4,99 €
Cassandra 22007 hält weiterhin die Welt in Atem. Nach der Zerstörung großer Teile von Los Angeles kämpfen die verbliebenen Bewohner um ihr Überleben. Unter ihnen sind auch Lee Rifkin, der den wichtigsten Raketenstart seiner Karriere nicht verpassen darf, und Branson, der sich einer Wahrheit gegenüber sieht, die sein Leben für immer verändern wird. Im fernen Sibirien dringt Jenna Haynes derweil tiefer in die Containment Zone Ulan-Ude vor, wo die Verseuchung einen unheilvollen Ausblick darauf gibt, was Los Angeles noch erwartet. Doch in ihrem Heimatland ahnt man nicht, wie groß die Gefahr ist - und sie hat keine Möglichkeit, Nachrichten aus der abgeriegelten Zone zu senden oder dem Versuch der russischen Regierung zu entkommen, das gesamte Gebiet zu vernichten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Joshua Tree
Kapitel 1: Lee3
Kapitel 2: Branson15
Kapitel 3: Jenna27
Kapitel 4: Lee51
Kapitel 5: Branson63
Kapitel 6: Jenna75
Kapitel 7: Lee95
Kapitel 8: Branson109
Kapitel 9: Jenna121
Kapitel 10: Lee139
Kapitel 11: Branson153
Kapitel 12: Jenna165
Kapitel 13: Lee183
Kapitel 14: Jenna195
Kapitel 15: Branson215
Kapitel 16: Jenna233
Kapitel 17: Branson255
Kapitel 18: Jenna273
Kapitel 19: Lee293
Epilog: Branson303
Epilog: Lee307
Epilog: Jenna311
Nachwort315
Glossar317
Personenverzeichnis321
Kapitel 1: Lee
»Mir geht es gut. Wirklich!«, log Lee und rollte mit den Augen, als die Orthopädin mit dem strengen Blick seinen Arm nach einer viel zu langen Funktionsdiagnose losließ. Es ging ihm tatsächlich schon besser als während des Gesprächs mit Musk vor einigen Tagen, wo er von den Monaten im All noch ein wenig desorientiert und schwach gewesen war. Die Befindlichkeitskurve ging steil bergauf, und das war es, worauf es ankam. Das bisschen Schwindel und die gelegentlichen Momente des Unwohlseins waren nicht der Rede wert. Immerhin war er vor nicht einmal zwei Wochen mit einer Notfallrückkehr zur Erde als Sternschnuppe vom Himmel gefallen.
»Wir werden sehen. Morgen früh um sechs komme ich wieder, und wir wiederholen die Tests«, antwortete die Ärztin streng, machte ein paar Eingaben auf ihrem Tablet und verließ das Untersuchungszimmer. Ehe die Tür ins Schloss fallen konnte, kam Delilah, seine persönliche Assistentin bei SpaceX – ebenfalls mit einem Tablet unter dem Arm – herein und lächelte fröhlich, als sie sah, wie er von der Liege herunterrutschte und seine futuristische weiß-schwarze Jacke mit dem Firmenlogo überzog.
»Guten Morgen, Mr. Rifkin!«
»Ich sagte doch, du sollst mich Lee nennen.«
»Natürlich, Lee. Hast du gut geschlafen? Fühlst du dich gut?«
»Bestens!«, gab er zurück und lächelte wie zum Beweis. »Kann ich heute mit Sarah und Markus sprechen?«
Delilahs Lächeln verwandelte sich in einen entschuldigend verzogenen Mund.
»Es tut mir leid, aber wir befinden uns immer noch in Gesprächen mit der NASA über die Art und Weise, wie und wann wir mit ihnen sprechen können«, erwiderte sie bedauernd.
»Aber ihr habt sie doch schon abgeworben, oder?«
»Ja, schon, aber …«
»… die NASA weiß noch nicht, dass ihr mich zum Kommandanten eurer Cassandra-Mission gemacht habt«, dachte er laut und seufzte nickend. »Ich verstehe.«
»Es ist nur so, dass wir ein gewisses Risiko mit deiner Anstellung eingehen, weißt du?«
»Die NASA hat mich gefeuert. Dass ich bei der privaten Konkurrenz anheuere, wird sie trotzdem ärgern, auch wenn ihr eng mit ihnen verflochten seid. Also wollt ihr mich nicht direkt mit Sarah und Markus sprechen lassen, um keine Wellen zu schlagen.«
»So ungefähr. Wir sind nicht sicher, was zu eurem Zerwürfnis geführt hat, aber es scheint zumindest von Seiten des Direktors ein ziemlich tiefes zu sein.«
»Wie habt ihr es überhaupt geschafft, diesen Stunt in die Wege zu leiten? Ich meine, einen ESA-Mann und eine NASA-Frau während einer laufenden Mission abzuwerben – das ist doch unvorstellbar?«, fragte er mit ehrlicher Neugierde.
»Das liegt wohl an den besonderen Umständen«, erwiderte Delilah achselzuckend. »Cassandra hat alles verändert. Das neue Weltraumrennen ist im besten Fall verrückt, und alle wollen so viele Leute wie möglich zu dem Asteroiden hochbringen. Ich denke, dass sowohl ESA als auch NASA froh waren, dass sie Geld sparen konnten. Die Astronauten aus dem laufenden Betrieb mit eigenen Kapseln abzuholen, die gerade erst in den finalen Testphasen sind, wäre teuer und zeitaufwendig gewesen. Sie zurückzuholen aber auch, da sowohl die Sojus als auch die Dragon weg sind, dass sie keine Möglichkeit haben, den beiden eine kurzfristige Rückkehr zu ermöglichen.«
»Wir aber schon.«
Delilah lächelte wieder. Diesmal sehr breit.
»Was?«, fragte er.
»Du hast wir gesagt. Ich freue mich, dass du dich schon so mit uns identifizierst.« Ehrliche, beinahe kindliche Freude strahlte aus ihren großen grünen Augen. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie als eine hübsche Sekretärin mit viel Make-up und wenig Grips abzutun. Aber sie hatte einen Master in Elektrotechnik vom MIT und hatte bis zu ihrer Abberufung als seine persönliche Assistentin als leitende Ingenieurin für die Bordelektronik der nächsten Dragon-Generation gearbeitet. Da sie höchstens Mitte dreißig war, ließ sich das nur mit herausragenden fachlichen Leistungen erklären.
»Ich bin mit eurer Rakete zur ISS geflogen, wurde von euch an eurer Dragon ausgebildet und habe die Hälfte der Zeit da oben mit Leuten von euch gequatscht. Ich bin ja schon immer fast zur Hälfte SpaceX-Astronaut gewesen«, erwiderte er grinsend. »Es ging aber nicht nur um Geld, oder?«
»Bei der Entscheidung, Mrs. MacDougall und Mr. Markus Wlaschiha während einer laufenden Mission zu uns ziehen zu lassen?«
Er nickte.
»Nein. Zwar würde das niemand zugeben, aber ich glaube, dass es sowohl für die US-Regierung als auch für die Europäer nach einer guten Gelegenheit aussieht, Einfluss auf unsere Mission auszuüben. Als sie gehört haben, dass es auch eine private Mission geben wird, die keinen staatlichen Interessen dient, wollten sie …«
»… Kontrolle und einen Fuß in der Tür«, beendete er ihren Satz und brummte missmutig. »Klingt nach Politik.«
»Ja. Wir hatten uns schon gedacht, dass es so laufen könnte.«
»Macht ihr euch keine Sorgen? Ich meine ich wurde gefeuert und stehe nicht mehr hoch im Kurs, aber Sarah und Markus? Es wird Kontaktaufnahmen geben.«
»Oh, ganz sicher. Wir kennen beide und sind uns sicher, dass sie moralisch integer sind, genau wie du«, sagte Delilah unbeschwert. »Allerdings haben wir auch nicht vor, etwas Geheimes zu tun. Wir werden den Großteil der Mission live ins Internet übertragen. Elon ist der Meinung, dass die Weltöffentlichkeit an allem teilhaben sollte, was wir in Erfahrung bringen.«
»Ihr nehmt ihnen also den Wind aus den Segeln, indem ihr gar nicht vorhabt, den anderen zuvorzukommen oder mit ihnen in Konkurrenz zu treten«, fasste Lee zusammen und schmunzelte. »Und ihr zeigt alles live, womit sämtliche Probleme, die von außen an euch herangetragen werden, sofort für jeden sichtbar sind. Clever.«
»Wir fühlen uns der Menschheit verpflichtet. So war es schon immer.« Delilahs Miene veränderte sich. Etwas schien sie zu belasten.
