
Selbst habe ich den Kommandant nie darauf angesprochen und es einfach als “du tust es für dein Vaterland“ abgestempelt und in der Schublade meines Kopfes verschwinden lassen. Nicht einmal Leo wusste von meinen Gedanken, die ich in manchen Vorträgen hatte. Aber was tut man nicht alles für seine Ziele.
Es war Frühjahr 1939. Das genaue Datum, 08. März 1939. Es war der Tag an dem ich unserem Führer begenete. Meine Kameraden und ebenfalls meine Person standen nebeneinander, mit dem Blick nach vorne gerichtet, da. Er trat aus seinem Automobil heraus und begrüßte das Oberkommando des Quartiers.
Nach einem kurzen Wortaustausch wendete sich sein Blick zu uns, immer noch straff dort stehend. Seine Aufrechte Haltung beim Gehen, machte die Macht deutlich die er besaß. Die Schritte geplant gesetzt, in unsere Richtung laufend. Seine starken Blicke, durch seine blauen, überzeugenden Augen, ließen dich ein Gefühl verspüren, als könnte er dir in die Seele schauen. Er wendete sich an den ersten, in der Reihe stehenden, meiner Kameraden. Dieser sprach den Gruß des Führers aus, bevor ein kurzer Dialog geführt wurde.
Es gab ein Händeschütteln und eine Berührung mit der Hand des Führer auf die Schulter. Dann ging es weiter zum nächsten, bis ich irgendwann an der Reihe war.
Mein Herzschlag wurde schneller, aber durch meine Erfahrungen konnte ich es kontrollieren. „Du erweist deinem Vaterland einen großartigen Dienst. Dafür das du Einverstanden bist, damit die Ehre des deutschen Volk beständig bleibt. Danke das du einer jenen bist, die die Reinheit der Deutschen Rasse beibehalten wollen. Dafür das du mit vollem Herz und Seel' bereit bist alles Menschenmögliche zu tun, damit diese auch in Zukunft bestehen wird. Unsere Heimat ist und bleibt Deutschland.“ Daraufhin gab er mir ein kleines, zufriendenes Lächeln und ging in der Reihe weiter.
Als der Führer allen seinen Dank ausgesprochen hatte, ging es für ihn zu seinem Wohnort auf dem Obersalzberg. In diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, was sich in knapp sechs Monaten zutragen würde. Aber schließlich war es nur eine Frage der Zeit, bis das Problem in eine Eskalation umgewandelt werden würde. Von daher hätte es eigentlich keine Unklarheit, im Volk, geben sollen.
Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen
-Marie von Ebner-Eschenbach
„Wie geht es Ihnen?", fragte mich eine Stimme. Kam die Stimme aus meinem Unterbewusstsein oder hatte mir jemand eine Frage gestellt? Aber meines Wissens nach sollte mein Bewusstsein mich nicht mit einer formalen Anrede ansprechen. Ich konnte es nicht klar deuten.
War ich alleine? Alleine gefangen in dieser unrealistischen Welt der Dunkelheit? Was ist eigentlich passiert? Wo bin ich? Sollte ich versuchen meine Augen zu öffnen, wer weiß was mich erwartet? Etwas verschwommen wurde die Dunkelheit erhellt. Die Gefühlswahrnehmung meinerseits wurde stärker und klarer. Ich lag auf kalten Fliesen. Diese waren mit einer roten Flüssigkeit bedeckt. Es stellte sich heraus, dass es mein Blut war. Mein Kopf fing an zu stechen und jetzt bemerkte ich die mittlerweile kalte Flüssigkeit an meiner Wange. Sie kam von der Wunde an meinem Kopf. Überall lagen Scherben und es roch nach frischer Wandfarbe. Also musste es sich um ein erst kürzlich gefertigtes Haus handeln. Langsam setzte ich mich auf.
Etwas weiter von mir entfernt lag jemand auf dem Boden. Was war passiert?
Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich
-Hermann Hesse
Mai: Die Sonne weckte mich durch ihre warmen Strahlen. Wie immer war ich bis siebzehn Uhr allein, zumindest immer wenn mein Vater geschäftliche Aufgaben erledigen musste.
Meine Mutter war vor vier Jahren verstorben. Sie litt an Schwindsucht. Damals war ich fünfzehn Jahre alt. Aber mittlerweile brauchte ich keine Babysitter mehr, das wäre mit neunzehn Jahren ungewöhnlich. Ich war nicht wie die anderen, die alle Medizin studieren wollten.
Mein Traum war schon seit meiner Kindheit später einmal Kleidung zu nähen und zu entwerfen. Also habe ich nach meiner Schulzeit meinen eigenen kleinen Laden gegründet. Viele Mädchen, junge Frauen, sogar junge Männer gingen in meinem Geschäft ein und aus.
Viele Freunde hatte ich nicht. Wen interessiert schon die Anzahl der Freundinnen, solange man die richtigen hatte. Deshalb konnte ich mich voll und ganz auf meine eigene Arbeit konzentrieren.
