Der Meteor - Joshua Tree - E-Book

Der Meteor E-Book

Joshua Tree

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Beschreibung

Im Jahr 2022 bedroht ein Asteroid aus der Dunkelheit des Alls das Leben auf der Erde. Doch bevor die Öffentlichkeit von dem nahenden Untergang erfahren kann, werden seine Entdecker ermordet. Erst als Cassandra 22007 am Nachthimmel erscheint und die Welt in Aufruhr versetzt, wird das Ausmaß der Gefahr bekannt. Doch das interstellare Objekt verhält sich anders, als sämtliche Wissenschaftler vorhersagen. Seine bloße Anwesenheit ist eine Katastrophe, sein Ursprung ein Geheimnis aus den Tiefen der Unendlichkeit und seine Zukunft das Schicksal der Menschheit. Während NASA-Astronaut Lee Rifkin ins Zentrum eines neuen Weltraumrennens gerät, verdichten sich für Agentin Jenna Haynes Hinweise darauf, dass in den Schatten agierende Mächte Cassandras Ankunft lange erwartet haben.

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Der Meteor

 

 

Joshua Tree

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Prolog7

Kapitel 1: Jenna35

Kapitel 2: Branson51

Kapitel 3: Lee63

Kapitel 4: Jenna75

Kapitel 5: Branson87

Kapitel 6: Lee99

Kapitel 7: Jenna113

Kapitel 8: Branson125

Kapitel 9: Lee137

Kapitel 10: Jenna151

Kapitel 11: Branson163

Kapitel 12: Lee175

Kapitel 13: Jenna187

Kapitel 14: Branson203

Kapitel 15: Lee215

Kapitel 16: Jenna227

Kapitel 17: Branson239

Kapitel 18: Lee253

Kapitel 19: Jenna267

Kapitel 20: Branson279

Kapitel 21: Lee291

Kapitel 22: Jenna301

Kapitel 23: Branson317

Epilog: Lee335

Epilog: Jenna339

Epilog: Branson345

Nachwort351

Glossar353

Personenverzeichnis357

Impressum361

 

 

Prolog

Lucs Stirn lehnte an dem kleinen Bullauge neben seinem Sitz, durch das er die vorbeiziehenden Wolken beobachtete. Eigentlich war er es, der sie passierte, doch er gab sich gerne der Illusion hin, dass sich diese majestätische Welt dort draußen um ihn drehte und nicht andersherum. Er dachte daran, wie ein kleiner Fettfleck von der Größe eines Zweieurostücks direkt auf dem Acryl zurückbleiben würde, wenn er seinen Kopf zurückzog. Luc hasste es, wenn er auf seinem Platz – der stets ein Fensterplatz war, weil er nur dort von seiner latenten Flugangst verschont blieb – ankam und einen solchen Fleck entdeckte. Dann stellte er sich immer vor, wie ein ungewaschener Jugendlicher mit riesigen Kopfhörern und Schlabber-Hoodie vor ihm hier gesessen und seine Aknehaut gegen das Fenster gedrückt hatte, mit gelangweiltem Blick und Kaugummi malträtierendem Kiefer wie ein Wiederkäuer.

Wolken – Luc liebte sie. Sie sahen aus wie Watte und waren doch voller Energie und Leben. Während seines Studiums der Geophysik hatte er sich früh für diese einzigartigen Gebilde interessiert. Von zuckerigem Wasserdampf bis zu Schwefelkolossen auf der Venus und planetenumspannenden Decken auf Jupiter reichend, deren Geschwindigkeiten, mit denen sie rotierten, auf der Erde keinen Vergleich kannten. Die, die vor ihm am Fenster vorbeizogen, waren freilich zahme Schäfchen. Cumuluswolken wie aus dem Bilderbuch. So romantisch, dass bloß noch ein Schwarm Vögel hätte vorbeiziehen müssen – vorzugsweise in einigem Sicherheitsabstand zur Turbine.

Das Flugzeug ruckelte plötzlich, als sie eine der Wolken im Sinkflug durchflogen. Der Tisch vor ihm ratterte, und die Kabine dröhnte. Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch.

»Sir?«, fragte die Flugbegleiterin und beugte sich in seine halb abgetrennte Business-Class-Kabine. Ihr Lächeln war hübsch aber geschäftsmäßig, und das rote Schiffchen auf ihren blonden, perfekt frisierten Haaren mit einer weißen Schleife unter dem Kinn befestigt. Sie deutete auf seinen Gin Tonic. »Ich müsste jetzt Ihr Getränk abräumen. Wir landen in zehn Minuten.«

»Ah«, machte er und sah auf das Glas in seiner Hand, die sich bereits schwitzig anfühlte. Ein einsamer Eiswürfel schwamm darin und schmolz mit beachtlicher Geschwindigkeit. Ein winziger Klimawandel zwischen seinen Fingern. Erneut fühlte es sich an, als würde ihr Flugzeug in ein Luftloch sacken, und das freundliche Lächeln der Flugbegleiterin geriet für den Bruchteil einer Sekunde ins Wanken. Oder bildete er es sich nur ein? War sie besorgt? Warum? Gab es einen Grund dafür? Waren das keine normalen Turbulenzen gewesen? Harmlos und alltäglich?

Vielleicht sollte ich sie fragen, ob es ein Problem gibt?, dachte er, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Es wird schon nichts passieren. Kein Grund, sich lächerlich zu machen. Außer natürlich, dieses Klappern da vorne ist ein schlechtes Zeichen, und sie erkennt es nicht? Es könnte sein, dass ich der Einzige bin, der es bemerkt, und hätte ich etwas gesagt, wären wir nicht abgestürzt.

»Wussten sie, dass Cumuluswolken durch lokale Aufwinde entstehen? Thermik oder orografische Handaufwinde, aber das dürfte hier nicht der Fall sein. Ihre Unterseite ist sehr flach, weil die Feuchtigkeit kondensiert. Diese Kombination sorgt dafür, dass sie, wenn sie Türme bilden – kennen Sie bestimmt – Gewitter ankündigen können«, erklärte Luc und deutete nach draußen.

»Wirklich?«, fragte sie interessiert.

Oder er bildete sich bloß ein, dass ihr einstudiertes Lächeln Interesse ausdrückte. Einerlei. Er war nervös, und er mochte ihren rollenden spanischen Akzent.

»Ja. Jeder mag sie, weil sie so bilderbuchmäßig aussehen. Aber sie können auch garstig werden, wenn sie in Thermik geraten.« Er zwinkerte ihr zu, hoffte, dass es locker und entspannt aussah. »Wie eine spanische Frau, was?«

Das Lächeln der Dame geriet ins Wanken, aber nur kurz. Sie deutete auf sein Glas. »Darf ich?«

»Oh, klar!« Er hielt es ihr hin, und sie flüchtete nach einem knappen Nicken.

»Toller Spruch, Luc«, murmelte er und beugte sich wieder zum Fenster. Der Fettfleck, den seine Stirn hinterlassen hatte, war größer als ein Zweieurostück. Hastig rubbelte er ihn mit der Serviette weg, die als Unterlage für seinen Drink gedient hatte, und die nun verlassen mit einem feuchten Ring in der Mitte zurückgeblieben war. Madrid zog unter ihm vorbei, während sich die Landeklappen aufstellten und das Flugzeug stärker abbremsten. Sie gingen in einen steileren Anflug – immerhin würde es bald vorbei sein. Die vielen alten Kirchen, Mauern und Tore ragten wie braune Flecken aus den modernen Wohnhäusern empor, die ihn in ihrer Hässlichkeit an Dritte-Welt-Länder erinnerten. Sein Zeitplan war eng getaktet, was ihm keine Zeit lassen würde, um all die Sehenswürdigkeiten und ein paar spanische Straßenkneipen zu erkunden. Mal wieder.

Als sie auf dem Flughafen landeten, und sie den Taxiway zum Gate fuhren, folgte er dem reihenweisen Klicken der Sitzgurte, die wie immer viel zu früh geöffnet wurden. Er zog sein Smartphone aus dem kleinen Staufach an der Seite seines breiten Sitzes. Schnell checkte er Instagram, Youtube und Facebook, ehe er aufstand und seinen Handgepäckkoffer aus dem Overhead Compartment zog. Ein Bus wartete und brachte sie zum Terminal, in dem es eine kurze Passkontrolle gab. Selbst die Kofferrückgabe an den automatischen Bändern ging erstaunlich schnell vonstatten. Und so rollte er mit zwei Trolleys – der eine groß wie ein Kleinwagen und der andere groß genug, dass er beim Boarding einen Aufpreis für sperriges Handgepäck hatte zahlen müssen –, durch den Ausgang. Dort wartete bereits eine Schar Taxifahrer und Fremdenführer, die laminierte Namensschilder für irrlichternde Touristen hochhielten. Ein junger Mann mit langen Haaren und Pilotenbrille, der ein Tablet von sich streckte, auf dem mit schwarzer Schrift auf weißem Hintergrund @PlanetLuc geschrieben stand, stand dazwischen. Luc winkte ihm zu und umrundete die kleine Metallbrüstung, die Ankommende und Wartende voneinander trennten.

