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Die Legende vom Flötenspieler, der nach den verhassten Ratten die geliebten Kinder aus der Stadt Hameln führte und auf Nimmerwiedersehen mit ihnen verschwand, ist uralt. Ihr geheimnisvoller Grusel wirkt jedoch bis heute fort, und ihre Rätsel sind ungelöst: Wer war der seltsame Mann, der sich auf so grausame Weise an den Bürgern von Hameln rächte? Ein Magier, ein Dämon, ein Vagabund, der Unheil mit Unheil vergalt? Woher kam er, wohin ging er, was geschah mit den Kindern, die arglos den Klängen seiner Flöte folgten? In seinem ‚Hamelner Totentanz’ spürt Michael Ende, der König der Geschichtenerzähler, diesen Fragen nach und kommt zu Antworten, die selbst eingefleischte Kenner verblüffen werden.
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Seitenzahl: 69
Michael Ende
Ein Hamelner Totentanz
Libretto für eine Oper in elf Bildern
Der SpielmannDie beiden KinderHeiner Gruelhot, BürgermeisterAtela Gruelhot, seine FrauMagdalena Gruelhot, seine TochterGottfried Weregesius, ein PriesterAmelung Reicke, der VogtAbt Lambert1. Mann1. Weib2. Mann2. Weib3. Mann3. WeibVolk, Bettler, Mönche, Ratsherrenund reiche Kaufleute,Landsknechte, Mägde und Kinder
ANNO • 1284 • AN DAGE • IOHANNIS ET PAULI •WAR DER • 26. IUNII • DORCH • EINEN • PIPER •MIT • ALLERLEI • FARVEN • BEKLEDET • GEWESEN •CXXX KINDER •VERLEDET • BINNEN • HAMELIN • GEBORN •TO CALVARIE •BI DEN KOPPEN • VERLORN
Aus dem Dunkel erscheinen zwei Kinder – ein blinder Junge, der ein gelähmtes Mädchen auf dem Rücken schleppt. Beide sind in Lumpen gekleidet und sehen hungrig aus. Sie singen mit harten, etwas schreienden Stimmen, teils einzeln, teils zweistimmig, jede Silbe betonend wie in einem alten Choral.
In Gottes Nam’, hört zu, ihr Leut
aus anderm Land, aus andrer Zeit:
Was hier zu Hamelin ist geschehn,
wir haben’s gehöret, wir haben’s gesehn.
Und hat’s euch auch mancher schon erzählt,
die Wahrheit hat man doch allzeit verhehlt.
So stehen wir als Vicarii nur
für alle geschundene Kreatur,
und wollen euch erstatten Bericht
von einer gar bitteren Geschicht.
Wir Kinder legen Zeugnis ab,
auf dass männiglich seine Mahnung hab.
Sie verschwinden wieder im Dunkel.
Der Platz vor dem Dom von Hamelin. Morgengrauen, Nebel. Einzelne zerlumpte Gestalten hocken auf dem Boden und auf den Stufen, nach und nach kommen immer mehr dazu, Bettler, Blinde und Sieche, bis der Platz voll ist. Ihre Stimmen, anfangs leise und in großen Abständen, steigern sich schließlich bis zur Raserei.
1. MANN
Verfluchte Ratten! Haufen über Haufen!
Leises Seufzen, Gewisper: »Ratten … Ratten …«
1. WEIB
Nachts ist mir eine übers Maul gelaufen.
(sie enthüllt ihr entstelltes Gesicht)
2. MANN
Sind’s Ratten? Wirklich Ratten? Oder nicht?
2. WEIB
Ich hör nur stets, dass man von Ratten spricht.
3. MANN
Wenn’s aber keine Ratten sind, wer weiß …
3. WEIB
Hat’s einer schon gesehen, das Geschmeiß?
1. MANN
Was da im Dunkeln kreischt und umme fährt,
bei Tag und Nacht sich mehrt und immer mehrt,
ist kein gewöhnliches Getier, klein oder groß,
das ist Gezücht aus einem andern Schoß!
Alle entsetzen sich.
1. WEIB
Was sie mit ihrem Kot besudeln, stirbt.