Als meine Person aus dem warmen, kleinen Bett, welches ich besaß, stieg und über den alten Boden lief, knarrte es an manchen Stellen. Mittlerweile störte es mich nicht mehr, denn schließlich war ich hier aufgewachsen. Trotz der warmen Strahlen der Sonne, blieb der Boden kalt. Schnell huschte ich ins Bad. Auf dem runden, weißen Teppich konnte ich stehen bleiben, ohne die Kühle an meinen Füßen zu spüren. Durch unser Fenster konnte man ein kleines Stück der Straße sehen. Wie jeden Morgen betrachte ich unsere kleine Stadt mit einem zufriedenem Gefühl. Zudem, weil es meiner Familie nicht so schlecht ging, wie manch' anderer und ebenfalls wegen meines Weges, den ich gegangen bin und mein Ziel erreicht habe, nämlich einen kleinen Laden zu führen. Pünktlich wie immer kam der Postbote, um die Briefe auszutragen. Vielleicht war heute mein erwarteter Brief von meiner besten Freundin Marie dabei. Sie lebte etwas weiter von mir entfernt, damals hatten wir uns zufällig über einer meiner Tanten kennengelernt. Marie war nicht mit mir verwand oder ähnliches, wir waren einfach wie Schwestern mit unterschiedlichen Stammbäumen.
Meine Freundin ist vor kurzem zwanzig geworden. Seit ihrem Geburtstag habe ich keinen Brief mehr erhalten.
Zwar habe ich jeden Tag mindestens zwei Briefe verschickt, aber keine Antwort bekommen. Langsam machte ich mir Sorgen, doch was sollte schon geschehen sein? Mein Blick verfolgte den Boten, der auf dem Weg zu dem Briefkasten von Vaters Haus war.
Sofort streifte ich mein Nachtkleid von meiner Haut und zog das Kleid, welches ich als Geschenk von Papa bekommen hatte, an. Es war hellrosa und betonte leicht die Rundungen meines Körpers. Nicht das ich zu mollig war, nein, ich hatte eben eine frauliche Figur. Mit der Haarbürste fuhr ich durch meine verknoteten Strähnen.
Als dann endlich meine blonden Haare normal aussahen, konnte ich sie zusammenbinden. In Eile richtete ich die Kette, welche mir meine Mutter zum fünfzehnten Lebensjahr geschenkt hatte, kurz bevor sie verstarb.
Hastig ging ich die Treppe hinunter um mir meine Jacke überzuziehen. Beim Vorbeigehen erhaschte ich einen Blick in die Küche. Vater hatte mir Brötchen vom Bäcker gekauft. Es ist immer wieder schön zu sehen, dass auch wenn Papa nicht oft in meiner Gegenwart sein konnte, er trotzdem an mich dachte. Während ich meine Schuhe anzuziehen versuchte, hüfte ich schon zur Haustür. Alles war ruhig im Anwesen, nur meine Sprünge waren zu hören. Endlich konnte ich die Tür öffnen und zum Briefkasten gelangen. Die Sonne war unerwartet verschwunden und es kam mir ein feuchter Luftzug entgegen. Bald würde die Öffnungszeit meines Ladens beginnen, also musste ich mich etwas beeilen, wenn ich noch etwas frühstücken wollte. Gespannt und voller Aufregung öffnete ich den Kasten. Es war kein Brief für mich, was hieß kein Brief von Marie war gekommen. Nur wieder ein Schreiben für meinen Vater. Mit einem vermischten Gefühl aus Enttäuschung und Traurigkeit, las meine Stimme im Kopf den Empfänger vor.
Herr Johann Gruber
Weiter wollte ich nicht lesen und ging mit dem Umschlag ins Haus. Ich ging durch den Flur, welcher mit einem dunkelblauen Teppich ausgestattet war, in die Küche. Dort legte ich die Post auf das Regal, dass an der Wand neben dem Durchgang, der ins Wohnzimmer führte, stand. Die Uhr zeigte an, dass schon wieder fünf Minuten vergangen waren. Jetzt musste ich mich wirklich beeilen. Eigentlich hatte ich früh nur selten Stress, aber heute holte mich dieses Gefühl ein. Ich griff in die Tüte und zog ein Brötchen heraus. Daraufhin holte ich Schmalz aus unserem alten kleinen Küchenschrank. Immer wenn meine Person Brötchen mit Schmalz aß, kamen mir Erinnerungen von meiner Mutter in den Sinn. Früher hatte sie mir ab und zu eines für die Schule belegt. Als ich dann das Brötchen in meiner Pausenbox vorgefunden habe, war ich sehr erfreut darüber. Der Geschmack verteilte sich durch meinen ersten Biss in meinem Mund. Es schmeckte genauso wie früher und fühlte sich auch so an. Wäre da nicht diese Eile gewesen, dann hätte dieses Gefühl länger angedauert. Mit hastigem Kauen wurde das Brötchen kleiner und kleiner, bis schließlich nichts mehr übrig war. Wieder schritt ich über den alten Boden unseres Hauses und er gab knarrende Geräusche von sich. Damals als der Tod meiner Mutter erst zwei Wochen her war, erwarteten meine Augen immer wieder meine Mutter zusehen, wenn der Boden knackte. Doch jedes Mal holte mich die Enttäuschung ein, als am Ende nur mein Vater in die Küche eintrat.
