Der Lektor - Harald Neugebauer - E-Book

Der Lektor E-Book

Harald Neugebauer

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Beschreibung

Solange man Schach spielt, ist man auf Züge angewiesen, die auf den Gegner gerichtet sind. Das ändert sich, wenn man sich nicht mehr über die Partie, sondern über das Spiel selbst Gedanken zu machen beginnt. Ernst Jüngers Kommentar zum 70. Geburtstag Friedrich Georgs

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Solange man Schach spielt, ist man auf Züge angewiesen, die auf den Gegner gerichtet sind. Das ändert sich, wenn man sich nicht mehr über die Partie, sondern über das Spiel selbst Gedanken zu machen beginnt.

Ernst Jüngers Kommentar zum 70. Geburtstag Friedrich Georgs

Prolog

Ihre lockigen hennaroten Haare glänzten in der Abendsonne, die durch das Fenster hineinschien. Die junggebliebene Mittfünfzigerin, die von ihrem Kleidungsstil für Ende 20 gehalten werden konnte, war eine der letzten Vertreterinnen der realen freien und unabhängigen Presse in Westeuropa. Sie blickte aus dem Fenster auf die Donau hinaus, hielt kurz inne und begann weiter in ihr Diktaphon zu flüstern:

„Heute ist Europa nicht mehr frei. Die Kulmination wird hoffentlich in den vereinten großen Widerstand münden. Wir organisieren uns wider alle Erwartung im polnischen Osten … Polen scheint der einzige Staat neben Ungarn zu sein, der noch nicht unterwandert wurde. Verbündete haben wir nicht viele ... Doch zuvor werde ich die Geschichte, deren Augenzeuge und einer der Protagonisten der österreichische Buchlektor Dr. Harald Neugebauer tragischerweise wurde, für die Nachwelt von Anfang an schildern. Er erzählte mir seine Geschichte vor der Schlacht um Brüssel-Molenbeek, und belegte dies mit den Tagebuchaufzeichnungen, Schriften und Notizen, die ich als Grundlage für dieses Manuskript nutze.“

Kimberly M.,

Budapest, Ungarn, freies Europa

Berlin-Zehlendorf, Dr. Neugebauer

Der Lektor schlug abermals die erste Seite des Buches auf und begann erneut zu lesen:

Frühherbst in Graubünden. Der kalt wehende Wind kündigte den nahenden frostigen Winter an.

Ein dichter Tannenwald am Berghang wiegte sich gleichmäßig im spätsommerlichen Pfeifen des Windes, einem vielstimmigen Chor der sich ankündigenden Kaltzeit.

Der Mann auf der Uferbank nahm seine oval geformte versilberte Lesebrille ab und schaute hinaus auf den Silvaplanersee. Er atmete tief, füllte seine Lungen mit der feuchtkalten, aber klaren Luft und beobachtete die schneebedeckten Berggipfel, an denen sich das kalte Licht der Septembersonne wie in einem Prisma brach. Ihn fröstelte ein wenig. So schlug er das Buch, das er in der Hand hielt, zu und erhob sich. „Bin ich Prometheus oder Epimetheus?“ fragte er sich, als er auf dem Uferweg nach Hause aufbrechen wollte. Es war Zeit, Sils zu verlassen und nach Basel zu gehen. Als er die kalten Wasser des Silvaplanersees zu seiner Linken aus den Augenwinkeln wahrnahm, bemerkte er, dass das tiefe dunkle Wasser ihn auf eine sehr emotionale Weise anzog. „Versinken will ich in dir“, flüsterte er und blieb stehen. „Käme das Wasser zu mir, würde ich es nicht negieren“, brummte er leise vor sich hin. Sich langsam nach links drehend ging er gemächlich dem Wasser entgegen. Das Wasser, dunkel und ruhig, sprach zu ihm: „In mir kannst du dich fallenlassen auf ewig. Denn ich bin dir treu, nicht bin ich Mensch, dass ich dir die Treue verweigern vermag. Komme, komme, o versinke in mir, wie ein jeder Tränentropfen, der mich zu füllen vermag.“ Der Mann näherte sich dem Wasser gemächlich in kleinen Schritten. Seine braunen Wildlederschuhe berührten das Nass und er wurde von der Kälte des Wassers, das seine Füße durchnässte, für einen kurzen Moment überwältigt. „Tropfen will ich werden in dir und versinken.“ Er hielt die Luft an, bis seine Lungen zu brennen begannen, und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er im kalten Wasserertränke.

