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Der kleine, rotzfreche Louis Seynaves ist zunächst hingerissen vom Einmarsch deutscher SS-Verbände in sein flämisches Heimatstädtchen Walle, das alsbald zum Spiegel der großen Welt wird. Spielerisch, humorvoll und mitreißend fügt Hugo Claus in seinem Meisterwerk Hunderte von Episoden zu einem epochalen Roman zusammen, der zum Kanon der Weltliteratur gezählt wird. Belgien ist zur Zeit des Zweiten Weltkriegs weniger ein Land denn ein Zustand, in dem sich auch der kleine Louis wiederfindet. Mit drei Mitschülern hat er einen Geheimbund geschlossen, in dem sie verbotene Bücher lesen, bis ihn seine Mutter nach dem deutschen Überfall auf Polen aus dem Internat nach Hause holt. Sein Zuhause, das sind die Gassen um den Grote Markt, die schummrigen Winkel in der väterlichen Druckerei und vor allem der Familientratsch am Küchentisch. Jede kleine Denunziation, jede opportunistische Versuchung, sich mit den »Germanen« gegen die Wallonen zu verbünden, jede Episode dieser spannenden Jahre erlebt Louis hautnah mit – wie einen Weltalltag, der sich in diesem Stück Weltliteratur spiegelt. »Der Kummer von Belgien«, brillant übersetzt von Waltraud Hüsmert, wurde von der Literaturkritik mit Günter Grass' »Blechtrommel« und Gabriel García Márquez' »Hundert Jahre Einsamkeit« auf eine Stufe gestellt.
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Seitenzahl: 1169
Hugo Claus
Der Kummer von Belgien
Roman
Aus dem Niederländischen
von Waltraud Hüsmert
Klett-Cotta
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert
vom Flämischen Literaturfonds.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Het verdriet van Belgie« im Verlag De Bezige Bij, Amsterdam
© 1983 by Hugo Claus
Für die deutsche Ausgabe
© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München unter Verwendung unter Verwendung des Bildes »Study of Clouds with a Sunset near Rome« von Simon Alexandre Clément Denis @ Corbis
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN978-3-608-96037-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10065-5
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Erster TeilDer Kummer
I Der Besuch
II Hören und Sehen
III Die Kuh Marie
IV Schwester Sankt Gerolf
V Olibrius
VI Von einem anderen Kind
VII Die Miesel
VIII Märtyrer
IX In Walle
X Bomama
XI Der Elch
XII Onkel Florent
XIII Onkel Robert
XIV Das Land des Lächelns
XV Ein Stöckchen
XVI Das Skapulier
XVII Eine Erkundung
XVIII Ein goldenes Knöchelchen
XIX Das Lügenmaul
XX In Bastegem
XXI Onkel Armand
XXII Ein Zimmermann
XXIII Meerke
XXIV In Gottes freier Natur
XXV Das Feigenblatt
XXVI Schwester Frost
XXVII Der Schandkorb
Zweiter TeilVon Belgien
Wort- und Sacherläuterungen
Erster Teil
I
Dondeyne hatte eines der sieben Verbotenen Bücher unter seinem Kittelhemd versteckt und Louis mit sich gelockt. Die beiden Jungen hockten unter den Schlingpflanzen in der Grotte der Bernadette Soubirous.
Dondeynes Verbotenes Buch war eine Ausgabe des illustrierten Wochenblatts ABC, einer Zeitschrift der Sozialisten, die zweifellos auf dem Index des Vatikans stand. Sein Bruder hatte sie ihm mitgebracht, als er im Krankenhaus lag. Von dort war er mit einem scharlachroten Ohr zurückgekommen, an dem er oft herumzupfte. Tagsüber lag die Zeitschrift unter seinem Spind, hinter den Schnürstiefeln.
Die vier Seiten, die nun darin fehlten, lagen glänzend und glatt, nur an den Rändern etwas eingerissen, unter dem blauen Packpapier, mit dem die Schublade von Dondeynes Schulbank ausgelegt war. Zur Sicherheit hatte Dondeyne das Papier mit punaises, Reißzwecken, festgeheftet. (»Sag nicht immer punaises, wir haben doch ein flämisches Wort dafür«, pflegte Louis’ Pate zu sagen, doch das flämische Wort benutzte Louis nie, er wurde schon wegen seiner Aussprache oft genug ausgelacht.)
Die aufgeschlagenen Seiten schimmerten in der Sonne; in der Mitte war wegen der ausgezackten Risskante und des Schattens ein hässlicher Spalt. Louis hätte seine Verbotenen Bücher niemals auseinandergerissen, mochte die Gefahr, entdeckt zu werden, noch so groß sein. Aber Dondeyne war ja auch ein Hottentotte.