2. MANN
Was sie belecken und bespein, verdirbt.
2. WEIB
Das Brot verfault, noch eh man es verschlungen.
3. MANN
Das Wasser steigt vergiftet aus den Brunnen.
3. WEIB
Das Kleid, das sie mit ihrem Seich benetzen,
zerfällt dir gleich am Leib zu Haderfetzen.
1. MANN
Die Balken modern und die Mauer wankt.
1. WEIB
Die Stadt versinkt in Jauche und Gestank.
2. MANN
Ein übler Dunst streicht von der Weser her.
2. WEIB
Der Fluss ist tot. Kein Fisch, kein Vogel mehr.
3. MANN
Kein Baum, kein Strauch, kein Hahn wächst auf dem Feld.
3. WEIB
Die Nahrung kommt weit her für teures Geld.
1. WEIB
Der Hunger zehrt uns aus bis aufs Gebein.
1. MANN
Doch wer gebissen wird, hat ärgere Pein.
2. MANN
Der fiebert, krankt, sich bald in Krämpfen windet,
verkrüppelt, lahmt, wird schwärig und erblindet.
2. WEIB
Nur Ratten, sagt ihr? Wollt ihr drauf beharren?
Das soll das Werk von Ratten sein? – Ihr Narren!
3. MANN
Was lügen wir uns vor? Was Ratten, Ratten!
Des Teufels Scharen sind’s, des Todes Schatten!
Die Menge stöhnt auf.
3. WEIB
Ein Strafgericht des Herrn, uns zu vernichten!
Schreie
1. MANN
Höllische Ausgeburt! Gott will uns richten!
Geheul.
1. WEIB
Die Geißel Gottes, wie’s geschrieben steht,
für unsre Sünden, die uns aufgebläht!
Gebrüll.
2. MANN
Tut Buße, Leute! Betet! Betet! Schreit
zu Gott dem Herrn, damit er uns verzeiht!
ALLE
Gnade uns Gott, jetzt und in Ewigkeit!
Tumult bricht aus. Es formieren sich drei Gruppen: Geißler, Veitstänzer und eine Knie- oder Springprozession. Die drei Chöre singen durcheinander.
DIE GEISSLER
Aus der Tiefe schreien wir,
Kyrie eleis!
Unser Fleisch kasteien wir,
Kyrie eleis!
Unter Tränen, Blut und Schweiß,
tief im Fleisch den Dorn,
büßen wir der Sünde Preis.
Du, der alles sieht und weiß,
wende deinen Zorn!
Kyrie eleis!
VEITSTÄNZER
Unser Sinnen, unser Schaffen
macht aus uns des Teufels Affen.
Blinde Narren, blöde Toren,
ohne Gott sind wir verloren.
Satansböcke, Hurentreiber,
unsre Seelen, unsre Leiber
klirren in des Teufels Ketten.
Herr, nur du kannst uns erretten!
PROZESSION
Herr, uns trafen
deine Strafen!
Willst uns richten
und vernichten,
so geschehe uns dein Wille!
Dies irae, dies illae!
Wir verzagen
und wir klagen.
Du musst finden
lauter Sünden,
wenn du prüfst auf Herz und Niere.
Dies illae, dies irae!
Die Bürgermeisterin Atela Gruelhot und ihre sechzehnjährige Tochter Magdalena mit Dienerschaft treten aus der Kirche. Sie sind reich gekleidet. Sie betrachten das Treiben des Volkes, das bei ihrem Anblick nach und nach innehält. Manche nehmen die Hüte ab und verbeugen sich demütig, andere kriechen herzu und strecken bettelnd die Hände aus.
MAGDALENA
Ach Mutter, mich dauern diese Leute.
Ich hab für sie gebetet heute.
Warum sind sie arm und wir sind reich?
ATELA
Mein Kind, vor Gott sind alle gleich,
doch auf Erden sind wir verschieden.
Das muss so sein, auch wenn du’s nicht fasst.
Ein jeglicher trägt seine eigene Last,
auch wir haben unsere Bürde hinieden.
MAGDALENA
Das mag wohl sein, doch macht’s mir Harm.
