Der Reiter auf dem Regenbogen - Georg Engel - E-Book

Der Reiter auf dem Regenbogen E-Book

Georg Engel

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Beschreibung

An der Ostseeküste bei Stralsund wächst bei seiner Mutter, der Kapitänswitwe Petersen, der junge Gust heran. Am Gymnasium hat er es nicht leicht, denn er ist ein aufrührerischer Geist, der offen seine Meinung kundtut. Er fühlt sich zu der ernsten, tiefsinnigen Martha hingezogen, aber vorerst hat die kapriziöse Toni mehr Erfolg bei ihm. Mit ihr zusammen, die Schauspielerin werden will, wagt er einen Ausbruchsversuch, der aber nur kurze Dauer hat. Seinen Lebensunterhalt verdient er in einem Antiquitätengeschäft, dessen Enge ihn aber auch bald bedrückt. Seine Jugendfreundin Martha, inzwischen verheiratet mit dem jungen Landrat Malte von Zingst, verschafft ihm die Stelle eines Privatsekretärs bei ihrem Mann. Unüberwindlich scheinen die Probleme der armen Fischerdörfer an der Küste, mit denen der Landrat zu kämpfen hat. Es bricht eine Sturmflut los, der schützende Deich droht zu brechen und der Landrat wirft sich mitten ins Geschehen, um den Fischern beizustehen ...-

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Georg Engel

Der Reiter auf dem Regenbogen

Roman

Saga

Erstes Buch

Der Himmel

I.

„Hast Du das Deine auch ordentlich gelernt?“ fragte Mudding Petersen und strich sich das rotblonde Haar aus dem breiten, dickbäckigen Gesicht. Aber während sie an der kleinen, grünbeschirmten Lampe schraubte, damit ihr Sohn, der mit hoch aufgestemmten Armen dort las, besser sehen könne, setzte sie mit leiser Aufmunterung hinzu:

„Aber du musst wohl bald mehr können als all die andern. Denn deinen Kopf, den hast du von deinem sel’gen Vater. Und der hatte es weit gebracht in den Wissenschaften. Er konnte die Mondberechnung aufnehmen, auch ohne seinen ersten Offizier. Das konnten nur wenige von den alten Kapitänen. Ja, mit den Zahlen stand er sehr vertraut. Und dann hatte er auch Französisch gelernt aus einer Fibel. Und von den fremden Matrosen hier im Hafen hatte er sich die Schiffsausdrücke und die Flüche aus noch drei weiteren Sprachen angenommen. Jammerschade, dass du dich nicht auf ihn besinnen kannst, mein Sohn. Aber nun, mein Jünging, nun hör auf und leg dir dein Buch unter das Kopfkissen. Was du jetzt noch nich weisst zu dem Examen, das wird dir wohl im Traum kommen. Ich glaub daran, es passiert noch viel Wunderbares in der Welt — ja, ja, ich weiss davon so manches.“

Damit stand die sonderbar starke Frau, die sich trotz ihrer fünfzig Jahre nur schwerfällig fortbewegen konnte, aus ihrem grünen Ripsstuhle auf, ging um den alten, kreisrunden Mahagonitisch herum und streichelte dort dem jungen, vertieften Menschen ganz sacht über die rote, buschige Mähne.

Und seltsam. Die Berührung ihrer kleinen, zarten Hände, die so garnicht zu dem wuchtigen Körper zu passen schienen, musste etwas Erlösendes oder Erweckendes besitzen.

Er reckte die schmale, jungenhafte Gestalt und hob das sommersprossige Gesicht, in welchem im Augenblick die Furcht vor der Zukunft brannte.

„Du, Mutter?“ fragte er erstaunt, als ob sein Geist aus ungeheuren Weiten zurückkehre.

O, er war sehr hässlich, aber die Mutter, die beste, die es je gegeben, ahnte es nicht.

