Der Mann, der sich selbst besuchte - Hans Sahl - E-Book

Der Mann, der sich selbst besuchte E-Book

Hans Sahl

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Beschreibung

Sämtliche Erzählungen und Glossen – mit zahlreichen bisher unveröffentlichten Texten

In diesem Band werden sämtliche Erzählungen sowie die schon zu ihrer Zeit hoch gerühmten Glossen Hans Sahls zum ersten Mal vollständig zugänglich gemacht. Damit ist endlich das erzählerische Schaffen des Autors sowie seine überragende Bedeutung in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts neu zu entdecken.

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Hans Sahl

Der Mann, der sich selbst besuchte

Die Erzählungen und Glossen

Herausgegeben von Nils Kernund Klaus Siblewski

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2012 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09989-3V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

Die Erzählungen

Er, sie und ich

Endlich habe ich ein Lebensziel! Nun hat die Eintönigkeit meiner Tage ein Ende. Ich kann wieder lachen und froh sein und für die leben, die ich lieb habe. Für die zwei Menschen …

Ihnen gehört mein Tag. Des Morgens ist mein erster Gang zu »ihr«. Ich sitze auf ihrem Bettrand – was für ein raffiniertes Nachthemd sie anhat, die kleine Prinzessin! – und erzähle ihr hundert Nichtigkeiten und Wichtigkeiten, während er auf türkische Art zu unseren Füßen hockt und stumm den Mokka braut. Sie sind so ungezwungen vor mir, als ob ich überhaupt nicht da wäre. Und eben darum bin ich so gern bei ihnen.

Sie leben sehr glücklich. Alle vierzehn Tage wollen sie sich scheiden lassen. Natürlich versteht er sie nicht, der Trottel. Er kann sich nicht in die Psychologie einer so einfach liebenden Frau finden. Er sieht Kompliziertheiten, wo keine sind, und schafft so welche. Und sie weiß ihn natürlich nicht zu nehmen. Von allen Seiten hat sie ihn schon kennengelernt, nur nicht von seiner besten. Das liegt nur an ihr. – Und Kleiderbürsten wirft man sich eigentlich auch nicht um die zu anderen Zwecken bestimmten Ohren. Sie leben sehr glücklich.

Ich glaube, er ist Maler. Früh geht er an seine Staffelei. Sie macht inzwischen Einkäufe – sehr viel Grünes –, jammert über die Teuerung, kocht dann irgendwas zusammen, was sehr füllt – Rührei mit zerhackter Blutwurst, Speck und Brotwürfel und Schnittlauch (alles in einem Topf zusammen gebacken). – Und dann essen wir auf ihrem kleinen Dachgarten vor dem Atelier.

Sie sieht entzückend aus. Bubenkopf natürlich! Braun gebrannte fließende Schultern, die schmal und still in das silberne Delta des jumperähnlichen, undefinierbaren Netzwerkes münden, das ihren Körper weich, doch eindringlich umwirkt … Während die meist strumpflosen Beinpalmen an den Zwergfüßen den Sohlenhauch von Halbschühchen ahnen … So lässt sie sich faul im Liegestuhl von der Sonne braten …

Inzwischen begießt er mit einer zerbeulten Gießkanne die Geranien, pirscht sich manchmal an seine Frau heran, die er mit läppischen Umarmungen aufschreckt, liest oder verdaut druselnd unter dem bunten Gartenschirm. Während ich …

Ja, also ich weiß gar nicht, wie sie heißen, habe sie noch nie in meinem Leben gesprochen und ich kenne sie nur vom Sehen. Sie wohnen mir schräg gegenüber im vierten Stock auf der anderen Straßenseite – und ich liebe sie. Und sie haben keine Ahnung von meiner Existenz. Ich leide und bin glücklich mit ihnen, ersinne tausend Freuden und Überraschungen unserer jungen Dreisamkeit – und ich will sie auch gar nicht kennenlernen. (Vielleicht sind es doch Ekel?)

Des Morgens schlage ich meine Gardinen zurück. Da glitzert drüben schon die Sonne auf ihren Kaffeelöffeln, und blondes Haar irrlichtert über das Dach. »Gut geschlafen?« – Der Wind verwischt ihre Antwort. Aber ich habe sie gehört, und nun kann ich wieder einen langen Tag leben.

Und des Mittags warte ich, bis man drüben »diniert«. Dann tafeln wir Götter auf unserem Olymp und prosten uns zu und verschlucken uns und kichern und blödeln, dass uns die Seiten wehtun vor lauter Unsinn.

Wenn aber der Tag zu Ende geht und die Dächer allmählich in das Grenzenlose des Abends sich dehnen, wenn die Straße wie der unterweltliche Strom der Vergessenheit uns rauschend trennt, dann sitze ich am Fenster und warte auf das kleine flackernde Lampion, das die Nacht hin- und herbewegt vor meinen grüßenden Augen …

Und ich lösche mein Licht und breite allen Segen auf euch da drüben.

»Schlaft gut, ihr beide! Gute Nacht, springendes, lachendes Leben! Du sollst von Tanzmusik und Raketengeprassel träumen, von Abenteuern und Kolibris und Nordseebrandung, von Goldkäferschuhen und Baumkuchen und vielen neuen Hüten …«

»Geh zu Bett, Kleines, es ist Zeit! Du musst morgen wieder früh auf sein, damit wir zusammen Kaffee trinken können …«

(1922)

Der Wohltäter

In die Hauptstraße bog ein sonderbarer Mensch. Er hieß Anastasius. Er gab sehr wenig auf sein Äußeres. Sein Haar war schmutzig verfilzt und hing ihm in dicken Flocken über das Ohr. Er trug eine goldene Brille mit zersprungenen Gläsern. Ihr einer Bügel war kunstgerecht durch einen Bindfaden ersetzt, der irgendwo in einen Haarbüschel verlief. Er war weder rasiert noch bärtig. Vielmehr wies sein trübes Gesicht jenen verstoppelten Bezug auf, wie man ihn bei zerfressenen Plüschdecken finden kann. Seine Kleidung, wenn man sie so nennen darf, war unter dem Gesichtspunkt »Leipziger Allerlei« zusammengeworfen.

Denn Anastasius war ein Dichter – somit verpflichtet, »Neuland aufzuzeigen«, und seine besondere Philosophie war: Unsauberkeit als Lebensform, eine Lehre, die er in vielen Dramen und Büchern und mondänen Tees breitgewalzt hatte.

Anastasius war im Grunde ein guter Mensch, und heute, als ihm die Sonne seinen schwarzen Pelz schmorte, fühlte er sich so wohl und zufrieden, dass er urplötzlich den flammenden Wunsch in sich fühlte, irgendetwas Gutes zu tun. Nach langem Hin und Her klinkte er einen Bäckerladen auf und kaufte Kuchen, Bonbons und Schokolade, die er mit steifem Arm weit von sich hielt, ängstlich, sein Anzug könnte an ihnen abfärben.

In der Nähe staubte ein Spielplatz. Dorthin lenkte Anastasius den Kurs seiner Schleppdampferschuhe und verteilte, angelangt, seine Süßigkeiten unter die Kinder, die, zunächst ängstlich und scheu, bald aber schmatzend und lachend sich um ihn lagerten. – Anastasius Fangauf stand wie ein Heiliger in ihrer Mitte. Sein Herz stieg in breitem Ätherflug der Sonne entgegen, und seine Lippen sprachen lächelnd und gut vor sich hin: »Lasset die Kindlein zu mir kommen …«

Aber plötzlich durchschnitt Geschrei von der Straße her seine Andacht. Aufschauend sah er einen Trupp wild gewordener Kinderfräuleins, Bonnen, Mütter und Kinderwagen kreischend und quietschend sich ihm entgegenwälzen, und bald war er von einer tobenden Menge umheult, die nach dem Schutzmann rief und auch sonst recht bedrohlich ausschaute.

Anastasius starrte ihnen verdutzt in die schiefen Gesichter, und erst nach und nach begriff er, dass seine Wohltätigkeit diesen Menschen verdächtig geworden war. Einige hielten den Kuchen für vergiftet, andere für ein Lockmittel zu irgendwelchen geheimnisvollen und verbrecherischen Zwecken. Wieder andere glaubten in ihm den unlängst ausgebrochenen Massenmörder Turteltaf zu erkennen, und als nun der Schutzmann klirrend eintraf, galt Anastasius bereits für überführt. Beherzte Männer packten ihn am Genick, man überbrüllte seine Beteuerungen – seine magische Trilogie »Der Bastbastard« wollte niemand kennen – und so zerrte man das verdächtige Individuum zur Wache …

Anastasius Fangauf aber, der Dichter und Wohltäter, warf noch einmal einen traurigen Blick auf die Kinder, den Kuchen und die Bonbons, auf die Sonne und auf seine Glacéhandschuhe naturell, und während er unter der Lynchjustiz des empörten Pöbels verblutete, beantwortete er sich die Frage, von morgen ab sich vielleicht doch wieder zu waschen, mit einem festen, anastasianisch-programmatischen »Nein!« …

(1922)

Tragödie im Schlangenkäfig

Der Käfig der großen Schlangen, der Spitznasennatter, Parkboa, Hühner-, Ratten- und Peitschenschlange, war ein sauber, hoch und hell gehaltener Glaskasten mit tropischer Bepflanzung, die sehr natürlich eine Urwald- und Dickichtlandschaft hervorzauberte. Der Raum, von heißen Luftströmen durchflossen, war aufs Genaueste den Lebensbedingungen seiner Bewohner angepasst und so glücklich in der lebendigen Verkleidung der vier Wände, dass die beiden Sperlinge, die man soeben, frisch von der Straße weg, zu den Schlangen gesetzt hatte, zunächst keinerlei Unruhe an den Tag legten, vielmehr pickend und piepsend, wie es ihre Gewohnheit war, auf dem sumpfigen Kies ihre Nahrung suchten.

