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»Ich bin Mario Castelucci, Ihr Sohn. Ich würde Sie gern kennenlernen. Meine Mutter ist tot.« Mario, Abiturient an einem Internat, hat soeben seine gewaltsam zu Tode gekommene Mutter identifiziert und entdeckt auf ihrem Telefon die Adresse seines leiblichen Vaters. Seine Mutter hatte ihren Sohn einem anderen Mann untergeschoben, dessen Namen er trägt und der längst das Weite gesucht hat. Mario lernt seinen Vater kennen und begreift, was er ist: Zufallsprodukt einer instabilen Frau, die sich im Leben zu kurz gekommen glaubt, und eines gut situierten, gescheiten und auch noch ziemlich prominenten Mannes. Mit diesem Hintergrund kommt ein Durchschnittsleben für Mario nicht in Frage, er will das Ungewöhnliche riskieren. Er spricht an einer renommierten Schauspielschule vor und wird angenommen. Glücklich angekommen in seiner neuen Welt, erschaffen von den genialen Geistern der Literatur, meint Mario, sich erden zu müssen. Er verliebt sich in eine Frau, die seiner Mutter auf fatale Weise ähnlich ist ... Margarete Dreßler hat mit »Der Name meines Vaters« einen faszinierenden, lebensklugen und fesselnden Roman von beinahe mythologischer Klarheit verfasst. Tief steigt sie in die Psychologie seiner Charaktere hinab, um innere Zusammenhänge ans Licht zu heben und nichts anderem als den Mechanismen unseres Lebens auf den Grund zu gehen.
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Inhaltsverzeichnis
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IMPRESSUM
Margarete Dreßler
Der Name meines Vaters
Roman
Als ich vom Tod meiner Mutter erfuhr, glaubte ich zu wissen, dass sie sich umgebracht hatte. Sie war eine starke, gesunde Frau in mittlerem Alter, eine Krankheit konnte ich mir nicht vorstellen. Auch einen Unfall nicht, obwohl er mindestens so wahrscheinlich war wie ein Selbstmord, sie war eine waghalsige Fahrerin und auch sonst nicht gerade vorsichtig. Sie hatte einige Male versucht, sich umzubringen, als ich ein Kind war, auch später, als ich in der Pubertät war, und ich bin mir heute noch nicht sicher, ob sie es jedes Mal ernst gemeint hat damit oder nur ein Zeichen setzen wollte. Jedenfalls hat sie immer alles so inszeniert, dass einer da war, der den Notarzt rufen konnte. Sie hätte ja auch in einen tiefen Wald gehen können und dort die Tabletten schlucken, sie hat es hingegen immer angekündigt, wenn sie es wieder versuchen wollte. Und sie hat es immer in ihrer jeweiligen Wohnung getan. Den Ärzten erzählte sie einmal, dass sie es ernst gemeint hatte, das andere Mal, dass sie nur Aufmerksamkeit erregen wollte. Vielleicht wusste sie selber nicht, was sie dazu trieb, es hätte zu ihr gepasst. In der Psychiatrie war sie nur einmal und sehr kurz. Vielleicht waren die Stationen überfüllt oder man hielt sie für nicht therapiebedürftig, womöglich für nicht therapierbar. Ich wusste nicht, dass Suizidversuche auf eine kranke Psyche schließen lassen. Als ich klein war, nahm ich an, dass alle Mütter das dann und wann machten, ich hielt die meine für völlig normal, ich kannte ja keine andere Mutter wirklich gut. Als die meine starb, war ich achtzehn, was ich beim Empfang der Nachricht augenblicklich als Glück empfand, denn ich bedurfte keiner Fürsorge mehr, ich war volljährig, erwachsen und konnte über mich selbst bestimmen. Ich habe meine Mutter sehr geliebt, so wie ein jedes Kind seine Mutter liebt, wer sie auch immer sein mag, aber im Laufe der Jahre war mir diese Liebe mühselig geworden, sie schien mir vergeblich, denn sie konnte nicht bewirken, dass es meiner Mutter besser ging. Dass ich sie liebte, schien ihr nichts auszumachen. Es war eine Selbstverständlichkeit, die keiner Beachtung bedurfte.
Ich fragte nicht nach der Todesursache, so sicher schien es mir, dass ihr nun endlich der Suizid geglückt oder das einkalkulierte Überleben missglückt war. Als ich erfuhr, dass sie ermordet worden war, von hinten erschossen, war ich so überrascht, dass ich mich setzen musste. Wer hatte das getan? Man wusste es nicht. Vom Täter keine Spur. Zeugen gab es keine. Womöglich auch ein Unfall, aber ziemlich unwahrscheinlich, denn der Schuss ging genau durchs Herz. Das Projektil, ein Geschoss aus einer Jagdwaffe, das konnte man an der Art der Verwundung erkennen, war entweder durch den Körper hindurchgegangen und mitgenommen oder aus der Wunde entfernt worden, jedenfalls war es nirgendwo aufzufinden und somit konnte weder die Waffe noch deren Eigentümer ermittelt werden. Ein Profi? Oder nur ein umsichtiger Mensch mit einer kalten Wut?
Gab es einen, der meine Mutter so gehasst hat, dass er sie erschossen hat? Gut möglich, dass es nicht nur einer war, sondern einige. Sie hat sich Feinde gemacht, zweifellos. Sie war eine schwierige Person, das kann ich jetzt, da ich sie aus der Ferne sehen kann, bestätigen. Keine normale Mutter. Darunter gelitten habe ich, glaube ich jedenfalls, nicht. Als ich in der Pubertät war und die typischen Symptome aufwies, sagte sie mir einmal im Zorn, sie habe für mich einen Abtreibungstermin gehabt und es täte ihr jetzt leid, ihn nicht wahrgenommen zu haben. Mein Vater habe es verhindert, er wollte mich lebendig haben. Ich habe ihr das sofort geglaubt. Aber wer denn dieser Vater war, der mir das Leben gerettet hat, sagte sie mir nicht. „Das geht dich nichts an.“ Sie sagte es allen Ernstes. Es gefiel ihr, andere zu verstören, vermutlich weil sie selber verstört war. Warum war sie das? Soviel ich weiß, gibt es keine Anhaltspunkte für eine Traumatisierung, erbliche Anlagen oder Schlüsselerlebnisse. Aber ich weiß sehr wenig über das Leben meiner Mutter. Wenn sie über ihre Jugend sprach, ihre Kindheit, dann nie mit mir. Ich habe zugehört, wenn sie zu anderen darüber sprach, aber mir hat sie nie etwas erzählt von sich. Ich glaube, sie war der Meinung, Kindern müsse man nichts erklären, nichts erzählen, sie fänden es schon heraus eines Tages – oder auch nicht. Ich habe meine Jugend auf internen Schulen verbracht, die mein unbekannter Vater bezahlt hat – ich konnte auch über die Schulleitung nicht herausfinden, wer es war –, das Geld wurde von einem Rechtsanwalt überwiesen. Und der wiederum berief sich auf seine Schweigepflicht. Hätte ich besser in ihrer Nähe bleiben sollen? Würde sie dann noch leben?