Die vier Apostel besaßen zusammen sieben Verbotene Bücher. Vlieghe gehörten drei davon, Liebe im Nebel, ein Programm der Operette Rose Marie und, das riskanteste, eine Biographie des Ketzers und Freimaurers G. B. Shaw. Byttebier besaß Erzählungen aus der Südsee und ein Foto von Deanna Durbin im Unterrock, unanständig genug, um als Buch durchzugehen. Louis hätte mit seinem Buch wahrscheinlich keinen Ärger bekommen, wenn die Nonnen es gefunden hätten, er hätte es auch offen zwischen die abgegriffenen, angenehm duftenden Davidsfonds-Bücher stellen können, die er sich nach den Osterferien mitgebracht hatte, aber reichte es nicht schon aus, ein Buch heimlich, ins Nachthemd gewickelt, hinter die hohen Mauern der Klosterschule zu schmuggeln? Der Titel lautete: Die Flämische Flagge. Papa hatte es selbst in den rotbraunen Pappumschlag eingebunden, das war sofort zu erkennen, denn wenn er Bücher band, hackte er die Ränder unter der Schneidemaschine wie unter einer Guillotine schonungslos dicht beim Text ab. In Die Flämische Flagge ging es um rebellische Seminaristen gegen Ende des letzten Jahrhunderts, die, aufgestachelt von langhaarigen Priestern mit Pincenez, einen Geheimbund namens Der stille Schwur gegründet und bei Nacht und Nebel ein Komplott gegen die belgischen, also antiflämischen Minister und Bischöfe geschmiedet hatten. Louis hatte das Werk zu Hause aus dem Bücherschrank gestohlen, weil Papa einmal behauptet hatte, Pfarrer, die solche Bücher bei ihren Gemeindemitgliedern fänden, würden sogleich mit Exkommunikation drohen. Der Anblick des schäbigen Buchs mit den dünnen, grau gedruckten Buchstaben, das keine einzige Illustration enthielt, hatte die anderen drei Apostel nicht gerade beeindruckt. Nur weil Louis mit übertriebenem Eifer Ursprung und Inhalt geschildert und die Gefahr ausgemalt hatte, hatten sie das missgestaltete Ding an jenem Abend als Verbotenes Buch akzeptiert und es auf Byttebiers Kopfkissen zu den anderen gelegt, sich dreimal bekreuzigt und geflüstert: »Im schwarzen Buche – gehn wir auf die Suche – geheim und im Stillen – Maria zu Willen.« Keiner von ihnen durfte die Verbotenen Bücher lesen, wenn nicht mindestens einer der anderen Apostel mitlas.
Dondeyne und Louis betrachteten die verschwommenen Fotos vom Prozess gegen einen Bordfunker vor dem Brügger Schwurgericht. Der Vater des Opfers, ein eingefallener Mann mit weißem Spitzbart, trug eine Uniformmütze und sah aus wie der russische Zar, als dieser Rasputin anflehte, seinen an der Bluterkrankheit leidenden Sohn zu retten. Die Mutter war ein hutzliges Weiblein, das den Mörder, der sich außerhalb des Bildes befand, kurzsichtig und herausfordernd anblickte und ihr schwarzes Lacktäschchen bereithielt, als wollte sie damit schlagen oder werfen, der Rechtsanwalt trug eine Robe in der Sepiafarbe seines Kraushaars, ein Fotograf mit karierter Mütze hielt einen Apparat, der wie eine Ziehharmonika mit einem klaffenden, viereckigen Loch aussah, und dann, und dann, der Funkoffizier selbst, der Täter, der, so das Gericht, seine Freundin bei lebendigem Leib in den Dünen begraben hatte. Er stand lächelnd da, mit buschigem Schnauzbart, die Hände auf dem Rücken, den Bauch vorgestreckt, denn dieses Foto war natürlich vor der ganzen Sache aufgenommen worden, nicht im Augenblick des Zitterns und Bebens am Strand oder später in Zeiten von Gewissensbissen und Alpträumen.
»Lebendig im Sand verbuddelt«, sagte Dondeyne. »So’n hübsches Mädchen!«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Louis. »Vielleicht war sie ja hässlich oder einäugig.«
»Hast du das Foto von ihr denn nicht gesehen?« Dondeyne schlug die Zeitung zu und zeigte auf die Titelseite, wo eine Frau von makelloser Schönheit, in Satin oder Seide gehüllt, den Leser anlächelte. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe, ein blasses Orange, wie die verwischten Lippen. Mitten über ihre Stirn lief ein bösartiger Riss im Papier.
»Hottentotte«, sagte Louis genervt. »Das ist eine Filmschauspielerin. Hier steht doch groß und breit ihr Name, Wynne Gibson. Die Sozialisten drucken immer das Foto von einem Filmstar aufs Titelblatt.«
»Ach so«, murmelte Dondeyne, glaubte Louis aber nicht. Er strich sich über sein durchscheinendes rotes Ohr.
»Sie war ein Scheusal«, sagte Louis, »die Freundin des Funkers. Das schreiben sie nicht in der Zeitung, aber sie hat es nicht anders gewollt. Sie hat sein Leben ruiniert.«
»Sein Leben?«
»Natürlich«, sagte Louis.
»Freundin«, sagte Dondeyne, »soll das heißen …?«
»Dass sie nicht verheiratet waren.« Ein Loch in den Sand graben, die zappelnde, unschuldige Frau hineinstoßen, es kam ihm richtig vor. Wirksam. Obschon, »Freundin«? Das konnte auch bedeuten, dass die Frau eine Bekannte war, jemand aus der Nachbarschaft. Denn warum stand da nicht: »Verlobte« oder »Geliebte« oder das klebrige, verstohlene, schmuddelige Wort »Mätresse«?
Louis las in den bernsteinfarbenen Locken Wynne Gibsons den Aufdruck: 31. März 1935, 4. Jahrgang, 1 F. 25.
»Die ABC ist ja schon vier Jahre alt«, sagte er.
»Na und?«
»Vielleicht ist Wynne Gibson inzwischen gestorben.«
»Dann hätten wir davon gehört.«
Wer? Wir? Dondeyne, Hottentotte! Wie sollten wir davon gehört haben? Und überhaupt, wer hatte jemals von Wynne Gibson gehört?
Im Musiksaal sangen die Kleinen zum zwölften Mal das Lied vom Ross Bayard.