»Was ist?«
»Die NASA will immer noch einen Bericht von dir, nehme ich an. Zu dem Unfall da oben, meine ich.«
»Die NASA? Oder ihr?«
»Für uns ist es nicht entscheidend, da unsere Hardware nicht beschädigt wurde. Aber sobald wir mit deiner Nominierung an die Öffentlichkeit gehen, wird man in Houston und Washington anfangen, Druck auf uns auszuüben.«
»Wie viel Druck können die schon machen, wenn die ganze Welt zusieht und zuhört?«
»Wir zahlen hier unsere Steuern«, war alles, was sie antwortete, und er seufzte verstehend.
»Ist gut. Wenn die Anfrage kommt, stehe ich zur Verfügung«, versicherte er ihr schließlich.
»Fantastisch. Nach dem Frühstück können wir direkt mit der Missionsplanungsrunde beginnen, einverstanden?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Eigentlich nicht, nein. Außer, du möchtest als Kommandant nicht in jeden Schritt eingebunden werden.«
»Ich beeile mich mit dem Essen.«
Delilah grinste und ging hinaus.
Er überlegte für einen Moment, ob er sie fragen sollte, ihm Gesellschaft zu leisten, aber vermutlich hätte das die falschen Signale gesendet und komisch gewirkt. Schließlich war er sich selbst nicht einmal sicher, weshalb er im Moment so ungern allein sein wollte. Jedes Mal, wenn jemand in sein Zimmer kam, oder er einen Termin hatte – und das war seit gestern eigentlich rund um die Uhr der Fall – freute er sich darauf, nicht für sich bleiben zu müssen. Waren es die Erinnerungen an den Einsatz am Satelliten? Der naheliegende Grund? Die Enthüllung, dass das Pentagon ballistische Waffen im Orbit stationiert hatte? Oder der Verdacht, dass es sich bei dem mysteriösen Unglück im Nordwesten Chinas um einen Einsatz genau dieser Art Projektil gehandelt hatte? Die Bilder hatte er im Krankenhaus gesehen, und offenbar rätselten noch immer viele Nachrichtensender und Experten darüber, ob es sich um einen sehr kleinen Meteoriten, ein Mikrofragment von Cassandra gehandelt haben könnte, das ein ganzes – zum Glück wohl unbewohntes – Tal im chinesischen Altay in Schlacke verwandelt hatte. Lee wollte es geradezu glauben, immerhin machten ihm die Leute Angst, die schon von Anfang an geunkt hatten, dass es sich bei dem Asteroiden – der in den Medien ständig fälschlicherweise Meteor genannt wurde – um ein außerirdisches Raumschiff handeln müsse. Zwar fand auch er keine Erklärung dafür, wie ein natürliches Objekt, selbst unter allen möglichen Zufällen des Kosmos, in einen Orbit um die Erde einschwenken konnte, aber das bedeutete noch lange nicht, dass die nächstbeste Erklärung die richtige war. Außerirdische? Wohl kaum. Die wären wohl mit einem Raumschiff gekommen und nicht mit einem großen Steinklumpen. Von Cassandra gab es genügend gute Aufnahmen, seit er sich zwischen sie und den Mond gesetzt hatte, und die glichen nun einmal einem massiven Stein und keinem schnittigen Schiff. Außerdem hätte sonst wohl schon jemand mit ihnen gesprochen, anstatt dass sie einfach kleinere Kiesel verloren, die in die Ozeane fallen.
Lee seufzte, zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und ging zum Frühstück. Die Kantine im Hauptquartier in Hawthorne war erstaunlich groß und erinnerte ihn an eine Art Apple Store für Ingenieure, mit seinen antiseptischen Metallwänden und Tischen und Stühlen im Bauhausstil. Zu dieser Zeit wären normalerweise große Teile der Belegschaft noch im Bett oder gerade auf dem Weg zur Arbeit, doch in diesen Tagen schliefen die meisten unter ihren Schreibtischen, wie er mit eigenen Augen gesehen hatte. Alle hatten Angst etwas zu verpassen, und der Zeitplan für die Mission, die alle hier realisiert sehen wollten, war so eng gestrickt, dass er geradezu unrealistisch wirkte.
Er schlang eine Portion warmes Porridge herunter und trank einen Orangensaft, ehe er in sein Büro zurückkehrte, das gleichzeitig mit Luftmatratze und einem kleinen Rollschrank sein provisorisches Zimmer war. Dort holte er seine Kulturtasche, um sich auf den Toiletten die Zähne zu putzen, wobei er beinahe in Delilah hineinrannte, die auf dem Flur auf und ab ging.
»Ah! Hallo, Lee. Bist du so weit?«
»Zufällig gerade hier?«, scherzte er, und sie schürzte belustigt die Lippen.
»Das Team ist schon versammelt. Wollen wir?«
»Klar.« Er hob die Kulturtasche hoch. »Ich schmeiß das nur noch ins Zimmer.«
Das Meeting fand in einem der kleinen Konferenzräume statt, von denen es in den oberen Etagen gleich mehrere auf einem Flur gab. Obwohl er sicher war, dass die Mission »Black Dot«, wie SpaceX ihr Vorhaben in Anlehnung an Cassandras Anblick als schwarzer Fleck auf dem nächtlichen Mond getauft hatte, die höchste Priorität der Firma besaß, deutete nichts in diesem Raum darauf hin. Der zugewiesene Chefingenieur, Bobby Zurkowski, war ein kleiner Mann in den Vierzigern und sah auf eine liebenswürdige Art aus wie eine Mischung aus College-Kiffer und Ashton Kutcher. Die modische Strickjacke wollte nicht so recht zu der aus der Zeit gefallenen Cordhose passen, und seine Haare waren zu lang und zu ungepflegt, um die teure Accessoirebrille zu rechtfertigen. Er stand vor einer großen Displaywand und breitete gerade drei Tablets vor sich auf dem Tisch aus. Sechs weitere Personen saßen dort bereits und sahen auf, als Lee mit Delilah hereinkam. Sie stellten sich der Reihe nach vor – meist recht junge Leute – und er vergaß ihre Namen sofort wieder. Zwei waren Luft- und Raumfahrtingenieure, einer Astrophysiker, einer Geophysiker, eine Ingenieurin für Raketensicherheit und eine Wartungstechnikerin.
»Hallo, Lee!«, begrüßte ihn auch Bobby schließlich und schüttelte ihm die Hand, ehe er ihm bedeutete, sich zu setzen. »Euch habe ich ja schon Hallo gesagt«, sagte er zu den anderen und holte Luft, bevor er weitersprach. »Also, leider ist Lee heute der Einzige unserer Crew für Mission Black Dot, aber Sarah und Markus sind uns im verschlüsselten Livestream zugeschaltet.«
»Ich dachte wir gehen komplett an die Öffentlichkeit?«, fragte Lee mehr aus Spaß.