„Ja, ich, mein Jünging,“ erwiderte sie mit ihrem breiten, aufmunternden Lachen, wobei sie ihm fast unmerklich über die Schulter strich, als wolle sie ihm auch von da die unsichtbare Last fortnehmen. „Pass mal auf, wie gut es dir bei den Professoren gehen wird.“ Und dabei nahm sie ihm das Buch verloren fort und klappte es sachte zu: „Du bist nämlich ein Glückskind,“ fuhr sie fort und schob geschäftig einen Teller Schinken, sowie eine Flasche alten Rotwein, wie ihn die Seefahrer der dortigen Gegend oft einzuschmuggeln pflegen, vor ihren Einzigen hin.

Dann setzte sie sich ihm gegenüber, so dass die flimmernden Strahlen der Lampe eine Brücke zwischen ihnen bilden konnten. Und siehe da — alsbald begannen die Gedanken der beiden einander entgegenzuziehen. Zu Fuss und zu Ross. In Gold und in Seide. Aber immer geschmückt. Herrliche Triumphzüge, die in die Zukunft wallten.

Draussen rollte der Fluss, und der Oktoberregen spritzte gegen die Häuser der Münd-Stadt.

„Du bist nämlich ein Glückskind, Gust,“ begann Frau Miete Petersen wieder, indem sie dem Lauschenden rasch ein Glas Wein einschenkte. „Sieh, dass du erst im zehnten Jahre unserer Ehe geboren wurdest, und zwar sieben Stunden nach dem wunderbaren Traum, davon will ich garnich reden. Aber dass du gerade an einem Sonntag Mittag Schlag 12 zur Welt kamst, und noch dazu —“ hier sank die Stimme der Sprechenden zu einem Flüstern herab, und in ihren weiten, blauen Augen zündeten sich geheimnisvolle Feuer an, „und noch dazu in demselben Augenblick, als dein lieber Vater den letzten Seufzer ausstiess, sieh, das hat etwas zu bedeuten. Das lass ich mir nich ausreden. Auch von Tante Betti nicht; nein, daran halte ich fest.“

„Ja, Mutter,“ hob nun auch Gust an, und in dem schmalen Jungengesicht, aus dem die Backenknochen so eckig hervorstanden, begann ein merkwürdiges Spiel der Muskeln, „manchmal glaub ich auch, es sei etwas in mir — — das —“

„Ja, natürlich steckt es in dir,“ unterbrach ihn die dicke Frau und schlug herausfordernd auf den Tisch.

„Etwas — etwas, Mudding — was nicht so ist wie bei den andern — nicht wahr? Glaubst du das nicht auch?“ forschte er dringender, indem er seine Rechte fast bittend auf die Hand von Frau Miete legte. „Etwas, Mudding, etwas, das nach oben will.“

„Ja, ja, natürlich, sehr — sehr hoch.“

„Und dann, Mudding, wenn es erst so weit ist, wenn erst die Examina hinter mir liegen, ich habe gar keine Furcht vor übermorgen — — gar keine.“ —

Sie schüttelte ebenfalls stark verneinend das Haupt, als wäre es ganz unfassbar, wovor ein Mensch wie er Furcht empfinden könnte. „Reines Kinderspiel.“

„Sieh, wenn ich erst ein Lehramt in der Stadt habe“ — hier stockte sein Atem doch, und er streichelte erregt die Glocke der Lampe — „am Gymnasium vielleicht, oder eine Professur.“

„Lieber eine Professur,“ echote Frau Miete Petersen, der es gleichfalls an Atem gebrach.

„Dann, Mudding — komm, hier hast du auch ein Glas Wein, wir wollen anstossen — dann miete ich das schöne gotische Haus am Markt, und lasse unten ein Messingschild vor die Türe schlagen, mit schrägen Ecken und nichts als ‚Professor Petersen‘ darauf.“

„Das tu,“ gab sie zu, indem sie sich die Hand auf die mächtige Brust legte, „aber es muss auch deutlich zu lesen sein.“

„Versteht sich — und in dem Saal im ersten Stock, da schlage ich meine grosse Bibliothek auf. Tausend Bände — Kuck, zweiundvierzig Bücher hab’ ich jetzt schon. Und nebenan, da bekommst du ein Wohnzimmer aus grünem Damast.“

„Grün nicht,“ wehrte sie sich, „du musst nicht immer so geschmacklos sein, Gust, man nimmt jetzt braunrot.“

„Das ist egal — Komm, Mudding, stossen wir eins darauf an.“

Rasch und feurig streckten sie sich die Gläser entgegen. Es gab einen hellen Ton.

