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Als Jacob auf dem Spiegelball von der bösen Königin in ihren Spiegel gerissen wird, ahnt er nicht, dass dies der Beginn einer ganz besonderen Reise ist. Wundersame Orte offenbaren sich ihm in den Sieben Weltmeeren, einer fantastischer als der andere. Dort begegnet er nicht nur Meerjungfrauen, Feen, Piraten und sprechenden Tieren, sondern auch sich selbst. Nur wenn er sich den Entscheidungen seiner Vergangenheit stellt, kann er deren Folgen in der Zukunft erkennen. Um die Gegenwart zu verändern, muss er sich seine Fehler eingestehen. Wie weit würde er gehen, um jene zu retten, die er liebt?
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Spiegelverkehrt
Ein letzter Wunsch
Die erste Begegnung
Tosende See
Eine lange Geschichte
Feenstaub und Badeschaum
Die magische Pfeife
Die Zukunft
Das Ende
Der Märchenschreiber
Schlussworte der Autorin
Danksagung
Maya Shepherd
Die Grimm Chroniken 22
„Der Märchenschreiber“
Copyright © 2020 Maya Shepherd
Coverdesign: Jaqueline Kropmanns
Lektorat: Sternensand Verlag /Martina König
Korrektorat: Jennifer Papendick
Illustration „Jacob“: Laura Battisti – The Artsy Fox
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor
E-Mail: [email protected]
Für Natascha, Kathi, Nicky, Veronika und Doreen,
die schon lange wissen wollten,
wie Jacob an seine Pfeife gelangt ist
Märchen erzählen Geschichten von tapferen Helden, die jeder Gefahr trotzen und siegreich aus dieser hervorgehen. Es gibt kein Davor und kein Danach. Niemand fragt sich, warum die Bösen so grausam sind. Noch weniger interessiert sich irgendjemand für die Person hinter der Erzählung. Jenen Menschen, der zu Feder, Tinte und Papier gegriffen hat, um diese Ereignisse festzuhalten, sie etwas zu beschönigen, Details zu verändern, einige Lügen einfließen zu lassen und manche Wahrheit zu verschleiern. Besondere Bücher werden mit Herzblut geschrieben, im wahrsten Sinne des Wortes – so auch dieses hier.
Ich bin der Mann hinter den Worten.
Ich bin der Märchenschreiber.
Ich bin Jacob Ludwig Grimm.
Jahrhunderte sind verstrichen, seitdem ich das Licht der Welt erblickt habe. Nicht alle waren von Bedeutung, so auch nicht die letzten fünfzehn Jahre meines Lebens, die ich in einer Psychiatrie verbrachte. Ich zählte Tage, Wochen, Monate, Jahre und übte mich in Geduld. Alles nur für eine zweite Chance, die ich bitter mit meinem Verstand bezahlte.
Vor meinem Pakt mit dem Teufel hätte ich vielleicht das Kleingedruckte besser lesen sollen, doch was hätte es gebracht, wenn jener in einer Welt voller Dunkelheit den einzigen Hoffnungsschimmer versprach? Ich hätte alles getan, um meinen Bruder Wilhelm zu retten. Das ist seit jeher der Sinn meines Lebens. Ob es mir je gelingen wird?
Wenn jeder dir sagt, dass nichts von dem, woran du glaubst, der Realität entspricht, beginnst du irgendwann selbst, an deiner Vergangenheit zu zweifeln. Sie erscheint dir mehr und mehr wie ein Märchen, das du zu oft erzählt hast.
Wilhelm war meine Geschichten leid. Er verschloss seine Ohren und sein Herz. Für mich hatte er nur noch Verachtung übrig, nicht wissend, dass ich sein Leben nicht in den Abgrund stürzen wollte, sondern es zu bewahren versuchte.
Manchmal ist die Wahrheit zu verrückt, um sie glauben zu können.
Wie ein Funkeln am Horizont war dagegen seine treue Freundin Maggy. Sie ist einer jener seltenen Menschen, die im Leben nach dem Außergewöhnlichen, dem Unerklärlichen, der Magie suchen. Während jeder Satz von mir Wilhelm weiter wegtrieb, wurde sie davon angezogen wie eine Motte vom Licht. Sie begegnete mir voller Wissbegier und bewahrte sich jede Erzählung wie einen Schatz.