»Ja, äh, aber nicht in der Missionsplanung. Ich denke, das wäre doch ein wenig trocken für die meisten.«
»Schon klar. Wir wollen ja auch nicht unsere Hand zeigen, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat.« Die anwesenden Mitarbeiter kicherten.
»Stimmt, stimmt.« Bobby drückte den Knopf in seiner Hand, und auf der Displaywand erschien eine große Teleskopaufnahme von Cassandra 22007. Wie ein grob geformter Klumpen aus schwarzem Basalt schälte er sich vor der leuchtenden Silhouette des Mondes aus dem Nichts. Einfache Strukturen wie Höhen und Tiefen, kleine Täler, die in Schatten lagen, und schroffe Kanten waren zu erkennen. »Wie ihr wahrscheinlich wisst, handelt es sich bei Asteroiden nicht wie früher angenommen um massive Steine, die durchs All fliegen, sondern eher um so etwas wie lose Geröllhaufen, die von ihrer Gravitation zusammengehalten werden. Sie besitzen, wenn überhaupt, nur eine kaum merkliche Rotationsgeschwindigkeit, weil sie sonst schlicht auseinanderfallen würden. Wie man auf dieser Aufnahme der Europäer vom ESO sehen kann, gibt es auch auf Cassandra 22007 mindestens drei Impaktkrater. Das verrät uns, dass es sich bei unserem mysteriösen Besucher aus dem Kuipergürtel zumindest in seiner Grundbeschaffenheit um einen recht ordinären Himmelskörper seiner Art handelt. Ein massiver Körper würde beim Einschlag eines anderen, kleineren Asteroiden aufgrund der Stoßwellen auseinanderbrechen, ein lose zusammenhängender dagegen aber verteilt die Aufschlagenergie und absorbiert sie. Wir haben es also definitiv nicht mit einem Raumschiff zu tun, wie Fox News es gerne hätte.«
Gekicher am Tisch. Lee schmunzelte, obwohl er sich sicher war, nicht der Einzige zu sein, der auch diese Möglichkeit unweigerlich in seinem Kopf hin und her bewegt hatte. Überraschenderweise ging Bobby direkt darauf ein, ohne, dass jemand etwas gesagt hätte.
»Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass wir es nicht mit einem Raumschiff zu tun haben, aber möglicherweise mit einem Objekt, das von jemandem oder etwas Unbekanntem in unsere Richtung geworfen wurde. Dass ein Himmelskörper in eine Umlaufbahn mit der Erde einschwenkt, zumal noch zwischen den beiden Gravitationsakteuren Erde und Mond, geht gegen null, und zwar so sehr, dass ich meine Hand ins Feuer legen würde, dass es im Universum noch nie vorgekommen ist. Also will ich zumindest niemanden dumm nennen, der über kleine grüne Männchen nachdenkt.« Es wurde leise am Tisch, vereinzelt raschelte Kleidung. »Gut. Also, wir wissen, dass wir es den bisherigen Daten zufolge mit einem normalen Asteroiden zu tun haben, der sich unnormal verhält.« Das Bild wechselte und zeigte fünf winzige Objekte, die sich von Cassandra lösten und Staubwölkchen hinter sich herzogen. »Die Fragmente hingegen lassen sich nicht erklären. Durch das recht abrupte Bremsen des Hauptkörpers hätten sich einzelne Stücke lösen können, aber nicht nachdem er bereits so lange im Orbit verharrt hat. Seltsam ist auch«, er markierte mit seinem Laserpointer eine pechschwarze Stelle in einem der Krater, »dass sämtliche Fragmente sich offenbar aus dieser Stelle gelöst haben. Was ihnen den Impuls gegeben hat, um auf die Erde zu stürzen, weiß niemand.«
»Viel ist nicht nötig, aufgrund der Anziehung, die die Erde auch da draußen noch ausübt«, sprang Lee ein. Er hatte gar nicht bemerkt, wie er sich beim Anblick der Bilder nach vorne gebeugt hatte und versuchte, sich jetzt etwas zu entspannen. »Aber doch genug, dass sie in gerader Linie fliegen und nicht von der Atmosphäre abprallen wie Flummis, sondern sie durchstoßen. Das ist auch der Grund, warum die Wiedereintrittsphasen unserer Raumschiffe exakt vorberechneten Vektoren und Geschwindigkeiten folgen müssen.«
Als alle ihn ansahen und schwiegen, hob er entschuldigend die Hände.
»Sorry, ich wollte nicht unterbrechen und ›Ich weiß was!‹ rufen. Es geht mir nur darum, zu unterstreichen, dass wir es wirklich nicht mit einem natürlichen Phänomen zu tun haben können, zumindest nicht innerhalb des Physikhorizonts, den wir als Menschen heute besitzen. Und der ist deutlich größer, als es unsere technologischen Errungenschaften vermuten lassen.«
»Und genau deswegen müssen wir da hoch.« Bobby tippte mit dem Finger gegen den Bereich, auf dem der Krater mit dem schwarzen Loch in der Mitte zu sehen war, woraufhin helle LCD-Flecken kurz nachglühten, als leuchte ein Licht darin auf. »Und zwar genau dorthin.«
»Wir sollen in dem Krater landen? Das ist die Landezone?«, fragte eine der Mitarbeiterinnen am Tisch.
»Ja. Das ist die Landezone, die ich mit dem Boss ausgewählt habe.«
Gemurmel breitete sich am Tisch aus, bis einer der Ingenieure eine Hand hob und kurz darauf mit gerunzelter Stirn zu sprechen begann: »Äh, ist das wirklich eine so gute Idee? Ein großer Teil des Kraters befindet sich in Dunkelheit – dieser ausgedunkelte Bereich, aus dem die Fragmente stammen. Auf einem Asteroiden zu landen, ist schon schwer genug, aber sicher ist doch der ebenste, am leichtesten zu berechnende Landepunkt die beste Wahl?«
»Darf ich?«, fragte Lee an Bobby gerichtet, der gerade zu einer Antwort anhob und überrascht dreinblickte, schließlich aber aufmunternd nickte.
»Klar.«
Lee wandte sich an den Ingenieur.
»Wir fliegen da hoch, um Antworten auf unsere brennendsten Fragen zu bekommen, und die lauten aktuell: Was ist das für ein Asteroid, und was hat es mit den Fragmenten auf sich, mit denen er uns bombardiert? Da Cassandra einen Äquatordurchmesser von über dreiundzwanzig Kilometern hat und über keine nennenswerte Schwerkraft verfügen dürfte, ist jeder andere Landepunkt zu weit weg. Der Krater ist also sowohl eine extrem riskante als auch pragmatische Wahl. Wir könnten nicht einfach von einer Landezone herspazieren, wir müssten mit Jetpacks hinfliegen. Und selbst die Landung wird interessant, denn es wird eigentlich gar keine, sondern eher ein Andocken, schließlich wird unser Raumschiff nichts dort halten. Je weniger Kaltgas wir verbrauchen, um persönlich in den Krater zu gelangen, desto wohler werden wir uns da draußen fühlen, das kann ich euch aus Erfahrung sagen.«
Die Runde schien zwar nicht weniger angespannt als zuvor, begegnete ihm jedoch mit Kopfnicken, und die ersten von ihnen zückten ihre Tablets. Vermutlich hatten sie mit solch schwierigen Aufgaben bereits Erfahrung. Bei der NASA wäre dieses Planungsmeeting ganz anders verlaufen.
»Wir gehen davon aus, dass die NASA, die Europäer, Russen und Chinesen alle in der Nähe des Kraters landen werden, da dort recht flache Bereiche vorzufinden sind. Sie haben politischen Druck im Nacken und können sich keine Fehler leisten. Wir sind in einer denkbar günstigeren Position«, erklärte Bobby.
»Danke auch«, brummte Lee und betretenes Schweigen machte sich breit, ehe er abwinkte. »War nur ein Scherz.«
Der Missionsleiter schien erst jetzt zu begreifen, was er damit impliziert hatte, und ihm entglitt die Miene.