Kling — klang.

Dann starrten sie wieder begeistert auf die Lichtbrücke.

Und siehe da, über die flimmernde Bahn zogen lautsingende Prozessionen. Fürstenthrone wurden hinübergetragen und Kaiserkronen blitzten.

Kling — klang.

Das Buch fiel unbemerkt unter den Tisch.

Draussen rollte der Fluss, und der Oktoberregen spritzte gegen die Häuser der Münd-Stadt.

„Ihr gebt wohl eine Gesellschaft?“ fragte Tante Betti, die in diesem Moment durch die niedrige, weisse Tür trat, nachdem es vorher im Hausflur schrill geläutet hatte, was aber von Mutter und Sohn überhört worden war.

„Sieh, ordentlich Wein? — Wenn ihr vielleicht allein sein wollt, dann — —“

Hier wurde eine rasche, ruckartige Bewegung nach der Schwelle zu ausgeführt, welche anzeigen sollte, dass Tante Betti, da man sie zu diesem Gelage nicht formell eingeladen, durchaus bereit sei, mit hochmütig in den Nacken geworfenem Haupte wieder in dem Regen zu verschwinden. Allein dieser Entschluss konnte zum Glück vereitelt werden.

Die dicke Frau Petersen griff nämlich mit ihren zarten Händen nach dem durchnässten Umhang ihrer Schwägerin, während es Gust gelang, mit einer geschickten Bewegung einen Stuhl hinter die dürre Gestalt seiner Verwandten zu schieben.

„Hier, Tante.“

Und die Frau Kapitän Petersen setzte mit ihrer tiefen, beinahe männlichen Stimme hinzu: „Du weisst doch, Betti, worum es sich übermorgen für Gust handelt.“

„Eben darum,“ entgegnete Fräulein Betti strafend, wobei sie, bereits sitzend, ihre Gestalt straff aufrichtete, um an den beiden von oben herab zu beobachten, ob ihr auch genügend Respekt entgegengebracht würde.

Dieser vornehme Hochmut war die markanteste Seite von Tante Betti. Als die jüngste von sechs Schwestern, die vor ihr verheiratet werden mussten, in dem alten Schifferhause zurückgeblieben, suchte sie jetzt ihr altes Jungferntum und ihre fünfzig Jahre durch eine Fülle von Ehrungen zu vergolden, die sie gebieterisch von der nachwachsenden Familie einforderte. Dabei scheute sie sich nicht im geringsten, einen strahlenden Mantel von Ovationen um sich herum zu dichten, die ihr angeblich von wildfremden Personen dargebracht worden sein sollten, hervorragenden Menschen, die eben Bettis inneren Wert, ihre noch blühende Schönheit, ihren Verstand, besonders aber ihr vornehmes Wesen viel besser zu schätzen wussten, als die verstockten Nächsten des späten Fräuleins.

Schliesslich redete sich Betti derartig in diese Vorstellungen hinein, bis sie zuletzt in dem sie beglückenden Wahn lebte, ihre Person beschäftige die ganze Stadt.

„Ja, liebe Marie,“ begann der Besuch von neuem, „ich wäre ja heute garnicht zu euch gekommen, denn ich war, wie du dir wohl denken kannst, diesen Abend wiederum zweimal eingeladen. Sowohl bei Konsul Wiek, sowie bei Frau Postdirektor Gutknecht. Aber ich hielt es für meine Pflicht, vor einer so ernsten Entscheidung ernsthaft mit euch zu besprechen, wie ihr euch nun eigentlich euren Lebensplan zurecht gelegt habt? — Ihr besitzt doch hoffentlich einen Lebensplan?“

Hier streckte Tante Betti die rechte Hand aus, als erwarte sie zuversichtlich, die beiden müssten ihr nun ein geschriebenes Konzept überreichen. Und dann sagte sie noch ein paarmal laut vor sich hin: „Lebensplan.“ Denn dieses Wort hielt sie für ganz besonders vornehm.

