Der letzte Muttermann - Sigrid Lehrke - E-Book

Der letzte Muttermann E-Book

Sigrid Lehrke

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Beschreibung

Eine neue Partnerschaft: Super! Wir fühlen uns wie neugeboren, die Hormone tanzen vor Freude. Und dann erscheint da ein Wesen aus einer anderen Zeit und fängt an, die Träume zu zerstören! "Aufgeräumt" kann etwas Neues, vielleicht sogar Besseres entstehen. Marli ist diesen Weg gegangen. Und es hat sich wirklich gelohnt!

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In liebevoller und dankbarer Erinnerung …

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Nachwort

Es ist zum verrückt werden.

Alle Liebschaften hatten nur ein einziges Ziel,

das Problem der Probleme zu lösen.

Wirklich für immer aufzulösen.

Ist es wirklich so? Alles Hoffen, Bangen, Saugen, Lutschen, Trinken galt eigentlich jemandem anderen. Der oder die Heißbegehrte, war in Wirklichkeit gar nicht gemeint?

Wem galten sie dann, die unendlich zarten Liebkosungen?

Wer ist es, der uns so ungeheuer abhängig sein lässt, dass wir lebensunfähig werden, droht er uns zu entgleiten?

Welcher Mensch hat so viel Macht über uns, über unser Leben, über unseren Tod?

Er, wer ist er dieser Mensch?

Man muss ihn finden … man muss ihn finden …!

Manchmal brauchen wir allerdings Handwerkszeug, um zu finden, darum kurz erklärt, dass z. B. ein vermeintliches Geschenk sich als *Trojanisches Pferd entpuppen kann.

*Die griechische Mythologie erzählt, wie Troja mittels eines geschenkten hölzernen Pferdes, in dem griechische Soldaten versteckt waren, erobert wurde.

Manchmal allerdings können die Dinge sich auch wandeln. Ob das ins Positive oder Negative gereicht, kommt auf die Umstände an und wie wach, schläfrig oder auch mit Fantasie wir das Geschehen zu betrachten in der Lage sind.

1

Er scheint ein wundervoller Mann zu sein.

Ich habe den Artikel über ihn verschlungen!

Irgendwie komme ich mir albern vor, so schwärmerisch.

Und das in meinem Alter. In knapp fünf Wochen werde ich fünfunddreißig. „So alt wird kein Schwein“, hat Gabi neulich zu mir gesagt.

Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht wie alt Schweine werden. Sicher nicht so alt, weil wir sie vorher verspeisen.

Gabi und ich sind seit der ersten Klasse befreundet.

Meine Eltern haben mir den Namen Marli gegeben.

Warum konnten sie mir nicht sagen. Viele mögen ihren Namen nicht. Ich gehöre dazu.

Mein Aussehen finde ich einigermaßen okay.

Die Natur hat mir leicht gelockte Haare in einem dunklen Rostrot verliehen. Ich trage sie gerne lang und offen.

Derzeit wiege ich 65 Kilo. Das ist bei 170 cm Körpergröße akzeptabel.

Ob Hermann Puschenbach auch ein Schwein ist? Ich meine im Bett. Entschuldigung, man kann ja mal fantasieren. Der Mann aus dem bekannten Nachrichten Magazin heißt also Hermann und ist der Chefarzt einer total verrückten Klinik.

Keine Angst, das ist kein Arztroman.

Was ich da gelesen habe, ist ein langer und interessanter Bericht über eine sehr ungewöhnliche Klinik, in der die Patienten nicht „Patienten“, sondern „Gäste“ genannt werden. Und alle sind per „Du“. Jeder mit jedem, auch die Therapeuten, Ärzte und Pfleger/innen. Der Hausmeister ist „Willi“ und die Sekretärin „Anne-Marie“.

Man geht dort hin, wenn man mit irgendetwas nicht mehr aufhören kann. Zu viel Glücksspiel, zu viel Sex, zu viel Tabletten, zu viel Arbeiten, Putzsucht, zu viel von allem Möglichen, auch von Alkohol. Bei echtem Alkoholismus muss man vorher einen Entzug machen.

Ich wusste gar nicht, was alles süchtig machen kann. Sehnsucht, die Sucht sich zu sehnen! Huch, vielleicht bin ich süchtig! Sehnsucht und ich sind alte Freunde!

Es gibt noch viel mehr Süchte, unter anderem auch Onlinesucht und Telefonsucht.

Manchmal telefonieren Gabi und ich stundenlang und reden über unsere jeweiligen Lieben. Wie toll es wäre, wenn die anders wären. Gabi steht auf Frauen, ich auf Männer. Doch die Sehnsucht ist gleich. Das Warten auf einen Anruf oder eine Mail.

Aber kriegt der Geliebte plötzlich totales Verlangen und klotzt so richtig ran, fehlt das sich sehnen und das Ende wird eingeläutet. So ist das. Bei Gabi auch.

Eigentlich bin ich ganz artig. Als Lehrerin unterrichte und therapiere ich Jugendliche, die in einem kirchlichen Heim leben.

Mein derzeitiger Geliebter ist ein verheirateter Pfarrer.

Da komme ich in Punkto mich sehnen voll auf meine Kosten. Die Ehefrau hat Vorrang. Das ist ja klar.

Johannes, mein Pfarrer, ist gar nicht hübsch und auch schon älter. Aber ich sitze gern in seinem Gottesdienst und fühle mich geborgen und irgendwie zuhause.

In seiner Nähe sein macht mich glücklich.

Es ist wundervoll, von Johannes geliebt zu werden.

Doch ganz besonders doll mag ich das Freuen auf ihn, bevor er zu mir kommt oder die Vorfreude auf dem Weg zu einer Verabredung. Das macht mich manchmal glücklicher, als das Treffen selbst!

So ganz normal ist das auch nicht. Gabi empfindet bei ihren Frauen ganz ähnlich. Vielleicht sollte ich mir diese Suchttherapie Klinik mal ansehen?

Meine Güte, gleich kommt Johannes und ich sitze in meinem Schaukelstuhl und denke über das Leben und den Artikel über diese tolle Klinik nach!

Wie verständnisvoll und nett die dort miteinander umgehen! Ihr Leiter ist wie ein gerechter, fürsorglicher

Papa. Nein, er ist ein guter Hirte!