Natürlich liebte ich meinen Vater Johann genauso wie vorher und war durchaus froh wenigstens noch ihn zu haben. Nach einer gewissen Zeit hatte sich die Hoffnung in Erwartung, meinen Vater zu sichten und nicht meine geliebte Mutter, wenn das Geräusch des veralteten Bodens erklang, umgewandelt.
Während meiner weiteren Gedankenzüge in der Vergangenheit hatte ich die hellblaue Jacke schon übergezogen. Beim vorbeigehen am Spiegel, musterten meine Augen die Kombination der Kleidung, welche ich trug. Die weiße Bluse passte zum Glück zu meiner Jacke.
Als ich die Haustür schloss, drang ein Motorgeräusch in meinen Hörsinn ein. Vor meinem Laden, welcher sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand, hielt ein schwarzes Auto an. Daraufhin öffnete ein junger Mann die Fahrertür des Vortbewegungsmittel und stieg heraus. Mein Blick verfolgte die Person, bis diese vor dem geschlossenen Geschäft stehen blieb. Sofort setzten meine Füße wieder zu Schritten an. Kurz danach stand meine Gegenwart vor der wartenden Person.
„Guten Morgen, Herr Weimar", sprach meine Stimme, nachdem ich den Herren erkannt hatte.
„Ebenfalls einen guten Morgen, Frau Gruber. Heute wohl etwas später", bekam ich zurück, während das Schloss durch meine Schlüssel geöffent wurde. Schon als Herr Weimar Mitte März zum ersten Mal in meinen Laden trat, befand sich seine Freundlichkeit zuhause.
Damals hatte er sich danach erkundigt, ob ich schon einen Ehemann oder zumindest Verlobten besaß. Meine Person verneinte die Frage und bekam einen verwunderten Gesichtsausdruck zurück. Was der liebe Herr Weimar mir damit sagen wollte, verstand ich bis heute nicht.
Um nicht wieder komische Gespräche führen zu müssen, holte ich gleich, nachdem der Eingang offen stand, den auf das heutige Datum bestellten und angefertigten Anzug aus dem Raum, der hinter der Theke lag. Bezahlt hatte der Mann schon voraus und erwartete nur Pünktlichkeit. Hoffentlich waren ihm die wenigen Sekunden, um die ich mich am Morgen verspätete, nicht zu viel.
„Wenigstens etwas, was Sie können", gab er mir als Antwort zurück, als er seinen neuen Anzug in der Hand hielt.
Anscheinend war ich doch zu unpünktlich, so wie seine Aussage andeutete. Der Herr setzte zum Verlassen des Gebäudes an.
„Danke für den Anzug. Ich würde Ihnen raten rechtzeitig den Laden zu öffnen. Hoffentlich werden Sie sich auch politisch richtig entscheiden", fügte er hinzu. Was hatte dies mit Politik zu tun? Aus diesem Menschen wurde ich nicht schlau.
Nachdem meine Jacke am Jackenständer hing, nutzte ich die Zeit, während kein neuer Kunde eintrat, die verschiedenen Leinen- und Samtstoffe zu sortieren.
Alle blautöne kamen auf die linke Seite des großen, goldbraunen Regals und sämtliche rottöne auf die rechte Seite. Ich war darin so vertieft, bis das Türglöckchen leutete. Eine alte Dame trat ein. Es war Frau Meiers, sie wohnte ein paar Straßen weiter und war mittlerweile eine Stammkundin.
„Guten Tag meine Liebe. Ich bräuchte leider schon wieder ein Kleid. Das von letzer Woche ist beim Tanzen kaputt gegangen", fing sie das Gespräch an.
Frau Meiers kam sehr oft, mit der selben Behauptung in meinen kleinen Laden und dann fiel mir auf, diese Dame ging öfters in der Woche Tanzen, als ich im ganzen Jahr. Aber dies war mir eigentlich egal, denn ich habe bestimmt noch eine Menge Zeit dafür.
„Was für einen Stoff und welche Farbe haben Sie sich vorgestellt?", fragte ich höflich.
„Also ich hatte gedacht, in einer dunkelroten Farbe und einem Samtstoff."
Während sie noch weiter beschrieb, machte ich mir eine Skizze.
„Könnten Sie es vielleicht bis morgen früh um zehn Uhr fertig haben. Mein Mann und ich wollen nämlich ein paar Tage zu meiner Schwester fahren und dort muss ich natürlich mithalten können. Ich meine natürlich mit dem Aussehen."
Frau Meiers war in der Nachbarschaft als "Lebendendiger Radio" bekannt, denn sie erzählte jedem den sie antraf die neusten Neuigkeiten.
„Haben Sie, Frau Gruber, schon gehört was letztens am 8. Mai im Völkischen Beobachter stand? Dort gab es einen Aufruf von Adolf Hitler. Ich glaube mich zu erinnern dort gelesen zu haben: „An alle Ortsgruppenführer im Reich; Es ist mein Wunsch, dass das amtliche Organ des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, der "Akademische Beobachter" mehr und mehr gelesen und verbreitet wird." Wenn wir schonmal dabei sind, mir ist vor kurzem aufgefallen, ich habe mich gar nicht danach erkundigt, welche Partei ihr Vater gewählt hat", sprach die Dame unerwartet.
„Die NSDAP. Er stimmt den Nationalsozialisten völlig zu und ist sehr von dieser Partei überzeugt."