„Lebensplan?“

Ach Gott — die dicke Kapitänin sah zu ihrem schmächtigen Sohne hinüber, der sich vor der Wucht des Wortes verlegen den rötlichen Haarbusch kraute, und dann lächelten die beiden befangen einander an. Ach Gott, sie hatten sich ja eben erst ihren Lebensplan zurecht gelegt. Und wie hatten sie an ihm geschafft und gebaut. Das gotische Haus und die grosse Bibliothek und das grüne Damastzimmer, das aber geschmacklos war, weil es eigentlich rotbraun sein musste. Bedeutete das nicht auch einen Lebensplan? Waren das nicht wunderschöne Wege, mit weissem Kies bestreut? Und führten sie nicht durch verschwiegene Gärten der Zukunft, in denen die Blumen auf den Beeten sangen und die Knospen an den Büschen als bunte Feuerchen brannten?

O, wie schön.

Und die beiden lächelten sich an. Und vergassen wieder den Oktoberregen und das hässliche Wort. — — „Lebensplan“ sprach Tante Betti zum letztenmal unwillig dazwischen.

Da war es wieder.

Die Frau Kapitänin raffte sich zusammen. Deutlich hatte sie beobachtet, wie ihr Gust vor dieser nüchternen Lebensforderung zusammengeschrocken war. Nein, sie als Mutter durfte ihren Liebling unmöglich so grausam behandeln lassen.

„Meine liebe Betti,“ sprach sie unsicher, indem sie unaufhörlich auf der Tischdecke herumstrich, als gewähre ihr dies eine kleine Unterstützung, „du weisst, was mein Gust übermorgen vorhat. Er schreibt seinen deutschen Aufsatz. Nicht wahr?“

„Gut,“ schob Betti billigend dazwischen.

„Und sieh, da halte ich es nicht für nützlich, den armen Jungen vorher durch praktische Fragen abzulenken. Das könnte ihn ängstlich machen. Und überhaupt, die Jugend braucht ihre Träume.“

„Was?“ forschte Betti erstaunt, als ob sie nicht recht verstanden hätte. „Sagtest du Träume?“

Allein Frau Miete antwortete nicht mehr. Sie sowohl, wie Gust starrten auf den Fussboden, als wären sie jetzt beide auf einem Verbrechen ertappt worden. Ihnen war es, als griffe das Leben in diesem Augenblick mit seiner Polizeifaust nach ihnen und brächte sie zur Besinnung.

Tante Betti stand auf. Ihre Röcke rauschten Zorn. Und sie schüttelte sich, dass die Regentropfen gegen die Lampe fuhren.

„Du bist wirklich nicht recht klug,“ brachte sie hochfahrend hervor und zupfte an ihren Handschuhen. „Anstatt Gust auf das Praktische und immer nur auf das Praktische hinzuweisen, redest du ihm solche Dinge ein. — So was —“ wiederholte sie noch einmal, wobei sie sich wiederum schüttelte. „Die ganze Welt ringsherum will Gott sei Dank praktisch werden, und ihr denkt nur an Märchen.“

„Betti,“ warf die Mutter dazwischen, und ihre rauhe Stimme grollte laut, obwohl ihre Züge ängstlich und demütig blieben; eine Kontrastwirkung, die beinahe zum Lachen reizte. „Denk’ doch auch an Gust.“

„Nun ja, ich glaube, ich denke an ihn. Und — an dich auch,“ wollte Betti fortfahren. Jedoch sie bezwang sich, und nachdem sie sich gesetzt hatte, sah sie Mutter und Sohn noch etwas schärfer an, als hätte sie noch eine ganz besondere Überraschung vorbereitet. Und dies bewahrheitete sich wirklich.

„Ich komme heute nämlich nicht mit leeren Händen,“ hob sie langsam und mit solch schwerer Feierlichkeit an, dass ihre beiden Hörer jetzt ganz ängstlich auf sie hinstarrten, in offenster Spannung, welches merkwürdige Schicksal Tante Betti wohl zwischen ihren behandschuhten Fingern trüge.