Hallo Marli, geht es noch ein bisschen dicker?

Es klingelt. Schade, keine Zeit für Vorfreude! Fast stört mich Johannes Kommen.

„Na, Marli Träumerchen?“ Er steht vor der Tür und wickelt umständlich eine Flasche Champagner aus einem alten Papierstück aus. Seine Worte haben etwas Liebkosendes. Ich würde ihm gerne von dem Artikel erzählen, aber irgendetwas hält mich ab.

„Komme ich unpassend?“ „Nein, ich war nur grad’ so in Gedanken.“

Es ist wie verhext. Das umständliche Auspacken der Flasche hat mich an Geburtstagsbesuche von Mutti erinnert, wenn sie draußen vor der Tür die Blumen ausgewickelt hat. Schön ist das immer gewesen.

Leider ist sie tot.

Ich kann doch Johannes nicht sagen, dass er mich gerade an meine Mutter erinnert und ich jetzt gerne mit ihm Kaffee trinken würde.

Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange. „Nanu, Sparprogramm heute?“, scherzt Johannes und zieht mich an sich. Jetzt geht es richtig zur Sache.

Saugende Küsse, das ganze Programm. Zwischendurch Champagner.

Nach zwei Stunden schaut er auf meinen Wecker.

„Ich muss los, der Seniorenclub hat mich gebeten, die Abendandacht zu halten, ich will die Leutchen nicht warten lassen.“ Es gibt mir einen Stich in den Magen.

Ich möchte auch mal die erste Geige spielen. Warum besorge ich mir bloß immer die gleichen Typen?

Er zieht sich eilig an. Noch eine liebevolle Umarmung.

Auf dem Flur ein: „Bis bald mein Träumerchen.“ Weg ist der Johannes.

Ich rufe Gabi an. Wir meckern genüsslich über unsere Geliebten. Dann erzähle ich ihr von dem Artikel.

„Wir fahren da beide hin, gucken uns die Klinik an“, schlägt Gabi vor.

Mir gefällt die Idee. Ich beschließe einen Brief an den sympathischen Chefarzt Doktor Hermann Puschenbach zu schreiben. Gleich geht es mir viel besser.

Gabi albert über den Namen. „Der kommt bestimmt nicht aus den Puschen.“

Ich kontere: „Das Gegenteil ist der Fall, er ist total im Fluss, du musst unbedingt den Artikel lesen.“

Gabi will von Süchten nichts wissen. Ihr Vater war Alkoholiker und hat einen wesentlichen Anteil daran, dass sie mit Männern nichts anfangen kann.

„Aber Hinfahren tun wir!“

Gabi liebt Abenteuer. Wir beenden das Telefonat.

Merkwürdig bewegt sitze ich in meinem Schaukelstuhl.

Er ist ein Überbleibsel aus dem Nachlass meiner Mutter.

Der Tiefgang des Klinikleiters, der in dem Artikel anschaulich beschrieben wird, hat mich bewegt.

Und dann so oberflächliche Witze über den Namen.

Ob der Puschenbach schon als Kind gehänselt wurde? Eine gewisse Form von Einsamkeit könnte ich mir bei dem vorstellen.

Menschen mit großer Verantwortung und tiefem Durchblick haben oft keinen, dem sie richtig vertrauen können. Johannes erzählt mir öfter von derart traurigen Gefühlen.

„Das weiß nicht mal meine Frau, was ich dir sage.“ Dann guckt er mit einem so einsamen Flair. Mutti hatte bei aller Dynamik auch so was.

„Was ich mir wirklich wünsche, könnt ihr mir doch nicht schenken.“ Ilse und ich waren noch klein und hatten nach einer Idee für ein Geburtstagsgeschenk gefragt.

Mir hat die Antwort wehgetan. Ilse war da anders:

„Ist doch sinnlos darüber nachzudenken, wir können ihr eh’ nichts recht machen!“

Ältere Schwestern sind manchmal klüger. Sie hat mit zweiundzwanzig geheiratet und drei Kinder bekommen.

Über die denkt sie nun nach.

Ich habe keine Kinder und denke über meine jeweiligen Männer nach. Heiraten war nie mein Thema. Ich kann nicht sagen, warum.

Marli, heb’ den Allerwertesten und schreibe den Brief!

Okay, der Laptop ist schnell angeschaltet, es schreibt sich gut an Mister Hermann. Irgendwie so vertraut.

Selbstverständlich benutze auch ich das persönliche „Du“.

Ich fühle mich seelenverwandt. Das schreibe ich auch gleich dazu und frage, ob ich mir die Klinik gelegentlich angucken dürfte.

Eine psychotherapeutische Ausbildung habe ich auch, gebe ich zur Erklärung an.

Tage vergehen, ich bin mit Unterrichten, Vorbereiten und Nachbereiten beschäftigt.

Das Magazin mit dem aufgeschlagenen Artikel liegt im Regal.

Dann ein Brief von der Klinik. Mal sehen, was drinsteht.

So ein Mist! Also, ich hätte von denen wirklich was anderes erwartet.

Das hier ist ein Formbrief, vom Oberarzt Doktor Mertens unterzeichnet.

Jeder könne zu den öffentlichen Veranstaltungen kommen, Angabe der Zeiten, alles per „Sie“!

Gabi meint, wir fahren da hin, egal was ist. Es seien nur schlappe 800 km von Hamburg bis zu dieser Klinik.

Eigentlich ganz schön weit, finde ich. Aber Begeisterung verleiht Flügel. Ich bin einverstanden.

Jetzt wird das auch zu Ende gebracht.

Johannes frotzelt zärtlich rum: „Was will mein Träumerchen denn bei den Süchtigen? Nachher schmeckt dir mein ,Schampus‘ nicht mehr!“

Wir fahren zu meinem 35. Geburtstag. Statt einer Party.

Johannes merkt mein Interesse.

Wenn er nicht die Nummer eins ist, bestraft er mit Liebesentzug. Plötzlich ist ihm seine Familie wichtig, er hat weniger Zeit.

Die Zeichen stehen auf Veränderung.

2

Heute ist mein fünfunddreißigster Geburtstag.