Die Schlangen lagen, wie ein Haufen ineinander geknoteter Stricke, auf den Bäumen umher, und ihre scheckigen Leiber verloren sich zwischen den breiten Blättern, an denen der Wasserdampf Perlen trieb. Nur ihre Köpfe ragten knospend aus dem Geäst, gleich giftigen Früchten, und so schien es, als führe der Strauch ein sonderbar fleischliches Dasein, halb Pflanze und halb Tier, ein Dornbusch mit brennenden Mäulern.

Indessen konnte es den Vögeln nicht länger verborgen bleiben, in wessen Gesellschaft sie sich befanden. Auf staubigem Asphalt geboren, zwischen Hunden, Pferden, Wagen und Motoren, fühlten sie sich in dieser Welt, welche ihnen mit tausend feindlichen Dünsten entgegenschwoll, nicht sonderlich heimisch, und mit einem Male begriffen sie, wie es in Wahrheit um sie stand. Mit aufgeblasenem Gefieder flüchteten sie in die Ecken des Käfigs und kratzten kleine Löcher in den Boden, ein Nest vielleicht oder einen heimlichen Laufgang, jedenfalls einen Unterschlupf vor dem Unbekannten und Grässlichen, das ihnen hienieden aufzulauern schien. Sie waren wehrlos, und die Kraft ihrer gestutzten Flügel reichte nicht aus, dem Atem der Schlangen zu entfliehen. Sie flatterten hin und her, stießen mit den Köpfen gegen die Scheibe und fielen ermattet auf den Boden zurück, bis schließlich der Mutigere von beiden sich auf einen Ast setzte, um auszuspähen. Aber kaum hatte er sich niedergelassen, als sich dicht neben ihm ein Kopf aus dem Gezweig erhob, und ehe noch der Vogel enteilen konnte, traf ihn der tödliche Biss in den Nacken. Er fuhr auf, öffnete seine Flügel und schleuderte sich mit einem Satz von dem Ast herab auf die Erde, wo er sich hinter einem Stein verkroch.

Die Schlangen lagen auf den Bäumen und kümmerten sich nicht weiter um den Vorfall. Furchtbar und in allen Farben der Verwesung schillerten ihre Häute. Sie schliefen oder stellten sich schlafend. Ihre Leiber schienen zu Ästen erstarrt, hart und von wurzelnden Säften gespannt. Sie brauchten sich nicht zu überstürzen und konnten in Ruhe abwarten und wirken lassen, was ihnen am Ende von selbst zufiel.

Langsam ringelte sich endlich ein beschupptes Reptil von den übrigen los, richtete sich kerzengerade in die Höhe, bis es fast gegen das obere Drahtgitter des Käfigs stieß, und fiel dann mit der ganzen so freigelegten Länge in das Buschwerk und von da in mächtigen Windungen und Wendungen auf den Boden, wo es vor dem kleinen Tümpel haltmachte, um zu trinken. Die Vögel, aufgeschreckt von dem raschelnden Geräusch, schlugen ängstlich hinter dem Stein. Nachdem die Schlange getrunken hatte, gierig und mit saugenden Backen wie ein Pferd, schlängelte sie sich wie zufällig in Richtung auf das Spatzenversteck, ohne Hast und Hunger, wie jemand in der Abenddämmerung einen kleinen Spaziergang macht. Plötzlich hielt sie an und warf den Kopf in die Höhe. Jetzt würde es um die beiden geschehen sein, das war keine Frage … Aber sie äugte nur bedächtig um die Ecke, ließ ein paar Mal ihre Metallzunge federnd hervorschnellen und setzte dann mit einer gleichgültigen Schwenkung ihren Rundgang durch den Käfig fort, der sie auf den Baum und zu ihren Gefährten zurückführte. Dann wurde es wieder still unter den Schlangen.

Wahnsinnig vor Schmerz und Grauen wagte sich endlich der gebissene Sperling hinter dem Stein hervor, fiel aber schon nach wenigen Schritten zuckend auf die Seite und wand sich in kreiselndem Auf und Nieder um sich selbst, bis er schließlich erschöpft, entblutet liegen blieb, mit geschlossenen Augen. Der andere betrachtete ihn mit dumpfem Glucksen, rückte dicht an ihn heran und gab ihm von der Wärme seines Leibes. Plötzlich erhob er sich und flog taumelnd wie ein angeschossener Raubvogel von Ast zu Ast, so dass die Schlangen ihn nicht zu packen vermochten. Nun, da der auf den Tod erschrockene Vogel das Ende unaufhaltsam vor Augen sah, gab es für ihn kein Zögern, keine Furcht, kein Abwarten und Abwehren mehr. Rasend stürzte er sich mitten unter die Nattern, drang mit seinem stumpfen Schnabel auf sie ein und verstand es vorzüglich, sie dort anzugreifen, wo sie zutiefst ineinander verknäult und verknotet lagen. Die Schlangen aber wussten sich zunächst nicht zu helfen, gebannt von der Kühnheit des Angriffs. Und als nun der Sperling, wie ein Kondor, über die größte von ihnen herfiel, rührte jene keinen Muskel, während der Vogel förmlich Fetzen aus dem gepanzerten Leib riss, Brocken, Hautstücke, Fleischkörner, die er in weitem Bogen hinter sich schleuderte. Das hatte schon einige Zeit gedauert. Da erhob sich das in seiner Art beleidigte Reptil, riss sich mit einer einzigen Bewegung von den andern los, schnellte empor und zerbiss mit kurzem, schneidendem Stoß die Kehle des Angreifers. Dessen Gefieder entblätterte sich wie eine welke Blüte. Der Kopf, nur noch durch einen blutenden Fleischfaden an den Körper gebunden, fiel hintenüber. Er war tot.

Inzwischen hatte sich der andere zum Sterben bereitet. Während die letzten Krämpfe ihn schüttelten, griff er mit gespreizten Krallen in die Luft, erhob sich und stürzte, das Fieber seiner Wunden zu löschen, an den Rand des Tümpels. Mühsam versuchte sein Schnabel das Wasser zu erreichen, aber die Kräfte verließen ihn, und er rollte kopfüber die niedrige Böschung herab. So schwamm er, trinkend und ertrinkend, auf dem Wasser. Die Schlangen aber, da sie vorläufig noch keinen rechten Hunger verspürten, hatten sich wieder zwischen die Blätter gerankt.

(1926)

Herr Pilz lässt sich rasieren

Es geschah an einem schwülen Sommertag, dass der Bürovorstand Jakob Pilz den Friseurladen der Herren Aust & Co. betrat, um sich dortselbst seines Vollbartes zu entledigen. Dieser Entschluss war nicht von heute auf morgen gekommen. Schon längst hatte Pilz, bewegt und beunruhigt durch den Lärm, mit dem diese Zeit auf ihn eindrang, den Plan gefasst, irgendetwas in seinem Leben zu verändern. Aber womit sollte er beginnen, wo die Brücke finden zu der Gegenwart, die ihn von Tag zu Tag mehr bedrängte? In einer schlaflosen Nacht überkam ihn endlich die Offenbarung: der Vollbart! Ja, mit dem Vollbart wollte er beginnen. Ein neuer Mensch werden, wieder jung, ein Jüngling, der seine nackte Wange der ganzen Menschheit darbot. Und nun lag er also, den Vollbart spitz nach oben gestreckt, in einem der schweren Operationsstühle, die den Salon der Firma Aust & Co. weit und breit berühmt gemacht hatten.