Allein gerade diese Angst und diese Spannung behagten Betti ungemein. Das war die Atmosphäre, deren sie bedurfte. Ihr wurde in diesem Augenblick wohl wie den beweglichen Goldfischchen, wenn sie frisches Wasser erhalten.

„Ja,“ sagte sie und warf den Kopf hintenüber, „vor einer so ernsthaften Entscheidung komme ich natürlich nicht mit leeren Händen. Und weil wir alle einen gewissen Anteil an Gust haben — wir wollen aber darauf nicht näher eingehen — und da dir Starks auch noch etwas Wichtiges sagen wollen, liebe Marie, so habe ich Adolf und Emma zu einer Familienberatung hierher gebeten.

„Heute?“ rief die Kapitänin ganz steuerlos und streckte abwehrend die Hände vor.

„Ach, Tante, gerade heute?“ wagte auch Gust dazwischen zu werfen und kaute schwer bekümmert an seinen Nägeln.

„Nimm die Finger aus dem Munde, Gust,“ befahl Tante Betti ungerührt, „das schickt sich nicht für einen jungen Mann, der das Abi—tu—rientenexamen machen will. Und ausserdem, mein lieber Junge, eine Familienberatung ist nämlich eine Beratung, in der man — —“

„Herein,“ rief Gust, denn es klopfte, — und durch die geöffnete Tür sah man in dem rotgepflasterten Hausflur und im Scheine einer kleinen Petroleumlampe, wie drei Ankömmlinge ihre Mäntel und Hüte an einen Rechen zu hängen sich bemühten.

Dann traten sie ein.

„Ach,“ sagte die Voranschreitende, in deren straffem Gesicht trotz ihrer Jahre auch das schärfste Auge kein Fältchen zu entdecken vermochte, und zwar aus dem Grunde, weil die bedeckende Haut zu kurz geraten war. Dadurch erhielt das ganze Antlitz etwas Gespanntes, Lauerndes, Papierenes; und auf diesem Papier standen deutlich zwei Worte geschrieben: Geiz und Habsucht.

„Ach,“ sagte Tante Emma, die älteste Schwägerin der Kapitänin, als sie der Rotweinflasche auf dem Tische ansichtig geworden war, zu ihrem Manne, einem graubärtigen Riesen, der auf seiner grünen Steueruniform das eiserne Kreuz trug, „kuck, Stark, Marie setzt uns gewiss noch etwas zum Essen vor, denn der lange Weg hat mich hungrig gemacht. Und da wir ja auch in Mariens Angelegenheiten kommen, so tut sie es sicher gern.“

Damit liess sie sich nieder, starrte auf das Etikett der Flasche und schüttelte verweisend das graue Haupt.

„Mudding,“ fragte der alte Seesteuerkontrolleur ganz gemütlich dagegen: „Haben wir nich’ eigentlich schon gegessen?“

Aber der Wille seiner Frau war niemals durch solche Einwendungen zu brechen. Hart und kalt blickte sie ihn an, legte die Hand auf den Tisch und durchschnitt kurz allen Widerspruch mit dem Satz:

„Marie gibt es uns gern.“

„Na, Mudding, ärger dir nich’,“ lenkte der Seebeamte ein, während er sich schwerfällig niederliess, wobei er seinen grünen Uniformrock aufknöpfte: „Und du, Mariing,“ wandte er sich augenzwinkernd an die Frau Kapitänin, die ziemlich ratlos auf die ungeladene Gesellschaft blickte, „mach’ dir keine Umständ’ — en bitschen Butterbrod und Käs, das is für uns ganz genug.“ Er setzte sich zu seiner Ehehälfte: „Nich’ wahr, Mudding? — Seggst du wat?“

Mit diesen Worten, die in höchster Verträglichkeit vorgetragen wurden, pflegte der brave Seemann stets die nachträgliche Ansicht seiner Gattin einzuholen. Allein in dem straffen Sphinxgesicht der Frau regte sich nichts, worauf der alte Mann befriedigt erklärte: „Mudding seggt nix“ und sich seine kurze Tonpfeife entzündete.