Es mag scheinen, dass mir ihr Tod nicht nahegeht. Das stimmt nicht, er geht mir sehr nah. Er verstört mich, wie mich meine Lebensumstände überhaupt immer verstört haben. Ich hatte eine Mutter, die mich nicht ins Leben lassen wollte, die selber öfter aus dem Leben hinaus wollte oder es zumindest darauf anlegte. Sie konnte sehr liebevoll sein. Aber auch sehr wenig liebevoll. Es war eine Angelegenheit des Zufalls, ob sie ihre Absichten ausführte oder nicht. Auch ihre Absichten schienen mir vom Zufall geschmiedet. Manchmal habe ich gedacht, dass sie vielleicht nicht wirklich meine Mutter war, dass sie mich gefunden hat oder auch geraubt und mich einfach behalten hat. Das ist höchst unwahrscheinlich, es hätte ein rechtliches Nachspiel gegeben. Sie schien sich auch nie viel aus mir zu machen - warum hätte sie mich rauben sollen? Außerdem sehe ich ihr ein bisschen ähnlich. Äußerlich, denn mein Wesen ist anders als ihres. Sie konnte gewalttätig sein, aber niemals gegen mich. Eine Ohrfeige oder ein Schlag auf den Hintern war alles, was ich von ihr an körperlicher Strafe erfuhr. Einige Männer aber hat sie verprügelt. Was ihren Zorn entfacht hat, kann ich mir nicht vorstellen, auch heute nicht, da sie schon zehn Jahre tot ist, und warum diese Männer sie so zornig machten, dass sie gewalttätig werden konnte gegen sie. Und umgekehrt sie einen oder eine so zornig machte, dass er oder sie sie zu Tode schoss.
Man bat mich, meine Mutter zu identifizieren. Man führte mich in das Untergeschoss eines Gebäudes, die Pathologie. Davon hatte ich schon gehört, ich schaute mir dann und wann Krimis an im Fernsehen. Und genau so war es in Wirklichkeit. Man zog eine Schublade auf, darin lag meine Mutter. Bis zum Kinn zugedeckt mit einer weißen Decke, einem Leintuch eher, das die Wunde in ihrer Brust bedeckte, die nackten Füße sahen unten heraus. Sie hatte rosa Nagellack an den Nägeln und um den großen Zeh des linken Fußes hing ein Zettel mit ihren Daten. Ihre Augen hatte man geschlossen, der Mund war verkniffen, ein schmaler Strich, sie hatte immer einen schmalen Mund gehabt, die Mundwinkel zeigten streng nach unten, oft war er offen für Schreie, explosives Gelächter und heftige Worte, nichts würde sie je mehr sagen können, sie, die so vieles gesagt hatte, Begütigendes wie Verletzendes, ein schwerer Ernst ging aus von ihrem Gesicht, der Ernst des Todes, ihn erkannte ich gleich. Meine Mutter war der erste Tote, den ich sah. Ich nickte, ja, das war sie, ich beugte mich über sie und gab ihr einen Kuss auf die kalte Stirn. Ich hielt das für angemessen. Die Marmorkälte der toten Frau erschreckte mich nicht, ich hatte mit ihr gerechnet. Ich hatte sie mir ausgemalt, dann und wann, wenn ich neben ihr saß und auf den Notarzt wartete. Vielleicht wäre es diesmal zu spät, vielleicht stürbe sie wirklich. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob ich das eine fürchtete und das andere erhoffte, oder ob es nicht umgekehrt war.
Man tut sich schwer als Kind, die eigene Mutter einzuschätzen. Es gelingt so gut wie nie.
Die Mutter ist die mächtigste Person für ihr Kind. Sie entscheidet, ob es entstehen soll, ob sie es austrägt, ob es geboren werden soll und was dann mit ihm geschieht. Mütter sind die personifizierte Willkür. Das Kind, das sie gebären, ist ihr Eigentum. Für immer ihr Eigentum, das Mutterrecht ist nicht anzutasten, sie müsste sich strafbar machen und das schwer. Aber auch wenn man einer Mutter das Erziehungsrecht entzieht – die Macht, die man einmal erfahren hat, bleibt. Wo immer sie ist, was immer sie tut. Meine Mutter hat sich strafbar gemacht, das weiß ich inzwischen. Aber es ändert nichts an ihrer Macht über mich. Auch jetzt, da sie Jahre tot ist, hat sie Macht über mich, gehöre ich ihr. Nein, sie hat mir keine Regeln mitgegeben. Kaum das, was man Erziehung nennt. Sie dachte, das ergäbe sich irgendwann. Oder es sei einfach ohne Belang. Und doch bin ich, ohne dass ich den Stempel trüge ihres Einflusses, ihr Eigentum und das für immer. In ihrem Fleisch bin ich entstanden, ihr Fleisch hat mich ausgetragen, ihr Fleisch hat mich ausgestoßen. Es besteht eine Verbindung, die niemals reißen wird. Ganz bestimmt niemals.
Zehn Jahre ist sie tot und ich höre noch immer ihre Stimme. Eine starke, melodische, durchdringende Stimme. Sehe sie, in einem weißen Sommerkleid, sich fröhlich durch eine stickige Touristenmenge schlängelnd, mich rufend, ich kam ihr nicht hinterher. Sie liebte Menschenmengen. Was mich ängstigt, heute noch, war ihr Element. Warum mochte sie die Menge so sehr? Wollte sie aufgehen in ihr? Sich vergessen in der Masse? Oder vielleicht sich verwandt fühlen mit all den Fremden, deren Wünsche wir nicht kennen? Sie nahm scheinbar teil am Leben der Unbekannten, die Wichtiges zu tun hatten oder Nichtiges, auf die harte Geschäftsverhandlungen warteten oder ein Urlaub am Meer. Fühlte sich gern als Mitglied der großen Welt. Sie liebte Flugplätze, Bahnhöfe, Orte, an denen einander unbekannte Menschen aufeinandertrafen. Sie sagte es nicht mir, ich hörte das, wenn sie mit anderen darüber sprach. Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen. Versucht, ja, das habe ich, sie gab mir einen heftigen Kuss auf den Mund und meinte: „Liebling, frag mich nicht solche Sachen. Ich fühle mich wohl, also lass mich in Ruh.“ Hat sie mich je ernst genommen? Ich glaube nicht. Sie machte sich wenige Gedanken, sie glaubte zu wissen, was zu tun war. Ich erfüllte eine Funktion, als ich klein war, später nicht mehr. Da war ich ein Anhängsel, das meistens eher lästig war. Sie hat mich nie vernachlässigt. Ich bekam Essen - wenn es auch meistens nur Fertignahrung war -, Kleidung, Spielzeug, Lehrmaterial, sie organisierte, dass ich Dinge unternehmen konnte, sie wollte mich nicht gern die ganze Zeit in ihrer Nähe haben oder nur manchmal, dann aber wieder sehr, ich habe nie verstanden, warum. Sie sprach nicht mit mir. Ich war ja nur ein Kind.