Die Friseure waren, als sie sein Anliegen vernommen, aufs Höchste erschrocken. »Wie? Herr Pilz?«, flüsterten sie einander zu, »Herr Jakob Pilz lässt sich rasieren?« Ihre Weltanschauung war erschüttert. »Schlimme Zeiten«, sagten sie, »wenn schon die Stadtväter ihre Würde unbedenklich den Forderungen der Mode hinopfern.« Ein Vollbart, weich, sämig und so sorgsam behütet, dass selbst der leiseste Luftzug das von wohlriechenden Gewässern gedüngte Gebilde zerstört hätte – dieser köstlichste aller Vollbärte sollte nun gefällt, einfach abgeholzt werden? Und das Ansehen der Stadt, die ihn verehrte wie ein Teil ihrer selbst, wie ein Denkmal aus alten, ehrwürdigen Tagen? Nein, dem musste, wenn man ein Bürger war, Einhalt geboten werden. Dieser Vollbart war ganz und gar nicht mehr das Privateigentum des Herrn Pilz. Er gehörte der ganzen Stadt.

Also wurde in aller Stille ein Gehilfe beauftragt, die Instanzen von dem Vorhaben des Mitbürgers Pilz in Kenntnis zu setzen.

Dieser hatte inzwischen Gummikragen, Schlips und Röllchen ordentlich auf der Marmorplatte ausgebreitet und den stadtbekannten Christuskopf über die rückwärtige Papierrolle gelegt. So gebettet, fühlte er sich alsbald von dem kühlen Halbdunkel der Stube angenehm umfangen. Mein Entschluss ist also Wirklichkeit geworden, dachte er, und während er noch einmal, wie zum Abschied, mit gewohntem Griff die Fäden seines Alters entlangfuhr, vernahm er bereits das Schaben und Wetzen der zum Angriff gezückten Messer.

Aber es sollte anders kommen. Denn die Stadträte, von der drohenden Gefahr unterrichtet, befanden sich bereits im Anmarsch. »Nie und nimmer«, sagte Herr Knorr, Verschönerungsrat der Stadt B. und in dieser Eigenschaft ganz besonders befugt, die Angelegenheit Jakob Pilz in die Hand zu nehmen. »Nie und nimmer gebe ich meine Einwilligung zu dieser einschneidenden Veränderung.« Sie waren mittlerweile bei Aust & Co. angelangt – und Knorr, seines Amtes bewusst, betrat kurz entschlossen den Laden. »Werter Mitbürger«, sagte Knorr, als er sich dem verblüfften Pilz gegenübersah, »nie und nimmer werde ich Ihnen meine Einwilligung zu Ihrem geradezu verbrecherischen Vorhaben geben. Ich, als Vertreter der Gemeinde beauftragt, über das ästhetische Wohl und Wehe unserer Vaterstadt zu wachen, ich, jawohl ich verbiete Ihnen, den uns allen teuren Anblick Ihrer männlichen Kraft für immer zu beseitigen. Sie wollen ja, werter Mitbürger, ein geradezu klassisches Dokument dieser Stadt der allgemeinen Nutznießung entziehen, Sie wollen, ich sage es offen heraus, den Geist der Veränderung, der Umwälzung, kurzum der Revolution in unsere Mauern tragen, und darum, werter Mitbürger Pilz, gebiete ich Ihnen ein laut und vernehmliches ›Halt!‹« Bei diesen Worten erhob sich Knorr groß und bedeutsam auf die Fußspitzen und verharrte so eine Weile, bis er müde wurde und sich wieder auf die Sohlen zurücksinken ließ. Dann ging er gemessen aus dem Zimmer.

Mit wachsender Verwunderung hatte sich Pilz diese Rede angehört. Er ein Revolutionär? Am Ende wollte man ihn mit Gewalt am Rasieren hindern? Er sah in den Spiegel. Rot, voll und flaumig, wie ein Bienenschwarm, hing ihm der Bart über der Brust. Ein majestätischer Anblick, fürwahr! Christus am Berge – dachte Pilz und schaute sich sinnend entgegen. Oder gar Moses? Er wühlte zornig in seinem Bart, seine Augen leuchteten, mit einem Ruck sprang er auf, den breiten Armstuhl scharrend zurückstoßend, und ging, jeder Schritt ein gewaltiger Gott, zur Türe, welche er kurz und bündig abschloss.

»Man gebe mir den Frisiermantel«, sagte der zornige Moses und ging wieder auf seinen Platz zurück.

»Unmöglich«, murmelte Herr Aust, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, und hob, halb im Scherz, den goldenen Kragenknopf empor, den Pilz neben anderen Utensilien der Kleidung vor sich aufgebaut hatte.

»Man gebe mir umgehend den Frisiermantel«, donnerte Pilz so laut, dass die auf der Straße wartenden Stadträte ihre Gesichter angstvoll gegen die Scheiben pressten.

Unter dem Eindruck dieser Eruption ließ Herr Aust schleunigst den Kragenknopf fallen und beeilte sich, dem Verlangen seines Kunden nachzukommen. Der hatte sich von Neuem zurechtgelegt und erwartete in Demut die nun mächtig heranrasselnden Scheren, die sich alsbald tief und tiefer in das rötliche Gestrüpp hineinschnitten. »Gut, gut«, sagte Pilz und erhob sich ein wenig, indem er ängstlich, doch voller Neugierde, sein Spiegelbild anblickte. Was würde wohl unter diesem Bart zum Vorschein kommen, unter diesem lieblichen, zart gelockten Vollbart, den er fünfzehn Jahre lang wie eine Maske vor dem Gesicht getragen hatte? Wie sah es dahinter aus, welche Gräuel und Schrecken verbarg dieses rötliche Pflanzenwunder, das ihn behütet und beherrscht hatte, ohne dass er sich selber jemals gewahr wurde? Erkenne dich selbst, schrie es in ihm auf. Leidenschaftlich warf er sich nach vorn. Hier die Nase, hier die Backe, das Kinn und der tierisch glucksende Adamsapfel – dort stand es im Spiegel, schimmerte in verwischten Umrissen unter dem noch nicht ganz entfernten Haar. Und ein Schauer durchfuhr ihn, als wäre Wasser in sein Blut gekommen. Er strich sich mit der Hand über das Gesicht, folgte den Linien, die sich eben ahnen ließen, und hielt an. Ein fremdes Gesicht, dachte er zitternd. Erschöpft warf er sich in den Sessel zurück und befahl Herrn Aust, sein Werk zu vollenden.

Und nun beugte sich dieser wie eine schwere Wolke über sein Gesicht. Donnernd und blitzend, mit knirschender Schere, schälte er den Zusammengesunkenen aus seiner härenen Hülle. Gnade, dachte Pilz, aber da war es schon zu spät. Ein mächtiger Seifenschwall überschwemmte seine Backen. Pilz schloss die Augen. Das Rasiermesser tanzte und schwirrte, eine höllische Musik. Erkenne dich selbst, hörte er sich flüstern, da spürte er, wie sich der Geruch des Mannes, der breit über ihm gelegen hatte, verzog. Er öffnete die Augen und richtete sie auf sich. Aber was sah er jetzt im Spiegel? Das war kein Pilz und kein Christus und kein Moses mehr – das war eine einzige, fürchterliche, fressende Fratze, ein bleckendes Maul, ein barbarisches Kinn und eine höchst blödsinnig herausgeworfene Nase.

»Das bin ich?«, schrie Jakob Pilz und sprang auf beide Füße. »Sieht so einer aus, der Nacht für Nacht friedlich auf den Kissen herumlag und seine Frau lieb hatte und etliche zwei Kinder wohl und bedachtsam in die Welt setzte? Und der da, der mit der triefenden Fresse, brach nicht aus, eines Tages, mordend und sengend, seine eigenen Jungen verspeisend? Wie, hinter diesem wallenden Christus war ein Tier verborgen, ein Raubtier, ein Wolf, ein Tiger –?«

»Eine Mark fünfzig«, sagte Herr Aust und fegte mit einem Besen das, was ehedem Jakob Pilz hieß, in eine Ecke. »Eine Mark fünfzig, wenn ich bitten darf. Schön glatt, was? Haben sich aber sehr verändert, Herr Pilz. Ordentliches Gaunergesicht, entschuldigen Sie schon.«

Pilz warf das Geld auf den Tisch, zog den Schlüssel und ging. Er hatte den grünen Filzhut tief ins Gesicht gedrückt und den Kragen seiner Lodenjacke trotz der Hitze in die Höhe geschlagen. Aber man konnte, wenn man genau hinsah, zwischen Hut und Kragen etwas sehr Nacktes, etwas sehr Käsiges und Gemeines entdecken. Alle sahen es, auch Knorr, der eben mit einer wohlgesetzten Rede beginnen wollte und nun, da er Pilz erblickte, erschüttert zur Seite ging. Katastrophe, dachte Pilz, während alles vor ihm Platz machte. Ich bin erledigt. Wo soll ich jetzt hin? Nach Hause vielleicht? Unmöglich. Er begann zu laufen, ziellos, ohne Richtung: Schon war er um die nächste Ecke, da hörte er hinter sich ein undeutliches Geklapper. Er drehte sich um: Die ganze Stadt war auf den Beinen. Aus allen Straßen strömten die Menschen zusammen, einige, die nicht wussten, was geschehen war, schrien wild hinter ihm her: »Haltet ihn, haltet den Dieb!« Pilz lief schneller. Nur jetzt ihnen nicht ins Gesicht sehen, nur jetzt nicht. Er bog in eine leere Gasse. Aber schon waren sie ihm auf den Fersen. »Haltet den Dieb!« Er wollte in einen Hausflur, da hatten sie ihn erreicht. »Ich bin Pilz, Jakob Pilz«, keuchte er ihnen entgegen, »euer Pilz.« Da traf ihn ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Blutend sank er zusammen, und während er sich noch einmal, fremd und ungläubig, über sein seltsam versteinertes Gesicht strich, fühlte er, wie ihn die Kräfte verließen.