»Oh«, machte er betroffen. »Entschuldigung, Lee, so meinte ich das nicht. Wir sind absolut auf eure Sicherheit bedacht. Wenn wir nicht absolut sicher wären, dass wir eine Landung in dem Krater hinbekommen können, dann würden wir es nicht vorschlagen.«
»Friede, Bobby«, lachte Lee. »Ich habe doch nur Spaß gemacht. Ich bin selbst dafür, dass wir den Krater anvisieren. Klar ist, dass wir einen Weg werden finden müssen, wie wir unsere Raumfähre in Cassandras Oberfläche verankern. Mit Manöverdüsen an Ort und Stelle bleiben können wir aufgrund der Gasschübe, die das Regolith aufwirbeln werden, vergessen. Wenn dann noch jemand von uns rausgeht und in den Strom gerät, ist er ruck zuck auf und davon. Ob wir Harpunen einbauen oder einen Korkenzieher – irgendwie werden wir uns fixieren müssen – da ist der Kratergrund so gut wie jeder andere Ort.«
»Wenn wir nicht gerade in die Schussbahn der Fragmente geraten, die von da starten«, sagte die Wartungstechnikerin. In Lees Richtung fügte sie hinzu: »Besser gesagt: Wenn ihr nicht gerade in die Flugbahn der Fragmente geratet.«
Kapitel 2: Branson
»Hallo?«, murmelte Johnny mit belegter Stimme in sein Telefon und weckte Branson damit auf. Der junge Maschinist lag auf dem Fußboden der Absteige, in der sie untergekommen waren, halb zugedeckt mit einem Badehandtuch und zwischen einem halben Dutzend Bierflaschen. »Ja. Ich bin Hokkaido.«
»Er soll das Maul halten!«, schimpfte Joe von irgendwo.
»Fünf Uhr«, fuhr Johnny fort und klang, als müsse er sich gleich übergeben. »Ja. Fuck mich doch nicht ab jetzt, ich schwöre, du Opfer.«
Eine Pause. Etwas bewegte sich hinter ihm. Es war Marv, der den Kopf hob, mit wässrigen, roten Augen umherblickte und sich mühsam erhob, um zum Badezimmer zu torkeln.
»Was? Silber? Hast du gesagt Silber? Boah, geil!«, freute sich Johnny, und mit jedem Atemzug, den er tat, wehte eine scharfe Alkoholwolke in Bransons Richtung, die in ihm Brechreiz aufkommen ließ. Das Zimmer, in dem sie kreuz und quer verteilt lagen, war winzig, die Decke von schwarzem Schimmel befallen und der Fußboden feucht. Leere Flaschen bedeckten jene Stellen, die nicht von Körperteilen belegt waren.
»Ich höre dich nicht mehr. Leck mich doch, du Hu...« Johnny brach ab, sah auf das Display und legte auf.
»Was war das denn?«, brummte Branson.
»Mein Cousin. Übelster Pepper. Nimmt er schon seit zehn Jahren.«
»Ich meine, wie du sprichst.«
»Er kommt aus scheiß New Jersey«, maulte Joe von rechts. Er lag auf dem einzigen Bett, das es hier gab, und hatte sich halb erhoben. »Ist Marv gerade kotzen?«
»Ich glaube schon.«
»Beneidenswert.«
»Du hast deinem Cousin gesagt, dass wir in Japan sind?«, fragte Branson entgeistert, und Johnny schien enttäuscht, dass er ihn nicht weiterschlafen ließ.
»Nein, ich habe gesagt, dass wir in Hokkaido sind.«
»Und das ist Scheißjapan.«
»Sein Cousin kommt aus New Jersey. Der weiß bestimmt nicht mal, dass es einen Kürbis mit dem Namen gibt«, meldete sich Joe wieder zu Wort. Er klang, als wollte er eigentlich sagen: »Haltet alle die Klappe.«
»Es gibt einen Kürbis, der so heißt wie diese Insel hier?«, fragte Johnny überrascht.
»Siehst du?«
»Keine Sauferei mehr«, entschied Branson und hätte beinahe gewürgt bei dem widerlichen Geschmack, der aus seiner Magenröhre aufstieg. Der Druck der letzten Wochen hatte sich in einem wilden Besäufnis entladen, als sie gestern Abend angelegt hatten, um zu tanken. Das hatte gut gepasst, hatte die FBI-Agentin doch darauf bestanden, dass sie hier einen Stopp einlegten. Die russische Ärztin war zwar dagegen gewesen, letztendlich hatte sie jedoch eingelenkt und die Notwendigkeit gesehen, dass sie auftanken mussten. Ihr Schiff befand sich in einem bewachten Teil des Hafens, der für Transportschiffe vorgesehen war und zu dem niemand Zutritt hatte. Außer befugtem Personal, was damit zusammengehangen hatte, dass die anderen Bereiche überlastet gewesen waren – vermutlich von Marine- und Privatschiffen, die sich an dem verrückten Run auf die Fragmente beteiligten, die noch immer in den Ozeanen niedergingen. Da Darya und die beiden verbliebenen Männer von Sergey das Schiff bewachten, gab es für ihn selbst und seine Crew nichts zu tun, außer sich unwohl zu fühlen. Die Russin hatte ihnen versichert, dass die bulligen Kerle ihr abgekauft hatten, dass ihr Boss und ihr Freund bei dem Sturm ertrunken waren, und sie schienen erpicht darauf, die FBI-Agentin selbst in Schach zu halten. Die Idee, von Bord zu gehen und etwas in der Stadt zu trinken, war Branson eigentlich nur gekommen, um auszutesten, ob ihr Auftraggeber ihnen Probleme bereiten würde. Hätte Darya gesagt, dass sie das Schiff nicht verlassen durften, hätte er sich ernsthaft Sorgen gemacht, ob man sie nicht bloß nach Wladiwostok locken wollte, um sie diskret loszuwerden. Aber dann wäre man wohl nicht das Risiko eingegangen, sie hier im abgeschiedensten Teil Japans verschwinden zu lassen. Die Nacht war recht schnell aus dem Ruder gelaufen, als sie versucht hatten, sowohl das viele Geld zu feiern, das sie bei sich hatten, als auch die Tatsache, dass sie alles überleben konnten.
Branson suchte nach seiner Wasserflasche, nahm einige gierige Züge, um gegen seinen ausgetrockneten Rachen anzukämpfen, und zückte dann sein Smartphone. Rasch überflog er seine News-App.
Im Nordpazifik war es zu einem Zwischenfall chinesischer und amerikanischer Kriegsschiffe gekommen, bei dem eine chinesische Fregatte gerammt wurde. Offenbar hatte die Navy kurz vorher ein Fragment aus den Tiefen bergen können, von dem einige Amateuraufnahmen eines Schatzsuchers im Netz aufgetaucht waren, der sich an der Jagd beteiligt hatte. Insgesamt waren bereits über vierzig Schiffe zehn unterschiedlicher Nationen auf der Suche nach den begehrten Artefakten verschwunden – und das nur in den letzten elf Tagen. Eine andere Meldung zeigte einen vom französischen und niederländischen Militär eskortierten Sattelschlepper, der ein verhülltes Objekt transportierte, bei dem es sich angeblich auch um eines jener Fragmente handelte. Kommentatoren und Nutzer fragten sich gleichermaßen, woher die EU es bekommen haben könnte, da sie offiziell gar keines geborgen hatten. Weltweit gab es anhaltende Proteste gegen angebliche Desinformationen der jeweiligen Regierungen, die wahlweise entweder zu wenig wussten, oder das, was sie wussten, nicht mit der Bevölkerung teilten. Möglicherweise gab es gar eine Verschwörung, und man wusste längst, um was es sich bei den Artefakten handelte. Das Netz kochte über vor den wildesten Theorien. Einige besagten, dass es sich um Landungsschiffe von Aliens handele, um Sonden der Echsenmenschen, die nach Millionen Jahren zurückkehrten, um ihre Schläferzellen zu aktivieren, oder sogar um Gott selbst, der schon immer auf seinem Reisenden Stein gelebt habe. Nichts schien zu abwegig für die sozialen Medien, und alles wurde aufgesogen und wie wild diskutiert. Neben China hatten mittlerweile auch die Vereinigten Staaten, Indien und große Teile Südamerikas den Ausnahmezustand verhängt und privaten Schiffen verboten, ihre Häfen zu verlassen.