Eine Weile schaute sie mich, ohne den Gesichtsausdruck zu verändern, an. Hatte ich irgendetwas falsches gesagt? Nein, dies war die Wahrheit.
„Und welche Partei werden Sie, meine Kleine, dann später wählen?", unterbrach Frau Meiers die Stille.
„Ich hatte vor mich ebenfalls für die NSDAP zu entscheiden."
„Seit wann interessiert sich denn Ihr Vater für die Nationalsozialisten?", fragte der lebendendige Radio.
Wieso faszinierte sie auf einmal, warum Johann Gruber so handelte und zu den Wählern der Partei gehörte?
Aus dieser Situation kam ich wohl nicht mehr ohne eine anständige Erklärung heraus.
„Er wurde am 9. November 1923 auf den Hitlerputsch aufmerksam und seit diesem Zeitpunkt verfolgte mein Vater die Bewegung. Damals kaufte er sich eine der ersten Ausgaben von Mein Kampf. Wenn ich fragen darf, welche Partei haben Sie gewählt", sprach ich und versuchte die Aufmerksamkeit wieder auf die Dame zu richten. Frau Meiers trat näher heran und sprach etwas leiser, „Mein Bruder und ich haben auch für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei gestimmt. Aber mein Mann hat seine Stimme für die SPD abgegeben."
Durch ein leichtes Lächeln versuchte ich ihr zu deuten, dass es mir nichts ausmachte. Anscheinend verstand die ältere Frau, was mein Blick aussagen sollte und nickte.
„Also dann, bis morgen um zehn!", rief sie, bevor wieder Stille im Laden herrschte.
Während ich schon dabei war, den eingegangenen Auftrag zu fertigen, vernahmen meine Ohren Geräusche, welche von der Straße kamen. Deshalb hob ich den Kopf an und schaute durch das Schaufenster hinaus. Weiterhin waren Schreie und Stimmen zu hören. Also trat ich durch die Tür nach draußen. Ein paar Meter weiter links waren drei Personen zu erkennen. Es waren Jungen im mittleren Alter, vielleicht sechszehn. Jemand von den Dreien lag auf dem Boden. Die anderen zwei prügelten offentsichtlich auf den Jungen, von dem die Schreie kamen, ein. Ich sah, dass auch die Frauen, welche aus den Fenstern lugten, das Geschehen beobachteten. Erst jetzt musterte ich die Kleidung der stehenden Jugendlichen. Sie trugen ein braunes Hemd und schwarze Hosen, dazu am linken Arm eine Hakenkreuzbinde. Beide Jungs besaßen ebenfalls blonde Haare und einen Seitenscheitel. Es waren zwei Buben aus der Hitlerjugend und die Person, die auf dem Gehsteig lag und schwärzliche Haare hatte, musste dann wohl ein Jude sein. Denn wieso sonst sollten die jungen Männer einen hilflosen Mitbürger so zurichten?
Oft kam es zu solchen Taten, von Jungen aus der Hitlerjugend. Dies wusste ich, wie fast alle Neuigkeiten, von Frau Meiers. Sie berichtete mir, dass vor ungefähr einem Monat es Auseinandersetzungen zwischen Juden und der HJ gab. Doch selbst hätte ich nicht gedacht solch eine Situation in direkter Nähe zu erleben. Was sollte ich jetzt tun? Meine Augen verfolgten weiter das Geschehen, während meine Gedanken in Panik gerieten. Ich sah wie der Junge anfing aus der Nase zu bluten. Ohne mehr darüber nachzudenken packte ich die Jugendlichen und zog sie von der liegenden Person weg. Sofort kniete sich mein Körper hin und fühlte ob noch Puls vorhanden war.
Zum Glück, er lebte noch.
„Alles gut? Kannst du aufstehen?", fragte meine Stimme besorgt. Dieser nickte und stand vorsichtig auf.
Als wir dann beide wieder aufrecht standen, gab ich dem Jungen ein Taschentuch und erkundigte mich erneut, „Geht es dir wirlich gut? Wie ist dein Name?"
Jetzt schauten die braunen Augen zu mir auf. Er war deutlich kleiner als die zwei der Hitlerjugend. „Mein Name ist Chayim", gab die verängstigte Gesalt von sich.
„Kennst du den Weg nach Hause? Schaffst du es alleine? Ist deine Mutter oder dein Vater zu Hause?", wollte ich von Chayim wissen.
Dieser nickte nur und rannte weiter den Gehweg entlang. Die anderen Jugendlichen wollten mir schon den Rücken zukehren, doch ich hinderte sie daran.
„Nicht so schnell ihr beiden!", herrschte ich die zwei an.
„Was hat euch der Kleine denn getan, damit ihr ihn so zurichtet?"
„Er hat uns blöd angeschaut. Und außerdem ist er durch sein Blut ein Staatsfeind! Ganz genau ein Jude! Schon alleine sein Blick und die Nase hatten ihn verraten! Wir wollen nur unserem Vaterland helfen! Der Nationalsozialismus wird irgendwann dafür sorgen, dass unser Land wieder rein wird. Wenn Sie und Ihre Familie, sobald die NSDAP an der Macht ist, sich weiterhin unserer Hilfe verweigern, werden..." , sprach der Junge und wurde unterbrochen.