(1928)

Die Patronentasche

Wir waren nicht wenig erstaunt, als uns Axel zum Abendessen einlud. Seit einem Jahr hatten wir sein Haus nicht mehr betreten. Er führte ein stilles Malerleben in einem kleinen Häuschen am Rande der Stadt, dort, wo die Straßenbahnen in ihr Depot fahren und Wiesen und Äcker vor den Häusern liegen.

Zur verabredeten Stunde waren wir alle bei Axel versammelt: der Redakteur, der Schauspieler und ich. Der Tisch war festlich gedeckt, der Gastgeber selbst in heiterster Laune. Er hatte zwei Quadratmeter Ecce homo an die Akademie verkauft und wollte nun dieses freudige Ereignis mit uns feiern. Nachdem wir gegessen hatten – sehr reichlich und mit jener appetitlichen Andacht, die ausgehungerte Ästheten beim Genuss unerwarteter Paradegerichte überfällt –, brachte Axel Schnaps und Gläser, und wir erholten uns in bequemen Sesseln von der Arbeit des Schmausens.

Das Zimmer, in dem dieses denkwürdige Zusammensein stattfand, ein wohlproportioniertes, beinahe quadratisches Zimmer, hatte, obwohl es jahrelang unbewohnt gewesen und erst für diesen Abend wieder hergerichtet worden war, nichts mehr von der einsamen Kälte unbenutzter Räume. Im Gegenteil: Es war, wie wir alle feststellten, ganz besonders gemütlich, der Ofen zum ersten Mal wieder in Gebrauch, wirklich sehr gemütlich. Wir rauchten eine Unmenge Zigaretten, und der Schauspieler kopierte Kollegen, die berühmter waren als er. Was soll ein Schauspieler anderes tun, wenn er zum Essen eingeladen ist? Eine unerträgliche Hitze herrschte im Zimmer. Der Ofen arbeitete wie eine Dampfmaschine. Wir öffneten das Fenster und zogen unsere Jacken aus. Es war kaum zum Aushalten.

Da geschah das Entsetzliche.

Wir hatten eben in alter Gewohnheit über Gott und die Welt und einen übergeschnappten Kritiker, der sich für das eine oder das andere oder für beides zusammen hielt, debattiert, als Axel plötzlich mitten im Satz innehielt, sich langsam wie hypnotisiert vom Stuhl erhob, zuerst uns und dann mit weit geöffneten Augen den Ofen anstarrte und schließlich wie vom Teufel besessen aufsprang und, immerfort um Hilfe rufend, aus dem Zimmer stürzte.

Wir sahen uns an. Was war geschehen? Keiner hatte etwas Verdächtiges wahrgenommen. Aber schließlich, Axel musste sein Haus besser kennen als wir, und so erhoben wir uns, wenn auch widerwillig, von den bequemen Stühlen und traten ans Fenster. Draußen war tiefe Nacht. Aber immerfort ließ der Maler sein »Hilfe! Sofort runterkommen!« ertönen. Da packte uns das Entsetzen, und wir liefen schleunigst aus dem Zimmer. Unten stand Axel, vollkommen außer sich, und starrte nach oben.

»Um Gottes willen, Axel«, riefen wir ihn an, »was ist denn los? Warum schreist du denn so?«

»Der Ofen – die Patronentasche«, war alles, was er hervorbringen konnte.

Und nach und nach erfuhren wir die ganze Wahrheit. Hinter dem Ofen in dem unbewohnten Zimmer, welches wir soeben verlassen hatten, lag, seit Jahren in Vergessenheit geraten, Axels gefüllte – Patronentasche.

»Man muss die Feuerwehr alarmieren«, sagte ich nach einer Weile ratlosen Entsetzens, nur um etwas zu sagen, nur um dieses auf die Nerven gehende Warten, dieses schweigende, hilflose Warten auf die Katastrophe zu unterbrechen. Aber Axel schüttelte den Kopf.

»Bis dahin ist alles in die Luft gegangen. Ich werde die Patronentasche selbst holen.«

Und er ging auf die Haustür zu. Aber der Schauspieler stellte sich ihm mit pathetisch erhobenem Arm in den Weg.

»Sie versuchen die Vorsehung«, sagte er mit bedeutend geschulter Atemtechnik, »Sie versuchen die Vorsehung, die uns soeben auf wunderbare Weise zum zweiten Mal das Leben geschenkt hat. Sie werden dieses Haus nicht mehr betreten.«

Axel sah zu Boden. »Es ist nicht deshalb«, sagte er leise. »Mein ganzer Besitz steckt in diesem Häuschen. Nicht allein das Geld – auch meine Bilder, alles, was ich in den letzten zehn Jahren gemalt habe. Ich kann es nicht mit ansehen …«

»Eine schöne Geschichte«, sagte der Redakteur und sah auf die Uhr. Es war mittlerweile schon halb drei geworden, und wir froren zum Erbarmen.

»Es hat keinen Zweck, hier zu warten«, sagte der Redakteur. »Wir gehen jetzt alle in meine Wohnung. Ich koche einen guten Kaffee, und wir warten in Ruhe die Geschichte ab. Angenommen?«

»Ausgeschlossen!«, schrie Axel, »ich rühre mich nicht von der Stelle.« Aber wir nahmen ihn unter den Arm und zogen in die Wohnung des Redakteurs, der schnell aus Kissen, Decken und Matratzen eine Lagerstatt für uns improvisierte, Kaffee, Likör und Gebäck zur Stärkung gebracht und mit diesen ins Blut gehenden Ingredienzien unsre erfrorenen Gemüter alsbald wieder in Schwingungen versetzt hatte. Der Alkohol tat uns gut. Wir löschten das Licht und schliefen ein.

Am andern Morgen weckte uns Axel zur allgemeinen Verwunderung mit einer heiteren, vollkommen unbeschwerten Miene.

»Meine Freunde«, sagte er und drückte uns allen die Hand, »ich habe heute Nacht, während ihr schliefet, mein bisheriges Werk an mir vorüberziehen lassen. Es ist gut so, wie es gekommen. Das Gestern ist vorbei, in die Luft geflogen, jetzt ist wieder nur das brennende Heute, der eine einzige, abenteuerliche Wurf ins Ungewisse. Hier bin ich – und dort ist die Welt. Ich bin jung und voraussetzungslos wie am ersten Tage. Hier sind meine Hände. Seht ihr das Blut, das in meinen Adern fließt? Das bin ich, nie war ich etwas andres, nie ein Stück Holz, mit Leinwand bespannt, das man in den Salons über dem Büfett aufhängt. Noch einmal beginnen, noch einmal von vorn anfangen … meine Freunde, es lebe die Kunst.«

»Ich werde eine Notiz in die Zeitung bringen«, sagte der Redakteur und zog seinen Bleistift. »Eine neue Epoche in der Entwicklung der modernen Malerei. Gespräch mit dem bekannten Landschaftsmaler Axel …«

Wir gingen auf die Straße, die Sonne leuchtete warm. Märzsonne. Als die Straßen breiter und die Häuser kleiner zu werden begannen, wussten wir, dass Axels Haus nicht mehr fern war.

Da blieben wir überrascht stehen.

Auf dem Wiesengelände stand mitten im Grün Axels niedliches kleines Häuschen. Tauben flogen um seinen Giebel. Es war ein Uhr mittags.

»Seht nur«, sagte Axel, »wie die Sonne rot in den Fenstern liegt.«

Wir traten ein. Oben standen noch unsere Schnapsgläser. Der Ofen war kalt. »Keine Gefahr mehr«, sagte Axel und zog die verstaubte Patronentasche hervor.

Wir sahen uns an.

Die Tasche war leer.

»Allerdings, sie ist leer«, sagte Axel und setzte sich in einen Stuhl.

»Sie ist leer«, intonierte der Schauspieler im Vollgefühl seiner sprachtechnischen Fähigkeiten.

»Und warum sagst du uns das erst jetzt?«

»Weil es mir erst jetzt einfällt.«

Da nahm der Redakteur sein Notizbuch, strich die Seiten durch, die er in der Nacht über die neue Epoche in der Entwicklung der modernen Malerei vollgeschrieben hatte, ergriff eine Kohlenschaufel und schlug Axel den Schädel ein.