»Hi! Ich heiße Diego«, begrüßte ihn der junge Mann und streckte eine Hand aus. Luc wollte sie ergreifen, doch Diego packte stattdessen den ausgezogenen Griff seines Koffers, ehe er seinen Irrtum begriff, diesen wieder losließ und Lucs Hand schüttelte.

»Luc.«

»Ah, sorry! Wie war der Flug, Señor?«

»Entspannt«, log er und bemühte sich um ein argloses Lächeln. »Mein Fahrer, schätze ich?«

»Jo! Ich mache häufig Fahrdienst für die Bodenstation. Mein Bruder arbeitet dort«, erklärte Diego mit starkem spanischen Akzent und folgte Luc die Koffer neben ihm herrollend. Luc fand, dass der Koffer aussah, als könne der junge Mann darin schlafen.

Sie verließen den Flughafen auf einen Fahrstreifen, auf dem reihenweise Taxis und einige Privatautos und Limousinen in zweiter Reihe standen. Die meisten Motoren liefen und husteten stinkende Diesel- oder Benzinabgase aus den Auspuffen. In der Hitze wirkten die Emissionen besonders beißend und schwer.

Während der Fahrt war der junge Mann erstaunlich schweigsam und steuerte sie so rasant durch den Feierabendverkehr, dass Luc immer wieder wegsehen musste, damit ihm nicht das Herz stehen blieb. Erst als sie die letzten vielbefahrenen Straßen hinter sich gelassen hatten und durch eine trockene Waldlandschaft nach Westen fuhren, entspannte er sich wieder etwas.

»Du hörst das bestimmt oft«, sagte Diego nach einiger Zeit und lehnte sich mit einer Hand am Lenkrad in den Fahrersitz zurück, »aber ich habe deinen Youtube-Kanal schon seit zwei Jahren abonniert.«

»Ah, ein Subscriber der ersten Stunde.« Luc grinste. »Freut mich.«

»Deine Videoreihe über Meteore und ihren Einfluss auf die Erdgeschichte«, der Spanier legte Daumen und Zeigefinger an den Mund und küsste sie. »Wirklich großartig. Unser heutiges Paradies ist das Ergebnis kosmischer Katastrophen. Ein toller Satz. Werde ich nie vergessen, weißt du?«

»Eine Metapher, die für viele Dinge gilt, schätze ich. Der Asteroidenschauer vor 800 Millionen Jahren beispielsweise hat die gesamten Umweltbedingungen auf unserem Planeten umgewälzt.«

»Die Eiszeit, oder?«

»So ungefähr. Er fällt mit dem Übergang vom warmen Erdzeitalter des Toniums ins kalte Cryogenium zusammen. Es wurde durch den Einschlag so viel Staub in die Atmosphäre geblasen, dass sie sich massiv abgekühlt hat.«

»Denkst du, dass es wieder passieren wird?«, fragte Diego und überholte einen alten Pick-up, der unter der Last von sechs Ziegen ächzte. »So wie du es angekündigt hast?«

»Die Frage ist nicht ob es wieder passieren wird, sondern wann«, erwiderte Luc. »Aber da haben wir statistisch gesehen noch eine Menge Zeit.«

»Wirklich? In deiner folgenden Videoreihe hast du doch davor gewarnt, dass die Statistik in diesem Fall eher Sorgen bereitet, oder nicht? Ich meine die Reihe nach dem Einschlag.«

Luc seufzte innerlich. »Mir ging es darum, das Thema ins Bewusstsein meiner Zuschauer zu bringen. Es ist mir wichtig, dass jeder sich Gedanken macht und auch die Politik sich näher mit Near Earth Objects befasst. Das ist ein reales Katastrophenszenario.«

»Ich verstehe.« Diego nickte kaum merklich und lenkte seinen Wagen auf eine einspurige Nebenstraße, die zwischen zwei grünen Hügeln hindurchführte. Der Asphalt war staubig und von kleinen Rissen durchzogen, die vermutlich der Hitze geschuldet waren. Die Cebreros Bodenanlage kam nach etwa zehn Minuten in Sicht: eine riesige Antennenschüssel, die aussah wie ein Trichter auf einem schwenkbaren Kopfgelenk. Blütenweiß bildete sie einen scharfen Kontrast über dem Grün der Bäume und dem Blau des Himmels.

»Beeindruckend«, meinte er. »Wirklich beeindruckend.«

»Si«, stimmte Diego ihm zu. »Es gibt die gleiche Anlage nochmal in Australien.«

»Wirklich?«, fragte Luc eher aus Höflichkeit. Natürlich wusste er das. Die beiden Deep-Space-Bodenstationen waren bereits seit fast zwanzig Jahren im Einsatz, auch wenn ihnen kaum mediales Interesse entgegengebracht worden war.

»Si, si! Diese Verteilung auf dem Globus liegt wohl an der Sternenkonstellation. Abdeckung des Himmels oder so etwas. Mein Bruder wird immer ganz verrückt, wenn er davon erzählt.«

»Wie heißt dein Bruder eigentlich?«

»Roberto. Er ist Astronom. Ich glaube nicht, dass du mit ihm zusammenarbeiten wirst.«

»Ich bin nur diese Nacht und morgen da, vermutlich lerne ich nicht alle kennen«, stimmte Luc ihm zu und beugte sich nach vorne, um einen guten Blick zu haben, als sie auf ein Rolltor aus Maschendraht zuhielten. Ein Pförtner in blauer Uniform kam zum Fahrerfenster, wechselte ein paar Worte auf Spanisch mit Diego, lachte über irgendetwas und winkte sie dann durch.

Die Radaranlage stand auf einem etwa fußballfeldgroßen Areal, das mitten im Wald gerodet worden war. Die mächtige Antenne befand sich direkt an einem Schotterweg, der dahinter einen Hügel hinaufführte, wo Gras zwischen den Bäumen wuchs, und auf der linken Seite stand ein erstaunlich kleines, einstöckiges Gebäude mit Flachdach – die eigentliche Bodenstation. Er fand, dass sie nicht besonders bombastisch aussah, sondern eher wie eine wenig gepflegte Jugendherberge. Seit seinem Umzug nach Kalifornien war er gar nicht mehr an das europäische Understatement gewöhnt.

Diego lenkte den Wagen über den staubigen Platz zwischen Antenne und Haus und parkte neben einem guten Dutzend anderen Fahrzeugen, von denen die meisten via Kabel mit Ladestationen verbunden waren.

»So, da wären wir.« Er klatschte in die Hände, und sie machten sich ans Auspacken. Direkt vor der unscheinbaren Eingangstür gab es eine kleine Betonrampe, auf der Luc seine Koffer ziehen konnte. Trotzdem fühlte er sich wie ein ungeschickter Tourist, als er versuchte, sie nicht zurückrollen zu lassen, weil er gleichzeitig die Klingel drücken musste, da Diegos Telefon geklingelt hatte und der junge Mann, laut auf Spanisch diskutierend, zurückgeblieben war. Glücklicherweise öffnete ihm jemand die Tür. Es war Michelle Daubner, die Physikerin, mit der er seit der Anfrage seitens der ESA schon mehrfach telefoniert hatte, unter anderem über Videocalls. Ihre schwarzen Korkenzieherlocken bildeten einen dichten Wald um ihr für ihr alter recht hübsches Gesicht. Er konnte kaum glauben, dass sie mit ihrem südländischen Aussehen und der braunen Haut Österreicherin war und keine Einheimische.

»Hallo, Luc!«, begrüßte sie ihn mit einem strahlenden Lächeln und hielt ihm die Tür weit auf. »Willkommen in Cebreros! Hattest du einen angenehmen Flug?«

»Grüß dich! Alles entspannt«, erwiderte er und zwängte sich etwas ungeschickt an ihr vorbei.

»Stell einfach erstmal alles hier ab.« Michelle deutete auf den Boden des quadratischen Flurs. Die Wände waren grau und wirkten nicht besonders einladend, wie er fand.