Inzwischen habe ich herausgefunden, wer mein Vater denn nun wirklich ist. Es ist nicht der, dessen Nachnamen ich trage und der präsent war, als ich sehr klein war. Es ist ein schöner Name, den ich bekommen habe: Castelucci. Mein Namensvater stammt aus Sizilien. Dass er nicht mein biologischer Vater sein konnte, scheine ich immer schon gewusst zu haben, mit einem Instinkt, der einen bei Tieren nicht verwundert, bei einem so zivilisierten und degenerierten Wesen, wie man selber eines ist, schon. Mit Vornamen heiße ich Mario, die männliche Form von Maria. Nach einem Großvater, mit dem ich nicht verwandt bin. Da, wo ich lebe, ist das eher ein Modename, ich lebe nicht in Italien. Fußballspieler heißen hier so, das bin ich nicht. Ich habe mich daran gewöhnt. Aber dieser Name passt nicht zu mir. Ich sehe nicht südländisch aus, eher nordisch. Wenn ich Lars Petersen hieße, wäre das passender. Aber immerhin hat mir mein Name und mein zu ihm unpassendes Äußeres schon so manche Freundschaft eingebracht. Keine wahre, nein, eher das, was man Bekanntschaft nennt, eine kurzfristige Beziehung zu einer Frau. Langfristige Beziehungen scheue ich inzwischen eher, ich gebe zu, dass ich da eine gewisse Furcht entwickelt habe. Das mag auch mit meiner Mutter zusammenhängen. Die im Übrigen nicht Castelucci hieß, sondern Karabachyan. Sie war einmal mit einem Armenier verheiratet gewesen, aber nur kurz und vor meiner Zeit. Geboren ist sie in Slowenien, sie ging von dort fort, als sie sechzehn war, und kehrte niemals mehr zurück. Warum nicht? Ich weiß es nicht und fragen kann ich sie nun nicht mehr. Meinem wirklichen Vater sehe ich sehr ähnlich, auch wenn er inzwischen grau geworden ist und das Blau seiner Augen ein bisschen verblichen. Ich habe ihn gefunden, als ich die Sachen meiner Mutter durchsah. Viel hat sie nicht hinterlassen, aber es gab ein paar Unterlagen, Dokumente und vor allem Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon. Sie hat tatsächlich bis kurz vor ihrem Tod Kontakt gehabt mit meinem Vater. Es ging um Zahlungen für meinen Unterhalt. Mir hat sie nichts davon gesagt. Sie hat meinem Vater erzählt, es würde mich zutiefst verstören, von seiner Existenz zu erfahren, ich lebe im Glauben, der Sohn Giovanni Casteluccis zu sein. Mein Vater ist nicht dumm, aber er ist ein braver Mann. Er hat ihr geglaubt, der Vollidiot. Wie kann man einer Frau wie meiner Mutter auch nur ein Wort glauben? Ich habe ihr kaum eines mehr geglaubt, seitdem ich zwölf Jahre alt war. Es war eine Bagatelle. Sie hat mich angelogen in einer Angelegenheit, da ich felsenfest wusste, dass sie log. Es ging um nichts, um die Schwester eines Schulkameraden. Aber wenn sie in so belanglosen Dingen log, einfach so, dann würde sie in den wichtigen erst recht lügen. So die Logik eines Zwölfjährigen. Sie hat sich als richtig erwiesen. Meine Mutter log einfach so. Aus Kalkül, aus Spaß, um die Wirklichkeit anders sein zu lassen. So ähnlich wie jener unsägliche amerikanische Präsident, der längst in irgendeinem Irrenhaus verwahrlosen sollte, mit der entwaffnenden Unverfrorenheit derer, die keine Moral haben, weil sie nicht wissen, was das ist.
Meine Mutter wusste nicht, was Moral ist. Deshalb kann ich ihr vieles nicht übelnehmen. Aber warum wusste sie es nicht? Ihre Eltern waren fromme Menschen, die ganz sicher eine Moral hatten. Warum nicht sie? Weil sie zu dumm war, um zu kapieren, was das ist? Weil ihre Eltern nachlässig genug waren, ihr das nicht beizubringen? Weil ihr Wesen einfach unmoralisch war und nicht zugänglich für gesellschaftliche Regeln und Werte? Vermutlich schon. Sie war nicht bewusst unmoralisch, sie lebte nach den archaischen Regeln eines Autokraten. Gut ist, was mir nutzt. So einfach sah sie das vermutlich. Und ich? Bin ich moralisch erzogen worden? Von meiner Mutter sicher nicht. Sie sagte: „Mach dies und lass dies.“ Warum ich das sollte, erklärte sie mir nicht. Ich sollte jenes tun und das andere lassen, weil sie es so wollte.
Sie, keine Gesellschaft, kein Gesetz, erst recht kein Gott, nein, gut war das, was sie wollte, schlecht war das, was sie nicht wollte. Mein Namensvater griff selten ein, aber er hatte Mitleid mit mir und nahm mich dann und wann mit in die Kirche, in seinen Klub, in seinen Sportverein – er spielte Fußball wie so viele, die Mario heißen, obwohl er Giovanni hieß und nur sein Vater Mario – und so lernte ich doch ein rudimentäres Verständnis für Moral. Danke, Vater Castelucci!
Ja, danke! Ich hatte ihn sehr gern, und als er meine Mutter verließ, aus gutem Grund, er hätte nicht anders handeln können, war ich sehr traurig. Er wollte mich mit sich nehmen, aber meine Mutter ließ es nicht zu. Ich habe ihn wiedergesehen, oft und heimlich, wir mochten uns sehr, auch wenn wir nicht verwandt waren, wir waren beide das gleiche: Opfer meiner Mutter und solidarisch in unserer Schwäche.