(1926/1928)

Begegnung mit einer Kranken

Sie lag auf dem Diwan, bis an den Hals mit Tüchern und Schals umwickelt. Er versuchte zu lächeln, aber der Eindruck, der von dem aufgeschwemmten und verzerrten Gesicht ausging, hemmte seine Bewegungen und machte sein Lächeln zur Grimasse.

Er trat ans Lager, und während er ihr die Hand gab, richtete sie sich mühsam und mit der ganzen Länge ihres Oberkörpers auf, wie ein Brett, das in die Höhe geklappt wird. Kopf, Hals und Rumpf waren durch einen Apparat gestützt, der sie fest in die Zange nahm. Aus dem Stahlkorsett, das bis unters Kinn ging und durch ein buntes Wolltuch nur ungenügend verdeckt war, ragte eine Eisenstange hervor, die den Hinterkopf stützte und an deren Ende eine Art Kopfpolster befestigt war. Ein paar Haarsträhnen waren notdürftig darüber gekämmt, um die eiserne Konstruktion zu verbergen, aber er sah doch alles, alles.

Das also war übrig geblieben von einem Wesen, mit dem sich die zärtlichsten Erinnerungen, die leidenschaftlichsten Gefühle verbanden! Das war der Rest. Ein Körper, eingekerkert in einen eisernen Panzer, in Stahl und Leder geschnürt wie ein Paket, die geliebten Formen von einst aufgedunsen und zerquetscht von einem Gestänge künstlicher Knochen.

»Nur nichts anmerken lassen«, dachte er und wickelte umständlich die Blumen aus, die er für sie mitgebracht hatte.

»Warum habe ich nicht acht Tulpen gekauft statt vier?«, dachte er, während er die vier Stängel in der Vase ordnete. Er fühlte sich plötzlich schuldig. Eine unbehagliche Erinnerung an das, was sie beide auseinandergebracht hatte, an endlose Auseinandersetzungen, durchwachte Nächte, künstlich aufgebauschte Missverständnisse, überfiel ihn jetzt und machte ihn verantwortlich für eine Krankheit, deren Ursachen er nicht zuletzt in seinem eigenen Verhalten suchte. In seiner Selbstquälerei, in seiner Maßlosigkeit, in seinen Wünschen und Forderungen, für deren Unerfüllbarkeit er niemals sich selbst, immer nur den anderen haftbar gemacht hatte.

»Ich habe ihr zu viel zugemutet, damals«, dachte er. »Ich habe ihre Kräfte missbraucht, darum ist sie heute so krank. Und auch die Blumen – dieser kühle Egoismus, dass ich, um zu sparen, nur vier statt acht Tulpen mitgebracht habe! Nein, ich bin kein guter Mensch, ich bin schlecht und berechnend, und das Berechnende besteht gerade darin, dass ich unter der Maske der Güte meine kleinen, mittelmäßigen Berechnungen geschickt verbergen kann.«

Während ihm dies alles durch den Kopf ging, hatte sich die Frau, steif und steil wie ein aufgerichtetes Bügelbrett, in einen Lehnstuhl gesetzt; ein verlegenes Lächeln, das durch die stählerne Halskrause noch verzerrter erschien, streifte ihn. Er musste den Blick abwenden.

»Wenn sie jetzt nur nicht wieder von damals anfängt«, dachte er. Er wusste, dass sie es liebte, die Erinnerungen an eine gewisse Vergangenheit durch versteckte Andeutungen heraufzubeschwören. »Nein«, dachte er, »jetzt nicht davon sprechen!«

Aber sie beherrschte sich. Es war, als hätte das Korsett, in dem sie stak, auch ihre Gefühle eingeschnürt. Wie alle Kranken, die von ihrer Krankheit besessen sind, erzählte sie ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Krankheit, mit der Ausführlichkeit eines Chronisten, der noch das belangloseste Detail für belangvoll genug hält, um es dem Leser in aller Form zu unterbreiten. Er hörte zu, auf die Folter gespannt von dem Martyrium, das sich da vor ihm auftat, aber zuweilen schien es ihm, als wäre dieser Krankenbericht, mit den Höllenqualen einer in Gips gelegten, von Schlafmitteln überreizten, durch alle klinischen Stationen gejagten Seele, als wäre dies vielmehr der Bericht einer Kranken als der Bericht über die Krankheit selbst. Die Leidenschaft, mit der sie erzählte, sprach dafür. Und zugleich glaubte er wiederum, aus der Schilderung ihrer Leiden jenen Ton der Anklage herauszuhören, der ihn selbst für all das irgendwie verantwortlich machte.

»Siehst du«, klang es unausgesprochen durch ihre Worte hindurch, »so wie mich die Ärzte – die Männer! – gequält und misshandelt haben, ohne auf meine Konstitution zu achten, so habt ihr, ihr alle, mich immer gequält und misshandelt.«

Schweigend sah er über sie hinweg auf die Straße. Er hörte nicht mehr, was sie sagte, er hörte immer nur diesen leisen, anklägerischen, ein wenig wehleidigen und mitleidfordernden Tonfall.

»Willst du nicht Licht machen?«, fragte sie plötzlich. Er stand auf und stellte die Lampe auf den Tisch.

»Man muss ihr helfen, bedingungslos helfen«, dachte er, und das Gefühl machte ihn glücklich. Da hatte er sich wieder ertappt. Er war gerührt von seiner eigenen Güte, gerührt, dass er selbst, obwohl er nicht wusste, wovon er morgen leben würde, sich für einen andern Menschen aufopfern wollte. Er sonnte sich in seiner eigenen Selbstlosigkeit, er ging auf wie ein Omelette in der Pfanne, er blähte sich über dem Feuer seiner Selbstaufopferung.

»Du musst wieder Mut haben«, sagte er.

»Ach ja«, seufzte sie, »aber wirst du mir auch helfen können? Schon so viele haben gesagt, dass sie etwas tun würden, aber dann sind sie einfach nicht mehr gekommen, weil sie sich geschämt haben, als es doch nicht ging. Aber du, du musst immer wiederkommen, nicht wahr? Es tut mir so gut, wieder mal mit einem Menschen zu sprechen. Du darfst mich nicht verlassen. Du nicht. Versprich mir das!«

Er gab ihr die Hand, ohne sie eigentlich anzusehen.

»Ich komme bald wieder«, sagte er und ging hinaus. Sie stand auf dem Treppenabsatz, über das Geländer gebeugt, breit und unförmig und verzerrt wie eine Puppe aus Stoff, ohne Knochen, nur ein Bündel zusammengenähter Lappen, mit Stroh oder Holzwolle gefüllt. Als er ein paar Stufen gegangen war, drehte er sich noch einmal um, sie machte eine Bewegung, als ob sie ihm nachwinken wollte. Aber die Hand blieb in halber Höhe stehen, wie ein Signalarm, der über einem toten Geleise hochgezogen wird.

(1934)

Die blaue Kastanie

Sie war einmal grün gewesen, aber jetzt war sie blau, wie die Brillen, die sie trugen und die sie zuweilen abnahmen, um zu sehen, ob sie noch blau wäre. Man hatte sie in den Garten gesetzt, und nun hockten sie im Gras unter der blauen Kastanie, rückten ihre Brillen zurecht oder zupften an ihren kunstvoll angelegten Verbänden, die ein Auge freiließen oder auch keins, tasteten mit den Händen den Boden ab und rochen an Blumen, die sie sich heimlich abgerupft hatten.

Draußen, hinter dem Gartenzaun, wo die hohen Sonnenblumen wuchsen, fuhren Bahnen, gingen Menschen, saßen hinter Biergläsern und rauchten. Sie trugen keine weißen Verbände, konnten ins Kino gehen oder in den Wald, konnten schreiben, lesen, trinken, niemand sagte ihnen etwas. Sie brauchten keine salzlose Kost zu essen, sie brauchten nicht zu beten, bevor das Licht ausgelöscht wurde, und wenn sie es doch taten, so beteten sie nicht, um gesund zu werden, oder weil man ihnen sagte, dass sie beten müssten. Sie konnten tun und lassen, was sie wollten. Sie hatten zwei Augen im Kopf, und das genügte, ein freier Mensch zu sein und das Leben schön zu finden.

Ein Mann, der rittlings auf einem Liegestuhl saß, halb nackt und mit zottiger Brust, lachte plötzlich laut auf. Er trug in jedem Ohr einen Messingring, sein rechtes Auge war durch einen Verband verdeckt, der wie eine bandagierte Kugel aus dem Gesicht herausstand.

Wie er so dasaß, breitbeinig, ein mächtiger Amboss, der auf den nächsten Hammerschlag wartete, glich er einem verwundeten Landsknecht aus den Tagen der Schlacht von Morgarten. Die weißen Verbände schauten auf. Sie wussten, was das Lachen bedeutete. Es versprach Abwechslung und Zerstreuung, es bereitete auf das vor, was nun kommen sollte, wie das Stimmen der Posaune vor dem Konzert.