Als der Tag der Entscheidung, auf den ich beinahe sechzehn lange Jahre gewartet hatte, immer näher rückte, musste ich mich dem Tod stellen, um eine Reise in die Vergangenheit antreten zu können. Nur durch ein Koma, ausgelöst von einem Biss in einen goldenen Apfel, gelangte ich im Geiste dorthin zurück, wo alles begann – nach Engelland.
Noch einmal war ich gezwungen, jede Entscheidung zu durchleben, die zu einem entsetzlichen Ende führte. Noch einmal musste ich verlieren, was ich am meisten liebte.
Als ich nach sieben Tagen im Krankenhaus wieder zu mir kam, schlug mein Herz nur noch halb so stark, mein Wille aber war ungebrochen. Gemeinsam mit Maggy, die mein Wissen nun teilte, ergriff ich die Chance zur Flucht und füllte meine Lungen mit dem Duft der Freiheit. Wir wandelten auf alten Pfaden in der neuen Welt und nutzten ein magisches Portal, um von dem Ort unserer Zuflucht an jenen zu gelangen, wo alles enden würde – von Berlin nach Königswinter.
Ein Puzzlestück fügte sich ins andere. Vergangenheit und Gegenwart trafen aufeinander. Die Vergessenen Sieben, die sowohl die Rettung als auch den Untergang für die Welt bedeuten konnten, waren beinahe wieder vereint. Das Ziel schien zum Greifen nah und war doch so fern. Ungeahnte Hindernisse stellten sich uns in den Weg. Die Eine, an die wir alle geglaubt hatten, zerbrach vor unseren Augen mit jedem Splitter ihres Herzens, den sie verlor, bis nur noch ein Schatten ihrer selbst blieb.
Ein letzter Akt der Verzweiflung führte uns in die Schlosskommende auf den Spiegelball. Mit einem Ritual sollte der Feind aus dem Körper der Frau, die mir mehr bedeutete als jede andere, vertrieben werden. Doch wir schlossen die falschen Bündnisse und wurden hintergangen.
Die falsche Königin setzte indes ihre Suche nach den Spiegelsplittern fort. Hunderte Seelen traten den Gang durch den unvollkommenen Spiegel an, bis nur noch wenige Splitter fehlten. Um das Unheil zu verhindern, sah ich mich gezwungen, sie in ihren Spiegel zu stoßen. Doch sie beschloss, nicht allein unterzugehen, sondern mich mit sich zu reißen. Die zerbrochene schwarze Oberfläche verschluckte mich …
Sonntag, 28. Oktober 2012
0.45 Uhr
Bonn, Schlosskommende Ramersdorf, Ballsaal
Jacob wusste nicht, was er erwartet hatte. Es war für gewöhnliche Menschen unvorstellbar, einen Spiegel durchschreiten zu können, aber da er nicht gewöhnlich war, schloss er das Unmögliche nicht aus. Dennoch überraschte ihn, was er auf der anderen Seite des Spiegels vorfand: nicht etwa ein bodenloses Loch, in das er fiel, oder ein schwarzes Nichts, sondern denselben Ballsaal, den er verlassen hatte.
Der Schritt durch den Spiegel glich eher einem Stolpern als einem Sturz.
Verwirrt ließ er seinen Blick über die wandhohen Vorhänge, die funkelnden Kronleuchter und die Rosengestecke an den Wänden gleiten. Aber nicht nur die Einrichtung war identisch, sondern auch die Personen, die sich darin aufhielten.
Auf der Tanzfläche waren die blutigen Fußspuren zu erkennen, welche von dem wilden Tanz stammten, den die Geister der toten Mädchen mit Elisabeth geführt hatten. Sie verharrten dort noch immer mit ihren durchscheinenden Körpern und hatten in ihrer Mitte die längst verstorbene Hexe Baba Zima gefangen.
Auch Maggy, die ihn mit großen, ungläubigen Augen anstarrte, war anwesend. Ebenso wie der Teufel mit seinem blauen Bart, der sich als Einziger nicht über Jacobs rasche Rückkehr zu wundern schien. Seinen Mund umspielte ein wissendes, allzeit amüsiertes Grinsen.
Beim nächsten Atemzug löste Elisabeth ihre Hand von Jacobs Unterarm. Blutige Striemen blieben dort zurück, wo sich ihre Nägel in seine Haut gegraben hatten. Er konnte nicht sehen, ob sie von der Situation genauso überrascht war wie er, weil sie sogleich die Flucht ergriff.