Gemütlich zogen die Wolken gegen die Lampe.

Gust starrte auf sie hin.

Nahm nicht eine derselben immer deutlicher die Form eines Daches mit spitzen Giebeln und allerlei Zacken und Rankenwerk an?

„Das ist das gotische Haus am Markt,“ dachte Gust. „Wenn ich erst Professor bin und Martha lebt bei mir — die schlanke Martha mit den schönen braunen Zöpfen um das Haupt, und meine Mutter — dann — dann — —“

Tante Betti wurde ungeduldig. Viel zu lange war die öffentliche Aufmerksamkeit von ihrer Person abgelenkt. Auch drängte es sie, zu erklären, warum sie nicht mit leeren Händen käme.

„Also setzen Sie sich, Herr Winkelmann,“ forderte sie den dritten Teilnehmer der Konferenz ziemlich heftig auf, wobei sie mit dem spitzen Zeigefinger hart auf den Tisch stiess, und als das dürre Männchen mit dem bartlosen, feinen Junggesellenantlitz, den wohlgepflegten Händen und den ängstlich gescheitelten weissen Haaren sich vorsichtig in der dunkelsten Ecke des Zimmers dicht unter der alten Wanduhr niederlassen wollte, da scheuchte ihn Betti noch einmal mit hochfahrenden Worten auf:

„Nein, bitte, hierher an den Tisch, Herr Winkelmann — jawohl, hier auf den Stuhl neben mir. Meine Schwägerin weiss sehr wohl, dass Sie im Auftrage unserer guten alten Freunde, der beiden Herren Kladow, erscheinen, in deren Anti—quitätengeschäft Sie ja seit langem als Prokurist tätig sind. Nicht wahr?“

Der alte Junggeselle Theodor Winkelmann verbeugte sich ehrfürchtig vor Betti. Dann verneigte er sich der Reihe nach vor jedem der Anwesenden, so dass sogar Gust dieser Ehrenbezeugung teilhaftig wurde, worauf er sich verlegen zu räuspern begann, um endlich mit seiner feinen, Nachsicht heischenden Stimme zu erwidern, das gnädige Fräulein möge gütigst verzeihen, allein Prokurist — nein — das könne er doch so ohne weiteres nicht behaupten. Freilich im nächsten Jahre, bei seinem fünfundzwanzigsten Jubiläum, könnten vielleicht — ohne jedoch irgendwelche Ansprüche seinerseits — die beiden Herren Kladow sich veranlasst fühlen, eine solche Erhöhung — — —

„Jawohl — ganz recht,“ unterbrach ihn Betti schonungslos. Dann wandte sie sich plötzlich unvermittelt an das Kontrolleur-Paar, denn sie fühlte sich völlig als die Präsidentin der Versammlung.

„Was habt ihr also zu sagen?“

„Mudding, seggst du wat?“ murmelte jetzt Vatting Stark in grosser Verlegenheit, wobei er steif unter den Tisch blickte.

„Ach was —“ begann dagegen Tante Emma und ihr unbewegliches Gesicht spannte sich nur noch straffer: „Jeder muss auf das Seine sehen. Marie kann uns das nich’ übelnehmen. Du, Adolph, bist in solchen Dingen eine Bangbüx. Also,“ — sie wandte sich direkt an die Frau Kapitänin, durch deren massige Glieder unwillkürlich ein Zittern lief, während Gust in der Vorahnung der Atem stockte.

O, die Welt war ohne Traum so grau und hässlich. —

„Also, liebe Marie, seit voriger Woche weiss ich, dass dir Stark jeden Monat zehn Taler gibt; es ist mir nicht bekannt, ob du es ihm jemals wiedergeben kannst — aber da unser Karl übermorgen gleichfalls sein Examen macht und dann auf Universitäten muss, so meine ich, dass wir diese Summe unserem Jungen nicht länger entziehen können. — Das siehst du hoffentlich ein?“ setzte sie, bereits sicherer, hinzu.