Als Louis gerade erbost dachte: »Ich breche jetzt alle Regeln, Apostel hin oder her, ich reiß ihm das Heft aus der Hand und renne damit in den Garten«, reichte Dondeyne ihm die ABC. »Schau mal«, sagte er, »genau wie Dobbelaere mit seinen ekligen Pickeln.«
Ein plump gezeichnetes Mädchen starrte verzweifelt auf einen schwarzen Dolch oder eine Klinge oder einen halbierten Kegel aus Ebenholz. Dann erst merkte Louis, dass es ein Spiegel sein sollte, von der Seite gesehen. Im Gesicht des Mädchens waren schwarze Punkte und Flecken. Eine Frau mit überschlanken Händen bohrte einen Finger in die Wange des Mädchens. Obendrüber stand: »Der mütterliche Rat«.
»Sie wusste, dass ihre Mutter das Geheimnis ihrer Schüchternheit erraten hatte: Erweiterte Poren, Mitesser und ein schmutziger, fahler Teint waren schuld daran, dass sie sich wie eine Ausgestoßene fühlte. Sie wusste nicht, was die meisten Mütter wissen: Ein einfaches Rezept verschafft manchem jungen Mädchen unverhoffte Linderung.«
Er gab Dondeyne das Blatt zurück. Der ließ es aufgeschlagen auf seinen verschrammten Knien liegen. Was die meisten Mütter wissen! Nichts wissen sie, die Mütter.
Während Dondeyne in einem gestelzten Hochflämisch, das an die Sprache des Nachrichtensprechers von Radio Walle erinnerte, aber auch etwas vom Singsang der Psalmen in der Vesperandacht hatte, vorlas: »Ein Tiegel unserer kostbaren, reinigenden, stärkenden und adstringierenden Essenzen wirkt auch beim hässlichsten Teint Wunder. Ihr neuer Liebreiz wird Sie überglücklich machen«, tauchte Schwester Adam hinter der Dornenhecke auf. Louis war sich sicher, dass er kurz vor ihrem Erscheinen das Rascheln ihres Ordenskleides gehört hatte, das die Dornen streifte. Die Nonne blieb kurz stehen, mit verschränkten Armen, so dass die weiten Ärmel einen kleinen, schwarzen Altar vor ihrem Körper bildeten. Dondeyne erblickte sie nun auch.
»Au weia«, sagte er. »Da kommt sie, ich hab’s mir doch gedacht.« Und dann mit piepsiger Stimme: »Ich hab’ zweimal vom Reisbrei genommen, sie hat’s gesehn.«
»Wann?«
»Gestern, beim Abendessen. Und zweimal braunen Zucker, sie hat’s gesehn.«
»Du Schafsnase«, sagte Louis, »sie kommt wegen mir.« Denn er hatte Schwester Adams Lippen gesehen, die sich nicht zu einem Lächeln kräuselten, oh nein, aber jeden Augenblick lächeln konnten, wenn sie sich darauf besann, dass sie aus taktischen Gründen lächeln sollte, verführen, einwickeln, schmeichlerisch und gewissenlos, und er sah, dass ihr Gesicht, dieser bleiche Fleck, der fast versengt wurde vom gleißenden Weiß ihrer Haube, dieses Helms aus Licht, nur ihm zugewandt war. Das Gesicht bekam Farbe, es näherte sich mit fahlen Augen und eckigen Zähnen.
»Louis«, sagte Schwester Adam und streckte ihren langen Arm aus dem schwarzwollenen Ärmel, und der Duft des frischgemähten Grases von der Wiese hinter Bernadette Soubirous’ Grotte verwehte, wurde zerstreut durch etwas Süßliches, Honigkuchen, warmen Teig mit Zucker, als sie nochmals »Louis« sagte.
»Ja«, sagte Dondeyne, der das fatale Buch offen vor sich hielt. Doch Schwester Adam interessierte sich nur für ihr anvisiertes Opfer und legte die Hand auf Louis’ Schulter, neben seinen Nacken, wo er ihren Daumen spürte. Er folgte ihr in ihrem Schatten, lieferte sich ihr fast dankbar aus; ihr Ordenskleid schien ihm im Sonnenlicht reicher als der Goldbrokat eines Dogen, weicher als der Samt des Grafen von Flandern, als er sich dem König von Frankreich unterwarf. Während sie durch die Taxusallee und an den Dornenhecken und Giftbäumen vorbeigingen, teilte sie ihm mit, dass er Besuch habe, und er fragte nicht, wer, wie eigentlich von ihm erwartet wurde, und sie sagte: »Komm, komm«, und er murmelte in sich hinein: »Komm, Komma, komm.« Der Schlafsaal war verlassen, und im Waschraum rieb sie ihm mit einem Frottierhandschuh übers Gesicht, der auf der Fensterbank zum Trocknen lag. Es war nicht seiner, sondern der von Den Dooven. Distanziert, weder schnell noch langsam, rieb sie, als würde sie einen Topf schrubben, bis sein Gesicht glühte. Dann spritzte sie ihm eine Handvoll Wasser auf die Haare – eine Taufe – und kämmte ihn zu fest.
»Das Ross Bay-aa-ard trabt seine Runde, durch die Sta-hadt Dendermonde!«
Als sie den Schulhof überquerten, blieb Schwester Adam plötzlich stehen, so dass er, umfangen von ihrem beweglichen Dunkel, gegen sie prallte, was sie zum Lächeln brachte, während sie weiterhin die Stirn runzelte – doppelgesichtige Göttin der Rache oder von noch Schlimmerem. Sie spuckte in ihre Hand und glättete eine widerspenstige Haarsträhne über seinem linken Ohr. Auf der anderen Seite des Schulhofs, bei dem stillstehenden eisernen Karussell, auf dem mit baumelnden Beinen einer der Knirpse saß, erblickte er Vlieghe. Der sah ihn auch, rührte sich jedoch nicht, eine pastellfarbene Porzellanfigur zwischen den weißen Stangen des Karussells.