Ich habe supergute Laune.

Wir fahren auf einer nicht enden wollenden Autobahn. Gabi albert fröhlich rum. „Hoffentlich behalten die uns nicht gleich da, so wie wir drauf sind.“

„Klar, liebe Gabi, du kommst in eine Gummizelle und ich an den Marterpfahl. Wegen der roten Haare.“

Gabi lacht und malt mit blühender Fantasie das Bild einer Psychiatrie von anno dazumal. Den Artikel hat sie in der Zwischenzeit nicht gelesen.

„Das ist kein Krankenhaus, sondern eine Therapieklinik. Das Gebäude ist ziemlich alt und war mal ein Gasthaus. Nix ist mit Hexenverbrennung oder Gummizelle.“

Gabi ist trotz aller Erklärungen nicht zu bremsen und fantasiert sich weiter die irrsten Sachen aus. Wir haben mächtig Spaß und werden trotz langer Autofahrt nicht müde.

„Marli“, ruft Gabi unvermittelt, „du musst den vielen Kranken eine Geburtstagslage geben! Fünfhundert Schokoküsse. Mindestens!“

„Die sind nicht krank, die haben eine Suchtproblematik und die bearbeiten sie dort. Reich mal einen Kuss rüber.“

Gabi beugt sich zu mir, lässt das Steuer dabei los und drückt mir einen fetten Kuss auf die Wange. Und das bei Tempo 150!

„Schoko, meinte ich!“ Sie reicht mir einen. Ich esse den zwölften. Wir haben eine ganze Kiste mitgenommen.

Als Gabi und ich uns im sechsten Lebensjahr kennen gelernt haben, waren solche Schokoküsse einfach eine Delikatesse.

Irgendwann nähern wir uns unserem Ziel. Es ist kurz nach Mittag.

Ab 14 Uhr ist es gestattet, an einer Vollversammlung mit allen Gästen, Ärzten und Therapeuten teilzunehmen. So stand es in dem merkwürdig sachlichen Brief.

Meiner ist vermutlich nie bei Doktor Puschenbach gelandet. Da habe ich mit meiner offenen Art vermutlich voll danebengegriffen.

Die Klinik rückt in Sichtweite. „Nee Marli!“, ruft Gabi. „Diese kleine Kaschemme soll das tolle Teil sein!?“

Ich belehre Gabi lachend, dass das einfache Gebäude zum Programm der Therapie gehört und eben das Besondere ist.

„Kein Luxus, der vom Eigentlichen ablenkt und auch keine Massenabfertigung.“

„Da passen ja höchstens hundert Leute rein“, stellt Gabi irgendwie ernüchtert fest.

Wir parken vor dem Haus. Oben auf einer großen Treppe stehen viele Menschen, von denen sich die meisten gerade umarmen und gar nicht mehr loslassen.

Ich habe das Gefühl, bei einer Sekte gelandet zu sein.

Gabi und ich gucken uns an und sagen beide im Chor: „Auweia!“

Wir brauchen eine ganze Weile, bis wir unsere Körper aus dem Auto bewegen.

Die Leute, von denen die meisten noch immer in fester Umarmung stehen, nehmen von uns keine Notiz. Ich schätze, sie sind zwischen fünfundzwanzig und sechzig Jahre alt. „Eigentlich sehen die ganz normal aus“, meint Gabi. Ihre großen blauen Augen gucken erstaunt.

Wir gehen die Treppe hoch. Es ist kurz vor 14 Uhr.

Noch immer nimmt keiner von uns Notiz.

Jetzt kommt Bewegung in die Menschen. Man strebt nach innen in einen großen Raum, welcher an der Längsseite eine Bühne hat.

Wir gehen einfach hinterher. „Das war bestimmt mal der Tanzsaal des Gasthauses“, flüstere ich Gabi zu.

Alle setzen sich auf den Boden auf eine einfache Auslegware.

Manche haben Kissen dabei. Wir sitzen mittendrin.

„Wo sind wir bloß gelandet?“, flüstert Gabi mir zu.

„Psst!“, zischt ein junger Mann und guckt mit hoch gestrecktem Hals in Richtung Bühne. Ich muss grinsen.

Gabi hält sich die Nase zu. Das macht sie immer, wenn sie einen Lachkrampf unterbinden will.

Auf der Bühne erscheint ein ungefähr 58-jähriger großer schlanker Mann mit breiten Schultern und vollem dunkelblondem Haar mit markant grauen Schläfen.

Er trägt ein auffällig buntes, vermutlich schweineteures Hemd, was ziemlich weit offen ist. Man erkennt seine Brusthaare.

Eine irre Erscheinung, denke ich. Flüstern traue ich mich nicht mehr. Es ist eine merkwürdig angespannte Ruhe.

Dann legt der Hüne da oben los: „Wir sind auf der Welt, um uns das Leben zu nehmen, und zwar in Fülle! Und das heißt, dass wir uns trauen müssen! Uns selbst trauen! Vertrauen, versteht ihr!

Nicht saufen, rauchen, fressen, kiffen, wichsen, am Computer, Smartphone oder Tablet hängen oder an den Beziehungen, ins Spielkasino rennen oder was weiß ich für Ablenkungsmanöver wir uns so einfallen lassen!

Wir müssen unsere echten, unsere wahren Gefühle akzeptieren lernen. Nur da geht es lang!“ Das alles brüllt er mit einer schönen und leidenschaftlichen Stimme in den Saal. Jedes Wort sitzt. Dann guckt er plötzlich voller Liebe in die Menge. Voller Liebe und Verständnis. „Na, da seid ihr noch weit von entfernt.“ Seine Stimme ist jetzt weich und zugewandt.

Eine Frau fängt laut an zu weinen. „Ja, wein du nur Carola, so wie du dir mit der Sauferei deinen schönen Körper zerstört hast, ist das auch ein Grund.“ Er sagt das ohne Anklage. Einfach als Feststellung und Genehmigung zum Heulen. „Aber du schaffst das, weil du den ersten Schritt auf dich selber zu gemacht hast.

Du bist hierhergekommen, um dein Leben selbst in die Hand zu nehmen.“ Carola weint noch heftiger. Aus der Menge erhebt sich ein junger Mann, schlängelt sich durch die Massen und setzt sich neben sie. Dann legt er seine Hand auf ihre Schulter. Ich bin ganz beeindruckt.