Branson tippte auf eine Talkrunde auf MSNBC und stellte den Ton lauter, damit er Marvs Würgegeräusche nicht mehr hören musste, die das flaue Gefühl in seinem Magen nur schlimmer machten. Eine Moderatorin mit brünettem Haar saß zwischen zwei älteren Herren, bei denen es sich um den demokratischen Senator Richard Fouler und den republikanischen Kongressabgeordneten William Forstchen handelte.
»Wie bewerten Sie die Entscheidung des Präsidenten, den Ausnahmezustand zu verhängen?«, fragte die Moderatorin zu Beginn des Ausschnitts. »Viele Menschen haben das Gefühl, dass seit der Corona-Pandemie viel zu schnell zu diesem Mittel gegriffen würde.«
»Nun es ist nicht die Schuld des Präsidenten, dass wir als Gesellschaft in so kurzer Zeit vor zwei so großen Herausforderungen stehen«, antwortete Forstchen, ein hagerer Mann mit grauen Haaren. »Die jüngsten Proteste gegen das angebliche Zurückhalten von Informationen seitens der Regierung haben gezeigt, dass friedliche Demonstrationen offensichtlich nicht mehr möglich sind. Wir können nicht akzeptieren, dass es am Rande jeder Kundgebung zu massiver Sachbeschädigung und Gewalt gegen die Polizei kommt.«
»Senator Fouler, Ihre Partei hat sich lange schwer damit getan, sich hinter ihren eigenen Präsidenten zu stellen, und Sie waren einer der Wortführer der Kritiker. Können Sie uns erklären, wieso?«
Fouler, groß und massig mit fleischigen Händen und mächtiger Hakennase, nickte und verschränkte die Finger über den Knien.
»Nun, das liegt daran, dass ich und viele meiner Kollegen der Meinung sind, dass der Großteil der Proteste eben friedlich verläuft und wir nicht aufgrund einer lauten Minderheit die Grundrechte eines ganzen Landes einschränken dürfen. Nehmen wir beispielsweise die vielen zehntausend Menschen, die in der Hoffnung um das Gelände der Area 51 campen, dass sie dort irgendetwas Spektakuläres sehen. Dieser neue UFO-Hype ist beunruhigend, aber eben friedlich. Wir schauen immer nur nach Chicago, New York oder Austin, aber nicht zu all den anderen Orten, wo Amerikaner wie Sie und ich einfach das Recht der Versammlungsfreiheit wahrnehmen.«
»Das klingt, als seien Sie immer noch dagegen«, befand die Moderatorin überrascht.
»Nein. Nicht mehr seit der Störung des Militärkonvois in Kalifornien.«
»Sie meinen den Transport eines der Artefakte in die Area 51 vor fünf Tagen, bei dem fünf Zivilisten ums Leben kamen?«
»Ja. Das war ein tragischer Vorfall, der sich nicht wiederholen darf.«
»Sie verurteilen aber nicht die Schüsse der Soldaten?«, hakte sie nach.
»Nein. Die Demonstranten wurden mehrfach gewarnt und haben trotzdem versucht, den Konvoi zu sabotieren. Das hier ist kein Spaß, sondern der Versuch unserer gewählten Regierung, Antworten für unsere Nation und die ganze Welt zu bekommen. Anweisungen des Militärs muss nachgekommen werden, besonders in diesen Zeiten.«
»Abgeordneter Forstchen, glauben Sie, dass wir es mit einem neuen Misstrauen der Amerikaner gegenüber der Regierung im Speziellen und Washington im Allgemeinen zu tun haben?«
»Nein«, entgegnete der Republikaner. »Wir haben es mit Angst zu tun, und dementsprechend wundern mich die Reaktionen nicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Männer und Frauen dieses Landes sich korrekt verhalten, was man durch die wenigen sehr lauten Stimmen schnell vergisst. Verschwörungstheorien hat es immer schon gegeben, auch vor dem Internet, das vergessen zu viele Leute. Denken Sie nur an Roswell damals. Alle Welt war sich sicher, dass wir fliegende Untertassen untersuchen und Aliens sezieren. Ich kann Ihnen sagen: Schön wär’s. Aber wir hatten nie Kontakt zu Außerirdischen und werden ihn auch jetzt nicht haben.«
»Also schließen Sie aus, dass es sich bei dem Asteroiden Cassandra 22007 um ein außerirdisches Raumschiff handelt, wie sogar einige Experten vermuten?«, bohrte die Moderatorin nach.
»Ja. Sehen Sie: In den Medien wird Cassandra meist nur der Meteor genannt. Das ist aber kein Meteor, sondern ein Asteroid. Und Cassandra heißt er nur, weil ein verschwundener Youtuber ihn in einem seiner Videos so genannt hat, und es sich um die erste Erwähnung handelte. Er kann gar nicht Cassandra heißen, weil es bereits einen Asteroiden mit diesem Namen gibt, und bekanntlich werden die nur einmal vergeben. Aber das interessiert niemanden. Was ich damit sagen will: Fernsehen und Internet sind voller kleiner Ungenauigkeiten und Fehler, die zu einer verzerrten Wirklichkeit führen.«
»Aber es gibt immer noch die Expertenmeinungen, dass ein natürlicher Himmelskörper nicht einfach in einen Orbit einschwenken und so stark abbremsen kann.«
»Ja«, gab Forstchen zu und nickte. »Das liegt am Übergang von hyperbolischen zu elliptischen Bahnen, was normalerweise eben starkes Bremsen erfordert. Das ist jetzt passiert, aber kein Novum im Weltraum. Ich war, bevor ich Politiker geworden bin, selbst Physiker und kann Ihnen sagen, dass auch Phobos und Daimos, die beiden Trabanten des Mars, wohl eingefangene Asteroiden waren. So etwas kommt vor, nur eben nicht so extrem schnell wie in diesem Fall. Aber nur weil wir ein Phänomen noch nicht verstehen, heißt das noch lange nicht, dass sofort die unwahrscheinlichste Antwort – Aliens – die korrekte ist. Früher gab es für Blitz und Donner auch keine andere Erklärung als den Zorn mystischer Götter, bis man viel später verstanden hat, was ihnen zugrunde liegt. So wird es hier auch sein.«
»Sie legen sich also fest und sagen, dass das neue Weltraumrennen keinen Erstkontakt mit Außerirdischen zur Folge haben wird?«, fragte die Moderatorin und die Kamera schwenkte bis vor das Gesicht des Politikers, dessen nüchterne Miene einen scharfen Kontrast zu der reißerischen Kamerafahrt bildete. Geradezu ernüchternd klang auch seine Stimme.