„Nicht in diesem Ton! Ich bin sehr wohl älter als ihr beide und so redet man nicht mit einer Frau! Wolltet ihr beide mir etwa drohen? Dass ich nicht lache. Mein Vater ist bald Mitglied der NSDAP und wird, wenn er weiter aufsteigen wird und seine Arbeit richtig erledigt, mit eine der Personen sein, die viel Macht besitzt!", schüchterte ich die Buben ein, welche mich mit erstaunten als gleich erschrockenen Augen anblickten.
Ich wusste natürlich nicht ob mein Vater es jemals schaffen würde so befördert zu werden, dass er dann praktisch eine hohe Rangordnung erhält.
„Uns tut es sehr Leid, ihre Angehörigkeit in Frage gestellt zu haben. Vielen Dank für die Auskunft", sprach einer der beiden und sie liefen davon.
Wieder im Laden herrschte ein Drucheinander in meinem Kopf. Wieso hatte ich solange überlegt, dem weinenden Jungen zu helfen? Vielleicht hätte ich weitere Verletzungen, die er wahrscheinlich davon getragen hat, verhindern können.
Die ganze Zeit über hoffte ich, dass jemand in meinen Laden kam, dem ich behilflich sein könnte, damit meine Gedanken nicht immer um das Ereignis herum schwirrten. Doch niemand trat ein. Also saß ich nur da und versucht den Kampf in meinen Erinnerungen zu gewinnen. Nach einigen Stunden war es schon später Nachmittag und ich beschloss für heute das Geschäft den restlichen Tag zu schließen. Deshalb zog meine Wenigkeit den Mantel über und schaltete das Licht aus.
Danach trat ich hinaus, schloss die Tür ab und schaute zu der Stelle, wo Chayim gelegen war. Mir kam wieder sein hilfloses Gesicht in den Sinn. Erneut sah ich die rote Flüssigkeit aus der Nase des kleinen Jungen laufen.
Abermals seine tränengefüllten, braunen Augen. Doch die beiden Jungen hatten recht. Sobald Hitlers Partei, die NSDAP, erst einmal an der Macht war, wird dies nicht mehr so einfach zu verhindern sein. Zudem würden dann die Staatsfeinde, vor allem die Kinder, nicht so leicht Hilfe der anderen Bürgern bekommen, zumindest von den Meisten. Ich wusste keinesfalls, was die richtige Entscheidung sein würde. Entweder die NSDAP zu unterstützen, so wie mein Vater Johann es tat, oder mich ganz einfach heraus halten sollte, denn schließlich würde meine Zukunft zerstört werden, wenn ich den jüdischen Leuten helfen würde. Außerdem vertratt mein Vater die Meinung von Adolf Hitlers Partei und das Beste wäre einfach ihm dies gleich zu tun. Letztendlich wendete ich meinen Blick ab und beendete so die Gedankenphase. Als ich geradewegs über den Teer der Straße lief, wurde mein Name gerufen. Es war ein kleines Mädchen, das auf mich zu gerannt kam. Ein paar Meter vor mir blieb sie stehen.
Jetzt erkannte ich sie. Das Mädchen hieß Lise und wohnte in der Nähe, so konnte man sie schon als Nachbarin bezeichnen. Lise war ein sehr schüchternes Mädel und meist versteckte sie sich hinter ihrer Mutter, wenn man beide antraf.
„Meine Mutter hat mich geschickt, ich soll dir...ehm Ihnen den Brief geben. Er wurde bei uns ausgeliefert", sprach Lise ohne Angst. „Danke dir. Richte deiner Mutter schöne Grüße aus."
Das Mädchen nickte und rannte zurück nach Hause. Ich schaute auf den Empfänger und dort stand zu meiner Überraschung nicht der Name meines Vaters, sondern Ilse Gruber. Es konnte nur von einer bestimmten Person sein. Von Marie. Im schnellen Tempo ging ich das letzte Stück zur Haustür und öffnete diese. Ich konnte es gar nicht erwarten das Schreiben zu lesen.
Deshalb setzte ich mich, samt meiner Jacke und meinen Schuhe, ins Wohnzimmer um es zu öffnen.