Ich habe ihm vom Tod meiner Mutter erzählt. Ich schrieb ihm, ich wusste, wo er sich aufhielt. Er kam tatsächlich zur Beerdigung. Meine Mutter hat nie hinterlassen, wo und wie sie beerdigt sein wollte. Sie rechnete nicht mit ihrem Tod. Was seltsam ist für einen Menschen, der so oft versucht hat, sich umzubringen. Wir beerdigten sie im Dorf ihrer Eltern, von wo sie herkam, und ich denke, es war richtig, dass der Kreis geschlossen wurde. Später, als der irgendwie nüchtern verlaufene Leichenschmaus vorüber war, fragte mich Giovanni Castelucci, ob ich wisse, wo sie denn umgekommen war. In einem Wald. Das ist ungewöhnlich, denn sehr naturverbunden war sie nie gewesen. Ich kann es mir nur so erklären, dass sie mit einem Mann einen Spaziergang unternommen hat und er, oder ein anderer, sie erschossen hat. Es war ein Abend Ende Juli, Anfang August, zur Brunftzeit der Rehe, ein Höhepunkt der Jagd. Es fallen im Wald viele Schüsse in dieser Zeit, keiner kann sich über diesen einen Schuss gewundert haben. Die Spurensicherung hat ergeben, dass vermutlich jemand neben ihr gegangen war. Aber später in der Nacht brach ein heftiges Gewitter aus, das alle Spuren verwischte. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Waldboden, Ameisen liefen über sie und nahmen von ihrem getrockneten Blut. Sie war schon mehrere Tage tot, als ein Spaziergänger sie entdeckte. Die Leiche war seltsamerweise nicht angefressen, weder Fuchs, noch Wildschwein, noch andere hatten an ihr genagt. Das ist mehr als seltsam. Entweder haben sie sich geirrt mit dem Todeszeitpunkt, oder sie hatte etwas an sich, das kein Tier – außer ein paar Ameisen – aufnehmen wollte. War sie ungenießbar?
Sowohl der Revierinhaber als auch seine Mitjäger hatten für diesen Abend ein Alibi. Von ihnen kann es keiner gewesen sein. Wer dann? Ein Mann, den sie so verletzt, ihm so geschadet hatte, dass er nicht anders konnte? Woher hatte er das Gewehr? Wir leben nicht in den Vereinigten Staaten, Waffenbesitz ist streng reglementiert. Dass das Projektil verschwunden ist, lässt wohl darauf schließen, dass der Mann kein Anfänger war, er kannte sich aus mit Ballistik und diesen Dingen. Hätte man das Projektil gefunden, wäre es ein Leichtes, die Waffe und ihren Besitzer ausfindig zu machen. Nicht ganz so leicht vielleicht, aber immerhin möglich. So aber…
Mir ist es recht, so wie es gelaufen ist. Will ich denn nicht, dass meine Mutter gesühnt wird, der Täter vor Gericht und in ein Gefängnis kommt? Offensichtlich nicht. Er wird seine Gründe gehabt haben, ich habe keine Sympathie für ihn, aber auch keinen Hass. Immerhin bin ich es nicht gewesen, der die Waffe auf den Rücken meiner Mutter gerichtet, entsichert hat und abgedrückt.
Man schießt nicht in den Rücken, wenn man jemanden umbringen will, keinesfalls, es wäre eine Schmach für den Ermordeten. Für den Schützen erst recht. War es also doch ein Versehen? Ein Schuss, der sich gelöst hat aus Unachtsamkeit, aus welchem Grund auch immer? Andererseits erspart ein Schuss in den Rücken dem Opfer die Todesangst, das darf man nicht außer Acht lassen. Der Mann, mit dem sie zusammen war, als ich sie das letzte Mal lebend gesehen habe, und der mir einen sehr seriösen und angenehmen Eindruck machte, war nicht auf der Beerdigung. Er hat wohl, wie auch Giovanni Castelucci, vorzeitig das Weite gesucht. Es muss schon seinen Grund haben, dass es keiner lang mit ihr ausgehalten hat. Derjenige, mit dem sie zuletzt zusammen war, den ich nicht kennengelernt habe, denn er war nicht auf der Beerdigung, ich kenne auch seinen Namen nicht, war kein Jäger. Ein Glück für ihn, der Verdacht wäre augenblicklich auf ihn gefallen. Dass er kein Jäger ist, schließt nicht aus, dass er geschossen hat, auch wenn es für einen, der kein Jäger ist, schwer ist, an eine Jagdwaffe zu kommen. Keiner leiht mehr seine Waffe einfach so her, die Gesetze sind streng.
Meine Mutter hat in ihrem Leben mehrere Beziehungen zu Männern gehabt, aber sie war alles andere als eine Femme fatale. Sie war praktisch veranlagt, körperlich stark, es ging etwas Aktives, Tatkräftiges von ihr aus, das wohl manche Männer attraktiv fanden. Ihr erster Mann hatte ihr gesagt, er habe ein Haus, Besitz, Vermögen. Sie war gerade achtzehn geworden und heiratete ihn, heimlich, weil er das wollte, aus gutem Grund. Seine Familie war schockiert. Sie achtete darauf, dass ihre Kinder nur wieder Armenier heirateten. Nach dem Trauma des Völkermordes war es ihnen eine moralische Pflicht, ihre Art zu erhalten, ich verstehe das. Die Eltern ihres Mannes, wohlhabende Geschäftsleute, ließen ihren Sohn nicht mehr im Geschäft mitarbeiten, er musste sich einen Job als Arbeiter suchen - kein schönes Leben, nicht das Leben, das meine Mutter sich erwartet hatte. Sie trennte sich von ihm, zur großen Erleichterung ihrer Schwiegereltern. Enttäuscht und ernüchtert suchte sie sich eine Arbeit und schlug sich irgendwie durch. Ich denke, das ist ein ähnliches Leben wie das eines Straßenhundes. Sie gehörte nirgendwo dazu. Dann lernte sie meinen Vater kennen. All dies habe ich erst nach ihrem Tod erfahren. Mein Vater ist ein studierter Mann, ein sehr seriöser Mensch. Er saß auf dem Gang eines Krankenhauses und wartete, bis ein Arzt kommen und ihm mitteilen würde, wie es seiner Mutter ging, die nach einem Unfall operiert werden musste. Meine Mutter putzte in diesem Krankenhaus. Mein Vater sah sie in ihrem knappen Kittel, der den muskulösen, starken Körper nur unzureichend umhüllte, sah ihr zu, wie sie den Wischlappen eintauchte und wischte, ihn kraftvoll auswrang und wieder wischte, und fühlte sich in seiner Angst und Verlassenheit ganz ungeheuer angezogen von dieser Frau, die eine Vitalität verkörperte, nach der er sich wohl immer schon gesehnt zu haben glaubte. Die Mutter wurde gesund, mein Vater besuchte sie oft im Krankenhaus, er fand heraus, wann meine Mutter Schicht hatte, und fing eine Affäre an mit ihr. Sie setzte große Erwartungen und Illusionen in diese Verbindung - endlich ein seriöser Mann, der sich für sie interessierte, aber mein Vater, obschon schwer verliebt, war nicht kopflos. Er heiratete sie nicht. Er bezahlte ihr Unterhalt und Wohnung, drang aber darauf, dass sie weiterhin arbeitete. Es dauerte nur wenige Monate, dann missfiel ihr diese Situation. Sie begann ein Verhältnis mit Giovanni Castelucci, der ihr handfester erschien als mein durchgeistigter Vater. Als er sich von ihr trennte, weil sie die Verbindung zu Castelucci zugab und ihm das gerade recht kam, eröffnete sie ihm, sie sei seit kurzer Zeit schwanger. Wer der Vater sei, das wisse sie nicht. Mein Vater, ein sehr gewissenhafter Mensch, ließ einen DNA-Test machen und erfuhr, dass er der Vater war. Er war sogleich bereit, für meine Aufzucht aufzukommen und bot auch an, die Vaterschaft zu übernehmen. Unverständlicherweise wollte das meine Mutter nicht. Sie wollte das Geld, die Vaterschaft sollte der unschuldige Castelucci übernehmen, dachte sie wohl, die Vaterschaft sei ein Mittel, ihn fest an sich zu binden. Dass eine feste Bindung mit meinem Vater nicht realistisch war, hat sie wohl erkannt. Mich erstaunte sehr, dass sich mein Vater auf diesen Deal eingelassen hat. Als wir darüber sprachen, meinte er, er habe sich aus Bequemlichkeit, einer verwerflichen Bequemlichkeit, ihren Wünschen gefügt. Mein Vater ist ein wohlhabender Mann und hat ein empfindsames Gewissen. Er zahlte regelmäßig. Für mich und für sie.
