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Deutschland vor 50 Jahren: Der "Mittagsmörder" sorgt für Schlagzeilen, hält das ganze Land in Atem. Erst nach Jahren wurde der wohl bekannteste Serientäter der frühen Sechziger gefasst und nach einem nervenaufreibenden Indizienprozess schuldig gesprochen - für die Öffentlichkeit war er es längst. Bei den Lokalterminen rotteten sich Schaulustige zusammen und schrien: "Hängt ihn auf!" Veranlasst durch die Anfrage einer Psychologiestudentin recherchiert Peter Hirschmann, der als Volontär einst selbst darüber berichtet hatte, erneut zu jenem berühmten Fall der Kriminalgeschichte. Als er die alten Zeitungsartikel wieder ausgräbt, erscheint ihm manches in überraschend neuem Licht. Plötzlich muss er sich Fragen stellen, über die er als junger Journalist hinweggegangen war. Wurden bestimmte Puzzleteile von den damaligen Gutachtern, Reportern und Anwälten tatsächlich übersehen? Gebannt folgt er den Spuren und muss erkennen: Die Generation der Väter richtet über den missratenen Sohn, und die Presse trug offenbar einen nicht unwesentlichen Teil zu seiner Vorverurteilung bei. Während Hirschmann die vergrabenen und vergessenen Geschichten wieder ans Licht holt, fügen sich diese zu einem eindrucksvoll gezeichneten Bild der Nachkriegsgesellschaft mit all ihren Wertungen und Widersprüchen…
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Seitenzahl: 398
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Petra Nacke
Elmar Tannert
Der Mittagsmörder
Roman
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Mai 2012)
© 2012 by ars vivendi verlag
GmbH & Co. KG, Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Dr. Felicitas Igel
Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg
Umschlagfoto: Wessel Wessels © plainpicture/Arcangel
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-160-3
Merkt euch: Einen Stand hat immer nur der Jäger, niemals das Wild.
Stanislaw Jerzy Lec
I
Sehr geehrter Herr Hirschmann, ich würde Ihnen im Rahmen meiner Diplomarbeit gerne ein paar Fragen zum Themenkomplex Mittagsmörder stellen ... und so weiter und so fort ... mit freundlichen Grüßen, Corinna Metzner.
»Themenkomplex Mittagsmörder« – wie sich das schon anhört. Aber genau so denken diese Psychologen. Als würde die ganze Welt nur aus Komplexen bestehen. Vielleicht tut sie es mittlerweile auch. Die Welt ist verrückt geworden, ist doch wahr. Wer nicht mindestens einmal in seinem Leben bei so einem Kopfklempner gewesen ist, gilt heutzutage als nicht ganz normal, und wer keine Urschreitherapie oder irgendeinen anderen Kokolores gemacht hat, ist rückständig. Heute nennt man lebhafte Kinder hyperaktiv und stopft sie mit Tabletten voll, wer sich mal ordentlich mit dem Hammer auf die Hand haut, lässt sich anschließend wegen eines Hammertraumas krankschreiben und psychologisch behandeln, und jeder Zweite bekommt einen Breakdown oder ein Burnout oder sonst einen amerikanischen Quatsch, wenn er mal ein paar Überstunden mehr machen muss.
Wir haben auch gearbeitet – und wie wir gearbeitet haben! Den Damen und Herren bei ver.di würden die Ohren klingeln, wenn sie sich mal anhören würden, was ich ihnen über die Dienst- und Urlaubszeiten von Journalisten in den Sechzigerjahren erzählen könnte. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Jetzt geht es ja erst einmal um »jugendliche Serienmörder und Amokläufer« und um den »Mittagsmörder«. Den hat sie wahrscheinlich im Internet gefunden, da findet man ja alles Mögliche. Warum suchen sich diese jungen Frauen eigentlich immer solche Themen aus? Mord und Totschlag und Blut und kranke Köpfe. Als ob es keine anderen Dinge gäbe, mit denen sich so ein junges Ding beschäftigen kann!
Christine war da ganz anders. Die hat es nie gern hören wollen, wenn ich ihr von Verbrechen oder Gewalttaten erzählt hab, und davon gab es damals wirklich mehr als genug. Sie hat dann meistens nur gesagt: »Peter, unser Fall reicht mir für den Rest des Lebens!«
»Unser Fall«! Deshalb hat sie sich von dem Ordner auch nie trennen wollen. Für Christine ist der Mittagsmörder immer »unser Fall« gewesen, weil wir uns genau an dem Tag zum ersten Mal begegnet waren, an dem sie ihn gefasst haben. Am 1. Juni 1965. Ich hab mich oft gefragt, ob ich ihr auch begegnet wäre, wenn es an diesem Tag nicht geregnet hätte. Wenn niemand einen Regenschirm dabeigehabt hätte. Wenn er sich noch weiter den Weg freigeschossen hätte. Mit einem Regenschirm haben sie ihn niedergeschlagen, mitten auf der Breiten Gasse, nachdem er im Brenninkmeyer den Hausmeister erschossen und anschließend wahllos durch die Gegend geballert hatte. Zwei Kunden sind dabei getroffen worden. Genauso gut hätte Christine in der Schusslinie stehen können.
Man soll sich nicht solche Gedanken machen. Man soll überhaupt nicht in der Vergangenheit wühlen. Was geschehen ist, ist geschehen, aus und vorbei. Im Guten wie im Schlechten. Warum hab ich mich bloß breitschlagen lassen? Warum hab ich dieser Psychotante nicht einfach gesagt, dass ich keinen Sinn darin sehe, die alten Kamellen noch einmal aufzuwärmen. Dass ich keine Lust habe, in der Mottenkiste zu kramen. Dass ich mich sowieso nicht mehr gut erinnern kann, schließlich liegt das alles schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Ich könnte es jetzt noch tun, ich könnte sie jetzt gleich anrufen und den Termin für morgen absagen. Man kann es sich schließlich anders überlegt haben.
Und was wird sie dann denken? Dass ich dement bin – bestenfalls. Wahrscheinlich eher, dass ich ein Mittagsmördertrauma habe, das behandelt werden muss. Oder dass ich etwas zu verheimlichen habe? Ich habe nichts zu verheimlichen. Und ich habe auch ganz gewiss kein Trauma. Mit der Erinnerung klappt es nicht mehr so gut. Aber das ist bei den vielen Details, die damals eine Rolle gespielt haben, auch kein Wunder. Die ganze Affäre hat sich schließlich mitsamt Prozess über mehr als sieben Jahre hingezogen. Wer kann sich da noch an alles erinnern?
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