„Doch bist du bereit für mich, oh du Feuer des Prometheus? Du ewige Erkenntnis? Nicht dass du an meiner Flamme trocknest“, sprach der Mann und fügte hinzu: „Ein andermal vielleicht, heute jedoch nicht.“ „Den Berg hinabsteigen werde ich, um den Menschen mitzuteilen, was es zu sagen gibt“, sprach er mit bestimmter und strenger Stimme. Sein Geist war am Rande eines Abgrundes, der sich in der tiefen Unendlichkeit des Sees verlor. „Noch nicht“, sprach er zu sich selbst, „noch nicht; erst muss ich es artikulieren.“

„Den Menschen den Spiegel vorhalten, ihnen ihre vulgäre Banalität deutlich machen und Mensch und Getier mit dem Vorschlaghammer erziehen“, flüsterte er dem See zu. „Auch dich habe ich überwunden, Arthur,“ sprach er „meinen Mentor, der nur noch der eristische Demagoge ist, sonst nichts ...“ „Die öden Eisbärzonen“, entfuhr es ihm, als sein Blick sich in den schneebedeckten Berggipfeln verlor. „Am Lehren gescheitert“, sprach er und schaute, tief in Gedanken versunken, erneut in Richtung des Sees hinaus. „Der Verlust des Menschen und Gottes.“

„Auf bald, ewig’ Freund, ich weiß, du wirst auf mich geduldig warten bis wir uns wiedersehen ...“ Wortlos beobachtete er weiter den See, bis eine zarte Frauenhand seine rechte Schulter von hinten berührte. Die Frau im langen schwarzen Kleid ließ ihre linke Hand auf ihm ruhen. Sie sah mit glasigen und sorgenvoll traurigen Augen zu ihm herunter: „Du hast dir die Schuhe nassgemacht, komm nach Hause. Du musst deine Füße trocknen, sonst wirst du dir eine Erkältung einfangen.“

Als sie nach Hause liefen, hakte sich die Frau an seiner Rechten bei ihm ein. „Du musst sie vergessen“, sagte sie, „lerne sie zu vergessen. Schreibe. Schreiben tut dir gut. Ich helfe dir, die Sachen zu packen.“ „Hör endlich auf, mit mir über sie zu reden! Du kannst das nicht verstehen, du banale Seele“, erwiderte er zornig. Sie sah ihn an und schwieg. Der Mann überlegte kurz und sprach: „Ich will nach Rapallo, und zwar allein. Ich komme nicht mit dir mit, Schwester. Sage Mutter, dass alles gut ist.“ „Nein“, sprach sie schockiert, „nichts ist gut.“

„Du bist völlig depressiv; und noch mehr Isolation wird dich weiter erkranken lassen. Bitte komme mit mir mit.“ „Nein Schwester, packe meine Sachen zu Ende, ich fahre nach Italien. In Rapallo werde ich in Ruhe schreiben können. Und ich fahre allein, ganz bestimmt!“, raunte er lauter werdend. „An Bertha werde ich noch einen Brief schreiben.“ „Wer ist Bertha?“ fragte seine Schwester verwundert. „Die Dame meines Entzückens“, sprach er. „Du willst, ohne dich persönlich zu verabschieden, nach Rapallo? Warum musst du die Menschen immer wegstoßen?“ fragte sie ärgerlich. „Du kannst nicht alle Menschen mit deiner radikalen Art züchtigen!“