»Danke.«

»Soll ich dir erstmal alles zeige, oder möchtest du dich lieber erst mal ausruhen?«

»Eine kleine Führung wäre genau das Richtige«, sagte er. »Ich bin ja die ganze Zeit gesessen.«

»Gut, dann komm mal mit.« Sie führte ihn durch die Tür geradeaus, die sie in einen großen Raum brachte. Die abgehängte Decke erinnerte ihn an seine Schulzeit, der Rest allerdings an ein Raumschiff. Direkt vor ihne war eine Arbeitskonsole für mehrere Mitarbeiter, die aus zwei Reihen übereinander angeordneter Displays in grau-weißer Verkleidung steckten. Dazwischen befanden sich jede Menge vertikal angebrachter Festnetztelefone und auf der dazugehörigen Schreibtischfläche, die sich gebogen über fünf Meter erstreckte, jede Menge Tastaturen und Mäuse. Die Hälfte der Bildschirme war schwarz, und auf dem Rest liefen Diagramme und komplexe Berechnungen ab. Zwei Männer saßen dort und hatten Headsets auf den Köpfen. Sie schienen ihr Eintreten nicht bemerkt zu haben. Michelle trat sachte gegen ihre Bürostühle, bis sie sich umdrehten. »Das ist Roberto, er ist Astronom«, erklärte sie und deutete auf einen Mann mit Vollbart und kleinen gutmütigen Augen, der lächelte und ihm zuwinkte.

»Ah, Diegos Bruder?«

»Ich hoffe, er hat nicht zu viele Verkehrssünden begangen«, grinste Roberto.

»Keine, die ich nicht auch begangen hätte.« Luc zwinkerte ihm zu und sah dann zu dem anderen, einem spindeldürren blonden Mann mit langem Pferdeschwanz, der überraschend faltig im Gesicht war.

»Das hier ist Marcello, er ist Funkspezialist und überwacht unsere Kommunikationssysteme.«

»Bon giorno. Ich bin Luc.«

»Freut mich«, antwortete Marcello und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, nachdem sie sich die Hand geschüttelt hatten.

»Der Hauptteil der Belegschaft ist gerade in der kleinen Messe und isst zu Abend. Die fahren aber alle gleich in den Feierabend. Das gemeinsame Essen ist so ein Ding von uns, das wir jeden Samstag machen«, erklärte Michelle und führte ihn an dem Arbeitsbereich vorbei zu einigen Einzelparzellen mit Computern.

»Und dann sind wir nur zu viert?«

»Ja. Roberto bleibt für die Neuausrichtung. Wir haben dir ja versprochen, dass es was zu sehen geben wird und gleichzeitig ruhig genug ist, dass du ein bisschen filmen kannst und wir uns unterhalten können. Das funktioniert heute am besten. Die Neuausrichtung ist zwar unspektakulär, lässt sich aber hervorragend als anschauliches Beispiel dafür nutzen, was wir hier machen.«

»Klingt, als hättest du an alles gedacht«, sagte Luc lächelnd. »Wie wär’s, wenn wir schon mal ein bisschen Material drehen? Ich wollte den Beitrag mit einigen Kurzvideos auflockern, die ich immer wieder einspiele und in denen ein bisschen darauf eingegangen wird, was ihr hier macht. Die Subscriber wollen ja nicht immer nur mein langweiliges Gesicht sehen.«

»Oh, klar. Warum nicht? Dann machen wir die Führung also mit Kamera weiter?«

»Wenn es dir nichts ausmacht?«

»Keineswegs.«

Luc zückte sein Smartphone und holte zwei kabellose Mikros aus seiner Umhängetasche. Eins davon steckte er Michelle an den Ausschnitt ihres T-Shirts und das andere sich selbst an den Kragen seines Polos.

»Du filmst mit deinem Telefon?«, fragte die Physikerin überrascht.

»Einspieler meistens schon. Die Qualität ist gut, und ich finde, dass es eine gewisse Unmittelbarkeit suggeriert. Wenn die Produktion zu professionell aussieht, werden die Subscriber misstrauisch. Sie wollen ja keinen Fernsehsender einschalten, sondern etwas persönliches sehen. Bist du bereit?« Er schaltete die Kamera um, sodass er sich selbst auf dem Display sehen konnte. Die kurzen blonden Haare modisch zur Seite gekämmt, die große Hornbrille ein wenig tiefer auf die Nase gezogen, der helle Dreitagebart über seiner braunen Haut gepflegt, aber nicht so sehr, dass er langweilig gewirkt hätte.

»Ich bin bereit«, sagte Michelle.

»Gut. Ich mache einen kurzen Einspieler, und dann schalte ich zu dir um, stelle ein paar Fragen und so. Okay?«

»Klar.«

Luc drückte den Aufnahmeknopf und grinste sein Ebenbild an.

»Hallo, liebe Geofreaks, hier ist wieder euer Lucky Luc und ich bin heute back mit einem ganz besonderen Video, denn ich bin nur für euch den weiten Weg aus San Francisco bis ins spanische Cebreros geflogen – das ist übrigens nahe Madrid für alle, die ihren Globus in der Kindheit nur zum Fußballspielen benutzt haben. Wie ihr seit meiner Videoreihe zu Mond und Mars wisst, bin ich nicht bloß großer Fan der NASA, sondern auch der ESA, und die hat ein ganz großes Projekt am Start: Euclid.« Luc deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben. »Euclid ist das neueste Weltraumteleskop der Welt und gerade einmal vor einem Monat von Korou aus gestartet. Seit einer Woche hat es jetzt seinen Zielpunkt, den Lagrange-Punkt 2 auf der abgewandten Seite des Mondes erreicht. Wenn du mehr über Lagrange-Punkte erfahren willst, klick einfach auf den Link hier oben im Video.« Erneut hob er eine Hand und deutete rechts über seinen Kopf. »Euclid hat eine ganz spannende Mission: Es soll mehr über dunkle Energie und dunkle Materie herausfinden und ist mit modernsten Instrumenten ausgestattet. Damit geht es einem der größten Rätsel der Astrophysik auf die Spur und es wird uns großartige neue Erkenntnisse liefern. Damit ihr wie gewohnt hautnah dabei seid und aus erster Hand sehen könnt, wie genau das funktioniert und vonstattengeht, bin ich zur Bodenstation in Cebreros geflogen und habe mich mit Michelle Daubner zusammengetan. Sie ist Physikerin hier an der Deep Space Antenna 2 und leitet die Nachtschicht. Hi, Michelle.«

Luc schaltete die Kamera um und richtete das Bild so aus, dass es ihren Oberkörper mit einer der Büroparzellen zeigte. Im Hintergrund waren einige Poster mit Teleskopen zu sehen. Nicht viel, aber es musste reichen.

»Hallo und herzlich Willkommen in Cebreros«, erwiderte sie lächelnd und winkte charmant in die Linse.

»Michelle, ihr lauscht hier nicht bloß auf Signale von E.T., sondern seid auch zuständig für die Steuerung von Euclid und das Empfangen seiner Daten, oder?«

»Das ist richtig. Euclid ist das modernste Weltraumteleskop seiner Art, und darauf sind wir hier bei der ESA sehr stolz. Es besitzt im Grunde zwei Instrumente, die beide auf ein fast anderthalb Meter durchmessendes Teleskop zugreifen, das fünfundzwanzig Meter Brennweite hat. Das erste Instrument arbeitet im sichtbaren Spektrum und das andere im Infrarot-Spektralbereich. Daten von beiden werden über eine bewegliche Antenne direkt zu uns hier in Spanien geschickt und dann ausgewertet.« Michelle grinste schelmisch. »Luc, deine Zuschauer bei PlanetLuc sehen doch gerne echte Wissenschaft in Arbeit, oder?«

Luc schaltete die Kamera um und machte eine fragende Grimasse. »Die Antwort kennen wir wohl alle, liebe Geofreaks, was?«

»Na, dann wollen wir doch mal sehen, was Roberto so macht.« Michelle gab der zukünftigen Zuschauerschaft einen Wink. »Der sitzt an den Kontrollen und wird Euclids Auge zu Beginn der Nachtschicht neu ausrichten. Die Kollegen von der NASA haben einen Kometen ausgemacht, der uns sehr nahekommen wird. Sie haben uns gebeten, diesen kosmischen Besucher mal genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich kann euch beruhigen: Er wird ein Komet bleiben und uns womöglich ein paar schöne Bilder bei klarem Nachthimmel bescheren, aber es besteht keine Gefahr. Also, wollt ihr live dabei sein?«

»Oh ja, das wollen wir!« Luc ließ die Kamera eingeschaltet und folgte Michelle auf dem Weg um die Rückseite der riesigen Arbeitskonsole herum. Michelle war gut vor der Linse, vielleicht würde die ganze Sache hier tatsächlich der krönende Abschluss seiner Reihe über reisende Himmelskörper werden. Roberto war offenbar bereits gebrieft worden. So viel Professionalität und Flexibilität hatte Luc der ESA gar nicht zugetraut, diesem europäischen Bürokratiekoloss, der stets die Interessen von zig Mitgliederstaaten und ihren Budgets unter einen Hut bringen musste.