Gabi klimpert mit den Wimpern.

Von oben ertönt die mächtige Stimme: „Wer meldet sich da?“ Eine Männerstimme sagt: „Ich, der Franz. Ich habe heute Geburtstag und möchte gerne, dass ihr mir ein Lied singt. Ich will nie wieder Sex benutzen, um mich von meinen wirklichen und tiefen Gefühlen abzulenken.“ „Na, wenn du solch konstruktive Gedanken hegst, hast du ein Ständchen verdient.“ Irre ich mich, oder klingt da ein bisschen Zynismus in der Stimme von der Bühne mit? Alle singen los: „Happy birthday to you …“

Gabi knufft mir mehrfach in die Seite. „Und, will noch wer ein Lied?“ Wieder leichter Zynismus von dem Hünen da oben.

Mir juckt es in den Pfoten und schon geht mein Arm hoch und ich höre mich dabei laut „ich“ sagen.

Alle Köpfe, die zu erblicken sind, richten sich zu mir!

Der da oben sagt arrogant: „Wer bist du denn?“ Auf so eine Art reagiere auch ich mit unsicherem Verhalten.

Frech und laut sage ich: „Ich bin Marli aus Hamburg und du?“ Er übergeht die Frage, guckt noch arroganter.

Mir ist das jetzt richtig doll unangenehm. Darum sage ich schnell: „Ich möchte mir heute, an meinem fünfunddreißigsten Geburtstag, diese Klinik angucken.“

„Ach, und da sollen wir dir auch ein Lied singen?“

Das volle zynische Programm prasselt von der Bühne auf mich ein. Ich könnte heulen und wegrennen.

Totenstille. Dann von oben: „Die freche Hamburgerin ist nicht in der Lage zu antworten.“ Wieder Totenstille.

Grauenvoll. Mit belegter Stimme sage ich: „Ja, ich möchte auch ein Lied von euch gesungen bekommen.“ Alle fangen an zu singen.

Ich bin wie gelähmt. Kann nichts genießen.

Danach erzählt der da oben, ohne noch irgendeine Notiz von mir zu nehmen, was heute alles auf dem Programm der Klinik steht. Ich fühle mich ausgeschlossen und leer.

Dabei gehöre ich gar nicht hier zu. Was war das eben für ein Scheißspiel?

Die Sitzung ist beendet. Bewegung gerät in die Menge, die Bühne ist leer.

Gabi fällt mir ein. Ich drehe mich zu ihr. Auch sie guckt eher geknickt als fröhlich. „Lass uns hier verschwinden“, flüstere ich ihr zu. „Warum sprichst du so leise?“, fragt sie betont laut und geht mir solidarisch mit gespreizten Fingern durch meine langen Haare. Ich atme tief und hörbar und stehe auf.

Schweigend gehen wir Richtung Ausgang. Keiner spricht uns an, keiner fragt, wer wir sind. Merkwürdiger Verein.

Aus dem Artikel weiß ich, dass die Therapeuten und Ärzte keine Kittel tragen. Von daher ist nicht erkennbar, wer Mitarbeiter und wer Patient, oder eben „Gast“ ist.

Ja, und dann gibt es noch einige Praktikanten hier, die für ein paar Wochen mitmachen dürfen, um sich für ihren Beruf weiterzubilden.

Diese Plätze sind heiß begehrt und werden über eine lange Warteliste vergeben.

Gabi und ich sind auf einer großen überdachten Terrasse mit Tischen und Stühlen gelandet, wohin sich die Gäste des Hauses begeben. Viele umarmen sich schon wieder.

Irgendwie ist mir doch nach etwas Interviewen zumute. Gabi läuft einfach teilnahmslos mit und wirkt müde. Kein Wunder nach der langen Fahrt.

Ich spreche eine junge Frau an, die allein und etwas verloren wirkend an einem Tisch sitzt. „Sind Sie Gast hier?“, frage ich freundlich. Ihr Gesicht hellt sich auf.

„Ja, aber wir sagen doch alle ,Du‘ zueinander.“ Ich entschuldige mich.

In dem Augenblick kreischt mich eine große blonde Frau mittleren Alters mit zweifelsfrei amerikanischem Akzent an. „Hier haben sich keine Fremden einzumischen, Sie befinden sich im Klinikbereich, gehen Sie!“

„Wer sind denn Sie?“, frage ich, empört über diese dumme Zicke. „Ich bin hier ärztliche Therapeutin. Verlassen Sie sofort die Terrasse!“

Jetzt reicht es mir wirklich. „Komm Gabi, wir gehen.“ Gabi schläft fast im Stehen, sagt gar nichts mehr.

Am Ende der Terrasse ist die Treppe nach draußen.

Gabi ist schon auf derselben, ich will gerade die erste Stufe nehmen, da schiebt sich der Hüne von vorhin direkt vor mich.

„Bist du die kesse Hamburgerin, die mir den langen Brief geschrieben hat?“ Mit absoluter Präsenz guckt er mir in mein Gesicht und in die Augen. Blitzwach, als wolle er jede Regung von mir registrieren.

Ich gucke zurück. Irritiert über das Klare, Deutliche, was von ihm ausgeht. Es ist Hermann, der Klinikleiter.

„Willst du ein Praktikum hier machen?“

Davon war nie die Rede. Kein Gedanke daran.

Ich sage noch immer nichts.

Es ist wie eine Naturerscheinung, was da geschieht.

„Geh runter ins Büro und sage, sie sollen dir einen Praktikumsplatz geben, wann du es willst.“

Es klingt wie eine Aufforderung aus den Sphären, der man nicht widersprechen kann.

„Von wem soll ich das bestellen?“, frage ich.

Er verzieht fast unmerklich sein Gesicht, so als zucke ein schmerzlicher Schauder darüber. „Von Hermann.“ Dabei guckt er mich an, als würde er mir gerne sofort eine scheuern. Aber es ist auch eine nicht gestellte Frage in dem Blick.

Er dreht sich um und geht ohne ein weiteres Wort.

Wie paralysiert gehe ich zurück in das Gebäude, frage nach einem Sekretariat.