Mit ihren zertanzten Schuhen taumelte sie das Podest hinab, auf dem sich der unvollendete Spiegel befand, und humpelte durch den Saal auf den Ausgang zu. Ehe sie diesen jedoch erreichen konnte, schlug ein gewaltiger Windstoß die Türen zu und schloss sie in dem Saal ein.
Schockiert fuhr Elisabeth herum und starrte Maggy an, die ihre Hände erhoben hatte. Ihre Finger zuckten noch leicht von dem gewirkten Zauber.
»Du entkommst mir nicht«, zischte Maggy und ließ einen Dornenregen auf die falsche Königin niederprasseln.
Diese riss kreischend ihre Arme über den Kopf und schaffte es erst, einen Schutzschild zu beschwören, nachdem die ersten Dornen bereits ihre Haut aufgerissen hatten. Blut tropfte auf den Boden, das ihre Magie verstärken würde. Aber seltsamerweise holte sie nicht zum Gegenangriff aus, sondern duckte sich nur verängstigt.
Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Jacob bestürzt. Er konnte es nicht benennen, aber alles fühlte sich falsch an – wie vertauscht. Elisabeth, die sich krümmte, und Maggy, die austeilte.
Er löste sich aus seiner Starre und stieg das Podest hinab, als Elisabeth den Raum mit ihrer Blutmagie erbeben ließ. Mit den Händen fing er seinen Sturz ab.
Auch Maggy war gezwungen, ihren Dornenzauber einzustellen. Während der Boden unter ihren Füßen schwankte, bemerkte sie Jacob und ein ungewohntes Funkeln erhellte ihre braunen Augen. Sie riss ihren Arm hoch und ballte die Hand zur Faust. Im selben Augenblick bekam Jacob keine Luft mehr und sackte keuchend zusammen.
Was geht hier vor sich?, schoss es ihm verzweifelt durch den Kopf, als sich alles um ihn herum zu drehen begann.
Das Beben hörte sofort auf.
»Tu ihm nichts«, bat eine Stimme, die Jacob unter die Haut ging.
Mary.
Zwar beherrschte Elisabeth ihren Körper und somit auch ihre Stimme, dennoch war es dieser nie gelungen, Marys Mitgefühl und ihre Herzenswärme nachzuahmen. Doch nun war beides unverkennbar, dazu gesellten sich Angst und Sorge. Wie war das möglich?
»Verrate mir, wo die letzten drei Splitter sind, und niemandem wird etwas geschehen«, entgegnete Maggy derart berechnend und kalt, dass Jacob sie kaum wiedererkannte.
Auch der magische Griff um seinen Hals lockerte sich nicht, sondern schien sich immer fester darum zu schließen. Röchelnd rang er nach Atem, seine Sicht verschwamm und das Blut rauschte in seinen Ohren. Er konnte kaum noch klar denken.
Warum griff Maggy ihn an und was wollte sie mit den Spiegelsplittern? Gemeinsam hatten sie doch alles versucht, um zu verhindern, dass es Elisabeth gelang, den zweiten schwarzen Spiegel zu vollenden. In was für einer verrückten Version der Realität war er hier nur gelandet?
Ein paar quälende Atemzüge verstrichen, ehe Elisabeth, die wie Mary klang, resignierte. »Ich sage es dir«, gab sie sich geschlagen.
Plötzlich strömte wieder Luft in Jacobs Lungen. So viel, dass er husten musste. Seine Kehle brannte und nur langsam ließ das Schwindelgefühl nach. Als er sich auf die Seite rollte, schien sich immer noch der Boden unter ihm zu bewegen.
»Warum …«, krächzte er und verschluckte sich dabei prustend. »Warum tust du das?«, wollte er verständnislos von Maggy wissen.
Diese schien seine Frage zu erstaunen, denn sie musterte ihn argwöhnisch und ohne jede Spur von Mitleid. »Wir brauchen den Spiegel, um die wahre Königin zu befreien.«
Wir? Die wahre Königin? Ihre Worte ergaben für Jacob keinen Sinn. Es war doch Elisabeth, die den zweiten Spiegel unbedingt erschaffen wollte! Er wusste zwar nicht genau, was sie damit vorhatte, aber er war sich gewiss, dass es schlimme Folgen für sie alle haben würde. Maggy und er hatten ihre Leben riskiert, um das zu verhindern. Wie konnte es dann sein, dass sie nun nach den Splittern suchte?