»Erzähle«, sagten die weißen Verbände und schoben ihre Köpfe in die Richtung des Schalles.

»Es war mittags gegen halb zwölf«, sagte der Schmied. »Ich war gerade dabei, einen alten Kupferkessel zu reinigen, da geschah es.« Er machte eine Pause und sah mit seinem gesunden Auge den Geometer an, als erwartete er von ihm die Fortsetzung der Geschichte.

»Jetzt k-kommt das mit der S-Salzsäure«, sagte der Geometer, der missmutig an einem kalten Zigarrenstummel kaute. Er hatte seit zwei Monaten nicht mehr geraucht und trug den Zigarrenstummel wie ein Amulett in seiner Westentasche.

»Es war nämlich sehr heiß«, sagte der Schmied. »Dreißig Grad im Schatten. Plötzlich gab es einen Knall. Etwas Scharfes spritzte mir ins Gesicht. ›Jakob!‹, rief meine Frau von nebenan. ›Ist dir was zugestoßen?‹ – ›Ja‹, brüllte ich. ›Ruf sofort den Arzt. Ich kann nichts mehr sehen.‹ Zehn Minuten später lag ich hier auf dem Tisch. Alles brannte. Der Professor brannte. Die Schwestern brannten. ›Jakob!‹, hörte ich meine Frau rufen. ›Komm doch wieder zu dir! Das eine ist gerettet!‹ – ›Welches?‹, fragte ich. ›Das Linke‹, sagte sie. Dann trug man mich fort. ›Frieda‹, sagte ich später zu ihr, ›Frieda, ich habe immer Glück gehabt im Leben. Eins ist uns geblieben!‹ – ›Ja‹, sagte meine Frau. ›Wir werden noch schöne Tage haben, Jakob.‹ Dann ging sie. Aber das andere ist nun hin, tot, mausetot … soll ich es euch zeigen?«

Er machte Anstalten, den Verband zu lockern. »Schon g-gut«, sagte der Geometer und sah mit seinen traurigen Trinkeraugen im Kreis umher. Vom Fenster kam die Stimme der Oberschwester: »Assa!«

Die Tage in einer Augenklinik gleichen den Nächten. Wären nicht die kleinen und großen Sensationen der Nahrungsaufnahme und –abgabe, der täglichen Waschungen und Verrichtungen, der ärztlichen Untersuchungen, des Tropfengebens und Verbindens, man würde den Unterschied zwischen Hell und Dunkel, der unserer Zeiteinteilung zugrunde liegt, kaum bemerken. Langsam, unvorstellbar langsam zieht ein Tag vorbei, wenn die einzige Abwechslung darin besteht, dass eine der Schwestern sich bereit erklärt, etwas aus einem Buche vorzulesen. Dann wird für eine halbe Stunde das Schweigen durch eine unsichere, ein wenig zu hohe Stimme unterbrochen, die sich mit schlecht verhehlter Verlegenheit gegen die sprachliche Genauigkeit eines Mörike oder Stifter zu behaupten versucht.

Manchmal kam Herr Guggenbühl aus der ersten Klasse herüber und erstattete Mitteilung über den Stand seines Gerstenkorns. Herr Guggenbühl war Reisender einer Zahnpastafirma und hatte ein eigenes, großes Zimmer, in dem er zu jeder Tageszeit Besuche empfangen durfte, beispielsweise den seiner Braut, einer stark nach Parfüm riechenden Schauspielerin, deren Umrissen sie durch ihre Gazeverbände hindurch begehrlich nachschauten. Niemals in seinem Leben, so versicherte Herr Guggenbühl, habe er »etwas an den Augen« gehabt, und war es auch nur ein Gerstenkorn, das den von Natur aus Schreckhaften aus der Bahn geworfen hatte, so genügte es, ihn von den silbernen Platten, auf denen er sein Essen serviert bekam, aufzuscheuchen und zu den irdenen Töpfen der dritten Klasse zu treiben. »Glauben Sie, dass ich blind werde?«, pflegte Herr Guggenbühl zu fragen, indem er sich mit seinem blauseidenen Taschentuch die Stirne betupfte. Die Krankheit ließ ihn völlig jene Zurückhaltung vergessen, die man von einem Patienten seiner Klasse erwarten durfte. Nicht genug damit, war Herr Guggenbühl durch den Schreck, den sein Augenleiden ausgelöst hatte, über Nacht zu einem gläubigen Menschen geworden. Es war das Gerstenkorn, das ihn bekehrt hatte, und zwar zu einer Sekte, die ihn, wie er beteuerte, schon immer interessiert habe, deren heilende und läuternde Kraft ihm aber niemals so aufgegangen wäre wie in diesen Augenblicken einer verminderten Sehfähigkeit. »Alles kommt davon, dass ich nicht an Gott geglaubt habe«, pflegte Herr Guggenbühl zu sagen, wenn das Gerstenkorn schwer auf ihm lastete. »Außerdem habe ich zu viel geraucht.«

Angefeuert von den Blicken seiner Braut, die es wohl darauf absah, sich ihm, jetzt mehr denn je, als unentbehrlich zu erweisen, erging er sich in religiösen Meditationen, verwarf die ärztliche Heilkunst als Kurpfuscherei und gelobte, falls er je wieder geheilt werden sollte, weder eine Zigarette noch seine Braut anzurühren, was von dieser mit unentbehrlich gewordener Zustimmung aufgenommen wurde.

»Hier auf dem Boden habe ich gekniet«, flüsterte Herr Guggenbühl, »und zu meinem Gott gebetet, und sehen Sie, seitdem ist auch das Gerstenkorn schon viel kleiner geworden.«

»Ja so«, sagte der Kassenbote Matthias Strehler, der mit verbundenen Augen der Unterhaltung gefolgt war. Er hatte Frau und Kind, die ihn zweimal in der Woche, je eine Stunde lang, besuchen durften. Aber auch in dieser einen Stunde pflegte Herr Matthias Strehler nicht viel mehr als »Ja so« zu Frau und Kind zu sagen, nachdem die erste Begrüßungsfreude verrauscht und das Paket mit sauberer gegen das mit schmutziger Wäsche eingetauscht war. Herr Strehler hatte schlichte Gewohnheiten und eine schlichte geduldige Art, sich mit seiner Hornhautverletzung auseinanderzusetzen. Manchmal sah man ihn mitten in der Nacht in einem blau-weiß gestreiften Nachthemd, das ihm bis auf die Füße ging, am Fenster stehen und eine Weintraube verzehren. Das Licht der Straßenlaterne fiel auf seinen dicken Verband, während er geduldig eine Beere nach der andern abrupfte und verspeiste. Dann legte er sich wieder zu Bett, sagte einmal leise »Ja so« und schlief ein. Die Traube wurde zweimal in der Woche, wenn Besuchszeit war, erneuert und durch Äpfel, Birnen, Pflaumen ergänzt, die er sorgfältig in seiner Schublade verstaute.

Man merkte es Herrn Strehler an, dass er Wert darauf legte, das Obst über die Woche zu verteilen, denn es war gesund und förderte den Stoffwechsel – ein Umstand, der sich in der Enge des Zusammenlebens nicht immer vorteilhaft auswirkte und der zufällig anwesenden Schwester Luise – derselben, die schon beim Vorlesen mit ihrer Verlegenheit zu kämpfen hatte – den Ausruf entlockte: »Herr Strehler, Sie sollten sich eigentlich schämen.«

»Man wird wohl noch einen Scherz machen dürfen«, lachte der Schmied. Auch der Geometer war dieser Ansicht. Er hätte sich jetzt gern an der Unterhaltung beteiligt, aber zu dem Augenleiden kam ein anderes, das ihn nicht minder behinderte und von Jugend an den Menschen entfremdet hatte. Es war immer nur das erste Wort, genauer gesagt, der erste Buchstabe, der ihm zu schaffen machte und sich zu etwas Ungeheuerlichem, Unüberwindlichem auftürmte und die Welt verdüsterte. »Ruhig atmen«, sagte der Schmied und schlug ihm auf den Rücken. Aber der Geometer ließ nicht locker. Das Wort, das ihn würgte, musste heraus, dauerte es auch eine Ewigkeit, aber inzwischen war einer nach dem anderen bereits aufgestanden und auf den Balkon hinausgetreten. »S-paß muss sein«, entrang es sich endlich dem Gequälten, als das Zimmer schon ganz leer war, und er sagte es auch mehr zu sich selbst, als wollte er sich beweisen, dass er es doch noch fertiggebracht hatte.