Gabi habe ich völlig vergessen. Im Untergeschoss sitzen zwei Sekretärinnen an Schreibtischen.

„Guten Tag, ich soll mir hier einen Praktikumsplatz geben lassen. Bitte in den Sommerferien. Im Juli.“ Ich könnte das ja nur in meinen Ferien machen.

Beide Damen gucken mich fragend an. „In diesem Jahr?“

Wir haben gerade den Monat März.

„Ja, in diesem Sommer“, sage ich und fühle mich plötzlich absolut aufgewertet. „Wer hat das bestimmt?“, fragt die eine. „Hermann.“

Die Sekretärinnen werfen sich einen vielsagenden Blick zu. Dann fragt die eine:

„Am wievielten Juli wollen Sie anfangen und wie lange möchten Sie bleiben?“

Ich kriege augenblicklich einen trockenen Mund. Das ist ja echt der Hammer!

Ich werde noch gefragt, ob sie mir ein Zimmer im Ort besorgen sollen oder ob ich mir das selber suchen möchte. „Für Praktikanten der Klinik gibt es äußerst günstige Zimmer.“ Ich möchte selber aussuchen. Sie geben mir eine Liste mit Adressen mit.

Irgendwie gelange ich wieder an die schon langsam bekante Treppe nach draußen, einen Zettel in der Hand, was im Praktikum zu beachten ist und das Datum meiner An- und Abreise. Ich habe die ganzen Ferien gewählt. Sechs Wochen.

Gabi sitzt im Auto. Sie hat sich den Beifahrersitz runtergestellt und schläft wie ein Murmeltier. Nicht mal das Starten lässt sie wach werden.

Ich muss hier erstmal weg.

Mir schwirrt der Kopf. Meine Güte, was hat sich denn da entwickelt? Wie in Trance fahre ich los in Richtung Heimat.

3

Heute beginnt mein Praktikum.

Ich habe Abenteuerlust.

Gabi hat mich für verrückt und masochistisch erklärt.

„Du bist ja irre, dich in die Nähe dieses arroganten Großmauls zu begeben. Und das auch noch freiwillig!“

Manchmal zweifle ich an, dass die Dinge, die uns geschehen und die wir einfach tun müssen, als freiwilliges Handeln einzustufen sind.

Es kommt mir vor, als würde ich einem merkwürdig unsichtbaren Plan Folge leisten.

Johannes hat als Reaktion sich nicht mal verabschiedet.

Doch das ist mir jetzt wirklich ganz egal.

Um 10 Uhr soll ich mich bei dem Praktikantenleiter im Kellergeschoss melden. Mein nettes einfaches Zimmerchen habe ich gestern schon bezogen. Es sind nur fünf Minuten bis zur Klinik. Supergut!

Ich treffe auf einen jungen Mann, der hier auch ein Praktikum absolviert. „Tag Marli, ich bin Peter und der derzeitige Leiter für euch Praktikanten.“ Offensichtlich nimmt er seine Tätigkeit sehr ernst.

Er erklärt mir, dass er schon zwei Monate hier ist.

Stapel von Testbögen, die psychologisch ausgewertet werden müssen, liegen auf einem Tisch.

„Das ist unser Job“, sagt Peter. „Täglich vier Stunden Schreibtischarbeit.“ Er sagt es mit einer Genugtuung, als wolle er mir erklären, ich hätte mich erstmal hochzudienen. „Dann wirst du einem Therapeuten zugeordnet, an dessen Therapiegruppen du als Beobachter teilnehmen wirst.

Wer das für dich ist, wird nicht von uns bestimmt. Das erfährst du oben.“ Ich komme mir wie beim Militär vor, nicht wie in einer Superklinik.

Mal sehen, welcher Therapeut der Zuständige für mein Praktikum sein wird.

Hoffentlich nicht diese meckernde Ziege vom ersten Besuch. Ich gehe nach oben, frage mich durch. Irgendwer drückt mir einen Zettel in die Hand. Ich soll wieder runter zu Peter.

Ich habe kein gutes Gefühl, komme mir vor wie ein Schulkind, das noch nicht durchblickt, was gespielt wird.

Peter schaut mit wichtigem Blick auf den Zettel. Dann entgleist sein Gesicht. „Du wirst von Hermann persönlich betreut.“ Ein nicht zu definierender Unterton schwingt mit. Ist das eine verrückte Klinik!

Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass ich hier überall mal reinschnuppern kann und niemandem zugeordnet werde. Ich bin mit dieser Regelung jedoch zufrieden. Warum der Unterton?

Einer der anwesenden Praktikanten bekommt von Peter die Order, mir die Klinik zu erklären. Wir laufen durch alle Räumlichkeiten. Wann und wo ich auf Hermann treffe, kann mir keiner sagen. Jeder spricht von ihm, er ist überall, aber real nirgends. Zufällig erfahre ich, dass seine Therapiegruppe gleich anfängt. Ich suche den Ort.

Es ist ein großer Raum im Kellergeschoss.

In einem ovalen Kreis sitzen fünfzehn Menschen.

Mittendrin Hermann. Eher leise sage ich „Guten Tag“ und stehe unschlüssig an der Tür. Ich habe den Eindruck, die haben schon mit ihrer Therapiesitzung begonnen.

Hermann wirkt genervt, guckt beiläufig zu mir und sagt gereizt „setz dich hin“. Keiner nimmt großartig Notiz von mir.

Dann guckt er mit aufforderndem Kopfnicken zu einer älteren Frau, die sofort mit dem Erzählen ihrer Suchtproblematik beginnt.

Nach ungefähr 13 Minuten langem Berichten eines schweren Lebensweges klopft es an die Tür. Eine jüngere Frau geht zu Hermann, flüstert ihm was ins Ohr.

„Tja, ich werde wo anders gebraucht, ihr kennt das ja schon.“ Ein belangloser Blick zu mir: „Mach mal weiter, du kennst dich ja aus.“ Er steht auf und geht.

Seit der Begegnung im März auf der Terrasse habe ich mit diesem merkwürdigen Menschen keinerlei Kontakt gehabt. Und jetzt behandelt der mich, als würden wir uns kennen und überträgt mir seine Therapiegruppe!