»Mary?«, stammelte er ahnungslos.
»Natürlich«, bestätigte Maggy ihm und sorgte dadurch für noch mehr Kopfschmerzen bei Jacob.
Wenn Mary sich immer noch in einem Spiegel befand, musste es Elisabeth sein, die sich gerade um ihn gesorgt hatte. Warum sollte sie das tun?
Zittrig setzte er sich auf und blickte zu der einzigen Königin, die anwesend war. Blonde Strähnen hingen ihr zerzaust in das hübsche Gesicht. Entsetzen zeichnete ihre Miene, aber ihre Augen waren erfüllt von Zuneigung.
Das war nicht Elisabeth! Ausgeschlossen!
»Es tut mir leid, Jacob«, sprach diese ihn nun an und klang dabei völlig ungewohnt.
Es war lediglich eine feine Nuance, die nur für jemanden zu hören war, der Mary gut und lange kannte, aber sie machte den Unterschied. Maggy hatte recht: Das war nicht Mary. Aber sie klang auch nicht wie die böse Königin. Vielleicht lag es daran, dass sie in diesem Augenblick nicht böse war.
»Ich kann nicht zulassen, dass sie dir etwas antut. Du bist mein einziger Freund.«
Zum ersten Mal wirkte Elisabeth aufrichtig – aufrichtig besorgt.
»NEIN«, kreischte auf einmal Baba Zima, die sich in der Gewalt der rot gekleideten Tänzerinnen befand. »Mary darf den Spiegel nicht verlassen!« Furcht schwang in ihrer krächzenden Stimme mit.
Nun verstand Jacob gar nichts mehr. Er wusste nur eins: Dies war nicht die Realität, die er kannte. Es war nur eine verdrehte Version davon, in der alles spiegelverkehrt zu sein schien. Die Bösen waren plötzlich gut und demnach mussten die Guten wohl böse sein, sofern sich das eine überhaupt klar vom anderen trennen ließ. Wie sagte der Teufel immer so schön? Das Böse ist Ansichtssache.
Sein Blick glitt zu ebenjenem, der sich erstaunlich ruhig verhielt, beinahe wie ein teilnahmsloser Zuschauer.
War auch er ein anderer? Zumindest schien er der Einzige zu sein, der verstand, was vor sich ging.
»Auf welcher Seite stehst du?«, fuhr Jacob ihn an.
Auch wenn er es nicht gern zugab, musste er sich eingestehen, dass der Teufel ihm in der Vergangenheit schon öfter zu Hilfe geeilt war. Er hatte Wilhelm ein Herz geschenkt, wohl gemerkt, nachdem er es ihm zu einer anderen Zeit gestohlen hatte. Ihm verdankten sie alle, dass die Geschichte eine Chance auf ein neues Ende erhalten hatte, auch wenn Jacob dafür mit seinem Verstand einen hohen Preis hatte zahlen müssen. Der Teufel war es auch gewesen, der die toten Mädchen auf den Ball geführt hatte. Ohne sie wäre es Elisabeth vermutlich gelungen, sowohl Maggy als auch Jacob zu töten. Ein gewisses Bündnis ließ sich in diesen Handlungen erkennen, wenn es auch nur darauf beruhte, dass sie in Elisabeth einen gemeinsamen Feind hatten.
Galt das auch für diese Realität?
Das Grinsen des Teufels wurde breiter. »Endlich begreifst du«, verkündete er, als habe er nur darauf gewartet. »Du musst verstehen, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen. Jede Entscheidung, die wir treffen, hat Folgen. Wenn wir nur einen anderen Weg gewählt hätten, könnte die Geschichte eine ganz andere sein.« Er sah ihn scharf an. »DU könntest jemand anderes sein.«
Jacob schüttelte verärgert den Kopf. Wie üblich sprach der Teufel in Rätseln, anstatt sich klar auszudrücken. »Was soll ich tun? Wie komme ich zurück?«
»Die Vergangenheit ist vergangen. Wir können sie nicht ändern, sondern nur aus ihr für die Zukunft lernen«, erwiderte dieser scheinheilig in dem Wissen, dass auch diese Antwort Jacob nicht helfen, sondern nur verwirren würde.