Eines Morgens, nach der ärztlichen Visite, die mit dem Pomp einer militärischen Dienstübung und im Beisein des wie ein Feldherr von seinem Stab umgebenen Spezialisten sich abzuspielen pflegte, ging ein Raunen durch die dritte Klasse: Der Schmied wird heute operiert. Flüsternd erzählte einer dem andern, wie er sich, stolz und im Bewusstsein der ihm zugefallenen Bedeutung, von seinen beiden Bettnachbarn, die ihn bis an die Tür begleiteten, verabschiedet hatte und im Dunkel des nach Lysol riechenden Ganges verschwunden war. Und nun saßen sie auf der Veranda, zwischen den Geranientöpfen, tupften an ihren Verbänden und warteten auf die Nachrichten, die aus jener andern geheimnisvollen Welt der Messer und Pinzetten, der Wattebäusche und Reagenzgläser zu ihnen dringen würden.

Einmal wurde ihr banges Warten durch Hühnerbein unterbrochen, das ihnen Herr Guggenbühl, von seiner Braut begleitet, die sich taktvoll im Hintergrund hielt, auf einer Silberplatte überreichte. »Hier«, sagte er dumpf. Es war, als wollte er durch diesen Akt brüderlicher Solidarität seinen Leidensgefährten zu verstehen geben, wie sehr er sich der Schwere des Augenblicks bewusst war. »Hier, das ist für euch«, sagte er mit der verzichtenden Gebärde eines Mannes, der bereit ist, sein letztes Hemd für die Armen herzugeben. »Ich habe keinen Bissen herunterbringen können, nicht wahr, Alice?« Unfähig, seine Gefühle länger zu verbergen, wandte er sich ab und entfernte sich eilenden Schrittes, von seiner Braut gefolgt, die, in einer Wolke von Wohlgerüchen dahinschwebend, den Zurückbleibenden mit kummervoller Gebärde zu bedeuten schien, sich jeder Teilnahmeäußerung im Hinblick auf den Zustand ihres Verlobten zu enthalten.

Zwei Stunden waren vergangen, als die Tür sich plötzlich öffnete und der Schmied, von zwei Schwestern gestützt, sichtlich mitgenommen, dennoch erhobenen Hauptes das Zimmer betrat und sofort zu Bett gebracht wurde. Es war gerade um die Mittagszeit, der letzte Gang war soeben aufgetragen worden, und nun saßen sie um den mit grünem Linoleum belegten Holztisch in der Mitte des Schlafraumes und sahen scheu zu dem Kranken hinüber, der von den beiden Schwestern mit schamhafter Umständlichkeit entkleidet, gemessen und mit den notwendigen Medikamenten und Ratschlägen versorgt wurde.

»Das wär’s also«, sagte plötzlich der Schmied, als die beiden gegangen waren, und lachte, aber es war etwas Gezwungenes in seinem Lachen, und es klang auch nicht mehr so wie früher. »Jetzt ist es heraus.«

»Das Au–ge?«, brachte mühsam der Geometer hervor und warf ihm einen traurigen Trinkerblick zu.

»Was denn sonst?«, sagte der Schmied und streckte sich krachend in seiner Bettstelle. »Ja, das war eine Hatz«, sagte er. So etwas gebe es nicht alle Tage. Mit dem einen Auge habe er zugesehen, wie man ihm das andere herausnahm. Ein junger Doktor, noch nicht trocken hinter den Ohren, wäre ohnmächtig umgefallen. Und dann, als alles vorüber war, hätten sie es ihm gezeigt.

»Es war ein gutes Auge gewesen«, sagte er nicht ohne Stolz. »Es hat mir ein Menschenalter lang gedient. Ich habe damit Frieda angesehen, meine Frau, und beim Schützenfest den Adler von der Stange geschossen. Mit so einem Auge, wie meins eines war, konnte man den kleinsten Nagel auf den Kopf treffen, das sage ich euch, und nun lag es da auf dem Pappteller und sah mich an.«

»Ja so«, sagte der Kassenbote Matthias Strehler und rupfte nachdenklich an einer Traube, die er sich zur Ergänzung der unzulänglichen Krankenkost aus der Schublade geholt hatte.

»Und dann«, sagte der Schmied, »wollten sie mich auf einem Wagen nach oben rollen. Aber da bin ich aufgestanden und habe jedem einzeln die Hand geschüttelt. ›Meine Herren‹, habe ich gesagt, ›machen Sie sich keine Umstände. Es war mir ein Vergnügen.‹ Und dann drehte ich mich um und ging allein die Treppe hinauf.«

Das war um zwei Uhr mittags. Um drei fing der Schmied zu fantasieren an. Er murmelte etwas von einem heißen Eisen, das sich in seinem Gehirn zu drehen schien, und auch der Name »Frieda« tauchte des Öfteren auf, allerdings in einem Zusammenhang, der selbst die zur Verstärkung herbeigerufene Oberschwester Amalie veranlasste, sich errötend zurückzuziehen, nachdem sie seinen Puls gefühlt hatte.

»Es t-aut auf«, stammelte der Geometer und hielt sich hilfesuchend an den Bettpfosten fest.

»Ja so?«, sagte Matthias Strehler und sah ihn fragend an. Ein heftiges Zittern des Bettes belehrte ihn, dass der Geometer im Begriff war, sich einer besonders schwierigen Lautzusammensetzung zu entledigen. Er schlug ihm leicht auf den Rücken.

»Die V-ereisung«, sagte der Geometer und ließ erleichtert die Bettpfosten los.

Um sechs Uhr fing der Schmied zu stöhnen an. Schweigend saßen die alten Männer auf der Veranda und sahen mit ihren vorgewölbten Augen hinaus in die Melancholie des Abends, schweigend aßen sie ihr ungesalzenes Mahl, schweigend zogen sie sich aus, legten sich zu Bett und falteten die Hände über dem weißen Linnen, als Schwester Luise eintrat, die Bibel unter dem Arm, und sich errötend zwischen ihnen auf einen Hocker setzte.

»Vater unser, der du bist im Himmel«, sagte Schwester Luise mit zaghafter, kaum vernehmbarer Stimme.

»Frieda«, stöhnte der Schmied, »Frieda, mein Weib, wo bist du?«

»Ich glaube, wir lassen es jetzt lieber«, sagte Schwester Luise und drehte das Licht aus.

Die weißen Verbände leuchteten bläulich im Schein der Notbeleuchtung. Vom Fenster kam ein kühler Wind. Es roch nach Karbol und frisch gemähtem Rasen. Langsam drehte sich einer nach dem andern auf die Seite, vom Stöhnen des Schmiedes in den Schlaf gewiegt wie ein Kind in den Armen einer starken, furchtbaren Mutter.

Was indessen Herrn Guggenbühl anbelangte, so übten die Ereignisse jenes Tages eine nicht eben vorteilhafte Wirkung auf seine ohnehin schon durch das Gerstenkorn gedrückte Stimmung aus. Gewohnt, das Leben von der leichten Seite zu nehmen, sah er sich plötzlich mit einem Schicksal konfrontiert, gegen das es keine Berufung gab. Längst vergessene Worte aus seiner Schulzeit fielen ihm ein, voll von jener düsteren, schmerzbewegten Getragenheit, mit der einst die Menschen der Antike die zürnende Gottheit beschworen, von ihnen abzulassen, und es schien Herrn Guggenbühl, als hätte er erst jetzt ihre ganze Tragweite begriffen, während er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, allein in dem großen, dunklen Zimmer, allein mit sich und seinem Gerstenkorn, das ihn jetzt mehr beunruhigte als je zuvor. Vergeblich versuchte er, durch die schalldichte Doppeltür, die ihn von den Ereignissen trennte, etwas von dem zu erfahren, was sich jenseits des Ganges abspielte. Wie gern wäre er jetzt drüben gewesen, bei den andern, beschützt von ihrer Nähe, eingehüllt in das warme, beruhigende Gleichmaß ihrer Atemzüge; wie gern wäre er jetzt einer von ihnen gewesen, demütig die Zeit abwartend, die ihm die Natur gesetzt hatte, und während er so dalag, allein in dem großen Krankenhaus mit den vielen Türen und den hallenden, nach Lysol riechenden Korridoren, schien es ihm, als wäre er immer durch eine schalldichte Doppeltür von den Ereignissen getrennt gewesen. Liebe, Hass, Tod – dies alles lag wie ein Kontoauszug vor ihm, nach Rubriken geordnet, klar und übersichtlich, aber nun hatte sich ein Fehler eingeschlichen, und die Rechnung stimmte nicht mehr. Hatte sie je gestimmt? Nun ja, er hatte ein großes Leben geführt, immer en gros, nie en détail, hatte in den besten Hotels übernachtet und die besten Anzüge und Krawatten getragen, wenn er, den Musterkoffer voller Zahnpasta, durch die Lande reiste.

Es hatte überhaupt keine nennenswerten Zwischenfälle in seinem Leben gegeben. Nie war durch seine Träume jenes schauerliche »Wehe« gegangen, das ihm schon damals, als sie es mit verteilten Rollen in der Schule lasen, ebenso rätselhaft und unergründlich erschienen war wie jetzt das Brüllen des Schmiedes in der Nacht.