Hallo Ilse, es tut mir so leid, dass ich Dir so lange nicht mehr geschrieben habe. Trotzdem hoffe ich, Dir geht es gut. Bei mir läuft alles perfekt! Wie Du ja weißt studiere ich Medizin um später Ärztin werden zu können. Zurzeit muss ich sehr viel lernen, doch das wird schon. Nur wer hart arbeitet, bekommt irgendwann den Lohn dafür. Auf jeden Fall ist ständig etwas bei mir los. Nein, ich habe keine neue beste Freundin, falls Du das jetzt denkst. Du bist und bleibst meine beste Freundin! Wie gesagt ich bin nur nicht zum schreiben gekommen, wegen des Lernens. Aber da ist noch etwas. Ich habe jemanden kennen gelernt! Ja, es ist kaum zu glauben. Ich wollte Dir eigentlich alles persönlich sagen, wenn wir uns mal wieder sehen, doch das muss jetzt der Brief erzählen.Wir sind schon ein kleines Weilchen zusammen, aber bitte sei mir nicht böse! Du musst mir wirklich glauben, dass ich es dir erzählen wollte. Sein Name ist Fredrick Schwarz. Er studiert ebenfalls, wie ich, Medizin. Fredrick kommt aus der Nähe von München und ist 23 Jahre alt. Es sind drei Jahre unterschied zwischen uns, dies ist mir trotzdem egal. Ich liebe ihn! Als ich ein kleines Weilchen geschrieben habe meinte ich eigentlich, dass wir schon seit Dezember letzten Jahres zusammen sind. Ja, ich hätte es Dir früher sagen sollen, doch es war noch der Anfang und wer weiß, vielleicht hätten wir uns ja wieder getrennt. Natürlich hätte ich Dir davon ebenfalls berichtet, doch zum Glück sind Fredrick und ich noch zusammen. Noch etwas… Er hat mir vor zwei Wochen einen Antrag gemacht! Natürlich habe ich mit einem Ja geantwortet. Deshalb wollte ich dich noch fragen, ob Du vielleicht ein Kleid für mich anfertigen könntest? Selbstverständlich bist Du und Dein Vater eingeladen! Die Hochzeit ist schon im Juni. Ich habe Fredrick sehr viel von Dir erzählt. Das wichtigste hätte ich fast vergessen! Mein Verlobter hat einen Bruder, vielleicht ist er was für Dich. Sein Name ist Willhelm und er ist erst 21 Jahre alt. Ach und hast Du schon das Neuste mitbekommen? Hitler hat eine Rede auf einer NSDAP-Versammlung in Zittau gehalten und vieleLeute waren dort. Mein Vater war einer von den Menschen. Er berichtete mir davon in einem Schreiben. Wie du sicherlich Dir schon denken kannst, mein Vater ist mittlerweile trotzdem überzeugt von Hitlers Partei. Anfangs hatte er seine Zweifel, doch jetzt ist er sozusagen auf die andere Seite gesprungen. Meine Mutter hingegen ist immer noch nicht für diese Partei. Sie sagt, ich zitiere „Diesem Hitler darf man nicht trauen. Irgendwie versteht das mein Mann nicht. Adolf Hitler wird uns irgendwann, ob es in 10 oder 20 Jahren ist spielt keine Rolle, in den Abgrund führen. Damit meine ich Deutschland mit der Zukunft einbezogen.“ Ich selber gebe meinen Vater recht. Was ist mit Dir? Siehst du die NSDAP als die Bösen und vernichter Deutschlands in der Zukunft oder als die, die Zukunft erst einmal möglich machen? Entschuldige falls ich Dich mit meinem langen Brief genervt habe, aber es ist so viel passiert seit dem wir nicht mehr geschrieben haben. Deine beste Freundin Marie
Ich konnte ihr nicht böse sein, dass sie mir erst jetzt von Fredrick erzählt hatte, denn schließlich hatte sie es mir jetzt gesagt und das ist dass was zählt. Voller Freude über ihre Verlobung, wollte ich schon das Kleid anfangen für Juni zu erstellen, doch erst musste die Bestellung für den morgigen Tag fertig werden.
Trotzdem konnte ich schon einmal eine Skizze machen, denn ich wusste genau wie Maries Traumkleid aussah.
Durch den Brief wurden die Gedanken um die Situation mit Chayim in die hinterste Ecke meines Kopfes gedrängt und so konnte ich konzentriert das Kleid für Frau Meiers fertigstellen.
Am Abend war ich gerade in der Küche um Eintopf zu kochen, als ich die Tür öffnen und zurück ins Schloss fallen hörte. Es musste mein Vater sein. Sofort drehte ich mich um und schaute in den Flur.
„Hallo meine große Tochter! Ich habe super Neuigkeiten!", rief er mir zu.
„Welche denn? Komm erst Mal herein und setz' dich, das Essen ist fast fertig", gab ich ihm zurück. Gesagt getan. Als wir beide am essen waren, löste mein Vater die Spannung.
„Bald, Ilse. Bald bin ich Mitglied der NSDAP. Ist das nicht super!"
„Ja, Vater, das ist sehr gut!"
Er nahm erneut einen Löffel und sprach, nachdem sein Mund wieder leer war, weiter.
„Gibt es irgendetwas bei dir? Wie war dein Tag?"
Sollte ich ihm von dem Vorfall zwischen der Hitlerjugend und dem Juden erzählen? Natürlich würde er die beiden Jungs verteidigen und nicht Chayim, deshalb beschloss ich dies aus meiner Erzählung, über den Tag, wegzulassen. Am Ende meiner Antwort, auf die Frage meines Vaters, fügte ich hinzu „Wir sind übrigens im Juni auf Maries Hochzeit eingeladen. Ich habe heute einen Brief von ihr erhalten."
„Das freut mich für deine Freundin, doch was ist mit dir? Hast du jemanden kennengelernt. Wir sehen uns ja so wenig, deswegen bin ich wahrscheinlich nicht mehr auf dem neuesten Stand der Dinge", gab er unerwartet zurück.
„Nein, aber der richtige Mann wird schon mit der Zeit kommen", versuchte ich mich heraus zu reden.