Der Astronom grinste äußerst fotogen, als sie um die Ecke kamen und sich dem breiten Halbkreis aus übereinander angeordneten Displays näherten. Vor ihm befanden sich eine Maus und Tastatur. Von insgesamt zwanzig oder mehr Monitoren waren nur noch vier eingeschaltet.

»Hallo, Roberto. Wie sieht es denn aus mit der Neuausrichtung? Kannst du unseren Zuschauen erklären, was genau hier gleich passiert?«, fragte Michelle und setzte sich gelassen auf den Schreibtisch, der in einem Stück in die Displaywand überging. Luc hielt sich zwischen den beiden, zoomte einmal auf Roberts Finger auf der Tastatur und dann in sein Gesicht.

»Klar«, antwortete der mit rollendem Akzent. »Die NASA hat einen neuen Himmelskörper entdeckt, den Kometen haben wir intern Cassandra 22006, benannt nach seiner Entdeckerin Cassandra Miles, die in Houston sitzt, und heute sogar Dienst hat. So wird er natürlich nicht heißen können, weil es schon einen Kassandra gibt und die laufende Nummer ist auch nicht korrekt und steht für eine interne Bezeichnung vorläufiger Sichtungen mit Vorbehalt. Ich Cassandra auf diesem Telefon hier per Direktwahl eingespeichert.« Roberto zeigte auf eins der vertikal angebrachten Festnetztelefone unter den Displays. »Sie wird natürlich wissen wollen, wohin es ihren neuesten Fund verschlägt.«

»Cassandra. Eingängiger Name. Was wissen wir denn über ihn?«

»Die NASA ist mittels des reaktivierten Weltraumteleskops Neowise auf ihn gestoßen, als es den Himmel nach unbekannten Objekten abgesucht hat. So wie es aussieht, handelt es sich um einen fünf bis fünfzehn Kilometer durchmessenden Brocken aus Wassereis und Geröll, der einen stolzen Schweif hinter sich herzieht.«

»Darum nennt man Kometen auch Schweifsterne«, erklärte Luc in die Kamera. »Sie haben diesen Schweif nicht immer, sondern immer nur dann, wenn ihre Bahn sie nahe an der Sonne vorbeifliegen lässt. Meistens handelt es sich um Wasser, dass dabei verdampft und einen langen Abgasstrahl ähnlich wie bei einer Rakete bildet. Dadurch, dass die umherfliegenden Moleküle von der Strahlung unseres Zentralsterns erfasst werden, leuchten sie für unsere Augen, beziehungsweise Teleskope so schön.«

»Richtig«, stimmte Roberto ihm zu und nickte, als Luc ihn wieder filmte. »Cassandra ist etwas ganz Besonderes. Er stammt von der anderen Seite der Sonne und ist uns trotz seiner Größe offenbar lange entgangen, was wirklich verwundert. Seine Koma hat auf der Aufnahme von Neowise einen Durchmesser von über drei Millionen Kilometern.«

»Koma, das ist eine Art Nebelhülle, die sich in der Nähe der Sonne um den Kern bildet, der meist nur wenige Kilometer durchmisst. Sie ist riesengroß, in diesem Fall zehnmal die Distanz zwischen Erde und Mond. Der Schweif bildet sich dann daraus nach hinten weg und erreicht bis zu einhundert Millionen Kilometer Länge. Unvorstellbare Distanzen, liebe Geofreaks.«

»Ja, Kometen versetzen uns jedes Mal in große Aufregung.«

»Freudige Aufregung«, warf Michelle ein, und Roberto nickte eifrig.

»Absolut. Ein Besucher von solch einer Größe kommt nur etwa einmal in zehn Jahren vor.«

»Und eure Aufgabe ist es heute, mehr über ihn zu erfahren?«, fragte Luc, um das Gespräch nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.

»Wir richten Euclid neu aus und schauen uns Cassandra genauer an. Das ist ein wirklich später Fund.«

»Michelle hatte schon gesagt, dass keine Gefahr von ihm ausgeht. Was macht euch da so sicher?«

»Oh, das wissen wir aufgrund der Statistik. Kometen sind sehr fragile Himmelskörper, die wie bereits erwähnt aus Wasser Gestein und jeder Menge Staub bestehen. Sie sind generell sehr locker und nicht so fest wie Asteroiden, die zu Meteoren oder Meteoriten werden können, wenn sie auf die Atmosphäre treffen. Wenn Besucher wie Cassandra sich der Sonne nähern, lösen sie sich langsam auf, brechen häufig auseinander und vergehen. Sie sind nicht sonderlich langlebig, sobald sie sichtbar werden«, erklärte Roberto und wandte sich von der Kamera ab und dem Keyboard vor sich zu. Er begann eine ganze Reihe von Eingaben zu machen, und der Monitor direkt vor ihm zeigte eine grüne Codezeile auf schwarzem Hintergrund. »Ich beginne jetzt mit der Neuausrichtung, dazu muss ich die neuen Koordinaten per Hand eingeben. Den Rest macht dann die Steuereinheit von Euclid.«

»Was genau erhofft ihr euch von der Beobachtung?«, stellte Luc seine rhetorische Frage so, dass er hoffte, die meisten seiner Zuschauer würden den offensichtlichen Infodump nicht durchschauen.

»Das Bild von der NASA war nur das: ein Bild. Eine Momentaufnahme unter vielen. Wir wissen jetzt, dass es da draußen einen Kometen gibt, aber das sagt noch nichts aus. Ist er langperiodisch, das heißt, er kreist um die Sonne wie ein Planet, oder kurzperiodisch, also in kürzerer Umlaufzeit zwischen Sonne und Jupiter. Meist ist Jupiter dafür verantwortlich, dass sie aus ihrer Bahn gerutscht sind. An Cassandra sind gleich mehrere Dinge ungewöhnlich: Normale Kometen kreisen Jahrmillionen um die Sonne und sind immer wieder sichtbar. Dieser hier erst einmal. Außerdem hat das Bild von Neowise einen mysteriösen Schatten.« Michelle deutete auf ein Display weiter rechts und machte einige Eingaben auf einer zweiten Tastatur. Ein Bild tauchte darauf auf und zeigte vermutlich Cassandra 22006 mit beeindruckendem Schweif und großer Koma, die sich nach hinten aufzerrte. Doch mitten in der Koma befand sich ein dicker schwarzer Fleck. Michelles Finger wanderte genau dorthin.

»Seltsam«, murmelte Luc und rückte näher heran. Die Kamera seines Smartphones in seiner Hand folgte wie von selbst. »Wie geht das überhaupt? Ein Fleck auf der Linse?«

»Das haben wir uns auch gefragt. Aber Cassandra hat uns versichert, dass mit dem Objektiv alles stimmt. Vergleichsaufnahmen weisen keine solche Schwärzung auf.«

»Dann würde das aber bedeuten, dass sich ein Objekt vor dem Kometen befindet. Was könnte das sein?«

»Wissen wir nicht. Sollte es sich beispielsweise um einen Asteroiden handeln, wäre er viele Kilometer im Durchmesser und damit ein echtes Schwergewicht aus dem Kuipergürtel oder der Oortschen Wolke. Zwei Objekte von solch einer Masse fliegen nicht so nahe beieinander. Ihre Gravitation hätte minimale Auswirkungen aufeinander, aber immer noch Auswirkungen. Sie wären wohl Millionen von Jahre parallel zueinander in relativer Nähe geflogen. Das scheint doch sehr unwahrscheinlich«, war sich Michelle sicher und zeigte auf Robertos Display mit den eingegebenen Codezeilen, als der gerade die Enter-Taste drückte und ein Ladebalken auftauchte. »Wie sieht’s aus, Roberto?«

»Die Neuausrichtung ist abgeschlossen. Jetzt heißt es auf die Ergebnisse warten. Euclid schießt jetzt eine Serie von Bildern, die der Computer dann zusammenfügt. Nach einer Stunde und weiteren zwölf Stunden werden Vergleichsbilder gemacht und dann nochmal nach drei Tagen, einer Woche und zwei Wochen. Damit können wir dann recht zuverlässig sagen, wie schnell sich Cassandra bewegt und in welche Richtung.«

»Wie alt ist das Bild von der NASA?«, wollte er wissen.