Tatsächlich hat er über all die Jahre meine Schule bezahlt und noch einiges mehr.
Wenn ich ihr Leben rückblickend anschaue, so scheint es mir, als sei meine Mutter ständig auf der Suche gewesen. Nach einem Leben, das zu ihr gepasst hätte, vielleicht. Oder auch nach dem einen Mann, der so war, wie sie ihn gern gehabt hätte. Hätte sie eine bessere Ausbildung gehabt, sie wäre womöglich eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden, sie schien mir ein Talent für Geldgeschäfte zu haben. Ihr lag alles, was praktisch, nützlich, handfest war. Für die Künste hatte sie wenig übrig, es schien ihr Zeitverschwendung zu sein, Kunst zu betreiben, das sollten die tun, die ohnehin gescheitert waren. Dass sie unzufrieden war, lag auf der Hand. Die Männer waren in den meisten Fällen Reinfälle, sie stieß sie ab, als das offenkundig wurde. Wegen ihrer fehlenden Ausbildung fand sie nur Arbeit als Arbeiterin, harte, körperliche Arbeit, die sie nicht ungern verrichtete, die ihr aber wenig Geld einbrachte. Und Geld war etwas, das sie wollte. Ihre wiederholten Versuche, sich umzubringen, unternahm sie wohl aus Enttäuschung und Frustration, wieder einmal das nicht erreicht zu haben, was sie sich so wünschte: Geld und Macht.
Es klingt hart, was ich über meine Mutter erzähle. Sie hatte auch ihre weichen Seiten. Wenn sie mich in den Arm nahm und küsste. Wenn sie ein Tier von der Straße aufhob, eine Schnecke, einen Frosch, damit er nicht überfahren würde, all dies habe ich geschätzt an ihr. Vermutlich ist es so, dass das Leben, das sie führte, die ständigen Enttäuschungen, sie hart gemacht haben - ich kann es mir nicht anders erklären. Sie wollte sich nicht abfinden, sie wollte etwas erreichen. Sie war stark. Immer noch frage ich mich, warum man sie in den Rücken geschossen hat. Es hat etwas Feiges, hatte der Schütze Angst vor ihr? Oder war es doch ein Zufall, ein Unfall, eine verirrte Kugel? Das gibt es, auch wenn es unwahrscheinlich klingt.
Als ich meinen Vater dann kennenlernte, erst nach dem Tod meiner Mutter, begann ich, mich besser zu verstehen. Fortpflanzung ist ein ebenso einfacher wie komplizierter Vorgang. Die Evolution, die Natur, Gott, wem immer wir dieses Phänomen in die Schuhe schieben wollen, war erfindungsreich. Zwei völlig unterschiedliche Individuen, Menschen wie Tiere, vereinen ihre Anlagen und ihre Körper. Meistens kommt etwas raus dabei: eine große Überraschung. Es ist so etwas wie ein Roulette-Spiel, so sehe ich das. Eine Eizelle plus ein Spermium, das unter Hunderttausenden erfolgreich war: ein neuer Mensch, ein neues Tier. Vorgeprägt durch Art und Erbgut. Ein Fuchs hat keine Federn und eine Ente kein Fell. Ein Mensch sieht aus, wie Menschen nun mal aussehen, aber wie er ist, was er ist? Eines ist sicher: Ein jedes menschliche Wesen ist eine Wundertüte.
So müssen es Eltern erleben. Viele, so meine Beobachtung, nehmen selektiv wahr und wollen einfach, dass das Ergebnis eines Geschlechtsverkehrs Vater und Mutter, oder auch nur einem von beiden, ähnlich sein möge. Berechenbar und kalkulierbar. Andere wundern sich vielleicht über den Wechselbalg, der, obwohl er Vater oder Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist, sich so verhält, wie sich noch nie einer in der Familie verhalten hat. Inzwischen habe ich selber Kinder, zwei Söhne, und vertiefe mich in ihr noch unentwickeltes Sein, in ihre Persönlichkeiten, in ihren körperlichen Zustand. Eine lohnende Beschäftigung, wie jede Beschäftigung mit einem Lebewesen lohnend ist, denn sie bringt Erkenntnis. Oft keine zufriedenstellende, aber immerhin eine Erkenntnis. Meine Erkenntnis, wenn ich mich mit meinen Kindern beschäftige: Ich habe keine Ahnung, wer sie sind. Keine Ahnung, wer ich bin. Überhaupt keine Ahnung, wer ihre Mutter ist.
Als ich meinen Vater zum ersten Mal sah, ich war gerade achtzehn geworden, war ich überrascht, dass er mir nicht fremd vorkam. Er sah gut aus. Er war schlank, schon grauhaarig, seine Haltung freundlich nach vorn geneigt und, wie ich auf Anhieb erkannte – das wahrzunehmen, lernt man in einem Internat der gehobenen Klasse sehr gut, sehr seriös angezogen. Standesgemäß. Nachdem ich geboren worden war und er, Giovanni Casteluccis wegen, das Feld geräumt hatte, hatte er sich sehr bemüht, diesen Schlamassel mit meiner Mutter und mir in die geordneten Bahnen von Banküberweisungen zu kanalisieren, und konzentrierte sich auf seine Habilitation. Er ist Geistes-wissenschaftler geworden und arbeitet heute als Publizist. Habilitiert hat er in Philosophie, aus-gerechnet, möchte man sagen.