»Ja, ich lege mich fest. Wissen Sie noch, als Oumuamua durch das Sonnensystem flog? Sogar viele anerkannte Wissenschaftler haben sich ernsthaft damit beschäftigt, ob es sich aufgrund seiner Beschaffenheit und seiner Beschleunigung um ein Alienraumschiff oder zumindest eine Sonde handeln könnte, die nicht mit Sonnenstrahlung erklärt werden konnte. Am Ende war es aber nur ein sehr dünner Komet.«
»Das war doch gar nicht geklärt«, warf Fouler ein. »Das ist es bis heute nicht.«
»Nein«, gab Forstchen zu und winkte ab. »Aber jetzt ist Oumuamua wieder weg, und keine Aliens haben hallogesagt.«
»Cassandra 22007 geht aber nicht weg. Und ich denke, dass wir die Fragmente sehr wohl als Halloklassifizieren können. Es gibt keine Asteroiden, die in erkennbaren Mustern kleinere Meteoriten absondern«, beharrte der Demokrat, und unter ihm wurde sein Name eingeblendet, zusammen mit dem Zusatz: studierter Luft- und Raumfahrtingenieur, ehemals Betriebsratschef bei Boeing.
»Sie würden sich also sehr wohl festlegen?« Die Moderatorin schien überrascht und erfreut zugleich.
»Ich bin Politiker. Ich lege mich nie fest«, antwortete er grinsend, und das Publikum lachte. Schließlich spreizte er die Hände wie ein Vogel seine Flügel und seufzte. »Nur so viel: Momentan sehe ich keinen natürlich herleitbaren Grund für das Verhalten dieses Asteroiden, und das führt zu der vorläufigen Annahme, dass es sich um einen künstlichen Grund handeln muss. Vielleicht wird diese Annahme falsifiziert, wenn unsere tapferen Männer und Frauen da oben sind.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß das.«
»Wo Sie unsere Astronauten erwähnen – Hand aufs Herz: Wie groß war der Aufschrei in Washington, als SpaceX eine eigene Mission angekündigt hat, die vollständig transparent der Öffentlichkeit zugänglich sein soll?« Sie blickte Forstchen an, der sich einen Moment mit seiner Antwort Zeit ließ.
»Es gab keinen. SpaceX ist ein langjähriger enger Partner unserer NASA und das Verhältnis ist ein sehr vertrauensvolles, die …«
»Eben, Partner«, unterbrach sie ihn und hakte nach: »Jetzt sind sie Konkurrenten im Wettlauf um den ersten Stiefel, der auf Cassandra aufsetzt.«
»SpaceX ist ein heimisches Unternehmen mit ebenso heimischen Astronauten.«
»Und einem Europäer.«
»Das unterstreicht doch nur das wiederbelebte transatlantische Verhältnis.«
»Mr. Fouler«, wandte sich die Moderatorin an den Demokraten. »Redet der Kongressabgeordnete die Sache nur schön?«
»Vielleicht ein bisschen«, gab der Angesprochene zu. »Ich bin zwar nicht in dem entsprechenden Ausschuss, aber doch sicher, dass nicht alle Köpfe genickt haben, als sie gehört haben, dass sie uns nicht dabei helfen, die Ersten da oben zu sein.«
»Fürchten Sie, dass die Wunderkinder aus Hawthorne sich dauerhaft von der NASA absetzen könnten?«
»Das haben sie doch schon längst.«
»Ey, Branson«, murrte Joe und zwang ihn dazu, vom Display seines Handys aufzuschauen, das er wie in einer Art Trance angestarrt hatte. »Geht dieses Aliengelaber wieder los?«
»Du hast es selbst gesehen«, gab er missmutig zurück. »Dieses Ding, das vom Himmel gefallen ist und uns fast versenkt hätte!«
Johnny jaulte genervt auf und zog von irgendwo ein Kissen her, das er sich über den Kopf stülpte.
»Du hast es nicht gesehen!«, fuhr er das junge Crewmitglied an. »Hätten wir nicht voll beschleunigt, lägen wir jetzt komplett zerdrückt am Grund des Ozeans bei Perkins, diesem Arsch!«
»Is’ ja gut, Boss!«, kam die gedämpfte Antwort durch das Kissen, gefolgt von einem Laut, der halb Würgen, halb Jammern war.
»Das war Zufall, alter Freund«, versicherte Joe ihm, der sich ächzend aufrichtete, indem er die Beine aus dem Bett schwang und sie nackt auf den versifften Boden stellte, ehe er ins Schwanken geriet und den Kopf schüttelte. »Nur ein Stein, der zufällig fast auf unsere dicken Köpfe gefallen wäre.«
»Der Pazifik ist riesengroß, und da soll von einem Meteor, der laut Experten unheimlich ist, zufällig eines dieser Geschosse direkt an der Stelle einschlagen, wo Perkins ein merkwürdiges Artefakt vom Meeresboden aufsammelt?« Branson schnaubte verächtlich und schluckte einen hochgekommenen Schwall Magensäure herunter.
»Uns muss es nicht kümmern. Diese ganze Sache ist vollkommen verrückt! Du hast doch von dieser Containment-Zone gehört. In Sibirien.«
»Klar, der Scheiß klingt wie aus einem Horrorfilm!« Branson hatte vor einer Woche, als sie die Triton One umgedreht hatten, aus einer Fernsehsendung davon erfahren. Offenbar hatten die Russen noch zweimal Fragmente abgeschossen, die an unterschiedlichen Orten zwischen Wladiwostok und Irkutsk heruntergekommen waren. Wie die Fernsehexperten erklärt hatten, fielen diese Artefakte aus der Reihe, weil sie nicht wie alle anderen stets an denselben Stellen herunterkamen. Es waren jene, die Perkins ihnen markiert hatte, als er über die Unterwasserkornkreise gesprochen hatte. Bei den meisten Einschlagorten tummelten sich mittlerweile ganze Flotten von Kriegsschiffen verschiedener Nationen, die einander belauerten. Was zur Folge hatte, dass kaum Artefakte geborgen werden konnte, weil niemand einen Krieg losbrechen wollte, aber auch keiner zuließ, dass die anderen zugriffen, während sie sich selbst zurückhielten. Die Absturzzonen waren wie Zündstoff, und es brauchte nur einen Funken, dass es weltweit knallte, und davor fürchtete sich momentan jeder, der einigermaßen geradeaus denken konnte. Wem das noch nicht genug Angst vor der Zukunft war, der schaute sich die Sondersendungen über die Containment-Zone am Baikalsee an, wo das letzte Fragment erst wenige hundert Meter über dem Boden von russischen Raketen abgefangen werden konnte. Die Trümmer waren etwas außerhalb der Stadt Ulan-Ude niedergegangen, und es hatte zuerst keine Verletzten gegeben. Doch dann hatte Russland nach ersten internationalen Meldungen zugeben müssen, dass nicht bloß ein Waldgebiet durchlöchert worden war, sondern auch mehrere hundert Stadtbewohner in die städtischen Krankenhäuser eingeliefert werden mussten. Alles spekulierte auf Kollateralschäden durch den Waffeneinsatz des russischen Militärs, die vom Kreml vertuscht wurden, aber dann war alles ganz schnell gegangen. Die Stadt wurde abgeriegelt. Unter dem Protest vieler westlicher Staaten wurden Zäune gebaut und Soldaten zusammengezogen, um einen angeblichen Ausbruch mutierter Coronaviren wirkungsvoll einzudämmen. Offizielle Bilder gab es seither nicht mehr, aber viele Amateuraufnahmen aus sozialen Medien, die äußerst beunruhigend waren. Sie zeigten Kranke und Verzweifelte in den Straßen Ulan-Udes, die unheimliches Wetterleuchten in der Nacht aufzeichneten. Alle, die sich den Zäunen außerhalb der Stadt näherten, wurden mit Warnschüssen zurückgehalten, einige offenbar auch erschossen. Das verstörendste Bild war auf Instagram aufgetaucht, aber von vielen Quellen als Fake abgetan worden. Es zeigte eine entfernt menschliche Gestalt, die aussah, als bestünde sie aus Gelee. Von ihren Armen und Beinen reichten lange Fäden bis in die Ecken und die Decke eines schmutzigen Raumes mit zerbrochenen Fenstern. Branson hätte auch gerne geglaubt, dass es sich um einen Fake handelte, doch er hatte so etwas schon einmal gesehen, und zwar in den Särgen auf seinem Schiff, und seither jede Nacht Albträume.