Ehe Jacob genauer nachhaken konnte, ging Maggy dazwischen. »Ich habe keine Ahnung, worüber ihr da redet, aber es interessiert mich auch nicht.« Sie fixierte Elisabeth mit ungeduldigem Blick. »Verrate mir den ersten Namen oder Jacob wird erfahren, was es bedeutet, auf der falschen Seite zu stehen.«
Der Teufel lachte gehässig auf, es klang nach Beifall. Dann schlug er in seine Hände und verschwand in einer Rauchwolke.
Die kurze Ablenkung nutzte Baba Zima, um sich von ihren Peinigerinnen loszureißen. Es brauchte nur einen Atemzug und sie erhob sich als schwarzer Rabe krächzend in die Höhe. Anstatt die Flucht zu ergreifen, stürzte sie sich auf Maggy und hackte mit ihrem spitzen Schnabel nach deren Gesicht. Erschrocken riss Maggy ihre Arme hoch und versuchte, den Vogel durch einen Blitz abzuwehren. Die Luft knisterte und es roch verbrannt, aber sie verfehlte das Tier.
»Jacob!«, schrie Elisabeth und deutete hinter sich auf die Türen, die den Ballsaal vom Korridor trennten.
Das war ihre Gelegenheit! Wenn sie jetzt nicht flohen, würde es ihnen nicht mehr gelingen.
Auch wenn es Jacob schwerfiel, ihr zu vertrauen, rannte er nun in ihre Richtung. Solange Maggy mit Baba Zima beschäftigt war, konnte sie ihn nicht daran hindern. Dafür schwebten nun die toten Mädchen auf ihn zu. Sie verteilten sich über den Saal und streckten ihre Hände nach ihm aus, waren aber nicht schnell genug, um ihn einzuholen.
Elisabeth riss die Türen auf und floh aus dem Saal, Jacob dicht hinter sich. Er hatte so viele Fragen an sie, aber konnte ihr keine davon stellen, da sie nicht stehen blieb, sondern weiterrannte. Die Tänzerinnen waren hinter ihnen her und Baba Zima würde Maggy nicht lange aufhalten können.
Jacob sah gerade noch Elisabeths golden funkelndes Kleid hinter einer Ecke verschwinden, die zu den Treppen führte.
Das erstaunte ihn. Warum floh sie nicht ins Freie? Sie hätten versuchen können, ihre Verfolger im angrenzenden Wald abzuhängen, stattdessen blieb sie im Gebäude, wo sie in der Falle saß. Gab es hier etwas, das sie ihm zeigen wollte? Oder jemanden?
Hastig erklomm er die Stufen. Dabei wagte er nicht, sich umzusehen. Die Geister bewegten sich geräuschlos, aber er war gewiss, dass sie noch nicht von ihm abgelassen hatten.
Als er das erste Stockwerk erreicht hatte, spähte er durch das Treppengeländer nach oben und begegnete Elisabeths Blick aus dem zweiten Stock, der zu sagen schien: Folge mir, ehe sie sich abwandte und in der Dunkelheit verschwand.
Jacobs halbes Herz pochte heftig in seiner Brust und er schnappte japsend nach Luft, als er weiterrannte. Er ignorierte die Warnsignale seines Körpers, der über die Jahrhunderte mehr Schaden genommen hatte, als das äußerliche Erscheinungsbild vermuten ließ. Aber er konnte darauf keine Rücksicht nehmen, sondern musste zu Ende bringen, was er begonnen hatte.
Ächzend erreichte er den Korridor, der von keinem künstlichen Licht erhellt wurde. Es gab nicht einmal Fenster, da zu beiden Seiten Türen abgingen. Der funkelnde Lichtpunkt, der in diesem Augenblick am Ende des Ganges in einem der Zimmer verschwand, war mehr eine Vermutung als Gewissheit.
Dennoch zögerte Jacob nicht und rannte darauf zu. Diesen Weg war er heute schon einmal gegangen, deshalb wusste er genau, was sich in dem Raum verbarg, und es ergab irgendwie Sinn, dass Elisabeth jenen aufsuchte.
Das Spiegelzimmer.
Würde er dort Mary begegnen? War sie es, die Elisabeth ihm zeigen wollte? Wie sollten sie verhindern, dass die Geister der toten Mädchen sie übermannten? Stolperte Jacob geradewegs in eine Sackgasse?