Aber Philosophie ist ja eine durchaus praktische Wissenschaft. So sieht er es jedenfalls. Philosophie versucht, Antwort zu geben auf die einfachen Fragen im Leben, hat er mir gesagt. Und so habe ich ihm eine einfache Frage gestellt: Ob es richtig wäre, die Frau, mit der ich schon ein Kind hatte und die mit einem zweiten schwanger war, zu heiraten. „Nein!“, sagte er. Ich habe es dennoch getan, weil ich fand, dass das Bürgerlich-Praktische in diesem Fall schwerer wiege als die Ansicht eines Philosophen. Richtig war es nicht, ich hätte auf meinen Vater hören sollen. Meine Frau hat mich verlassen, als mein zweiter Sohn drei Monate alt war. Ich kam nach der Arbeit nach Hause, der Kleine schrie und schrie, der Große schlief oder tat so. Wie sollte ich mitten in der Nacht eine Brust finden, die den Kleinen satt machte? Ich rief den Notarzt an. Bevor mir der Kleine Hungers starb, fand ich, dass das um zwei Uhr nachts die einzige Möglichkeit zur Rettung war. Als ich auf die Frage, wo denn die zuständige Mutter sei, zugab, ich habe nicht die geringste Ahnung, zeigte man sich ungewöhnlich hilfsbereit. In einer Kinderklinik gaben sie mir Fertignahrung, erklärten mir, wie man die zubereitet, und waren so nett, mir zwei Packungen mitzugeben. Ich machte Ludwig also seine Fläschchen nach Gebrauchsanweisung und verfluchte seine Mutter. Dass ich mit ihr verheiratet bin, hat die Sache verkompliziert, denn sie beansprucht noch einiges von mir. Dass sie mich verlassen hat, auch wenn meinen Kleinen womöglich lebenslang ein Hungertrauma begleiten wird, ist hingegen ein Segen, denn sie ist meiner Mutter sehr ähnlich. Warum verfällt man immer wieder Menschen, die nicht gerade gut sind für einen? Die Mutter kann man sich nicht aussuchen, die Frau aber schon, warum wählt man so verhängnisvoll unheilvoll? Eher eine Frage der Psychologie als der Philosophie. Ich habe sie dennoch meinem Vater gestellt und er meinte, dass er für biologische und psychologische Prägung nicht zuständig sei, mir aber dennoch einen guten Rat geben könne. „Und welchen?“ „Mach dir nie zu viele Gedanken über deine Mitmenschen. Von denen du ja auch einer bist. Wie sie sind und was sie sind, findest du eh nie heraus. Komm irgendwie zurecht mit ihnen, und wenn nicht, breche die Verbindung ab. Wenn dir das gelingt, bist du schon fast ein Philosoph.“
So ist mein Vater. Nicht immer eine große Hilfe, aber ohne ihn hätte ich es nie geschafft, meine Kinder aufzuziehen. Und da liegt noch eine gewaltige Strecke vor mir, denn sie sind erst drei und sechs Jahre alt. Am liebsten mag ich sie in der Nacht. Der Große liegt links, der Kleine rechts von mir, ich denke manchmal an diese Sarkophage in alten Kirchen, immer liegt ein Hündchen dem Verstorbenen zu Füßen, wie wäre es, wenn den Leichnam zwei Kinder flankierten? Gut, ich bin noch kein Leichnam, ich lebe noch, das freut mich sehr, meine Söhne weniger. Irgendwann kaufe ich ihnen einen anderen Vater, wenn ich einmal reich bin, sage ich ihnen. Und dann füllt der Große einen Lottoschein aus, damit ich gewinne und reich werde und ihm einen anderen Vater kaufen kann. Ich bin kein schlechter Vater, so sehe ich das, meine Kinder sehen das anders. Ich gehe nie mit ihnen zu McDonalds, ich habe keinen Fernseher und ich erlaube ihnen nicht, Cola zu trinken. Ich bin ein absolut unfähiger Vater in den Augen meiner Söhne. Und das wird sich auch nicht geben. Ich kaufe ihnen kein Smartphone und kein Tablet, alle anderen Kinder haben das, meine nicht. Ich habe daran gedacht, sie zu verkaufen. An Eltern, mit denen sie glücklicher wären. Aber dann überwältigt mich ein moralischer Anspruch, dem ich nicht gewachsen bin, und ich terrorisiere sie weiter und sie mich, und irgendwann werden wir eine verschworene Gemeinschaft werden aus angepassten Söhnen und einem anarchischen Vater. Ich glaube an unsere Zukunft. Ich habe meinen Vater gefragt, ob er da zuversichtlich sei. „Zukunft?“, hat er gesagt, „du denkst an die Zukunft? Wer, bitte, hat dir da ins Hirn geschissen, dass du auf so was reinfällst?“
Mein Vater ist Philosoph, ich sehe ihm einiges nach. Schon deshalb, weil er auf mich aufpasst, immer, und mich finanziell unterstützt. Wir sind nicht arm, aber bedürftig, so kann man das sagen. Auch wenn ich verdiene, als freiberuflicher und alleinerziehender Vater nicht allzu viel, ich muss meiner fahnenflüchtigen Frau was geben, ich kann es mir nicht leisten, zur Frittenbude zu gehen mit meinen beiden Söhnen, geschweige denn zu McDonalds, und so koche ich selber und das sehr gut, es kommt vor, dass meine Söhne das essen, was ich gekocht habe.
Genau genommen müsste ich meiner fahnenflüchtigen Frau nichts geben. Aber sie hat es verlangt. Nachdem sie sich zwei Jahre nicht gemeldet hatte, hat mir ein Rechtsanwalt geschrieben. Sie war im Mutterschaftsurlaub gewesen und hatte keine Arbeit, sie fände so schnell keine mehr und als Ehemann sei ich verpflichtet, meine Frau in Not zu unterstützen. Ich fand das unsinnig, eine Zumutung. Warum sollte ich einer Frau, die mich und ihre Kinder auf brüskierende Weise verlassen hatte, auch noch Geld hinterher schmeißen, das ich nicht hatte, nun, da ihr Anteil an der Haushaltsfinanzierung auch noch wegfiel? Aber ich hätte klagen müssen und dafür braucht man einen Anwalt und das Geld für einen Anwalt hatte ich nun nicht mehr. Es war weniger kostspielig, die relativ gemäßigten Unterhaltszahlungen für meine Frau zu erbringen, als einen Anwalt zu zahlen. Das wusste sie natürlich.