»Wir kehren auf die alte Lady zurück«, entschied er mit düsterer Miene. »Haben die ganze Nacht nur rumgesoffen, als säßen wir nicht bis zum Hals in der Kacke. Joe, du holst Marv vom Klo runter. Johnny, sieh nach, wo Xenia ist. Falls du sie nicht findest, ruf sie an. Ich versuche es auch, sie soll uns abholen. Ich finde währenddessen raus, wo wir genau sind.«
»Aye, Boss«, murmelte Johnny und zog kraftlos das Kissen von seinem Gesicht. Joe stand auf und streckte sich vorsichtig. Als er alles in seinem Magen zu behalten schien, nickte er zufrieden und wankte zum Badezimmer.
»Haben eine FBI-Agentin und drei Kriminelle an Bord, inklusive einer blonden Doktor Mengele, die sich um zwei Särge kümmert, als ob es ihre Babys wären«, knurrte Branson vor sich hin, während er über die Karten-App herauszufinden versuchte, wie sie am schnellsten zurück zum Schiff gelangen konnten. »Was könnte man denn da machen? Och, klar, Branson, wir könnten uns zusaufen, als gäbe es kein Morgen, und bis zum Filmriss Sake kippen. Morgens in einer Crackerabsteige aufwachen und sich fühlen, als hätte man Hepatitis C mit Covid-19 gekreuzt – tolle Idee! Fremden das eigene Schiff überlassen, nur weil man ein paar Millionen auf die Unterhosen verteilt und heimlich gehofft hatte, dass die bösen Geister mit der Triton einfach verschwinden würden? Gute Sache, Branson. Deswegen bist du der Boss auf diesem Kahn.«
Wütend über sich selbst fragte er sich, was die Agentin wohl gerade tat, die die ganze Zeit bloß in ihrer Koje gelegen hatte und kaum sprach. Manchmal zweifelte er daran, ob sie nicht doch eine Hochstaplerin war. Besonders gefährlich war sie ihm nämlich nicht vorgekommen. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Nacht bloß geschlafen, und er machte sich vollkommen umsonst Sorgen.
Kapitel 3: Jenna
Jenna saß in ihrer Kajüte, die sie noch immer mit Darya teilte, die aber kaum noch da war. Die Crew war vor einigen Stunden von Bord gegangen, um ›ein paar Bier unter sich‹ zu trinken, und hatte ihr auf Verlangen ein Telefon dagelassen, das aber nicht funktioniert hatte. Damit hatte sie gerechnet. Dass der Kapitän, Branson, sich aus dem Staub gemacht hatte, verwunderte sie ebenfalls nicht. Sie wäre vermutlich ähnlich vorgegangen. Diese Leute hatten Angst vor ihr, das war schwer zu übersehen gewesen, egal wie viel Mühe sie sich gegeben hatten, aber aus den falschen Gründen. Sie sahen in ihr die FBI-Agentin, die man nicht loswurde, aber vorerst mitschleppen konnte, weil man ohnehin nach Russland beordert worden war. Das verriet ihr zweierlei: Erstens hatten sie sich irgendwie mit Darya und den verbliebenen Russen verbündet, oder arbeiteten gar für ihre Auftraggeber. Zweitens waren sie keine Killer, sonst hätten sie längst dafür gesorgt, dass sie mit den Fischen schwamm. Gleichzeitig glaubte sie nicht, dass Darya – und vor allem die beiden Muskeln –, einen Moment gezögert hätten, genau das zu tun. Außer natürlich, sie wollten sie gefangen nehmen und in Russland verhören lassen. Aber warum dann nicht dafür sorgen, dass sie gefesselt und geknebelt in ihrer Koje fixiert war? Die Ärztin wusste genau, dass sie eine ausländische Agentin sein musste. Wozu das Risiko eingehen? Immerhin war ihr bewusst, zu was sie fähig war.
Die Logik dahinter war wie einfachste Mathematik. Das Einmaleins, wenn man so wollte: Die Russen brauchten diesen Branson und seine Crew, um zurück nach Russland zu gelangen. Aber da die nicht aus Mördern bestand, die wohl klargemacht hatten, wo ihre Grenzen waren, hatte man keine Chance gesehen, sie aus dem Spiel zu nehmen. Wie praktisch, dass die Seeleute beim ersten Landgang kalte Füße bekamen und sich mit dem Geld aus dem Staub machten, um bei ein paar Bieren zu überlegen, ob es das alles wert war, und man nicht lieber die Beine in die Hand nehmen sollte.
Sie sind alle Affen, erinnerte sie sich einmal mehr an die Worte ihres Ausbilders. Sie ähneln uns, Jenna, aber sie sind nicht wie wir. Sie haben Hände, Füße und Daumen, aber sie gehen immer denselben Abläufen nach. Sie sind berechenbar, weil sie von Instinkten und Gewohnheiten gesteuert sind, die sich leicht durchschauen und berechnen lassen. Du musst sie nur vor dem Hintergrund ihres Affendaseins analysieren, und alles was sie tun und tun werden, liegt wie ein offenes Buch vor dir. Konzentriere dich, lege den Finger auf die entsprechende Zeile und ließ. Und dann klappst du das Buch zu.
Sie tippte auf insgesamt zwei Stunden, nachdem die Crew verschwunden war. Jenna hatte sie aus ihrem Bullauge gesehen, wie sie lachend und johlend über den Kai gegangen waren. Diese Hawaiianer konnten den anderen vielleicht vorspielen, dass sie entspannt und freudig waren, aber nicht ihr. Sie hatte die Anspannung in ihrem Habitus nicht übersehen.
Zwei Stunden. Zwei Stunden hätte sie gewählt, um sicherzugehen, dass Branson und die anderen nicht doch nach kurzer Zeit zurückkamen, um sich ungesehen und ungehört absprechen zu können, wie man am besten vorgehen sollte. Die beiden Männer wussten nur, dass sie ihren Boss erschossen hatte – oder auch nicht. Vielleicht dachten sie auch bloß, dass Darya, die immerhin keine von ihnen war, sondern eine Ärztin, maßlos übertrieb oder hysterisch auftrat, wenn sie davor warnte, dass Jenna gefährlich sei.
Sie sollte es herausfinden. Nach drei Stunden. Da sie die meiste Zeit mit dem Ohr an der Tür verbrachte, hörte sie die Schritte im Gang schon sehr früh. Sie nahm den kleinen Handspiegel, den sie in der Kommode gefunden hatte, und klemmte ihn in das Bullauge, das sich direkt unter dem oberen Bett befand, in dem Darya zu Beginn geschlafen hatte. Dann legte sie sich mit dem Gesicht zur Wand unter die Decke und tat, als würde sie schlafen.
Es quietschte ganz leise, als jemand einen Schlüssel in das Schloss führte und langsam umdrehte. Getuschel wehte wie fernes Flüstern zu ihr herüber. Aus den Augenwinkeln sah sie die Silhouette zweier Gestalten in einem Trapez aus Licht, das sich wie ein Teppich bis zu ihr ausrollte und ihre Decke aufleuchten ließ. Sie wünschte sich einmal mehr, Russisch zu beherrschen, doch wirklich wichtig war es nicht. Diese beiden Männer waren gekommen, um sie zu töten, so viel stand fest. Oder um sie gefangen zu nehmen und zu foltern, bis sie sang wie ein Vogel. Mit Foltertechniken kannte sie sich aus – ein gezogener Zehnagel, oder auch nur die Andeutung konnten einer Person weitaus mehr entlocken, als die längste Diskussion um Vernunft und Moral. Schlimmer waren nur Streitgespräche, die sie danach mit Kollegen führen musste, die keine Erfahrung als Feldagenten hatten und zu weinen begannen, sobald jemandem auch nur ein Haar gezogen wurde. Sie konnte diese weichgespülten Uniabgänger nicht leiden, die nicht bereit waren, die Wege zu gehen, die sie ans Ziel brachten. Glücklicherweise schafften die es meist nicht einmal durch die Ausbildung und endeten als Analysten in Langley, die Agenten wie ihr zuarbeiteten.