„Ilse, mein Schatz, irgendwann ist die Zeit aufgebraucht, also warte nicht zu lange. Schau Marie ist nur ein paar Monate älter und ist bald verheiratet. Ich mache mir nur Sorgen das du niemanden finden wirst und dein Leben alleine verbringst. Irgendwann werde ich auch von den Lebenden gehen. Dann bist du ohne Kinder, ohne Mann, ohne mich und deine Freundin wohnt ziemlich weit weg. Sie kann auch nicht jedes Wochenende bei dir vorbei kommen und dir Gesellschaft leisten. Wahrscheinlich wird Marie dann selber Mutter sein und verbringt ihre freie Zeit mit ihren Kindern. Soll auch nicht böse gemeint sein."
Wie jedes Mal wenn ich meinen Vater sehe, fängt er mit diesem Thema an. Ich werde schon nicht alleine sein. Was wenn doch? Nein, der Richtige ist eben noch da draußen in der Welt und mir noch nicht über den Weg gelaufen.
Die restliche Zeit, während des Abendessens, herrschte eine unangenehme Stille. Ich konnte den Blick meines Vaters auf mir spüren, der wahrscheinlich eine Antwort wollte. Doch auf was sollte ich antworten, wenn es immer bei der selben Beantwortung blieb? Deshalb versuchte ich die Augen, welche mich beobachteten, zu ignorieren. Als dann endlich auch Vater mit dem Essen fertig war, konnte ich den Tisch abräumen. Johann Gruber ging ins Wohnzimmer und las eine Zeitung, vermutlich den Völkischen Beobachter. War er jetzt doch wütend auf mich?
Trotz allem gesellte ich mich zu ihm ins Wohnzimmer.
Nicht um mit meinem Vater zu reden, sondern um einen Brief für Marie zu verfassen.
Hallo liebe Marie,ich habe mich sehr über Deinen Brief gefreut. Mir geht es soweit gut und meinem Vater auch. Heute hat er mir erzählt, er sei bald Mitglied der NSDAP. Er denkt, da mein Vater im ersten Weltkrieg als Feldhilfarzt an der Ostfront war und ja Medizin studiert hat, wie Dir bekannt ist, hätte er gute Chancen als Arzt einzutreten. Findest Du das gut oder schlecht? Von meiner Sicht ist dies nicht einmal so schlecht. Aber kurz noch zu deinem Schreiben, bevor ich etwas von mir berichte. Natürlich werde ich Dein Hochzeitskleid anfertigen! Ich bin so glücklich für Dich, dass Du jemanden gefunden hast! Mir ist dieses Glück noch nicht gewehrt worden, doch das wird schon irgendwann. Mein Vater und ich nehmen herzlichst Deine Einladung an! Du musst Dir auch keine Gedanken darüber machen, dass ich Dir böse bin, weil Du mir es so spät mitteilst. Im Gegenteil, ich finde alles braucht seine Zeit, damit der richtige Zeitpunkt kommt. Meinerseits gebe ich ebenfalls Deinem Vater recht. Ich glaube in ein paar Jahren wird Hitlers Partei ganz weit oben dabei sein. Es kann aber auch sein, dass ein unerwarteter Moment die Partei einstürzen lässt. Ich sage nicht das dies so sein wird, aber es ist alles möglich. Trotzdem bin ich nicht gegen die NSDAP. Zum Beispiel der Mann von Frau Meiers, einer Stammkundin, hat jemand anderen gewählt. Mir ist es persönlich egal,denn jeder trifft die Entscheidung, bei der er denkt sie sei richtig. Aber gut, Themawechsel. Ich freue mich schon dein Kleid die nächsten Tage anzufangen, wenn keine weiteren Bestellung eintreffen. Schließlich betreibe ich einen Laden. Viel Spaß noch bei deinem Studium. Ich werde jetzt erst einmal das Kleid für meine Kundin fertig machen. Es muss bis morgen um 10 Uhr bereit zum abholen sein. Natürlich schöne Grüße an Fredrick und an deine Familie. PS: Bestimmt werden Du und mein Vater sich wieder sehr viel über Medizin unterhalten. Nicht dass ich etwas dagegen hätte.
Bis bald,
Deine Ilse
Ich knickte das beschriebene Blatt und schob es in einen Umschlag. Gleich morgen, nachdem Frau Meiers ihr Kleid abgeholt hatte, werde ich den Brief zur Post bringen. Als ich aufschaute, las Vater immer noch in der Zeitung. Anscheinend wartete er beständig auf seine Antwort. Doch diesen Gefallen tat ich ihm nicht.
Sollte er doch die Wörter im Völkischen Beobachter in der Stille lesen und erfassen. Ich stand deshalb auf und lief geradeaus in den Flur. Der Holzboden knackte unter meinen Füßen und ließ meinen Vater aufblicken.
„Was tust du?“, erklang es aus dem Zimmer, indem ich wenige Sekunden vorher gesessen war.
„Ich muss noch ein Kleid vollenden. Falls du mich suchst, ich befinde mich in meinem Zimmer“, gab meine Person etwas genervt zurück.
Im Zimmer blieb ich stehen. Hatte mein Vater gerade einen Satz gesprochen oder war dies nur Einbildung?