Hätte ich gewusst, dass ich einmal alleinerziehender Vater zweier Söhne sein würde, hätte ich mir dann einen anderen Beruf gesucht? Keine Ahnung, natürlich. Als meine Mutter gestorben war – es sind zehn Jahre her und ich überlege immer noch, wie ich denn diesen Jahrestag würdig begehen könnte – und ich meinen Vater kennengelernt hatte, da wollte ich ihm keinesfalls sagen, wie ich mir denn meine Zukunft nach dem Abitur vorstellen könnte. Ich habe ihm verschwiegen, was ich vorhatte, denn mein Vorhaben war zum Scheitern verurteilt, ich wollte keine Ratschläge, keinen Trost, keine Ermunterung, erst recht kein höhnisches Gelächter.
Überzeugt von meinem Scheitern sprach ich an einer Schauspielschule vor, einer sehr renommierten. Ich hatte einen schrecklich schwierigen Text ausgewählt, Kleist, die Angstszene im Homburg, eine Vorführung, mit der man sich nur blamieren kann. Ich brauchte auch einen Partner, die Kurfürstin, sie wurde mir gestellt. Ich stellte mir vor, ich sei zum Tode verurteilt, mein Grab würde soeben ausgehoben, und ich weinte verzweifelt, ohne mich anstrengen zu müssen, ich hatte diese schreckliche Angst, dieses Entsetzen darüber, was mir Menschen antun wollten, die ich doch gern hatte, ganz wirklich. Als ich fertig war und alle schwiegen, ging ich hinter die Bühne und legte mich auf den Bretterboden, ich konnte nicht mehr. Man holte mich, fragte mich besorgt, wie es mir ginge und ob ich einen zweiten Text vorbereitet habe, den hatte ich, auch eine harte Nummer, den Tasso. Den Monolog im zweiten Aufzug. Ich sprach ihn, hoffnungsvolle Worte ohne jede Zuversicht, einfach so runter, desillusioniert und von meinem Scheitern überzeugt. Sie nahmen mich an. Richtig freuen konnte ich mich nicht, einmal war ich zu erschöpft, zum anderen musste ich doch meinem Vater beichten, zu welchem Beruf ich mich entschlossen hatte. Mein Vater legte mir die Hand auf die Schulter, „da hast du dir ein hartes Leben ausgesucht“, sagte er, „aber Chapeau, du wirst das meistern.“
Das war sehr optimistisch gedacht von meinem Vater. Alles wäre leichter, hätte ich diese beiden Kinder nicht. Aber sich Kinder, die nun einmal da sind, wegzudenken, das bringt man besser nicht fertig.
Warum nur habe ich mich verliebt und ausgerechnet in diese Frau? Eine Frau ohne jedes Verant-wortungsgefühl. Sie hatte einen nüchternen Job, Versicherungsangestellte, an meinem Beruf hatte sie nicht das geringste Interesse, sie las nichts, sie ging nie ins Theater, ich fand das gut, sie verkörperte das ganz reale Leben, von dem ich nichts wissen wollte. Ich lebte in einer Welt, die geniale Geister geschaffen hatten, und dachte vermutlich, ich müsse mich erden mit einer banalen Person.
Warum ist man so blöd? Warum gibt man sich mit Menschen ab, die – wenn man es nüchtern sieht und sachlich – einen Scheißcharakter haben und nur Unglück bringen über einen? Sie war noch nicht einmal besonders hübsch, ihre Figur durchschnittlich, sie war aber fruchtbar und ließ sich schwängern von mir. Dass ich ihr etwas zahlen muss, macht mir nicht so viel aus, wohl aber, dass meine Kinder zur Hälfte von ihr sind und ich ständig fürchten muss, sie könnten ihr ähnlich werden. Bin ich meiner Mutter ähnlich? Äußerlich ein bisschen, aber ansonsten habe ich meine Mutter nie gut genug kennen gelernt, um zu wissen, ob ich ihr ähnlich bin im Wesen. Ich hoffe, nicht.
Obwohl meine Frau ihren Kindern nie besonders viel Zuwendung gegeben hat, fordert sie jetzt ihr Zugangsrecht ein. Dagegen kann ich kaum etwas einwenden. Auch wenn sie ihre Kinder verlassen hat – die Gründe dafür lastet sie mir an –, hat sie das Recht, sie zu sehen und mit ihnen zusammen zu sein. Und womöglich wird sie vielleicht auch einmal das Recht beantragen, Fürsorge für sie zu haben, also zu bestimmen, auf welche Schulen sie gehen und wie ihr Leben weiterhin verlaufen soll. Gegen diese Rechte muss ich mich wehren, vehement, entschlossen, ich muss.
Geheiratet habe ich diese Frau, weil ich tatsächlich noch Hoffnung hatte, es könne eine gemeinsame Zukunft geben mit ihr. Warum ich diese Hoffnung hatte? Vermutlich, weil ich sie haben wollte. Wenn man eine Frau geheiratet hat, die ein Kind mit einem hat und ein weiteres erwartet, dann kann man entweder abhauen, was sicherlich die klügere Variante gewesen wäre, oder einfach hoffen, dass sie doch die passende Frau wäre für einen und eine gute Mutter.
Ich bin ein sehr junger Vater. Das ist einerseits gut, andererseits nicht gut. Ich war gerade zweiundzwanzig, als ich zum ersten Mal Vater wurde – viel zu früh. Manchmal denke ich, dass mein Beruf mich unbrauchbar macht für das Leben. Dass alle diese Rollen mich so einnehmen, dass ich die Rolle eines eigenen Privatlebens nicht mehr meistern kann. Ehemann und Vater zu sein, bevor man auch nur annähernd die dreißig erreicht hat, ist ohne Zweifel blödsinnig. Und dann noch mit diesem Beruf!
Warum ich mich für diesen doch eher ungewöhnlichen und anstrengenden Beruf entschieden habe – den Schauspielberuf –, das weiß ich heute noch nicht so genau. In dem Internat, auf das ich gehen durfte, ja, ich sehe das durchaus als Privileg an, spielten wir dann und wann Theater. Ich war dabei, aber so richtungsweisend habe ich das damals nicht empfunden. Jetzt, rückblickend, kann ich wohl sagen, dass sowohl der Tod meiner Mutter als auch die Begegnung mit meinem Vater einen Willen zu einem ungewöhnlichen Lebensweg in mir bewirkt haben. Meine Familiensituation war alles andere als normal, ich wollte auch keinen normalen Beruf haben. Ich hatte fest damit gerechnet, mit meiner Bewerbung zu scheitern, genau deswegen hatte ich mir so schwierige Vorsprechtexte ausgesucht, ich wollte geradezu scheitern. So als wollte ich Mutter und Vater beweisen, dass sie Mist gebaut hatten und mich, ihren unschuldigen Sohn, zum Scheitern verdammt. Aber ich überzeugte. Ich war wohl richtig gut. Und so bin ich in diesem Beruf geblieben, ich bin Mitglied eines Ensembles, ich spiele an einem renommierten Theater. Ich mag meinen Beruf. Ich lerne gern meine Rollen, ich stehe gern auf der Bühne, ich freue mich über den Applaus, auch wenn ich immer noch Angst habe vor Menschenmassen, schreckliche Angst. Diese Angst gehört dazu, ohne Angst kann ich nicht spielen, ich spiele um mein Leben, jeden Abend. Ich verbeuge mich, ich gehe in meine Garderobe und ziehe mich um, ich gehe zufrieden nach Hause. Und da wartet eine müde Tagesmutter auf mich, zwei schlafende Kinder.