Für Staunen ist kein Raum. Die Gruppe regt sich über ihn auf, meckert rum, dass schon wieder für sie keine Zeit da ist. Ich beuge mich auf meinem Stuhl vor und sage freundlich: „Ich möchte mich euch vorstellen, ich bin Marli aus Hamburg und mache hier für sechs Wochen ein Praktikum. Ich bin eurer Gruppe zugeordnet und genau so sauer wie ihr. Seit einer Stunde bin ich in der Klinik, renne rum und habe keine Ahnung wie das hier so funktioniert.“ „Gar nicht!“, sagt eine der älteren Frauen frech. Die anderen lachen nett.

Nachdem ich erklärt habe, dass ich Lehrerin bin und auch eine Ausbildung für Psychodramatherapie habe, sind die Gruppenteilnehmer neugierig und Inge, die vorhin erzählt hat, soll Versuchskaninchen sein.

Sie kann sich Darsteller für ihre Mutter, ihren Vater und sich selber aussuchen.

Bei dieser Sorte Therapie spielt man Szenen aus der Problematik nach und sucht mit dieser Methode nach Ursachen und Möglichkeiten zur Veränderung.

Alle finden diese neue Gangart spannend und machen begeistert mit. Auch als Inge, die gerade in die Rolle ihrer eigenen Mutter geschlüpft ist, doll zu weinen anfängt.

Sie hat erkannt, dass ihre Mutter mit ihrem Kind total überfordert war und sie deshalb geschlagen hat.

Ich fordere Inge auf, die Position des Kindes, was sie selber war, einzunehmen und ihrer Mutter, die jetzt von Mathilde dargestellt wird, ihre ungeheure Traurigkeit zu sagen. Inge heult dabei Rotzblasen.

Mathilde, in der Mutterrolle, will sich rechtfertigen. Ich gebe ihr ein Zeichen, das nicht zu tun. Es geht darum, dass Inge endlich mal rauslassen kann, was sie 56 Jahre lang quält. Mathilde kann nachher von ihrer eigenen Betroffenheit aus der Rolle, die sie zu spielen hatte, erzählen.

Mitten in der Darstellung steht Hermann in der Tür. Keiner nimmt Notiz.

Irgendwie hölzern geht er zu seinem Platz, setzt sich hin. Wir machen weiter.

Im Innern bin ich total verunsichert. Scheiße, war das richtig, was ich hier veranstaltet habe, oder bin ich in einen riesengroßen Fettnapf getreten?

Ich bringe die Sache zu Ende, lass alle aus ihrer eigenen Betroffenheit was sagen. Hermann sitzt da und schweigt. Sein Blick ähnelt dem damals auf der Terrasse, wo ich ihn gefragt habe, wer er ist.

Allen hat diese Runde etwas Erhellung gebracht.

„Alte Gefühle rauslassen, die man jahrelang in sich trägt, ist was Feines“, stellt Claudia eine wohl über sechzig Jährige fest. Gernot meldet an, er möchte das nächste Mal im Rollenspiel seinem Vater mal ordentlich die Fresse polieren. Er weiß auch, wen er sich dazu als Spieler aussucht. Wütend guckt er zu Hermann. Mir wird himmelangst. Hermann atmet durch die Nase.

Seine Nüstern bewegen sich.

„Ich kann verstehen, dass du diesem Arschloch die Fresse polieren möchtest.“ Die Stimme von Hermann ist schneidend scharf.

Schnell werfe ich freundlich ein: „Die Therapeuten werden als Mitspieler nicht genommen, sie müssen das

Ganze im Blick behalten.“ Hermanns Blick zu mir ist vernichtend. Zynisch sagt er: „Unsere neue Praktikantin meint, dass sie mich beschützen muss.“

Die Abrechnung geht weiter. Mit einem Blick zu Gernot gerichtet kommt schneidend: „Du musst lernen deine Aggressionen direkt zu äußern, dann brauchst du auch nicht mehr saufen.“ Alle schweigen betroffen. Hugh, der Häuptling hat gesprochen!

„Ja“, sagt Hermann mit plötzlich weicher Stimme, „das war es für heute“. Dann steht er auf und geht ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Auch die andern verlassen wortlos den Kellerraum. Ich bin allein, mir ist übel.

Wie lange ich da rum sitze, kann ich gar nicht sagen. Eine Orientierungslosigkeit macht sich in mir breit. Irgendwie habe ich Lust, sofort abzureisen oder wenigstens Gabi anzurufen.

Schwerfällig stehe ich auf. Ich fühle mich wie aus Gusseisen.

Oben ist richtig was los. Immer wieder stehen Gäste in tiefer Umarmung. Die meisten aber laufen in Richtung Speisesaal und reden engagiert miteinander.

Offensichtlich hatten alle Therapiegruppe und erzählen sich jetzt ihre Erlebnisse und Erkenntnisse.

Ich laufe einfach mit dem Strom mit. In einem großen Raum sind unterschiedlich angeordnete Tische. Ich setzte mich irgendwo hin. Das Essen wird von einer Luke, hinter der ich die Küche vermute, geholt. Vor mir steht jetzt eine Schüssel mit Salat.

„Soll ich dir einen Teller mitbringen?“, fragt mich ein netter Jüngling. „Ach ja, gerne.“

Er kommt wieder, bedient mich, als sei er ein Kellner.

„Du bist neu?“, fragt er. „Ja, seit ein paar Stunden. Ich mache hier ein Praktikum.“ „Ach“, sagt er. „Bei wem bist du in der Gruppe?“ „Bei Hermann.“ „Da bist du ja richtig bevorzugt“, meint er schmunzelnd. „Der Hermann hat echt was drauf.“ Ich nehme mir Salat, merke Hunger.

„Was hat dich hierhergebracht“, frage ich. „Mediensucht, ich komm’ nicht vom Laptop weg. Und wenn nicht der, dann Fernsehen.“

Er erzählt, dass keiner für ihn da ist, jedenfalls nicht wirklich. Seine Mutter ist Journalistin, sehr engagiert.

Gelobt wird nur für gute Leistung. „Ich glaube, die hat schon als Baby zu mir ,Sie‘ gesagt.“ Er lacht trocken auf.