Louis maunzte auf, schlug Schwester Adams Hand über seinem Ohr weg und hielt dann zwei Meter Abstand.
Ihr Gefummel an seinen Haaren muss für Vlieghe wie Streicheln ausgesehen haben, er wird es nie erwähnen, Vlieghe, aber in seinen schrägen, haselnussfarbenen Augen muss es wie Verrat ausgesehen haben, das lässt sich nicht wiedergutmachen, auch wenn ich später, heute Abend, noch so viel beteuere. Louis steckte sich ein Stück Süßholz in den Mund und kaute wütend darauf herum. Ihm wurde wärmer, und er vergrößerte den Abstand, ging in Richtung Mauer und erblickte durch das offenstehende Tor den safrangelben DKW seines Vaters. Hinterm Steuer saß schlafend ein riesenhafter Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Trotzdem kenne ich ihn.
Schwester Adam blieb wieder stehen, das Kruzifix baumelte an ihrer Seite, sie winkte ihn zu sich und sagte: »Nun komm schon, sie warten.«
Sie? Also sein Vater und seine Mutter, beide zusammen? Das wäre mal was Neues. Er blickte sich noch einmal zum DKW um, als wollte er sich alle Einzelheiten einprägen, um sie später, heute Abend, Vlieghe zu berichten, der von Autos und Flugzeugen besessen war. Doch er sah nur, dass der Wagen erstaunlich sauber war und dass an der Heckscheibe eine runde Plakette klebte.
Noch glühend vor Scham (Vlieghe! Vlieghe! Es war nicht so, wie du denkst!) trat er in den kühlen, breiten Korridor. Schwester Adam schnellte voraus, als wollte sie, Botenengel, als Allererste sein Kommen ankündigen. So war die Heilige Anna an einer Backsteinmauer entlanggerannt, um die Frohe Botschaft zu verkünden. Immer auf dem Sprung, diese Anna. Und sie hatte einen Sprung in der Schüssel. Louis spuckte das lauwarme Süßholz in seine Hand, der goldockerfarbene, faserige Klumpen hatte die Farbe von Vlieghes Augenbrauen. Er steckte ihn in die Tasche seines Kittelhemdes, zu den Schnürsenkeln, Murmeln und Geldmünzen.
Im Korridor roch es nach Salmiakgeist. Unlängst, an einem Sonntag während der Besuchszeit, hatte die kleine Schwester Engel in diesem Korridor etwas getan, das noch am selben Abend im Schlafsaal in das karierte Heft mit dem Etikett: Akten der Apostel eingetragen worden war. Vlieghe, der Apostel mit der schönsten Handschrift, hatte notiert: »Schwester Marie-Ange, DEMUT, 8 von 10.« Eine sehr hohe Punktzahl für eine gewöhnliche Nonne.
Ohne Ankündigung, völlig unerwartet, hatte sich Schwester Engel vor Dobbelaere gekniet und unter den entgeisterten Blicken der Besucher mit beiden Händen seine schwarzen Strümpfe bis zu den Knien hochgezogen. Dobbelaeres Mutter, eine Bäuerin aus Anzegem, war rot angelaufen und hatte ihren Sohn angeschnauzt: »Schämst du dich nicht, Omer?« Und Mutter Oberin hatte gezischt: »Schwester Marie-Ange, es ist genug, danke schön, nun geh.« Und Schwester Engel hatte sich getrollt, folgsam, aber ungebrochen.
Seitdem sagten die Apostel jedesmal, wenn Dobbelaere etwas angestellt hatte oder wenn er beim Wettrennen als Letzter ankam und schnaufend an der efeubewachsenen Mauer lehnte: »Schämst du dich nicht, Omer?«
Louis’ Vater stand breitbeinig an der Eingangstür des Internats; dahinter war der Lärm der Dorfstraße zu hören. Er winkte Louis mit gebogenem Zeigefinger zu sich.
»So, da ist Ihr Schlingel, Mijnheer Seynaeve«, sagte Schwester Adam, und ihre Stimme hallte zwischen den Zwergpalmen und den mit einem Marmormuster angemalten Wänden wider.
»Ein Schlingel. Das kann man wohl sagen, Schwester«, sagte der Mann mit dem kahl werdenden, rosa Schädel.
»Na, Louis, willst du deinem Vater nicht die Hand geben«, sagte Schwester Adam. Nach dem Händedruck wischte sich der Vater die Hand an seinem grau und blau karierten Jackett ab.
Schwester Adam hat zu fest über mein Gesicht gerubbelt, deshalb glühe ich so. Deshalb. Wegen nichts anderem. Weil ihre knochigen Fingerspitzen durch den verschlissenen Waschlappen von Den Dooven hindurchgeschrubbt haben. Nur deshalb. Vlieghe wartet noch immer am weißlackierten Karussell.
»Na, mein Junge, wie geht es dir?«
»Gut.«
»Gut, und was weiter?«, sagte die Nonne.