Ich wäre gern auch einmal arm.
ATELA
Das sagst du so, liebes Engelskind.
Doch wenn da nicht die Reichen sind,
wer gäbe dann Almosen an die Armen?
MAGDALENA
Ja wahrlich! Mitleid und Erbarmen
kann der nur zeigen, der etwas hat.
Die Reichen machen die Armen satt.
Dann, Mutter, gib mir bitte Geld,
damit ich tu, was Gott gefällt.
ATELA
(gibt ihr eine Börse)
Da nimm und gib – doch nicht zu viel!
MAGDALENA
‘s ist mir das allerliebste Spiel.
(wirft Münzen unter das Volk, das sich gierig darauf stürzt)
VOLK
Lass los! – Gib her! – Wo ist es hin?
Du Dieb! – Du Sau! – Nein, das ist mein!
Gott segne die Bürgermeisterin
und ihr hochedles Töchterlein!
(einige küssen den Rocksaum der beiden)
Der Magistrat tritt auf, darunter der Bürgermeister Heiner Gruelhot mit Ratsherren, der Vogt Amelung Reicke, der Abt Lambert. Sie stellen sich auf den Stufen des Doms auf.
GRUELHOT
Leute von Hamelin, habt Geduld
und hört, was ich euch sage:
Nicht euer ist die schwere Schuld
an dieser Rattenplage.
ABT LAMBERT
Sucht Gott uns so gewaltig heim,
dann nicht für Schwachheitssünden.
Für größere Untat insgeheim
muss man den Schuldigen finden.
GRUELHOT
Erforscht hat drum der Magistrat
und ich, der Bürgermeister,
Abt Lambert auch, im Hohen Rat
den Grund der Plagegeister.
VOGT REICKE
Mit Gottes Hilfe haben wir
den Schuldigen gefunden,
und abgeurteilt wird er hier
am Domplatz noch zur Stunden.
VOLK
Wer ist’s? Wer ist’s?
ABT LAMBERT
Ein Satanssohn,
Wahrsager, Nekromant!
Unter der Folter hat er schon
sein Teufelswerk bekannt.
VOLK
Wer kann das sein in unserer Stadt,
der solche Verbrechen begangen hat?
Mehrere Henkersknechte schleppen einen alten Mann herein, der kaum noch bei Bewusstsein ist. Seine Hände sind gebrochen, er blutet aus Mund und Ohren. Gemurmel im Volk.
VOGT REICKE
Gottfried Weregesius, vormals »der Seher« genannt
und manchem von euch als Priester bekannt,
hat gestanden unter der harten Tortur,
er sei ein Diener des Satans nur,
der, um zu verlängern das eigene Leben,
seinem Herrn wollt die Stadt zu eigen geben.
Dazu hat er geschaffen mit schwarzer Magie
die Rattenplage, die wütet allhie.
Er wird euch nun vorgeführt als Delinquent,
auf dass er öffentlich seine Schuld bekennt.
WEREGESIUS
(erst kaum hörbar, wimmernd, dann immer lauter und mächtiger)
Weh, Hamelin, wehe …
lch sehe … ich sehe …
viel Blut und Rauch und Flammen …
die Mauern brechen zusammen …
Da reitet der Tod durch jegliches Haus …
keiner von euch wird ihm kommen aus …
Aber zuvor …
durchs Wesertor …
kommt ein anderer, der euch retten kann …
ihr aber, ach, ihr nehmt es nicht an …
Ich sehe … ich sehe …
wie ihr selbst euren Untergang sucht …
weh, Hamelin, wehe …
du bist verflucht!
GRUELHOT
Bringt ihn zum Schweigen!
Die Henker versuchen es, weichen aber vor ihm zurück.
WEREGESIUS
Weg! Lasst mich! Du, Henker, hüte dich!
Ich sprech in höherem Auftrag – nicht für mich!
ABT LAMBERT
Da hört ihr selber seine Lästerung!
WEREGESIUS
Hamelin, Hamelin, hör, was ich sage!
Deine Reichen werden reicher an dieser Plage,
und die Armen ärmer von Tag zu Tag.
Ja, hört nur, was keiner hören mag!