„Du kannst herzlich sein, stimmt’s?“ „Ja, doch. Dafür bin ich nicht so klug wie deine Mutter.“

Er guckt mich mit großen traurigen Augen an, so als würde er einen riesigen Haufen auf das Kluge scheißen.

„Hängst du so viel am Computer, um die innere Leere nicht spüren zu müssen?“

Er atmet tief und laut.

„Für eine Praktikantin bist du richtig gut“, meint er anerkennend und schiebt sich ein Salatblatt in seinen sinnlichen Mund. Wir essen schweigend weiter.

An der Futterluke stehen jetzt dampfende Schüsseln, die abgeholt werden wollen. Ich hole eine und tue uns von dem leckeren Nudelauflauf auf die Teller. „Lass es dir schmecken, Kleener.“ „Du hast was von ’ner netten Mama.“ Mein Tischnachbar greift wohlig zu Gabel. Als nette Mama hat mich wirklich noch keiner bezeichnet.

Na ja, ich bin fünfunddreißig und der wird höchstens zwanzig sein. Möglich ist alles.

Nach dem Essen geht es mir besser. Ich habe das Gefühl, gebraucht zu werden.

Unten bei den Praktikanten empfängt mich Peter. „Na, zufrieden mit Mösenpuschel?“

Die anderen Praktikanten lachen in ihre Testbögen.

„Wie bitte, was?“, frage ich und merke, dass ich die Atmosphäre hier unten zum Kotzen finde. „Na, du wirst es schon selbst herausfinden“, sagt er. „Hier, die Testbögen sind deine. Das muss heute geschafft werden, wir sind im Verzug.“ Er schiebt mir einen riesigen Haufen Papier zu.

Ich kriege abermals Lust, hier zu verschwinden.

Eine Stunde arbeite ich psychologische Bögen aus. Trockener ist nur noch Wüstensand!

Die, die ihren Haufen abgearbeitet haben, verschwinden augenblicklich in Richtung nach oben.

Irgendwann bin ich mit einer jungen Praktikantin, mit dem Namen Lore, allein. „Sage mal, was hat dieser Peter eigentlich mit ,Mösenpuschel‘ gemeint?“ Lore wird rot. „Na ja, so nennen sie den Puschenbach hier unten.“ Ich bin völlig irritiert. „Und warum?“ Lore wird wieder rot. Sie ist höchsten 23 Jahre alt und studiert Medizin.

„Ja, der hat es halt mit den Mädels“, sagt sie sehr zögerlich. „Wie, mit Patientinnen, also Gäste oder Gästinnen, weiß ich wie das genannt wird!?“ Ich bin richtig aufgebracht. Wo um Himmels Willen bin ich bloß gelandet?! „Nee, die Praktikantinnen flirten ihn an“, sagt sie mit belegter Stimme.

„Ach so.“ So was ist doch ganz normal, denke ich mir. Der ist ja auch ein attraktiver Mann.

Wenn Männer und Frauen gleichberechtigt sein sollen, was ja richtig ist, sollte man aus meiner Sicht in diesen Angelegenheiten nicht so zart besaitet sein.

Gleichberechtigt heißt für mich gleichberechtigt. Da gibt es keinen besonderen Schutz für Frauen; das würde ja die Gleichberechtigung ad absurdum führen, finde ich.

„Und, hast du auch schon ausprobiert?“, frage ich gekonnt beiläufig und amüsier mich über ihre schöne rote Farbe im Gesicht. Sie guckt mich an und schluckt hörbar. Dabei merke ich, dass sie offensichtlich total verliebt in den alten Hermann ist. Mir geht blitzschnell meine Geschichte mit Johannes in Hamburg durch den Kopf. Der ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Vaterübertragung. Oder??

Immer wieder dasselbe! Lore tut mir leid. Ich wechsele das Thema, frage nach den normalen Tagesabläufen, die ich noch immer nicht kenne. So erfahre ich, dass es einen Zeitplan für Praktikanten gibt, den mir allerdings keiner gegeben hat.

Vermutlich hat mich Mister Puschel ausgeguckt, weil man in meinem Alter besser Akten erledigen kann.

Ich lasse den Haufen Testbögen einfach liegen und gehe nach oben.

Dort ist wieder solch eine Versammlung wie an meinem Fünfunddreißigsten. Ich setze mich zu den andern.

Auf der Bühne thront Puschelhermann und gibt an, wie eine Tüte Mücken.

Marli, was ist los mit dir? Ich nehme mir endlich Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen, lasse Puschel puscheln und denke in Ruhe nach.

In dem Artikel standen wirklich gute Sachen über eine spitzenmäßige Therapie. Und die Aussagen über Suchtproblematik waren beispiellos gut.

Ich hatte mir den Doktor nur anders vorgestellt. Barmherzig, liebevoll, durch und durch menschlich.

Ein Stückchen weiter links entdecke ich den traurigen Jüngling vom Mittagessen. Er guckt mit Augen voller Liebe zu Hermann, der gerade eine warme väterliche Stimme hat und total zugewandt mit seinen ihm anvertrauten Patienten/Gästen spricht.

Sicher träumt mein junger Freund davon, so eine liebevolle Mutter zu haben.

Ich bin gerührt wie Apfelmus und kriege keinen klaren Gedanken mehr zusammen.

Ich muss das alles erst verdauen.

Die Versammlung ist auch zu Ende. Die Menge setzt sich in Bewegung.

Obwohl für mich bestimmt noch kein Feierabend ist, beschließe ich für heute genug erlebt zu haben und verlasse auf dem kürzesten Weg die Klinik.

Die klare Sommerluft tut gut.

Mir ist nach einem Milchkaffee und etwas leckrem Kuchen zumute.

So laufe ich in den Ort und finde eine Konditorei bei der man draußen sitzen kann. Der Kaffee und das Törtchen munden hervorragend. Wie hübsch die Gegend ist.

Langsam werde ich auch wieder Herr im eigenen Hause – oder Frau im eigenen Hause – und kann klare Gedanken denken.

Dieser Hermann ist ein merkwürdiger Mann. Welch unterschiedliche Seiten zu zeigen er imstande ist.

Ich möchte mich in Ruhe mit ihm unterhalten und die Praktikumsbedingungen klären.