*

Im Waggon der I. Klasse saß der Mann, sah durch das Fenster, wie seine Schwester, mit traurigem Gesicht und Tränen in den Augen, ihm schwer mit ihrer rechten Hand zum Abschied sorgenvoll zuwinkte. Er winkte ihr starr zurück, und als der Zug losfuhr, holte er die Tageszeitung ,Basler Nachrichten‘ aus seiner Jackentasche und betrachtete die Titelseite. ,Attentat auf Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen und die versammelten Fürsten gescheitert‘, stand da geschrieben. Er las mit mäßigem Interesse weiter. Anarchisten planten auf Wilhelm den Ersten ein Attentat mit Dynamit! „Anarchisten sind halbe Nihilisten“, murmelte er, „halbe Nihilisten, gewollt, aber nicht gekonnt.“ Die Titelgeschichte interessierte ihn nur rudimentär. So blätterte er weiter und überflog die nächsten Seiten. Der Bericht über das neue von Bismarck initiierte Gesetz zur Einführung der Krankenversicherung im Deutschen Reich, welches kontrovers war, aber hochgelobt wurde, ließ ihn kurz innehalten. „Recht nimmt man sich, man bekommt es nicht“, dachte er. Auf den hinteren Seiten las er über die Nachwehen der Affäre von Tiszaeszlár, die noch andauerten. Ein Bauernmädchen war verschwunden, die Mutter des Mädchens hatte gegen Juden Anzeige erstattet. Diese wurden wegen angeblichen Ritualmordes zum Pessachfest angeklagt, aber freigesprochen. Es war zu Massenunruhen gekommen im nordöstlichen Ungarn. In der Donaumonarchie gärte es. „Richard“, sprach er, „mein treuer Freund, der du einst warst. Du bist das Salz und Pfeffer dieser Dekadenz. Dich werde ich schriftlich erziehen, damit du den Übermenschen lernst, du, der die Sonne des Unterganges bist.“ Er schlug die Zeitung wieder zu, faltete sie sorgfältig zusammen und fragte sich in Gedanken: „Wie soll sich die Menschheit helfen, trotz der Menschheit?“ Iwan Turgenjew war vor einem knappen Monat verstorben. „Der Realist“, entfuhr es ihm halblaut. Er dachte an den Protagonisten Tschulkaturin aus Turgenjews ,Tagebuch eines überflüssigen Menschen’. „Menschheit“, sprach er und blickte aus dem Fenster des Abteils hinaus in die Schlucht, die sie passierten. „Wie tief kann ein Mensch wohl fallen in so einer Schlucht?“ fragte er sich. „Sage es mir, Tschulkaturin!“ Er sah hinunter in die Schlucht und versuchte, die Tiefe abzuschätzen. „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen dem Tier und dem Übermenschen, er ist ein Untergang und ein Übergang“, dachte er. „Du bist aber nicht tief genug, als dass ich in dir fallen könnte, denn ich bin tiefgründiger als Du“, sprach er. Er schloss die Augen und fiel in einen oberflächlichen und unruhigen Schlaf.

*

Der Lektor sah vom Text auf. Die finale Korrektur des ersten Teils war nunmehr abgeschlossen. Aber die Darstellung von Rapallo gefiel ihm überhaupt nicht, und er beschloss, die gesamte Beschreibung der italienischen Kleinstadt von Neuem vorzunehmen und notierte in sein Skript die Worte:

RAPALLO BESCHREIBUNG

Den Text kannte er mittlerweile beinahe auswendig. Normalerweise schrieb er Bachelor- und Magisterarbeiten als Ghostwriter. Nach einem Abschluss in Anthropologie hatte er es vorgezogen, weiter zu studieren, ohne als Anthropologe tätig geworden zu sein. Die gesamte Gesellschaft war krank, nicht krank an irgendwelchen Viren, sondern psychisch krank, dessen war er sich