Der erste Glatzkopf näherte sich ihr, während der andere in der Tür stehen blieb. Sie sah einen stumpfen Gegenstand aufblitzen und etwas, das wie eine Schlaufe aussah. Aus den Augenwinkeln und durch den kleinen Spiegel war es schwer zu sagen.
Clever, dachte sie. Einer macht die Annäherung, der andere bleibt außer Reichweite und kann im Notfall eingreifen, ohne direkt erwischt zu werden. Er hat auch das Licht im Rücken, ich bin geblendet, sobald ich mich ihm zuwende. Aber besser wäre es gewesen, wenn er nicht in der Tür, sondern innen daneben gestanden hätte, damit ich seinen Schatten nicht zu meinem Vorteil nutzen kann. Gut, aber nicht gut genug.
Als sich der Russe – sein Gesicht war von einer langen Narbe verunziert – so weit näherte, dass sie seinen Atem riechen konnte, drehte sie sich herum und machte eine möglichst schreckhafte, schnelle Bewegung. Es reichte aus, um ihn für eine Sekunde erschrecken zu lassen. Das Weiß in seinen Augen trat gut sichtbar hervor, selbst in dem Zwielicht. Jenna packte seine beiden Handgelenke, nutzte sie als Hebel, um sich auf dem Becken zu drehen und ihm mit beiden Füßen einen Stoßtritt zu versetzen. Erschrocken und mit ungläubiger Miene segelte er von der Wucht zurück, und sie ließ seine Hände durch ihre Finger rutschen, ehe sie zugriff und einen Teleskopschlagstock und einen Kabelbinder zu fassen bekam.
Sie hörte einen russischen Fluch, der dem Stoß des erzwungenen Ausatmens folgte, und rollte sich nach vorne über Kopf und Schultern ab, sodass sie dem auf den Hintern segelnden Narbengesicht in Richtung Tür folgte, wo der andere seine Pistole hochriss. Doch Jenna hatte mit seinem Kameraden eine gute Deckung und schleuderte den Teleskopschlagstock nach ihm, sodass er instinktiv zur Seite zuckte, um dem improvisierten Wurfgeschoss zu entgehen. Das reichte ihr, um aus der Hocke vorzustürmen, dem Gestürzten ins Gesicht zu treten und sich mit der rechten Schulter in den Bewaffneten zu werfen. Sie erwischte ihn direkt unter dem Sternum, hörte ein hässliches Knirschen und schleuderte ihn mit ihrem Körpergewicht gegen die gegenüberliegende Wand im Flur. Er reagierte schnell, zog brutal das Knie hoch und hätte sie beinahe getroffen, wenn sie es nicht hätte kommen sehen. So wich sie mit einer Drehung ihrer Hüfte aus und hieb ihm die Faust ins angebrochene Sternum, sodass ihm keuchend die Luft aus den Lungen schoss. Er taumelte zurück, und sie nutzte den Platz, den er ihr bot, um mit der flachen Hand seinen Kehlkopf zu zerschmettern. Seine Pistole ließ er erwartungsgemäß fallen, um sich an den Hals zu fassen, in der Hoffnung, dass noch etwas zu retten war. Sein Eidechsengehirn wollte nicht wahrhaben, dass es längst vorbei war, obwohl er noch bei Bewusstsein war. Aber nicht mehr lange.
Sie ging in die Hocke, fing die Pistole auf und riss sie herum, als sie einen Schatten auf sich zufliegen sah. Jenna schaffte es noch, den Trigger zweimal durchzudrücken, und die Lautstärke der Schüsse war ohrenbetäubend. Erst ein Donnerschlag, dann der zweite und plötzlich wurde sie von einer Lawine aus Körperteilen begraben. Etwas traf sie am Kopf, dann an der Hüfte und im Unterleib, dass sie keuchte. Aber dieses Durcheinander war schnell wieder vorbei, und dann regte sich nichts mehr. Ihr Bauch wurde feucht und sie hörte ein leises Stöhnen.
Ich bin nicht verletzt, stellte sie fest. Bis auf ein paar Prellungen vielleicht. Gut.
Sie schob den Körper, der auf ihr lag, von sich und erhob sich etwas steif. Den Schlag auf die Hüfte würde sie noch eine Weile spüren. Auch den gegen ihren Kopf, unweit der gerade so verheilenden Narbe aus China, und der sie etwas wanken ließ.
Als sie wieder stand, ging die Tür nach oben auf und Darya kam herunter gestürmt. Sie fluchte wild auf Russisch und verstummte schlagartig, als sie Jenna zwischen den beiden Leichen stehen sah.
»Sie haben wohl eine andere Konstellation erwartet«, sagte Jenna und zuckte mit den Schultern, ehe sie sich mit dem Handrücken Blut von der Stirn wischte. Die Ärztin war vollkommen erstarrt. »Leider habe ich keine Zeit mehr.«
»Sie haben sie …«
»Ach, kommen Sie. Spielen Sie nicht die Schockierte. Sie sind Medizinerin und haben in einer geheimen Einrichtung eines Kriminellen Experimente an entführten Frauen und Kindern durchgeführt. Verschwenden Sie also nicht meine Zeit, indem Sie ihre überschaubaren schauspielerischen Fähigkeiten anstrengen.« Jenna winkte sie mit ihrer Pistole her. »Herkommen.«
Darya kam der Aufforderung nur zögerlich nach, und als sie den Leichen näher kam, blähten sich ihre Nasenflügel auf wie bei einem scheuenden Pferd.
Vielleicht doch nicht so verrucht, dachte Jenna. Aber Mitläufer, die Grausamkeiten akzeptieren und sich vermutlich noch schönreden, sind die viel gefährlicheren Kriminellen. Das hatte ihr Ausbilder ihr jahrelang eingebläut, und je mehr Erfahrung sie im Feld gesammelt hatte, desto mehr musste sie ihm zustimmen. Menschen wie Darya waren es, die tagsüber kuschten und sich beim Anblick von Leichen übergaben. Aber nachts bei einer schiefgegangenen Bergwanderung waren sie es, die eine Spritze mit Luft aufzogen und sie ihrem Opfer in den Arm jagten, um mehr Vorräte für sich und das eigene Überleben zu haben.
»Was war der Plan?«, fragte sie freiheraus. »Die beiden fesseln mich, während die Crew weg ist, dann werde ich gefoltert und befragt, wie ich die geheime Basis im Altay finden konnte, um undichte Löcher zu stopfen? Bevor sie wieder zurück sind, mit einem Betonschuh im Hafen versenken und sagen, ich sei verschwunden?«
»Nein, nein. Die beiden sollten eigentlich unten in ihrer Kabine sein. Wir arbeiten nicht für dieselben Leute, wissen Sie?«, stammelte Darya. Jenna entging nicht, dass ihre Kiefer dabei ununterbrochen mahlten.
»Schätzchen, Sie sollten endlich mit der Schauspielerei aufhören. Wie man erkennen kann, habe ich für Zeitverschwendung nicht viel übrig. Ich stelle Ihnen jetzt ein paar Fragen, und ich hoffe, dass Sie mir entgegenkommen. Schüsse sind sehr laut, wie Sie bemerkt haben dürften, und auch wenn die Hafenanlagen es auch sind, erhöht jeder einzelne die Gefahr, dass die Behörden auf uns aufmerksam werden.