»Ein paar Tage.«

»Also könnte der Vergleich eures ersten Bildes mit dem Original schon einige Hinweise liefern, oder?«

»Ja, das hoffen wir. Wie sieht es aus, Roberto?«, fragte Michelle. Der Astronom hatte konzentriert die Stirn gerunzelt und tippte auf seiner Tastatur herum, ehe er aufsah, auf Enter drückte und sich in seinen Stuhl zurückfallen ließ. Ein Foto setzte sich Pixel für Pixel auf dem untersten Display zusammen und formte nach und nach das Bild des Kometen. Etwas war anders.

»Das ist von gerade eben?«, fragte Luc.

»Ja«, versicherte Roberto ihm.

»Wo ist der Schatten?«

Die beiden ESA-Wissenschaftler gingen mit den Augen näher heran.

»Er ist nicht mehr da.«

»Stimmt«, murmelte Michelle und zeigte mit dem Finger auf eine helle Sichel, etwa einen Zentimeter daneben. »Was ist das?«

»Sieht aus wie ein Lichthalo«, meinte Roberto.

»Könnte das unser Schatten sein? Ein Asteroid?« Luc richtete die Kamera auf sich. Als er mit gedämpfter Stimme sprach, schienen die beiden anderen es gar nicht zu bemerken. »Leute, ich glaube, dass wir hier etwas Besonderem auf der Spur sind. Haben wir etwa gerade was entdeckt?«

»Einen Linseneffekt können wir jedenfalls ausschließen.«

»Es muss sich um einen Himmelskörper handeln. Der Bereich vor dem Halo ist eindeutig dunkler als die Umgebung.« Der spanische Astronom sprach mit immer stärkerem Akzent. Offensichtlich ein Phänomen, das auftrat, wenn er sich konzentrierte. »Wir müssen auf die anderen Bilder warten, sonst kommen wir da nicht weiter.«

Wie sich herausstellte, hatten Michelle und Roberto große Freude daran, die nächsten Stunden mit ihrem einen Bild zuzubringen und es immer wieder mit dem ersten von Cassandra zu vergleichen. Fakt war, dass der Schatten nicht mehr da war und sich jetzt ein dunkler Fleck mit einem Lichteffekt – womöglich von hinten angestrahlt – links des Kometen zeigte. Luc war dermaßen müde, dass er sich irgendwann zurückzog. In einer der Büroparzellen hatte er eine Isomatte entdeckt, vermutlich von einem äußerst übereifrigen Angestellten. Er legte sich darauf und faltete die Hände hinter dem Kopf. Als die Matte weniger gemütlich war als erhofft, überlegte er, zu Michelle zu gehen und sie darum zu bitten, ihn wie vereinbart ins Hotel zu bringen, aber dann hätte er sich bloß schlecht gefühlt. Also verwarf er den Gedanken wieder. Erstens wollte er die beiden Wissenschaftlerkollegen nicht bei ihrer Arbeit stören, die ihnen gerade offensichtlich so viel gab wie sonst selten. Und zweitens wäre es ihm ein Graus, sollte sich etwas Neues ergeben, und er wäre irgendwo in einem Hotel und würde bei einem schlechten Film und noch schlechterem Rotwein dahinschlummern. Nein, das hier war wirklich spannend. Er hatte noch nie davon gehört, dass sich zwei verirrte Himmelskörper vom Rand des Sonnensystems zusammentaten und dicht an dicht die Bahnen der Planeten kreuzten. Das war eine Sensation, und wenn er es gut anstellte, dann wäre er der Erste, der darüber berichten würde. Im Kopf ging er wieder die Vereinbarung mit der ESA durch, die im Grunde genommen lediglich beinhaltete, dass er nur aufnehmen durfte, wenn er dazu die Erlaubnis erteilt bekam. Im Gegenzug musste er das Material nicht zu einer Sichtung und Freigabe herausgeben – sonst hätte er nicht eingewilligt. Der andere Punkt war, dass er das Logo der Weltraumagentur nicht ohne Zustimmung verwenden durfte. In diesem Fall waren sie sehr nachdrücklich aufgetreten, was ihn verwunderte, schließlich hatte die NASA mit der kommerziellen Freigabe ihres Logos für einen weltweiten Bekanntheitsschub gesorgt, seit jeder ihre Pullover trug. Aber so war es nun einmal.

Also rappelte er sich nochmal auf und zückte sein Smartphone. Seine Haare wuschelte er ein bisschen durcheinander, und die Brille legte er zur Seite. Auf dem Schreibtisch fand er im Halbdunkel eine kleine Batterielampe und schaltete sie ein, sodass ein diffuses Licht auf sein Gesicht fiel. Als er zufrieden war, aktivierte er die Aufnahme im Selfie-Modus.

»Hallo, liebe Geofreaks, hier ist wieder euer Lucky Luc«, flüsterte er verschwörerisch und mit verschlafener Stimme. »Ich befinde mich gerade im Gebäude der Cebreros-Bodenstation in Spanien und nehme für euch ein neues Video auf, das ihr am Sonntag in Gänze sehen könnt. Wenn ihr schon Bock darauf habt, dann lasst mir doch einen Daumen nach oben da und vergesst nicht, auf den Subscribe-Button zu drücken, wenn euch meine geheime Wissenschaftsmission schon ganz verrückt macht! Hier im Kontrollzentrum ist gerade die Nachtschicht am Werk, die nur aus zwei Personen – und mir – besteht. Die NASA hat vor Kurzem einen Kometen entdeckt, der besonders groß ist und gerade an der Sonne vorbei fliegt. Irre, dass er bisher noch nicht entdeckt worden ist. Aber es kommt noch spannender: So wie es aussieht, handelt es sich um ein Doppelpack, denn das Bild von Cassandra – so heißt der Komet – weist einen Schatten auf, bei dem es sich offenbar um einen Asteroiden handeln könnte. Genaueres wissen wir noch nicht, aber ich sage euch, da kommt am Sonntag eine geniale Folge PlanetLuc auf euch zu! Wie ihr wisst, war die Serie um Meteoriten und wie sie unsere Erdgeschichte beeinflusst haben, ein echtes Herzensprojekt. Im Studium der Geophysik habe ich viel mit Überbleibseln einstiger Impaktereignisse gearbeitet und fand es schon immer faszinierend, wie fremde Besucher aus den dunkelsten Tiefen des Alls unseren Planeten verändert und beeinflusst haben. Wenn sich ein Brocken wie der, den wir da gerade auf den Schirmen hatten, unserer schönen Erde nähern sollte, dann wären wir echt im Eimer, das brauche ich euch nach meiner Videoserie aber nicht zu sagen. Denkt nur an das Tunguska-Ereignis oder das Aussterben der Dinosaurier. Wenn ihr die Serie noch nicht gesehen habt, klickt einfach hier oben im Bild auf den Link dazu. Ich bleibe für euch dran und halte euch auf dem Laufenden. Euer Lucky Luc!«

Er schaltete den Aufnahmemodus aus, setzte seine Brille auf, und begann damit, das Video grob zu bearbeiten und mit den entsprechenden Links zu füttern. Dann kamen noch die Tags an die Reihe: Asteroid, Meteor, Komet, Einschlag, Impact, Tunguska, Dinosaurier, Armageddon. Dann startete er den Upload. Der dauerte eine gefühlte Ewigkeit bei dem schlechten Empfang hier in der Provinz. Als der blaue Balken endlich sein Ende erreicht hatte, schaltete er die Lampe auf dem Schreibtisch aus. Er lugte über den halbhohen Sichtschutz seiner Büroparzelle zur Rückseite des Kontrollpanels, von wo die gedämpften Stimmen von Michelle und Roberte an sein Ohr drangen. Bevor er seine Reise angetreten hatte, war seine Befürchtung gewesen, dass dieser Trip ein Reinfall werden würde. Er hatte schon mit Musk gedreht und war seither von allem anderen enttäuscht worden, auch wenn es bei der NASA wirklich reibungslos und professionell abgelaufen war. Die ESA aber kam ihm immer wie dieser Dinosaurier unter den Weltraumagenturen vor. Verlässlich, technologisch bedeutend und präzise in allen Projekten, aber immer auch ein wenig vom Morast zu vieler Behörden und Ministerien behindert, durch den der Generaldirektor waten musste, um seine Gelder zu bekommen. Jetzt Zeuge einer wirklich spannenden Entdeckung zu werden, hätte er selbst in seinen kühnsten Träumen über dem Atlantik niemals erwartet. Eigentlich war es ihm mehr darum gegangen, weitere Perspektiven für seine Follower aufzumachen. Luc hatte reichlich Abonnenten aus Europa, die zwar SpaceX und NASA sicher sexy fanden, aber mit der ESA vor der Haustür einen unterschätzten Riesen neben sich hatten. Dieser erwartete von ihm, ihn ein bisschen moderner und offener zu zeigen, quasi von seiner jugendlichen Seite. Immerhin hatte sein Kanal zehnmal so viele Follower wie der der ESA, und Luc war eine Einzelperson. Ob es sich für sie rechnen würde, wusste er nicht, bei solchen Institutionen gab es nur so viel, das man tun konnte. Einen Elefanten konnte man nicht zu einem Leoparden machen. Aber das war auch nicht seine Aufgabe. Er war hier, um seinen Kanal mit spannendem Content zu füllen und neue Abonnenten dazuzugewinnen, und dieser Plan schien sich bisher wirklich gut zu entwickeln.