Er erinnerte sich, dass er einmal, auf einer Geschäftsreise, in einer kleinen Stadt ausgestiegen war, um dort die Nacht zu verbringen. Unschlüssig, wohin er seine Schritte wenden sollte, war er durch die altertümlichen Straßen gewandert, vorbei an Fachwerkbauten mit hohen Giebeln und reich verschnitzten Erkern, war dann die Stufen zu der mächtigen Kathedrale emporgestiegen, die, wie er später erfuhr, zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gehörte, und hatte sich plötzlich einer Statue aus Stein gegenübergesehen, einer Frauenfigur, die auf eine dunkle, geheimnisvolle Weise den Finger an den Mund hielt. Zuerst hatte er nicht weiter darauf geachtet, aber später, im Bett, nach einem viel zu reichhaltigen Mahl, fiel sie ihm wieder ein, jene Sibylle am nordöstlichen Kirchenportal, die mit schweigengebietender Gebärde den Finger an den Mund hielt. Und wie damals, in jener Nacht, als er allein in dem von Sage und Geschichte umwobenen Städtchen lag, überkam ihn eine Traurigkeit, ein schmerzliches Ziehen in den Eingeweiden, von dem er nicht wusste, ob es Angst war, Angst vor dem Tod, oder nur eine vorübergehende Magenverstimmung.

Unruhig, in die Kissen vergraben, verbrachte er den Rest der Nacht.

An diesem Punkt der Erzählung angelangt, möchten wir die beruhigende Versicherung abgeben, dass nunmehr das Ärgste überstanden ist und die Schilderung chirurgischer Eingriffe und ihrer Folgeerscheinungen als abgeschlossen betrachtet werden kann.

Begnügen wir uns also damit, zu berichten, dass der Schmied, nachdem er mehrmals in der Nacht versucht hatte, den Verband abzureißen, unter dem Einfluss zahlreicher Drogen und dem besänftigenden Zuspruch der Schwester Luise gegen Morgen eingeschlafen und erst in den späten Nachmittagsstunden zu einem flüchtig eingenommenen Imbiss erwacht war, dass sein Zustand am darauffolgenden Morgen als zufriedenstellend bezeichnet wurde und dass er drei Tage später bereits wieder unter der blauen Kastanie saß, bestaunt und bewundert von seinen Zuhörern, die nicht müde wurden, ihn mit Fragen zu bestürmen.

Der Schmied gab bereitwilligst Auskunft, nicht ohne ein noch größeres Ereignis in Aussicht zu stellen, das ihm bevorstand, den Tag nämlich, an dem man ihn aufrufen würde, sich ein künstliches Auge auszusuchen, und auf den nun alle warteten, bis eines Morgens, es waren wohl drei Wochen vergangen, der Schmied tatsächlich zur »Anprobe« nach vorn bestellt wurde und strahlend zurückkam wie ein Kind nach der Weihnachtsbescherung.

»Augen habe ich gesehen«, rief er aus. »Augen! Eines schöner als das andere, das sage ich euch.«

Manch einer hätte jetzt gern sein gutes gegen ein künstliches Auge eingetauscht, so sehr verstand es der Schmied, seine Begeisterung auf die andern zu übertragen.

»Hunderte von Augen«, sagte er träumerisch, nach Farben und Größen geordnet, in samtgefütterten Etuis, wie Edelsteine in einem Juwelierladen, blaue, graue und grüne Augen, funkelnd wie Smaragde und Amethyste. Da gab es solche, die man bewegen und solche, die man nicht bewegen konnte, und die beweglichen waren natürlich teurer als die unbeweglichen, sehr viel teurer sogar, und er hätte die Herren gefragt, ob er sich sofort entscheiden müsste. »Nein«, hätten sie gesagt, »es hat keine Eile. Überlegen Sie es sich in Ruhe. Wir drängen Sie hier nicht.« Gegebenenfalls würde man einen Augenkünstler aus Deutschland kommen lassen, der ein neues Auge nach Maß machen würde.

Menschen sehnen sich immer nach dem, was ihnen unerreichbar erscheint, und das Warten auf den berühmten Fachmann, der eigens aus Deutschland kommen würde, um dem Schmied ein Auge nach Maß zu machen, bildete nun das Thema zahlreicher Gespräche auf dem Balkon oder im Bett, kurz vor dem Einschlafen, nachdem Schwester Luise das Gebet gesagt und das Licht gelöscht hatte.

Es gab erregte Debatten, in deren Verlauf beispielsweise der Geometer die Ansicht vertrat, an seiner Stelle würde er sich zwei Augen machen lassen, ein unbewegliches für wochentags, da sähe es doch niemand, und ein bewegliches für sonntags, er wisse Bescheid, sein Schwager habe auch eins gehabt, ein braunes, das pflegte er über Nacht in den Geldschrank der Firma einzuschließen, weil bei ihm schon einmal eingebrochen worden war.

»Ja so«, sagte der Kassenbote Matthias Strehler, der bei dem vorangegangenen Bericht dem Stockenden mehrmals erlösend auf die Schulter geklopft hatte. »Mit der Beweglichkeit ist das so eine Sache. Nicht jedes Auge hält, was es versprochen hat, und manchmal bleibt es auf halbem Wege stecken und sieht in die falsche Richtung.«

Der Schmied antwortete nicht. Schweigend ging er umher, in tiefes Nachdenken versunken, und man sah ihn oft allein unter der blauen Kastanie sitzen und mit einem Bleistiftstummel, den er häufig an die Lippen führte, seltsame Zahlen auf ein Blatt Papier schreiben. Endlich, nach einer Woche erregten Für und Widers, verkündete er seinen Entschluss: Ein Auge für sonntags und beweglich müsste es sein, das sei er seinem Ansehen schuldig. Nein, keine Widerrede! An Wochentagen, in der Schmiede, brauche er ohnehin nicht viel auf sich zu geben. Da würde er sich einfach eine schwarze Klappe vorbinden. Aber am Sonntag, das wäre etwas anderes, da will man Staat machen und unter die Leute gehen und ein bisschen nach etwas aussehen. »Ich habe Frieda darüber geschrieben«, sagte er, »und sie hat mir geantwortet: ›Jakob‹, hat sie gesagt, ›wenn es nach mir ginge, so brauchten wir überhaupt keins. Aber du bist immer eigene Wege gegangen, dein ganzes Leben lang, und da du dir nun einmal das Glasauge in den Kopf gesetzt hast, so bin ich schon für das bewegliche, auch wenn es etwas mehr kostet, denn es kleidet dich bestimmt besser und das Glas hält länger und bricht nicht so leicht, und wir werden noch viel Freude daran haben …‹«

Und dann traf eines Tages der Spezialist aus Deutschland ein, und der Schmied bekam sein Auge. Es war ein schönes Auge, und er zeigte es seinen Freunden beim Mittagessen und bewegte es hin und her, einmal nach links und einmal nach rechts, genau so, wie er es bei der Anprobe gelernt hatte, und dann packte er sein Bündel und klopfte bei Herrn Guggenbühl an und sagte: »Raten Sie mal, welches von beiden ist es?«

Herr Guggenbühl trat einen Schritt zurück, legte ihm beide Hände auf die Schulter, sah ihn lange prüfend an und sagte schließlich nach einigem Zögern: »Das linke.«

»Falsch«, sagte der Schmied. »Das habe ich mir gedacht. Es ist nämlich das rechte.« Und er machte Anstalten, es herauszunehmen.

»Nein, danke«, sagte Herr Guggenbühl und wandte sich schaudernd ab.

»Ja, es war eine schöne Zeit«, sagte der Schmied und ergriff seine Hand. »Und wenn Sie einmal ein Hufeisen brauchen oder einen Anker …«

Herr Guggenbühl dachte an seine Zahnpasta und wie schal und vergänglich das Leben sei, und dann fiel ihm die Sibylle vom nordöstlichen Kirchenportal ein, und eine große Traurigkeit kam über ihn und schwemmte ihn hinweg.

»Es tränt wieder«, sagte er und tupfte sich mit dem Zipfel seines kunstseidenen Taschentuches die Augen. »Das kommt von dem Gerstenkorn. Zu dumm.«

Er stand noch lange am Fenster und sah dem Schmied nach, wie er, gefolgt von Matthias Strehler, dem Geometer und Schwester Luise, mit gewaltigen Schritten durch die kleine, von Sonnenblumen gebildete Allee ging, in ein bereitstehendes Taxi stieg, jedem noch einmal kräftig die Hand drückte und mit majestätischer Gebärde dem Chauffeur das Zeichen zur Abfahrt gab. Er sah die andern winkend am Straßenrand stehen, bis der Wagen verschwunden war und ihre Arme wie sterbende Schwanenhälse herniedersanken. Langsam drehte er sich um, nahm die Flasche mit dem Tropfenzähler vom Nachttisch und beugte sich nach hinten. »Ja, es war eine schöne Zeit«, dachte er, während er, starr nach oben blickend, den Tropfen entgegensah, die kalt und beizend in sein Auge fielen.

(1938)

Der Abschied