»Gut, Papa.«
»Das ist gut«, sagte Papa und nickte viermal. Jetzt wird er etwas über seine Frau sagen, meine Mutter. Warum ist sie nicht mitgekommen? Sie hatte zwar bei ihrem letzten Besuch gesagt: »Es wird nun eine Weile dauern, bis ich wiederkomme, mein Häschen, ich bin nämlich in letzter Zeit so unsicher auf den Beinen«, aber Louis hatte es als Manöver gesehen, als offenkundige Vorsorge für den Fall, dass sie nicht kommen könnte. Und nun?
Schwester Adam fasste zwischen die Zipfel seines Kittelhemdes und zog an seinem rechten Hosenträger, der Zwickel seiner kurzen Hose schnellte nach oben. Papas Blick richtete sich auf die lautlos aufschwingende Eichentür zum Büro der Schwester Ökonomin. Die Wirtschaftsschwester blieb unsichtbar, hielt sich hinter einem Türpfosten verborgen. Der Pate trat aus dem Büro, Louis’ Großvater und Taufpate im gewohnten schwarzen Anzug mit der gewohnten taubengrauen Seidenkrawatte. Wie gewöhnlich liegt auf seinen Schuhen mit der abgerundeten Spitze und den Kupferösen kein Staubkorn. Die Schuhe bleiben stehen, die Hacken fast gegeneinander, es scheint, als würden sich die Zehen hochbiegen und die Schuhe jeden Moment vom Boden abheben.
»Er ist gewachsen«, sagte der Pate. Das sagte er jedesmal.
Wenn in diesem Klostergang eine Ratte freigelassen würde, könnte sie nicht entkommen. Alle Ritzen in den Wänden, den Bodenplatten und den Fußleisten sind gründlich abgedichtet. Die Schuhe des Paten könnten ihr Werk bequem verrichten, könnten zertrampeln, zerquetschen.
Der Kopf des Paten war in einen Zelluloidkragen geschraubt, ein runzliger, gegerbter Apfel mit einem kleinen Quadrat aus Borsten unter der stumpfen Nase. Ein eingedellter Apfel mit einem Schnurrbart. Deutlich unbedeutender als der Mann mit dem runden, feisten Gesicht auf dem Gemälde hinter ihm, der selige Achille Ratti, bis vor wenigen Monaten Papst und geistliches Oberhaupt der christlichen Welt.
»Gewiss fünf Zentimeter«, sagte der Pate mit der Aussprache, die zurückgebliebene Bauern und Hottentotten zum Lachen reizte.
»Das macht der Frühling«, sagte Papa.
Durch das hohe, schmale Fenster war der Birnbaum in der Mitte des Schulhofs zu sehen. Warum versuchte Vlieghe nicht, sie zu bespitzeln? Louis grinste. Vlieghe bespitzelte nie andere. Er wurde bespitzelt.
»Wie ich sehe«, sagte der Pate, »amüsierst du dich.«
»Ja. Großvater.«
»Zum Trübsalblasen hat man noch genug Zeit, wenn man alt ist, nicht wahr, Vater?«, sagte Papa, und der Pate nickte wohlwollend.
Louis sah sich wegrennen, über die endlose, gepflasterte Fläche eines Schulhofs, er duckte sich unter den Fenstern des Musiksaals – »die in Aalst, die sind empö-hört, weil uns das Ross Bayard gehö-hört« – und lief in den Gemüsegarten, wo eine Küchenschwester Unkraut jätete und erschrocken rief: »Seynaeve!«, und er sah, wie er an der Regentonne und an Felsklippen und Sandhaufen vorbeijagte, seine Segelohren fingen den Wind ein, seine Ohren, von denen Papa sagt, dass er sie ihm des Nachts mit punaises am Schädel feststecken wird. Der Pate sagte: »Staf, du immer mit deinem Französisch, sag lieber: Reißzwecken. Und außerdem solltest du dem Jungen nachts lieber Gummilitze um den Kopf binden, das würde nicht so wehtun, nicht wahr, Louis?« Worauf Pa beleidigt, aber (zum ersten Mal) triumphierend sagte: »Gummilitze, Gummilitze, das ist auch kein gutes Flämisch, Vater, es heißt: Gummiband.« Worauf sich der Pate abwandte, wie eine Katze, die in einem Klostergang eine Ratte gefangen hat, und sagte: »Was für unsere Dichter Guido Gezelle und Herman Teirlinck gut genug ist, ist auch gut genug für meine Wenigkeit, ihren Schüler Hubert Seynaeve.«
»Komm, Louis, wir gehn ein Weilchen an die frische Luft«, sagte der Pate.
Auf dem Schulhof drehte sich sanft quietschend das Karussell. Bevor er gegangen war, hatte Vlieghe es noch mit einem wütenden Stoß in Schwung gesetzt.
Papa hielt die Hand über seine schütteren Augenbrauen, als sähe er bei Blankenberge aufs Meer hinaus (letzten Sommer, Hunderte in den Wellen herumtobende Menschen mit nackten Schultern) und nicht auf den Glockenturm der Kapelle (in der Vlieghe nun kniete und die Jungfrau Maria für sein Misstrauen und seine Wut um Vergebung bat).
Der Pate legte seine Hand auf den tief herabhängenden Ast des Birnbaums. Vor der Kellerküche warteten ein paar der Kleinen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Louis auch dort gestanden, in der Reihe, umweht von Küchenschwaden, zehn Zentimeter kleiner, Vlieghes feuchte Hand in der seinen.
»Wir sind mit unserem Louis sehr zufrieden«, sagte Schwester Adam. »In Erdkunde und Biblischer Geschichte ist er der Beste.«
»Und im Rechnen?«, fragte der Pate.
»Das ist noch ein Problem«, sagte die Nonne.
»Das hat er von seinem Vater«, sagte der Pate.