Ich muss mich sortieren. Meine Lebenssituation klar sehen. Überlegen, wie es weiter gehen soll. Denn da gibt es zwei Kinder, für die ich sorgen muss, ihre Mutter kann ich vergessen, nein, ich würde sie gern vergessen, sie lässt es nicht zu. Sie verlangt Unterhaltszahlungen, sie verlangt das Zugangsrecht zu ihren Kindern. Da sie mich und ihre Kinder verlassen hat, ist dieses Zugangsrecht beschränkt, aber sie hat es. Wenn meine Kinder von diesen Tagen mit ihrer Mutter zurückkommen, dann ist ihnen nicht nur übel von all dem Schrott, den sie gegessen haben, sie konfrontieren mich mit Fragen wie: „Stimmt das, dass die Mama hungern muss, weil du ihr kein Geld gibst?“ „Willst du, dass wir die Mama nicht mehr sehen dürfen?“ „Willst du, dass die Mama stirbt?“ Und am liebsten würde ich antworten: „Ja. Ich will, dass die Mama stirbt.“
Darf man so etwas sagen? Nein. Darf man so etwas denken? Ja. Ich sehe das so.
Den Todestag meiner Mutter möchte ich an ihrem Grab zubringen. Das habe ich so beschlossen. Es ist Anfang August, Theaterferien, Schulferien. Meinen Großen, den Matthias, habe ich – auf seinen aus-drücklichen Wunsch – in einem Feriencamp unter-gebracht. Sie dürfen dort eine Woche lang nicht mit den Eltern telefonieren, sie kochen selber am offenen Feuer – unter der Anleitung von Aufsichts-personen natürlich –, sie erzählen sich nachts im Zelt Gruselgeschichten und waschen sich eine Woche lang nicht. Den Kleinen, den Ludwig, wollte ich in einer befreundeten Familie unterbringen, deren Sohn mit dem meinen in den Kindergarten geht, aber mein Vater meinte, er wolle ihn gern diese eine Woche lang betreuen. Ich war sehr skeptisch, er hat nachts manchmal Albträume und dann und wann macht er sich noch in die Hosen. Aber das war meinem Vater egal. Philosophen, so sagte er wörtlich, bräuchten dann und wann unverdorbenes menschliches Gedan-kenmaterial, um sich aus all dem Schlamm ihrer Zunft zu befreien, und mit ein bisschen Kinderlosung käme er schon zurecht. Ich habe ihm gesagt, er könne mich anrufen, wann immer er die Nase voll habe, ich packe also ein paar Sachen zusammen und fahre los. Eine Woche habe ich mir gegeben für diese Fahrt, ich komme schon nach zwei Tagen an.
Ich will mir Zeit lassen und ich lasse mir Zeit. Ich übernachte das erste Mal in Österreich. Es ist Sommer, Ferienzeit, das gefällt mir nicht. Es ist warm, überall sind Touristen und Urlauber unterwegs, ich fühle mich gestört von diesen Mengen an Menschen überall. Ich finde ein Zimmer in einem mittelmäßigen Hotel, ich fahre am frühen Morgen weiter und bin schon gleich da, in dem Ort, auf dessen Friedhof wir vor zehn Jahren meine Mutter beerdigt haben. Damals war es geschmückt mit Kränzen und Blumen. Heute steht da ein schlichtes Kreuz, eine Granitplatte liegt auf dem Grab, auf einer kleinen Tafel steht der Name meiner Mutter und ihre Geburts- und Sterbedaten. Ich habe ein Licht mitgebracht, das ich anzünde. Am Grab der Mutter zu stehen, hat einen Gemeinplatz in der Trivialliteratur. Ich stehe am Grab meiner Mutter, die gestorben ist, ermordet wurde, genau gesagt, als ich achtzehn war. Und empfinde was? Wenig, ich gebe es zu. Es gelingt mir nicht, meine Mutter zu vermissen. Ich habe sie nie vermisst, das ist die Wahrheit, leider. Als ich sie das letzte Mal lebend gesehen habe, war ich sechzehn. Meine Mutter kam an meine Schule, sagte, sie wolle mich sehen. Sie war gut angezogen, sie sah gut aus und kam mir doch, auf eine für mich beschämende Weise, verwahrlost vor. Ich hatte den Eindruck, sie habe sich an einen wohlhabenden Mann verdingt, ein Eindruck, der richtig war, wenn auch der betreffende Mann sich als ein Mann von Ehre und Verstand erwies, als ich ihn kennenlernte. Ich war damals froh, meine Mutter losgeworden zu sein an einen Mann, dem ich zutrauen konnte, dass er gut für sie sorgen würde, ich gebe das zu. Ich war froh, der Verantwortung enthoben zu sein, mir Sorgen machen zu müssen um meine Mutter, die sich um mich kaum jemals Sorgen gemacht hatte. Ich stehe also am Grab meiner Mutter, die einer erschossen hat, geplant oder nicht, und wundere mich, dass ich so wenige Gefühle habe dabei. Ich denke an die Mutter meiner beiden Söhne und stelle fest, dass ich nichts dagegen hätte, läge sie ebenfalls unter einer Granitplatte, so wie meine Mutter auch.
Auf dem Kirchenanzeiger steht keine Messe für meine Mutter, sie sollte eine haben, nach zehn Jahren. Aber vielleicht gibt es keinen mehr, der ihr eine Messe spendieren würde.
Ich gehe in die Kirche, die im Zentrum liegt dieses Friedhofes, und wundere mich. Über diese Fremdheit zwischen meiner Mutter und mir. Mir fällt keine Erinnerung ein, keine einzige, an der ich glückliche Momente erlebt hätte zusammen mit ihr. Ich bin traurig, sehr traurig, und so fahre ich einfach weiter und schaue nur durch die Windschutzscheibe und sehe nichts, denke aber daran, dass ich ihr eine Messe werde lesen lassen, nicht da, wo sie beerdigt ist, da, wo ich lebe zurzeit.