Als er aufwachte, wusste er gar nicht, dass er überhaupt eingeschlafen war. Im Kontrollzentrum herrschte noch immer ein düsteres Zwielicht, doch er hörte die beiden ESA-Mitarbeiter nicht mehr diskutieren. Stattdessen raschelte etwas ganz in seiner Nähe, und er musste einige Male blinzeln, bis er realisierte, was es war. Michelle durchwühlte einen Stapel Papier auf dem Schreibtisch in der Parzelle, die er als Nachtlager zweckentfremdet hatte.

»Was ist los?«, fragte er schlaftrunken und rappelte sich auf die Ellenbogen auf. Dann tastete er nach seiner Brille und setzte sie auf.

»Oh«, machte die Österreicherin und zuckte zusammen. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken. Und sorry, dass ich dich nicht ins Hotel gebracht habe. Hier ist gerade einfach zu viel los.«

Luc machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mich hättest du hier eh nicht wegbekommen. Was gibt es denn?«

»Ich suche eine Telefonnummer.«

»In einem Papierstapel? Mach dir doch das Licht an.«

»Danke.« Michelle drückte auf die Batterielampe und die Flut an Photonen ließ seine Augen brennen. »Die unseres Mathematikers, er heißt Filipe und ist erst seit zwei Tagen hier. Wir haben ihn noch nicht ins System eingetragen. Keine blöden Sprüche, okay?«

Luc hob abwehrend die Hände und sortierte sich die Haare. »Nee, nee. Wofür braucht ihr den?«

»Roberto meint, dass wir genügend Bilder von Euclid haben, um die Flugbahn des Asteroiden mit einer überschaubaren Abweichung berechnen zu können.«

»Asteroiden? Was ist aus Cassandra geworden?«

»Cassandra 22006 fliegt weiter, aber Cassandra 22007 kommt in unsere Richtung, wenn wir uns nicht vertan haben. Aber dafür müssen wir Filipe erreichen.«

»Also ist es wirklich ein Asteroid!«, sagte Luc triumphierend. »Hab’ ich’s doch gewusst!«

»Ja. Aber ich brauche jetzt Filipes Nummer.«

»Ihr wollt euch nicht blamieren, wenn wir wen-auch-immer aus dem Bett klingeln. Also soll der Mathefreak nochmal alles durchrechnen?«, dachte er laut. Michelle drehte sich um, und ihre Miene sah im schwachen Licht der Lampe aus wie die eines Geistes, der sich aus Schatten zusammensetzte. Erst dachte er, sie sei wütend, doch als sie sprach, klang sie ganz normal.

»Genau. So etwas kommt nicht oft vor, da wollen wir lieber sicher sein, dass alles Hand und Fuß hat. Wach klingeln werden wir zwar niemanden, aber direkt morgen früh sollten wir den Generaldirektor informieren«, sagte die Physikerin, drehte sich um und kramte weiter in dem Papierstapel, bis sie endlich »Ha!« rief und einen Zettel aus dem Chaos zog. Sie wedelte damit in seine Richtung und lief aus der Parzelle hinaus.

Luc nutzte die Zeit des Wachwerdens, um die Reaktionen auf sein Kurzvideo vom Abend zu checken. Es hatte bereits mehrere tausend Likes und über sechshundert Kommentare erhalten. Nicht schlecht für einige Stunden. Eine Meldung ploppte auf. Sein Video war jetzt ausgegraut und mittendrin stand in emotionslos kleiner Schrift: Dieses Video verstößt gegen die Richtlinien.

»Was soll das denn?«, fragte er erbost. »Gegen die Richtlinien?«

Wütend begann er in den Einstellungen hin und her zu springen und nach der Ursache zu suchen, konnte sich jedoch nichts zusammenreimen. Er hatte weder Schimpfwörter benutzt, noch sexistische Dinge gesagt oder gezeigt und schon gar nicht das Wort Virus in den Mund genommen. Als das Licht im Kontrollzentrum plötzlich ausging, bemerkte er es erst gar nicht, da er so gebannt auf sein Display starrte. »Was ist mit dem Strom los?«, fragte Luc und sah vom Bildschirm seines Smartphones auf. Es war die einzige Lichtquelle, soweit er das beurteilen konnte.

»Stromausfall!«, antwortete Michelle von irgendwo.

Luc stand auf und lugte über den Sichtschutz der Büroparzelle, ehe er hinaus zum Kontrollbereich ging. Dort saß Roberto noch immer an seiner Tastatur und hob gerade frustriert die Arme. Die Physikerin leuchtete mit der Taschenlampenfunktion ihres eigenen Telefons und bildete eine Art Lichtinsel in der Dunkelheit.

»Todito muerte!«, schimpfte der Astronom und drückte wie wild auf irgendwelchen Knöpfen herum, aber es tat sich nichts.

»Kommt das öfter vor?«, wollte Luc wissen.

»Selten.« Michelle schüttelte den Kopf.

»Keine Generatoren für Fälle wie diesen?«

»Schon, aber die wurden gerade ausgetauscht und sollten am Wochenende angeschlossen werden.«

»Da hilft wohl nur warten«, befand Luc.

»Was für ein Scheißtiming!«, fluchte Michelle mit düsterer Miene und schlug mit einer Faust auf die Tischplatte. Als sie aufsah, verzog sie entschuldigend das Gesicht. »Sorry. Ich wollte nicht …«

»Schon gut, ich kann dich schon verstehen. Das ist wirklich ein Scheißtiming.«

»Ich wollte gerade die ganzen Daten weiterleiten«, meckerte Roberto und hörte damit auf, die Tasten seiner Tastatur zu malträtieren. Stattdessen warf er die Arme hinter den Kopf und zog dann sein eigenes Smartphone aus der Hosentasche. Mit vor Zorn gerunzelter Stirn tippte er eine Nummer ein.

»Wen willst du anrufen?«, wollte Michelle wissen.

»Die Techniker. Sie sollen sofort den neuen Generator anschließen!«

»Es ist mitten in der Nacht!«

»Ist mir egal.« Er wählte und hielt sich das Telefon ans Ohr, nur um es wieder sinken zu lassen und einen ganzen Schwall spanischer Flüche loszulassen.

»Was ist?«

»Kein Signal. Es rauscht und kratzt nur!«

Luc sah auf sein eigenes Display hinab. Er hatte immer noch drei von vier Empfangsbalken. Probehalber drückte er auf die Schnellwahl für seinen Bruder, doch auch aus seinem Smartphone drang nur ein hässliches Rauschen, das in seinen Ohren wehtat.

»Fuck, was ist das?«

»Irgendwas stört unser Signal«, antwortete Roberto überflüssigerweise. »Vielleicht hängt es mit dem Stromausfall zusammen.«

»Wenn es sich um ein großflächiges Problem handelt, könnten die Mobilmasten betroffen sein«, mutmaßte Michelle. »Da hilft wohl nur abzuwarten.«

Luc schielte auf seinen Akkustand. Fünfzig Prozent. Nicht viel, aber trotzdem kein Grund, sich das hier entgehen zu lassen. Er schaltete auf die Kamera-App und drückte auf den Selfie-Modus, bevor er den Aufnahmeknopf betätigte.