„Aber Emma,“ flüsterte die dicke Kapitänin, wie um Schonung flehend vor sich hin, und ihre grossen blauen Augen wandten sich voller Scham auf ihren Sohn, dem sie die Sorgen der Welt so lange verschwiegen hatte.

Jetzt sank der rosige Schleier und nebeldampfend lag das Leben da.

„Herr Gott,“ murmelte Gust und fasste sich an den Kopf, und der alte Junggeselle hauchte in seinem Schrecken unwillkürlich heraus: „Bitte tausendmal um Verzeihung.“

Nur Betti blieb ungerührt.

„Ist das alles?“ forschte sie kalt.

„Ja,“ meinte Tante Emma immer freundlicher, denn das Wesentliche lag ja nun hinter ihr. Den Ausfall könnte sich ja Gust auch durch Stundengeben decken. Er hätte ja eine Menge gelernt. „Nicht so, Gust, mein Jünging?“

„Ja, Tante,“ stotterte Gust furchtsam.

„Und wenn du nicht so merkwürdige Redensarten machtest,“ schloss Tante Emma nun gänzlich beruhigt, „und nicht so komische Einfälle hast, dann würdest du auch gute Stunden bekommen. Nicht so, Stark?“

Aber Vatting Stark hatte während dieser langen Rede gestöhnt, als läge er im Wasser und könne nicht ins rettende Boot gelangen. Jetzt machte er einen ungeschickten Versuch, der Hausfrau unter dem Tisch auf den Fuss zu treten, und brachte so recht gutmütig und aus unterstem Herzen hervor:

„Mariing, ’s wird allens nich so schlimm. ’s wird allens wieder gut. Nicht so?“

Da verbeugte sich auch der alte Junggeselle windschnell gegen Gusts Mutter und bestätigte mit seiner altertümlichen Galanterie, die er sich aus der Rokokoabteilung seines Antiquitätenladens erworben haben musste:

„Meine verehrte Frau Kapitänin, es kommt alles zum glücklichen Ende — ich habe nämlich seitens meiner Prinzipale den Auftrag — —“.

„Halt,“ rief hier Tante Betti beleidigt.

Wenn sie jetzt nicht als Mädchen aus der Fremde das Füllhorn ausschütten konnte, dann hatte sie die Führung verloren.

Das sah sie ein.

„Halt, Herr Winkelmann,“ sagte sie spitz, „ich habe noch einiges zu bemerken. Erstens, liebe Emma, geht es dich garnichts an, ob Gust Redensarten braucht oder komische Einfälle hat. Um dieses beurteilen zu können, muss man selbst den gebildeten Kreisen näher stehen. Ich habe wenigstens noch nichts dergleichen an unserem Gust bemerkt. Und zweitens braucht er überhaupt über seine Zukunft nicht gar so besorgt zu sein.“

Sie rückte sich zurecht und sah so selbstzufrieden drein, dass sich der Antiquar unwillkürlich vor ihr verneigte.

„Ich danke Ihnen, Herr Winkelmann. Durch die vielen Einladungen, durch die ich beehrt werde, habe ich mir nämlich manches erspart,“ fuhr sie voller Betonung fort; „und deshalb erlaube ich mir, liebe Marie —“ hier streckte sie die Hand gegen ihre Schwägerin aus, „dir monatlich 15 Taler zu offerieren. Nein, du brauchst dich nicht zu bedanken,“ fügte sie stolz hinzu.

Allein die Kapitänin bedankte sich nicht.

Die zarten Hände hielt sie vor das Gesicht gepresst und schluchzte laut und bitterlich auf.

Wer konnte wissen, ob es aus Dankbarkeit oder vor Qual geschah?

Wer?

Auch Gust ahnte es nur.

Aber er starrte wie gebannt nach Tante Betti auf ihrem königlichen Stuhle hin.

Im Strahl der grünen Lampe erschien ihm ihr Bild ganz neu.