Die Tür knarrte, als er über die Schwelle trat. Unbewusst hielt er den Atem an, in Erwartung dessen, was nun kommen würde.
Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Von allen Seiten starrte er sich selbst entgegen. Die Ansammlung von Spiegeln zeigten allesamt ihn. Sein eigener Anblick ließ ihn erschaudern. Obwohl überall nur er zu sehen war, fühlte er sich von seinen Spiegelbildern beobachtet.
Waren da nicht winzige Unterschiede? War es das, was der Teufel gemeint hatte? Sobald er eine Entscheidung traf, entstand in einer anderen Realität eine neue Version von ihm. Diese Ebenbilder glichen sich zwar im Kern, aber konnten im Detail dennoch verschieden sein.
Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn Jacob Mary niemals begegnet wäre? Welchen Lauf hätte die Geschichte ohne ihn genommen? Wären sie vielleicht nie an den Punkt gelangt, an dem sie heute waren?
Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr, die nicht von ihm stammen konnte. Er fuhr herum und sah gerade noch einen goldenen Stofffetzen in einem der Spiegel verschwinden. Aber es war nicht irgendein Spiegel, sondern DER Spiegel.
Der schwarze Spiegel.
Jener, in dem Mary gefangen gehalten wurde.
Alle anderen Spiegel waren auf ihn ausgerichtet. Am Boden lagen noch die Kerzen und Salzreste von dem missglückten Ritual. Auch in dieser Realität schienen Maggy und andere versucht zu haben, Mary zu befreien.
Wer war wohl noch dabei gewesen? Hatte er auch dazugehört? Eher unwahrscheinlich, wenn er auf derselben Seite wie Elisabeth stand.
Hatte er richtig gesehen und sie war in dem Spiegel verschwunden?
Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, was das bedeuten könnte, denn die toten Mädchen würden sich jeden Moment auf ihn stürzen. Wenn der Weg durch den Spiegel seine einzige Fluchtmöglichkeit darstellte, musste er sie ergreifen.
Mit klopfendem Herzen trat er näher an die schwarze Oberfläche heran, sodass er sich selbst in die Augen blicken konnte. Es war ihm seit jeher unheimlich, sich selbst zu betrachten, weil er sich ohnehin nie so sehen konnte, wie andere ihn wahrnahmen.
Was blieb ihm verborgen, das andere bemerkten? Er hatte immer geglaubt, sich selbst gut zu kennen, aber mittlerweile war er sich da nicht mehr so sicher. Gab es wohl auch eine Version von ihm, die böse war?
Er legte seine Hand gegen das kühle Glas und obwohl es ihn nicht mehr verwundern sollte, zog er überrascht die Luft ein, als seine Finger hindurchglitten. Im Spiegel sah er, wie die Tänzerinnen in ihren mohnblumenroten Kleidern in das Zimmer schwebten. Ihm blieb keine Zeit mehr, zu überlegen, sondern er musste handeln.
Beherzt setzte er einen großen Schritt in die Ungewissheit.
Dieses Mal fiel er.
Ein heftiger Wind erfasste ihn und riss ihn in die Tiefe. Seine Kleider flatterten in der Finsternis, die nur einen Atemzug lang anhielt. Er stürzte in eine Art erleuchteten Schacht, beinahe wie ein Flur, nur dass dieser senkrecht anstatt waagerecht verlief.
Der Schock saß ihm tief in den Knochen, sodass er einen Moment brauchte, um seine Umgebung gänzlich zu erfassen.
Spiegel, bunte Bilderrahmen, Bücher und allerlei ungewöhnliche Gegenstände säumten die Wände um ihn herum. Er fühlte sich fast wie in einem Museum und wenn das Rauschen in seinen Ohren nicht gewesen wäre, hätte er glatt vergessen können, dass er fiel und nicht aufrecht einen Gang entlangspazierte.
Langsam realisierte er, dass alles, was an ihm vorbeirauschte, von Wichtigkeit war: goldene Äpfel, Märchenbücher, weiße und rosafarbene Rosen in gläsernen Vasen. Aber am faszinierendsten waren die Bilderrahmen, denn sie zeigten Ausschnitte seines eigenen Lebens, als wären die bedeutendsten Momente in einem übergroßen Fotoalbum zusammengefasst worden.