»Hey, liebe Geofreaks. So wie es aussieht, wird mein Abstecher zur ESA immer mysteriöser. Erst entdecken wir einen Asteroiden, der in – kosmisch gesehen – direkter Nähe eines bisher unentdeckten Kometen fliegt und uns so vermutlich seit Ewigkeiten entgangen ist. Er kommt auf die Erde zu, auch wenn er uns vermutlich nicht treffen wird. Wissen kann man es an dieser Stelle noch nicht mit einhundertprozentiger Gewissheit. Jetzt ist der Strom ausgefallen, und alle Systeme sind bis auf weiteres tot. Ich halte euch auf dem Laufenden. Wenn ihr gespannt seid auf die ganze Folge am Sonntag: Lasst doch einen Daumen hoch da und schreibt unten in die Kommentare, was ihr denkt, wie nahe uns Cassandra 22007 kommen wird. Ich werde jetzt erst einmal dafür sorgen, dass ihr das hier seht und zwar so schnell wie möglich. Euer Lucky Luc lässt sich nicht so schnell abschalten. Falls mein Video wieder gesperrt wird: Ich stelle es hiermit jedem frei, es zu reuppen, damit es sichtbar bleibt!«

»Echt jetzt?«, maulte Roberto und sah ihn wütend an. »Wir machen gerade eine wichtige Entdeckung und unsere ganzen Daten sind weg, und du hast nichts besseres zu tun, als eine Botschaft für deine Follower aufzunehmen?«

»Nein, habe ich nicht«, giftete Luc zurück. »Ich bin schließlich weder Elektriker noch der Mann mit dem Dieselaggregat. Oder würde es dir besser gehen, wenn ich mit einem Schraubenschlüssel in der Hand winke?«

»Ruhig Blut«, ging Michelle dazwischen. »Das hier ist nur ein Stromausfall, kein Weltuntergang. Luc ist hier, weil er für seinen Kanal etwas über uns bringt, also kann er so viel filmen wie er will, Roberto. Klar?«

»Ja, sorry, ist ja gut«, brummte der Angesprochene.

»Ich packe meinen Starlink-Empfänger aus«, entschied Luc. »Was dagegen, wenn ich ihn auf einem von euren Autos platziere?«

»Du bist Starlink-Kunde?« Die Physikerin klang überrascht.

»Äh, klar. Weltweites Internet egal wo ich bin? Ich bin Youtuber!«

»Cool, dann können wir Darmstadt und Paris schon mal informieren!«, freute sich Roberto und räusperte sich. »Falls das okay ist, meine ich.«

»Jo, wieso nicht? Ich lade mein Video hoch, das dauert keine Minute. Und dann könnt ihr eure Leute anrufen, abgemacht?«

»Abgemacht.« Der Astronom entspannte sich sichtbar.

»Nimm am besten meinen Pick-up«, schlug Michelle vor. »Der steht neben der Schüssel.«

»Alles klar, danke.«

Luc ging zum Flur, leuchtete den Weg mithilfe seines Displays aus, was gerade so ausreichte, um nicht gegen Türen und Wände zu stoßen. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die erschwerten Bedingungen angepasst und erlaubten es ihm, auch mit dem Wenigen auszukommen, das ihnen an Photonen zur Verfügung stand. Er hätte die Taschenlampen-App benutzen können, aber das wäre bloß auf Kosten seiner Batterie gegangen. Erneut ärgerte er sich darüber, dass er die Powerbank während des Fluges aufgebraucht und nicht sofort wieder geladen hatte, als sich die Möglichkeit geboten hatte. Vielleicht sollte er tatsächlich mal ein Seminar gegen Flugangst belegen, um sich nicht ständig ablenken zu müssen.

Im Eingangsbereich stand noch immer sein großer Koffer wie vergessen im Foyer eines mittelmäßigen Hotels. Luc kippte ihn zur Seite und öffnete den Reißverschluss. Direkt darunter, über seinen Klamotten, Stativen und Kamerataschen, lag eine flache Schachtel, die von ihren Dimensionen her in etwa an eine Pizzaschachtel erinnerte. An den Seiten klappte er sie auf und zog die Empfangsantenne für das Satellitensystem von SpaceX heraus, mit dem er an jedem Punkt auf der Welt schnelles Internet nutzen konnte. Ob Strom oder nicht. Der faustgroße Akku, den er neben das ausklappbare Dreibein pappte, reichte für den eingebauten Router etwa vier Tage. Durch die Tür nach draußen trat er unter einen klaren Sternenhimmel, wo es deutlich heller war als drinnen. Also steckte er das Smartphone weg und blinzelte ein paar Mal, bis er das Gefühl hatte, sich im Halbdunkel gut zurechtzufinden. Zwei Autos standen noch neben der Tür, über dicke Kabel mit den Stromsäulen verbunden, die jetzt nichts mehr zu geben hatten. Der staubige Platz zwischen ihm und der riesigen Antenne Deep Space Antenna 2 sah aus wie die graue Oberfläche eines Sees, und die Bäume rechts und links wie dunkle Wellen am Horizont mit zerklüfteter Gischt.

Luc brauchte ein paar Atemzüge, bis er unter der mächtigen Anlage in etwa einhundert Metern Entfernung einen geradezu mickrigen Schatten ausmachen konnte. Das musste Michelles Pick-up sein. Er stand ein paar Meter von dem Koloss aus Stahl entfernt und würde ihm eine leicht erhöhte Position mit freiem Blick zum Nachthimmel ermöglichen, also genau richtig. Gemäßigten Schrittes ging er über den Platz zu dem Wagen, bei dem es sich um einen Toyota mit kurzer Ladefläche und großer Kabine handelte. Er stieg hinten auf und platzierte die Empfangsantenne auf dem Dach, nachdem er das Dreibein ausgeklappt hatte. Über den einzigen Knopf an der Unterseite aktivierte er den Router und wartete darauf, dass die rote Leuchte auf Grün umsprang. Währenddessen blickte er zu der Anlage hinauf, die aus nächster Nähe noch viel gewaltiger und eindrucksvoller war als ohnehin schon. Wie ein Monster aus wirren Schatten mit all den Verstrebungen, Kabeln und kleinen Laufstegen für Ingenieure wirkte es wie aus der Zeit gefallen. Über dem gigantischen Gelenk, das für sich schon so groß war wie ein Wohnhaus, bildete die Antenne eine weit geöffnete Schale, als wolle sie die Sterne auffangen, die oben in der Dunkelheit glitzerten. Ein paar waren heller, wie beispielsweise die Venus und der Mars, der durch seinen leichten Rotstich hervortrat. Aber es gab da auch einige andere, die gar keine Sterne waren, sondern Satelliten, so wie die ersten Starlink-Chargen, die noch stark reflektiert wurden und den Zorn der Hobbyastronomen auf sich gezogen hatten. Zwei Kandidaten leuchteten relativ unstet, als wollten sie einen Morsecode aussenden. Mal stärker und mal schwächer glänzten sie am Firmament recht dicht über den Baumwipfeln im Westen.

Luc sah zu der Leuchtdiode seines Starlink-Empfängers und brummte zufrieden, als er sah, dass sie grün flimmerte. Rasch öffnete er die Youtube-App, um sein Video von eben hochzuladen. Der Stromausfall war nervig, aber er würde auch weitaus bessere Zuschauerzahlen bringen, als er sich von dem Termin mit der ESA erhofft hatte. Während der Ladebalken voranschritt, sah er wieder über die Baumwipfel, nur um festzustellen, dass die beiden Sterne oder Satelliten jetzt viel größer waren als gerade zuvor. Auch war ihr Leuchten noch immer unstet, aber von tiefem Gelb und im nächsten Augenblick jagten zwei Helikopter über den Platz und bremsten stark ab. Ihre Rotoren surrten nicht lauter als ein Auto mit Verbrennungsmotor, aber die Scheinwerfer, die sie soeben eingeschaltet hatten, waren so grell wie die Sonne und ließen die Nacht zu einer bloßen Erinnerung verpuffen, wo sie auf den Boden trafen. Luc stieß einen Fluch aus und sprang von der Ladefläche des Pick-ups, um dahinter in Deckung zu gehen.

Helikopter? Wo kommen die her? Und warum sind die so leise?, schoss es ihm durch den Kopf, und seine Hände waren plötzlich schweißnass. Über den hinteren Blinker hinweg sah er mit an, wie die Hubschrauber sich auf die staubige Lichtung zwischen Kontrollzentrum und Antenne herabsenkten und dabei kleine Windhosen aus Staub aufwirbelten. Diese jagten von den Rotorblättern davon und deckten die Karosserie des Wagens mit einem sanften Prasseln ein. Luc sah schemenhafte Gestalten, die sich von den Seiten der Kabinen lösten und in gebückter Haltung in Richtung des gedrungenen Gebäudes liefen. In ihren Händen hielten sie …

»Oh, Scheiße!«, fluchte er mit gepresster Stimme und drehte sich, mit dem Rücken gegen den mächtigen Hinterreifen gepresst, weg. Den Kopf lehnte er schwer atmend zurück, bis er den Gummi berührte. Das waren Gewehre. Bewaffnete! So wie sie gelaufen waren, erinnerten sie ihn an Spezialeinheiten in Actionfilmen oder Thrillern. Mit zitternden Gliedern kletterte er unter den Pick-up und duckte sich unter die Fahrzeugwanne, zog sein Smartphone heraus und stellte es schnell auf lautlos und das Display auf niedrigste Helligkeit. Dann drückte er den Aufnahmeknopf seiner Kamera-App.

