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In "Der Moses des Michelangelo" entfaltet Sigmund Freud eine tiefgreifende Analyse der berühmten Mosaikstatue, die den biblischen Prophet darstellt. Freud argumentiert, dass Michelangelos Werk nicht nur ein Meisterwerk der Renaissancekunst ist, sondern auch eine Reflexion über die menschliche Psychologie, das Konflikt zwischen dem Irdischen und dem Transzendenten sowie die komplexen Aspekte des jüdischen Glaubens. Durch die Anwendung psychoanalytischer Konzepte gelingt es Freud, die vielschichtige Symbolik der Statue zu entschlüsseln und deren Relevanz im Kontext der abendländischen Kunstgeschichte zu beleuchten. Sein literarischer Stil ist prägnant und erhellend, souverän vereint er Kunstkritik mit psychologischen Einsichten. Sigmund Freud, als Begründer der Psychoanalyse, zeichnete sich zeitlebens durch einen tiefen Interessen an Kunst und deren psychologischen Dimensionen aus. In "Der Moses des Michelangelo" wird deutlich, wie Freuds eigene Biografie und seine Beziehung zum Judentum sein Verständnis von Michelangelo beeinflussten. Die Auseinandersetzung mit dem Werk spiegelt auch Freuds Suche nach dem Verhältnis zwischen Tradition und individueller Ausdruckskraft wider, die sich durch sein gesamtes Werk zieht. Dieses Buch empfehle ich jedem, der an der Schnittstelle zwischen Kunst und Psychoanalyse interessiert ist. Freuds meisterhafte Verbindung von psychologischen Theorien mit kunsthistorischen Analysen bietet einen unverzichtbaren Einblick in die komplexe Natur von Kunstwerken. Leser, die bereit sind, sich auf eine intellektuelle Reise zu begeben, werden durch Freuds tiefgehende Betrachtung bereichert und zum Nachdenken angeregt.
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Aber warum nenne ich diese Statue rätselvoll? Es besteht nicht der leiseste Zweifel, daß sie Moses darstellt, den Gesetzgeber der Juden, der die Tafeln mit den heiligen Geboten hält. Soviel ist sicher, aber auch nichts darüber hinaus. Ganz kürzlich erst (1912) hat ein Kunstschriftsteller (Max Sauerlandt) den Ausspruch machen können: »Über kein Kunstwerk der Welt sind so widersprechende Urteile gefällt worden wie über diesen panköpfigen Moses. Schon die einfache Interpretation der Figur bewegt sich in vollkommenen Widersprüchen...« An der Hand einer Zusammenstellung, die nur um fünf Jahre zurückliegt, werde ich darlegen, welche Zweifel sich an die Auffassung der Figur des Moses knüpfen, und es wird nicht schwer sein zu zeigen, daß hinter ihnen das Wesentliche und Beste zum Verständnis dieses Kunstwerkes verhüllt liegt[4].
Der Moses des Michelangelo ist sitzend dargestellt, den Rumpf nach vorne gerichtet, den Kopf mit dem mächtigen Bart und den Blick nach links gewendet, den rechten Fuß auf dem Boden ruhend, den linken aufgestellt, so daß er nur mit den Zehen den Boden berührt, den rechten Arm mit den Tafeln und einem Teil des Bartes in Beziehung; der linke Arm ist in den Schoß gelegt. Wollte ich eine genauere Beschreibung geben, so müßte ich dem vorgreifen, was ich später vorzubringen habe. Die Beschreibungen der Autoren sind mitunter in merkwürdiger Weise unzutreffend. Was nicht verstanden war, wurde auch ungenau wahrgenommen oder wiedergegeben. H. Grimm sagt, daß die rechte Hand, »unter deren Arme die Gesetzestafeln ruhen, in den Bart greife«. Ebenso W. Lübke: »Erschüttert greift er mit der Rechten in den herrlich herabflutenden Bart...«; Springer: »Die eine (linke) Hand drückt Moses an den Leib, mit der anderen greift er wie unbewußt in den mächtig wallenden Bart.« C. Justi findet, daß die Finger der (rechten) Hand mit dem Bart spielen, »wie der zivilisierte Mensch in der Aufregung mit der Uhrkette«. Das Spielen mit dem Bart hebt auch Müntz hervor. H. Thode spricht von der »ruhig festen Haltung der rechten Hand auf den aufgestemmten Tafeln«. Selbst in der rechten Hand erkennt er nicht ein Spiel der Aufregung, wie Justi und ähnlich Boito wollen. »Die Hand verharrt so, wie sie in den Bart greifend, gehalten ward, ehe der Titan den Kopf zur Seite wandte.« Jakob Burkhardt stellt aus, »daß der berühmte linke Arm im Grunde nichts anderes zu tun habe, als diesen Bart an den Leib zu drücken«.
Wenn die Beschreibungen nicht übereinstimmen, werden wir uns über die Verschiedenheit in der Auffassung einzelner Züge der Statue nicht verwundern. Ich meine zwar, wir können den Gesichtsausdruck des Moses nicht besser charakterisieren als Thode, der eine »Mischung von Zorn, Schmerz und Verachtung« aus ihm las, »den Zorn in den dräuend zusammengezogenen Augenbrauen, den Schmerz in dem Blick der Augen, die Verachtung in der vorgeschobenen Unterlippe und den herabgezogenen Mundwinkeln«. Aber andere Bewunderer müssen mit anderen Augen gesehen haben. So hatte Dupaty geurteilt: Ce front auguste semble n'être qu'un voile transparent, qui couvre à peine un esprit immense[5]. Dagegen meint Lübke: »In dem Kopfe würde man vergebens den Ausdruck höherer Intelligenz suchen; nichts als die Fähigkeit eines ungeheuren Zornes, einer alles durchsetzenden Energie spricht sich in der zusammengedrängten Stirne aus.« Noch weiter entfernt sich in der Deutung des Gesichtsausdruckes Guillaume (1875), der keine Erregung darin fand, »nur stolze Einfachheit, beseelte Würde, Energie des Glaubens. Moses' Blick gehe in die Zukunft, er sehe die Dauer seiner Rasse, die Unveränderlichkeit seines Gesetzes voraus«. Ähnlich läßt Müntz »die Blicke Moses' weit über das Menschengeschlecht hinschweifen; sie seien auf die Mysterien gerichtet, die er als Einziger gewahrt hat«. Ja, für Steinmann ist dieser Moses »nicht mehr der starre Gesetzgeber, nicht mehr der fürchterliche Feind der Sünde mit dem Jehovazorn, sondern der königliche Priester, welchen das Alter nicht berühren darf, der segnend und weissagend, den Abglanz der Ewigkeit auf der Stirne, von seinem Volke den letzten Abschied nimmt«.
Es hat noch andere gegeben, denen der Moses des Michelangelo überhaupt nichts sagte, und die ehrlich genug waren, es zu äußern. So ein Rezensent in der Quarterly Review 1858: »There is an absence of meaning in the general conception, which precludes the idea of a self-sufficing whole...« Und man ist erstaunt zu erfahren, daß noch andere nichts an dem Moses zu bewundern fanden, sondern sich auflehnten gegen ihn, die Brutalität der Gestalt anklagten und die Tierähnlichkeit des Kopfes.
Hat der Meister wirklich so undeutliche oder zweideutige Schrift in den Stein geschrieben, daß so verschiedenartige Lesungen möglich wurden?