»Stimmt«, sagte Papa. »Wir können ja nicht alle so gescheit sein wie du.«
Der Pate zog ein weißes Taschentuch hervor und betupfte sich damit die Stirn und die spärlichen Haare. Dann stopfte er sich das Tuch in den Nacken, zwischen die leicht rissige Haut und den Zelluloidkragen. Die Perle auf seiner grauen Krawatte schimmerte.
»Louis«, sagte er, »ich bin nicht unzufrieden, aber das mit deinem Rechnen gefällt mir nicht. Daran musst du ernsthaft arbeiten. Und dein Betragen lässt auch zu wünschen übrig, habe ich gehört.«
»Aus gut informierten Kreisen«, sagte Louis.
Der Pate steckte die Spitze seines beringten Fingers in ein Nasenloch und schüttelte den Finger heftig. Seine Nase war wie aus Gummi. Er sagte: »Ach, du frecher Satan.«
Papa wurde unruhig. Er kniff die Augen halb zu. Kurzsichtig? Nein, so machte es Wilhelm Tell, als er die Armbrust spannte und auf seinen Sohn unterm Apfelbaum anlegte.
»Denk daran, Junge«, sagte der Pate und klopfte Louis auf den Oberarm, »ich will dein Zeugnis sehen, wenn du in den Ferien nach Hause kommst. Und denk an den guten Namen der Seynaeves.« Er schritt davon. Zum ersten Mal fiel Louis auf, dass er so krumme Beine wie ein Reiter hatte. »Apropos«, sagte Papa, »hier, das ist für dich.« Louis erkannte den Duft sofort, er griff nach der bekannten Papiertüte mit den silbernen, verschnörkelten Buchstaben. Pralinen vom Bäcker um die Ecke des Internats. Die Tüte war zerknittert, Papa hatte sich also schon bedient. Um sicherzugehen, schaute Louis in die Tüte und sah, dass ein paar der dunkel- und hellbraunen Klumpen aneinanderklebten. Er legte die Tüte in Schwester Adams ausgestreckte Hand.
»Heute Abend darf er zwei davon essen«, sagte die Nonne. »Es ist ja wohl kein Schnaps drin, oder, Mijnheer Seynaeve?«
Papa stieß ein glucksendes Geräusch aus. »Wo denken Sie hin, Schwester«, sagte er und war gleich wieder gesittet, fast fromm. »Kein Schnaps, Schwester, nie. Ab und zu mal ein Bierchen, bei heißem Wetter oder in Gesellschaft. Aber Schnaps?« Er sah Louis fest an. »Ich würde ihm auf der Stelle beide Hände abhacken, wenn ich wüsste, dass er später dem Alkohol verfällt.«
»Ja, ja«, sagte die Nonne. »Mutter Oberin hat auf einer Beerdigung mal aus Versehen zwei Pralinen gegessen, wo Elixir d’Anvers drin war. Das ist ihr gleich zu Kopf gestiegen.«
Das war gelogen. Ihr selbst war die Sache passiert. Mit fünf oder sogar sieben Pralinen. Louis forschte in dem unantastbaren, von der Haube eingezwängten Oval nach den Spuren der Lüge.
»Tja«, sagte Papa und hüstelte.
»Geh noch nicht«, sagte Louis. »Bitte.«
»Nein«, sagte Papa und wartete. »Ach ja«, sagte er dann, »Mama geht es gut. Ich meine: gut und nicht gut. Du hast vielleicht gedacht, sie würde mitkommen, aber das war so gut wie unmöglich. Was ich dir sagen wollte: Mama lässt dich ganz herzlich grüßen.«
»Sie will nicht kommen«, sagte Louis. Entgegen seiner Absicht klang es wie eine Frage. (Vor einundvierzig Tagen, bei ihrem letzten Besuch, hatte Mama gesagt: »Wozu komme ich eigentlich her? Ich lasse meinen Haushalt im Stich, und wenn ich hier bin, sprichst du nicht mit mir. Wenn ich dich was frage, sagst du nur ja oder nein, und die übrige Zeit siehst du mich an, als wäre ich eine dumme Pute. Wenn es dir lieber ist, dass ich nicht mehr komme, Louis, musst du es sagen. Ist doch wahr, nie sagst du von dir aus was.«)
»Natürlich möchte sie kommen«, sagte Papa, »aber wie soll ich es dir erklären?« Er wandte das rosafarbene, füllige Gesicht hilflos Schwester Adam zu und sagte dann in scharfem Ton in Richtung Birnbaum: »Wenn sie nicht kann, dann kann sie nicht, und damit basta.«
»Louis ist ein bisschen überdreht«, sagte die Nonne. »Das liegt auch am Wetter. Plötzlich diese Hitze.«
»Ja. Ein Gewitter zieht auf«, sagte Papa.
Sie ist selber überdreht. Warum? Denk nicht darüber nach. Und denk auch nicht darüber nach, warum du besser über nichts nachdenkst.
»Die Pralinen sind vom Bäcker um die Ecke«, sagte Louis.
»Stimmt«, sagte Papa.
»Und sie sind in der Hitze geschmolzen.«
»Was macht das schon?«, sagte die Nonne. »Hauptsache, sie schmecken.«
Im Büro von Schwester Ökonomin hing ein handkoloriertes Foto von Henricus Lamiroy, Bischof von Brügge, von dem der Pate behauptete, er sei mit den Seynaeves entfernt verwandt, über die Familie von Tante Margo. Der Bischof hielt den Kopf schräg und stützte sich mit den Ellbogen auf einen Schreibtisch aus dem Mittelalter, auf dem ein bronzenes Tintenfass, ein Telefon und ein leerer Aschenbecher standen.