Nein, es ist in Realität geschehen. Normalerweise sprach er, nach so einem Gespräch, erst am nächsten Tag wieder mit mir. Merkwürdig aber dennoch nicht wert zum Nachdenken, letztendlich musste ein Auftrag abgeschlossen werden.
Bis spät in die Nacht saß ich am Kleidungsstück und wurde endlich fertig. Erledigt schaltete ich das kleine Licht am Nähtisch aus und legte mich schlafen.
Am nächsten Morgen wachte ich ermüdet auf. Jetzt bemerkte ich, dass ich noch mein Kleid vom vorherigen Tag trug. Dies hatte ich wohl vergessen auszuziehen.
Eigentlich wechselt meine Person immer ihre Kleidung, bevor sie schlafen ging. Im Augenblick war es nicht von Bedeutung. Das wichtigste im Moment war pünktlich zu sein. Ich werde einfach nachdem Frau Meiers ihr Kleid besitzte mein Kleidungsstück wechseln. Also stand ich leise auf, um meinen Vater nicht zu wecken. Ich trat infolgedessen aus meinem Schlafraum, als gleich darauf der Boden knackte. Nicht in leiser Form, sondern lauter als normal. Hoffentlich schlief Vater noch und hatte sich nicht wecken lassen.
Darum lugte ich in sein nebenanliegendes Zimmer, doch es war leer. Wahrscheinlich war er wieder unten, auf seinem Sessel, eingeschlafen. Weiterhin schlich ich mich leise durch das Haus. Doch unten im Wohnzimmer lag mein Vater nicht. War er schon wieder unterwegs? Vielleicht war er auch nur eine kleine Runde spazieren, kein Grund zur Sorge. Also ging ich mit meiner übergezogenen Jacke nach draußen. Zumindest war noch keine Person zu sehen, was bedeutete, dass ich in der Zeit lag. Ein kalter Lufzug wehte durch meine Kleidung. Dies ließ mich meine Jacke enger zuziehen. Wieso waren es auf einmal kühlere Temperaturen als gestern. Das Wetter wusst eben nicht was es möchte. Ich lief deshalb schnell über die Straße, um in den etwas wärmeren Laden gehen zu können. Doch als ich gerade die Tür aufschließen wollte, sah ich Chayim rechts neben mir stehen.
„Hallo Chayim, geht es dir wieder besser?“, fragte ich ihn fürsorglich. Er aber antwortete nicht. Stattdessen drehte der kleine Junge sich um und lief gerade aus. Ich verfolgte ihn mit den Augen. Etwas weiter vorne blieb Chayim erneut stehen. Sollte das ein Zeichen sein, ihm nachzugehen. Anscheinend schon, deshalb setzte ich mich in Bewegung. Chayim bewegte sich ebenfalls weiter. Nach einem kurzem Stück laufen, bog er in eine kleine Gasse ein. Was wollte er mir denn zeigen?
Voller Neugierde ging meine Person auch in die enge Sackgasse, zwischen zwei Häusern. Das hintere Stück wurde noch nicht von der Sonne beleuchtet, weshalb ich näher heran treten musste. Der Junge schaute direkt auf mich. Allerdings war er nicht alleine. Hinter ihm stand eine größere Person, welche sogar größer als ich war. Der Jemand turg eine Uniform, doch mehr konnte man nicht erkennen. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Gestalt, welche wahrscheinlich ein Mann war, dem Jungen eine Pistole an den Kopf hielt. Um dem Mund des kleinen, noch nicht ausgewachsenen Kindes befand sich eine Binde. Aus den Augen rannen Tränen und es war deutlich die Angst zu sehen.
„Nein, bitte! Wer auch immer Sie sind, tun Sie dem Jungen nichts! Er ist doch noch ein Kind!“, rief ich in die Gasse hinein, aber keine Antwort kam zurück.
Plötzlich drückte der Mann den Abzug der Pistole ab und es erklang ein lauter Schuss.
Erschrocken wachte ich auf. War das gerade eben ein Traum gewesen? Lebte Chayim noch?
Eigentlich sollte der Junge mich nicht bekümmern, doch trotzdem tat er es. Ich träumte jetzt schon von grausamen Dingen, die mich vorher nicht bedrückt haben. Mein Puls raste immer noch und ich versuchte ihn zu beruhigen.
Nach ein paar kurzen Momenten konnte ich wieder klar denken. Wenn dies nur ein Traum gewesen war, dann hatte Frau Meiers ihr Kleid noch nicht bekommen.
Dann lebte Chayim noch. Dieser Gedanke ließ mich ausatmen. Ich trug sogar meine Schlafkleidung, was in dem Traum nicht so gewesen war. Es war also nur ein Albtraum. Vielleicht sollte ich mir nicht mehr so einen Kopf um den kleinen Jungen machen, schließlich hat er eine Mutter die ihn beschützt. Um mich eindeutig zu überzeugen, dass alles nicht real war, schaute ich leise in das Zimmer meines Vaters. Dort schlief er friedlich und entspannt. Die Müdigkeit holte mich dadurch wieder ein. Verschlafen lief ich ins Badezimmer und führte meine tägliche Routine durch. Ein anderes Kleid verlieh mir ein Gefühl von Normalität. Der Traum rückte so in das hinterste Eck meiner Sammlung an Erinnerung und Gedanken. Komischerweise hatte ich