»Leute«, keuchte er flüsternd und war selbst erschrocken von der Angst in seinem Gesicht, als er sein Ebenbild sah. »Hier wird es immer irrer! Zwei Helikopter sind aus der Nacht gekommen. Irgendwelche Stealth-Dinger, die waren total schwer zu hören! Sie sind gelandet und haben Männer mit Gewehren ausgespuckt. Ich glaube, dass irgendjemand was vertuschen will.« Luc stellte die Kamera um, so dass sie nach vorne zeigte, und filmte unter dem Auto hindurch die Szene. Ein halbes Dutzend Schatten mit langen Gegenständen in den Händen hielten auf das Gebäude zu, vier andere liefen in Richtung der Antenne, knapp an ihm und dem Pick-up vorbei. Sie bewegten sich katzenhaft und mit erschreckender Geschwindigkeit. Er sah, wie jemand aus dem Eingang herauskam und ein hell leuchtendes Smartphone vor sich hielt, vermutlich mit aktivierter Taschenlampe.

»Luc?«, hörte er Roberto rufen, der jedoch sofort wieder verstummte. Es machte ein paar Mal Klick!, und die Silhouette des Astronomen sackte zusammen. Das Handy in seinen Händen segelte zu Boden und leuchtete nicht mehr.

»Oh Scheiße!«, jaulte Luc auf, und sein Telefon fiel ihm aus der Hand. Mit zitternden Fingern nahm er es wieder auf und drehte die Kamera zu sich. »Leute, wenn ihr das hier seht: ich versuche zu entkommen. Irgendjemand will uns umbringen und zum Schweigen bringen!«

Hastig beendete er die Aufnahme und tippte sich durch bis zum Upload-Prozess, als ihn etwas am linken Sprunggelenk packte und über den Schotter zog, als würde er von einem Pferd mitgerissen. Unwillkürlich schrie er auf und verlor sein Smartphone. Die Fahrzeugwanne des Pick-ups schnellte an seinen Augen vorbei, und dann sah er plötzlich wieder den Sternenhimmel. Gleich darauf erblickte er das vermummte Gesicht eines Soldaten in schwarzem Anzug und Kampfhelm, der gerade seinen Fuß losließ und die Maschinenpistole von seinem Rücken zog, um auf ihn anzulegen. Luc starrte entsetzt in die Mündung und das Letzte, was er sah, war eine Feuerblume.

Kapitel 1: Jenna

Das Erste, was Jenna über Kuala Lumpur gelernt hatte, war, dass das auf Jawi in etwa schlammige Flussmündung bedeutete. Als sie am Vortag mit dem Learjet der CIA eingeflogen war, hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, wie die ersten Siedler einen solchen Namen hatten wählen können. Die beiden Flüsse Gombak und Klang waren tatsächlich groß und so braun, dass sie aussahen wie Abwasserkanäle. Dort, wo sie sich mit dem Meer verbanden, wirkten sie wie ein geradezu krimineller Makel, der sich als eine Art optisches Krebsgeschwür ins einladende Blau der südlichen Andamanensee ergoss. Die Stadt selbst aber lag fast vierzig Kilometer entfernt und hatte rein gar nichts mit dieser schlammigen Flussmündung zu tun. Zumindest nicht geographisch. Hinter den Fenstern der glänzenden Wolkenkratzer und turmartigen Wohnanlagen des Zentrums sah das natürlich ganz anders aus, sonst hätte man sie nicht aus Langley hergeschickt. Während die Skyline den rasanten Aufstieg Malaysias dank seiner hochproduktiven chinesischen Minderheit verdeutlichte, zeugten die Vorstädte aus Wellblechhütten und von Schimmel befallenen Reihenhäusern, die sich geradezu scheu vor dem Bankenviertel wegzuducken schienen, davon, dass es auch eine Menge Verlierer dieser Entwicklung gab. So war es immer, das rief in ihr kein Mitleid hervor. Menschen waren einfach zu verstehen. Sie brauchten Nahrung, Sex und eine Aufgabe, und die meisten gaben sich damit zufrieden, dass es ihre Aufgabe war, für die beiden anderen Dinge Ersatzbefriedigungen zu finden. Sie zogen also in die Städte, um Geld zu verdienen und sich davon Zigaretten, Münzen für Zerstreuung am Spielautomaten, das Netflix-Abo und einen Internetanschluss zu sammeln, damit sie Pornos schauen konnten, wenn die Frau aus dem Haus war, während die ihre Unzufriedenheit mit dem unnötigen Konsum von Kosmetika und Kleidung zu verdecken versuchte. Wären sie in ihrem Dorf geblieben und hätten weiter das Feld bestellt, wäre ihr einziges Ärgernis die harte Arbeit hinter dem Pflug gewesen. Aber die Verlockungen der Zivilisation waren natürlich zu stark. Wieso unter der Sonne schuften, um karge Mahlzeiten einzunehmen und jeden Tag das Gleiche zu tun? Warum nicht lieber in die Stadt ziehen, wo es Supermärkte mit reichhaltigem Angebot an billigen Nahrungsmitteln gab? Wo man essen kann, was man will, ein Auto fahren und einen Arzt aufsuchen kann? Wie die Sirenen, die Odysseus ins Verderben rufen wollten, tat das auch der Kapitalismus mit ihnen. Du kannst aufsteigen. Du kannst dir mehr leisten, wenn du produktiver bist. Du kannst ein Teil des Fortschritts sein. Aber dieser Fortschritt gilt nicht für alle. Wenn sich viele Fische am Riff tummeln, haben die Haie ein Festmahl. Sie brauchen die Fische, aber die Fische brauchen die Haie nicht – nur, dass sie das nicht wissen. Also gehen sie in die Stadt, und plötzlich haben sie ein Loch in sich. Nichts ist je genug, keine der vielfältigen Ablenkungen macht sie glücklich, und die Hässlichkeit menschlicher Siedlungen mit ihren Betonwüsten und der schlechten Luft schließt sie ein wie ein glitzerndes Gefängnis.

Wir sind Affen ohne Haare, Jenna, hatte ihr Ausbilder Tony zu sagen gepflegt. Die einen werfen mit Scheiße nach dir und tragen dabei Anzüge, die anderen werfen mit Scheiße nach dir und tragen Blaumänner oder fleckige weiße Unterhemden. Aber sie werfen alle mit Scheiße aus ihrem Käfig. Dann hatte er ihr mehrere Jahre lang die verschiedenen Käfige gezeigt: von Meetings mit Bankenvorständen über Gewerkschaftsverhandlungen bis hin zu Umschlagplätzen mexikanischer Drogenkartelle. Das Wissen über die Affen ohne Haare war daraufhin von selbst gekommen.

»Kennen Sie sich hier aus?«, fragte jemand, und Jenna sah mit einem freundlichen Lächeln nach links, stützte sich weiter auf die Brüstung des Infinty-Pools im 52. Stockwerk der Platinum Suites, von dem aus sie einen perfekten Blick auf die nächtlichen Zwillingstürme der Petronas Towers genoss. Sie glänzten wie zwei kunstvoll beleuchtete Phallussymbole, die männliche Affen ohne Haare gerne überall dort aufstellten, wo sie sich mit ihren wirtschaftlichen Leistungen rühmen wollten. Kuala Lumpur hatte lange die Höchsten gehabt. Nicht nur einen, sondern gleich zwei. Damals hatte sicher das gesamte Gehege getanzt und gekreischt.

Neben ihr stand ein chinesisches Pärchen mit breitem Grinsen und Spiegelreflexkameras um den Hals. Er Mitte fünfzig, schlecht rasiert mit schütterem Haar und Sonnenbrand. Die Uhr eine Omega, die Fingernägel zu lang, um noch als gepflegt durchzugehen und die Schuhe nachlässig geschnürt. Seine Frau war etwas jünger mit schiefen Zähnen, die aber weiß waren. Ihr rotes Kleid schrie nach Aufmerksamkeit.

Mittleres Management im Vorruhestand, dachte sie. Er bereut seine Entscheidung, früher die Arbeit niederzulegen, ihre Reue geht noch viel weiter in die Vergangenheit zurück, aber sie kann aus ihrem möglicherweise nicht einmal selbstgeschaffenen Gefängnis nicht mehr entfliehen. Also betäubt sie sich mit Konsum und kleinen Zeichen der Freiheit.

»Nicht wirklich«, antwortete sie entschuldigend und zupfte ihren Bikini zurecht. Das Wasser des Pools war eigentlich zu warm, dafür, dass die tropische Umgebungstemperatur eher nach Abkühlung schrie, als nach einer Badewanne.

---ENDE DER LESEPROBE---