Durch das Fenster mit den dicken, geschwungenen, staubigen Gittern war der DKW zu sehen. Der Pate saß mit übereinandergeschlagenen Beinen beim Kamin, wippte mit seinem stumpfen Schuh und rauchte eine Zigarre. Die strenge Miene der Wirtschaftsschwester wurde bei Louis’ Anblick nicht milder.
»Na, Lüwiechen«, sagte sie. Louis wird irgendwann das Briefmesser mit dem kongolesischen Elfenbeingriff, das dort auf der moosgrünen Schreibunterlage liegt, ergreifen und gegen sie richten. Schreien soll sie, Schwester Ökonomin, quieken und sich vor Angst in die Hose machen.
Louis stellte sich ans Fenster und fragte: »Warum steht denn REX an deinem Auto?«
»Tja«, sagte Papa, aber es war kaum zu hören, denn der Pate rief aufgeregt: »Was? REX? Wo?« und sprang auf. Der Zigarrenqualm schlug Louis ins Gesicht. Der Pate grummelte: »Das ist doch nicht die Möglichkeit!« Auch Papa trat ans Fenster. Aufmerksame Gäste im Wirtshaus »Zum weißen Pferd« auf der anderen Straßenseite hatten nun die Gelegenheit, drei Generationen Seynaeves hinter Gittern zu sehen.
»Tatsächlich, jetzt, wo du es sagst«, räumte Pa ein. »An der Heckscheibe.«
Die Worte des Paten knatterten, sein Tonfall war vornehm, distanziert, der Atem zwischen den Lauten bestand aus Schwefel. »Staf, du tust mir jetzt den Gefallen und entfernst auf der Stelle, aber wirklich auf der Stelle diese Plakette.«
»Auf der Stelle«, murmelte Louis in sich hinein.
»Staf !«, schnaubte der Pate drohend.
»Das muss Holst gemacht haben«, sagte Papa und ging zur Tür.
»Bestimmt«, sagte der Pate. »Etwas anderes kann ich mir auch nicht vorstellen.«
»Ist das Holst?«, fragte Louis. Auf einen unhörbaren Befehl von Pa wand sich der hünenhafte Mann mühsam hinter dem Steuer hervor. Als er auf der Straße stand, registrierte Louis, grundlos froh, dass der Mann einen Kopf größer war als sein Vater.
»Dieser Abschaum«, sagte der Pate. »Schwester Ökonomin, heutzutage …«
»Der Erzbischof hat im Radio ausdrücklich vor den Rexisten gewarnt«, sagte Schwester Ökonomin. »Aber wie es scheint, stellt sich König Leopold nicht hundertprozentig gegen sie. Obwohl er das natürlich nicht offiziell zugeben könnte.« Sie lächelte. Das war für Louis etwas Neues. Auf einmal saß da eine Frau mit einem kindlichen, bäuerlichen Gesichtsausdruck. Auch ihre Hände, die einen smaragdgrünen Füller drehten, hatten etwas Mädchenhaftes.
»REX auf unserem Auto«, grollte der Pate.
»Immer noch besser als eine Plakette der Sozialisten«, sagte Schwester Ökonomin.
»Das hätte gerade noch gefehlt«, sagte der Pate. Brüsk ging er zum Schreibtisch und klopfte mit seinem Siegelring darauf. »Das wird ein Nachspiel haben«, sagte er und verschwand grußlos, ohne die anderen noch eines Blickes zu würdigen. Schwester Ökonomin stand auf.
»Dein Großvater«, sagte sie, »kriegt demnächst noch einen Schlaganfall, bei seiner Unrast.«
Draußen auf der sonnigen Straße wollte der Riese Holst die Plakette mit einem Taschenmesser abkratzen, doch Papa hielt ihn davon ab und fummelte, behutsam und schwitzend, mit den Fingernägeln zwischen der Heckscheibe und dem Papier. Der Pate trat zum Auto, brüllte unhörbar und warf seine Zigarre auf die Straße.
Schwester Ökonomin ging hinaus, nachdem sie die Kokosmatte zwischen Tür und Türrahmen geschoben hatte.
Obwohl es nicht erlaubt war, unter keinen Umständen, stand Louis nun unbewacht, unbeschattet draußen auf der Straße, unter der Platane, in der die Mücken surrten. Papa hatte die verhasste Plakette offenbar unbeschädigt entfernt und in die Tasche gesteckt. Der Pate saß im Auto, auf dem Beifahrersitz. Er trug einen dunkelgrauen Hut. Der Riese Holst strich mit der Hand zärtlich über die Motorhaube.
»Mach’s gut, mein Junge«, sagte Papa munter. Draußen sah er stärker und breitschultriger aus als im Schulbüro unter der Fuchtel des Paten. »Beim nächsten Mal ist alles anders und besser. Lass den Kopf nicht hängen wegen Mama. Es wird schon wieder.«
»Hat Mama die galoppierende Schwindsucht?«, fragte Louis.
»Also wirklich, Lüwiechen«, sagte Schwester Ökonomin.
Papa schaute seinen Sohn an, als wäre er ein Waisenkind, das am Dreikönigsabend vor der Haustür sang. Er tat so, als müsste er Tränen lachen und trommelte sich auf den Bauch, als wollte er den Lachkrampf stoppen.