Morgen werde ich ihn um einen Gesprächstermin bitten.

4

Ausgeschlafen wache ich in meinem kleinen Praktikantenzimmerchen auf.

Der Blick aus dem Fenster ist bezaubernd.

Sage mal Marli, frage ich mich, bist du nicht vielleicht ein bisschen zu alt, um Praktikantin zu spielen?

Eigentlich wollte ich mir diese Klinik nur angucken.

Die Art des Umgangs mit den Patienten und die Beschreibung, was alles Sucht ist, haben mich ungeheuer angesprochen und kolossal fasziniert.

Doch die tägliche Arbeitsrealität ist ziemlich desillusionierend. Ich mag auch keine Tests auswerten.

Um 7 Uhr müssen alle Gäste und Mitarbeiter vor der Klinik antreten. Egal wie das Wetter ist, dann wird gejoggt. Danach gibt es Frühstück. Soviel habe ich gestern noch von Lore mit dem roten Kopf erfahren.

Auf Marli, hüpf in die Klamotten und dann ab zur Klinik.

An der Treppe stehen massenweise Menschen in Jogginganzügen. Ich erkenne die Therapeuten Zicke vom März.

Ihre langen Haare hat sie zusammengebunden.

Hermann ist nicht zu sehen. Vermutlich wird er mit der Trillerpfeife aus dem Fenster den Befehl zum Abtraben geben und dann erst mal eine Praktikantin zum Frühstück vernaschen.

Ich könnt mich kringeln vor Vergnügen über die Tratscherei in den Gefilden der Praktikanten, zu denen ich ja nun gehöre.

Frau Zicke geht an die Spitze und trabt einfach los.

Nix ist mit Trillerpfeife.

Vor mir rennt eine mächtig dicke Frau. Es geht zügig einen Berg hinauf. Ich schäme mich, weil mir schon jetzt die Puste ausgeht.

In Hamburg gibt es keine Berge und außerdem jogge ich nie. Der kullerrunde Popo vor mir scheint da andere Konditionen zu haben.

Irgendwann geht auch das zu Ende. Wir landen alle unter den Duschen. Neben mir eine magersüchtige Frau, die nur aus Haut und Knochen besteht.

Ich freue mich auf ein hoffentlich gutes Frühstück. Diese Frau wird ihr Essen vermutlich wieder auskotzen, weil ein unerkanntes Verbot, die Nahrung, die das Leben bietet, für sich selbst zu verwerten, sie daran hindert, am satten Leben teilzunehmen.

Traurig, was Eltern so bewirken. Aber auch die hatten Eltern, die etwas bewirkten. Und die auch, und die auch.

Beim Frühstück kommt Peter auf mich zu.

„Du hast gestern deine Arbeit nicht gemacht. Auch wenn du Praktikantin bei Hermann bist, hast du die Testbögen auszuwerten.“ Arrogant gucke ich ihn an.

„Steck dir deine Testbögen in den Allerwertesten und gib mir vorher endlich den Zettel mit den Zeiten, damit ich weiß, was ich sonst noch zu machen habe.“ Vermutlich ist Arroganz ansteckend. Ich bin sonst eher friedliebend und freundlich. Peter ist jetzt total verunsichert.

„Die Beschreibung lege ich in dein Fach. Das ist im Erdgeschoss neben der Anmeldung. Dein Name steht schon dran.“ Er geht wortlos.

Ich frühstücke ohne weitere Störungen, beobachte das Geschehen um mich herum.

An der Ecke ganz hinten sitzt Hermann und spricht mit einem Mann um die vierzig. Vermutlich auch ein Therapeut.

Mein Tischnachbar, der offensichtlich die Richtung meiner Blicke beobachtet, sagt:

„Samstag wird Hermann sechzig. Er hat uns alle zu einer Festtafel eingeladen. Für ihn sind wir alle gleichberechtigt.“

Er sagt das stolz und ich widerspreche nicht. Ich frage mich, wie ich wohl mit sechzig sein werde.

Bestimmt nicht so kraftstrotzend wie dieser lebendige Mann, der gleichzeitig zu seiner ungeheuren Dynamik seltsam einsame Züge trägt.

Nach dem Frühstück gehe ich zu den Personal Fächern. Tatsächlich mein Name. Zwei Zettel liegen drin.

Die Liste mit den Zeiten und eine handgeschriebene einfache Nachricht:

„10.00 Uhr Sprechzimmer Hermann, Neuaufnahme“. Keine Unterschrift.

Ich habe gerade noch Zeit auf die Toilette zu gehen, dann suche ich das benannte Zimmer. Es ist im Erdgeschoss. Die Tür steht offen. Ein kleines Zimmer voller vollgestopfter Bücherregale.

Offensichtlich versammeln sich gerade alle Therapeuten und Ärzte der Klinik, um hier einen neuen Patienten aufzunehmen. Sie reden laut miteinander.

Unsicher gehe ich in den Raum, sage: „Ich bin Marli, eine neue Praktikantin.“

Einige geben mir freundlich die Hand, jemand fragt, von wo ich komme und was ich sonst so mache. Hermann ist im heftigen Gespräch mit der Zicke.

Trotzdem sagt er leicht spöttelnd dazwischen: „Die ist eine fromme Frau des Evangeliums.“

Er muss sich gemerkt haben, was ich in meinem Brief an ihn geschrieben habe.

Weil doch in dem Artikel stand, dass Hermann auch psychologische Bibelauslegungen macht und sogar ebensolche Predigten in seiner Klinik hält, habe ich ihm damals mitgeteilt, dass mir mein Glaube sehr wichtig ist.

Mit ihrem amerikanischen Akzent sagt die Zicke, die ihre Haare jetzt wieder offen trägt: „Und du bist ein frommer Mann.“ Hermann geht nicht darauf ein, sagt, dass ein neuer Patient draußen wartet.

Dieser wird jetzt zum Aufnahmegespräch rein gebeten.

Unsicher guckt er auf uns Sieben, die wir nun eng um einen Tisch sitzen.

Luzie, die tatsächlich aus den USA kommt, fragt nach dem Grund seines hier seins.

„Ich habe schreckliche Depressionen, manchmal habe ich sogar Angst vor meinen Schülern.“