»Auf was für Ideen du kommst!«, japste er. »Nicht wahr, Schwester? Du bist schon ein komischer Kauz. Bei den Seynaeves hat es seit fünfzig Jahren keine Schwindsucht gegeben. Nicht wahr, Schwester?« Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm beipflichten sollte. Papa räusperte sich und beugte sich vor. »Es ist nichts passiert, jedenfalls nichts Ernstes. Sie ist die Treppe runtergefallen, die Mama, das ist alles, deshalb muss sie eine Weile liegen.«
»Auf der Treppe?«
Papa suchte irritiert Unterstützung bei Schwester Ökonomin, die auf die Straße blickte, als ob sie jemanden erwartete. Der Riese Holst hielt die Tür des DKW auf.
»Sie muss eine Weile im Bett liegen, aber nicht mehr lange«, sagte Schwester Ökonomin schließlich.
»Mach’s gut, mein Junge«, sagte Papa. »Wenn du Mama wiedersiehst, hat sie ein schönes Geschenk für dich.«
»Bestimmt«, sagte Schwester Ökonomin.
»Was denn?«
»Das ist eine Überraschung«, sagte Papa.
»Du wirst von den Socken sein«, sagte Schwester Ökonomin. Im Auto lehnte sich der Pate zur Seite und hupte. Sofort kläffte der Hund von »Zum weißen Pferd«.
»Mach’s gut, Junge«, sagte Papa.
»Mach’s gut, Papa«, sagte Louis, aber es klang nicht so höhnisch, wie es hätte klingen sollen.
»Das nächste Mal wird …«, sagte Papa und trottete zum DKW. Während er sich auf den Rücksitz setzte, redete der Pate heftig auf ihn ein. Neben Papa war ein breiter Platz frei. Louis hätte ohne weiteres auch ins Auto gepasst. Den ganzen Weg nach Hause hätte er die Hand auf Papas Knie gelegt. Er winkte dem Wagen noch nach, als er um die Ecke gebogen war und die Staubwolke über der Dorfstraße sich auflöste.
Der Schulhof war verlassen und die Luft inzwischen diesig. Aus der Kellerküche stieg das Geplapper der Kleinen.
Vandezijpe kam auf Louis zu. Er aß eine Mohrrübe.
»Hugh, Bleichgesicht«, sagte er.
»Hugh, Hottentotte«, sagte Louis. Und obgleich er es gar nicht wollte, sagte er zu Vandezijpe, der mit weit offenem Mund die orangefarbenen Stücke zermalmte: »Meine Mutter ist die Treppe runtergefallen.«
»Bei dir passiert aber auch immer irgendwas«, sagte Vandezijpe.
II
Tuckernd fährt der DKW durchs Dorf, vorbei an den Häusern mit gelbglänzenden Klinkerfassaden und violett und beige gestrichenen Balkonen, Schuhgeschäften, einer Schmiede, einem Friedhof, wo eine Frau in Trauer am Daumen lutscht.
Surrend fährt der Wagen über eine verlassene Asphaltstraße, vorbei an den haushohen Halden der Lehmgruben, und was hat der Pate da zu zetern? Man kann es von den Lippen ablesen. Wütend ist er, der Pate, der bei Louis’ Taufe im St.-Markus-Spital dem Pfarrer den Weihwasserwedel aus der Hand genommen und über dem erschrockenen kleinen Würmchen mit dem schrumpligen Gesicht geschwenkt hatte, das noch auf einem Foto im Wohnzimmer des Oudenaardse Steenweg 10 zu sehen ist. Das Foto steckt schräg unten im Rahmen von »Der Gute Hirte«. Der Pate, der jedes Jahr, wenn Louis tapfer sein selbstgemachtes Neujahrsgedicht aufgesagt hatte (zum Schluss eine Verbeugung und ein erleichtert und triumphierend ausgestoßenes »vor allem wünscht dein Patenkind, dass wir noch lang beisammen sind«), Louis’ Handgelenk packte, die geballte Faust aufbog und, während er sich bereits abwandte, fünf Franc hineindrückte, schnöden Mammon. Der Pate, der sich früher »Professor Seynaeve« genannt hatte. »Ich dachte, Sie seien Lehrer. In welchem Fach sind Sie denn Professor?« – »In der Lebenskunst, gnädige Frau!« Dieser Pate schnauzt nun seinen Sohn an, der sich in dem beengten, stickigen Auto bestürzt an die Lehne des Rücksitzes presst. Nach den Lehmgruben kommen die Roggenfelder, das Land wird weniger hügelig und die Straßenschilder nach Kuurne, Lauwe und Verdegem erscheinen.
Nun brüllt der Pate nicht mehr, hat sich aber immer noch nicht beruhigt. »Staf«, sagt er gut hörbar, »ich verstehe sehr gut, dass du bestimmte Überzeugungen hast, einen Mann ohne jede Überzeugung kann man auf den Müll werfen, aber bitte, Staf, il y a la manière.«
»In Flandern wird Flämisch gesprochen«, schreit Papa. Den Mann am Steuer sieht man feixen, aber das merken die beiden anderen nicht. Oder doch, der Pate sieht, wie die Schultern des Mannes zucken.
»Holst, gucken Sie nach vorn«, zischt der Pate.
Ein Leichenzug kommt vorbei. Eine betrunkene Nonne wird von zwei Offizieren mit Trauerkränzen um den Hals gestützt. Eine Blaskapelle. Die Menschen in dem schleppend vorankommenden Trauerzug sehen aus, als seien sie einer wie der andere aus Karton ausgeschnitten, angemalt und würden von einem ungeschickten Jungen an unsichtbaren Fäden fortbewegt. Der Junge wird sie hüpfen, trippeln, tanzen lassen. , tschingderassa, , bummbumm!
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