Nein, nicht das herrliche Mädchen mit dem Glückshorn stieg durch die Tabakswolken von Vatting Stark zu ihm herunter; nein, ganz anders. Grüne Föhrenwälder taten sich vor ihm auf, und über einen braunen Nadelweg sauste ein Faunenweib auf ihrem Eselchen heran. Hässlich, grotesk, aber mit einem gütigen Lachen um den breiten Mund. Und aus ihren braunen Händen rieselten Goldstücke herab, hunderte, tausende — unzählig — lauter Goldstücke, die wie gelbe Marienblumen auf dem Waldboden standen.

„Ach, Tante,“ stammelte er hoch beglückt.

„Komm her, Gust,“ sagte Tante Betti gerührt und pätschelte ihm vornehm auf dem Kopf herum.

„Und eine Stunde habe ich dir auch verschafft, mein Junge,“ setzte sie hinzu.

— — Goldstücke —

Goldstücke —

Die Hufe des Esels klirrten auf den gelben Blumen.

„Wo? Tante Betti.“

„Bei Kapitänleutnant Kräplin. Wenn du dein Examen gut bestanden, sollst du seine Tochter in den Dichtern unterrichten.“

„Ach —“

Diesmal war es eine ganz feine Musik, die Gust zu vernehmen glaubte. Leise Flöten klangen auf, dann begannen tausend wirre Geigen zu zwitschern, und plötzlich dröhnte tief und erhaben die Orgel der Marienkirche dazwischen, jener alten gotischen Kirche, wo er Martha das letztemal gesehen hatte.

Durch das bunte Chorfenster war ein Sonnenstrahl auf ihre braunen Zöpfe geglitten.

„Ach, Tante,“ stotterte er wieder, als wolle ihm das Herz zerspringen.

Hinter ihm schluchzte die Mutter.

Tante Betti pätschelte ihm noch immer die roten Haare. Dann jedoch gab sie ihm plötzlich ganz unvermittelt einen Klaps.

„Du bist zu weich, Gust,“ urteilte sie abweisend. „Und nun geh ein bisschen auf die Strasse. Toni Stark wird ihre Eltern hier abholen. Ihr könnt beide draussen warten. Denn ich habe noch allerlei zu sagen, was du nicht zu hören brauchst. — Aber die Hauptsache bleibt: praktisch und ein Lebensplan. Und nun wollen wir in der Familienberatung fortfahren. — Bitte, Herr Winkelmann.“

II.

Draussen sprühte ein feiner Regen durch die Finsternis. Die Häuser der Strasse, wo Gust wohnte, lagen alle dem Fluss zugewandt; dumpf hörte man das nahe Plätschern, aber die Wasserfläche selbst vermochte Gust, als er jetzt auf den Damm trat, nicht zu erspähen.

Denn tief und massig schoben sich die schwarzen Nebel vom Meere hinein, und wenn sie sich an den wenigen Hafenlaternen vorüberdrängten, in denen die kleinen Petroleumlämpchen so trübe brannten, dann schien es Gust, als ob ungeheuere, matt erleuchtete Trauerschleier die Strasse und die Stadt überziehen wollten.

Er setzte sich auf die Bank unter dem Fenster, hinter welchem im Moment deutlich die feine Stimme des Herrn Winkelmann erkennbar wurde, und starrte jenseits des Flusses auf die weiten Wiesen hinüber, auf denen am Tage die Kühe der Ackerbürger zu weiden pflegten.

Jetzt lagerte dort dicke Nacht.

Unbeweglich und still lag sie da, die bedrückende Schwärze, und glotzte zu Gust hinüber. Sie sprach nicht, sie atmete nicht einmal, sie gab nicht den leisesten Ton von sich, wesenlos, eine meilenweite Höhle dehnte sie sich, als wüsste sie ganz genau, dass alles Leben doch einmal in sie hineinirren müsse.

Gust fuhr sich durch das nebelnasse Haar und schauerte auf seiner Bank zusammen.

Zum erstenmal überfiel den Jungen eine schneidende Angst.

Die Angst vor dem Leben.

O, wie es sich in seinem Herzen zusammenkrampfte. Seit einer Stunde wusste er, dass das Leben kein Festzug mit seidenen Fahnen wäre, der sich jauchzend und singend durch die Strassen bewege.

Die Menschen jubelten auch nicht auf den Balkons, keine weissgekleideten Mädchen würden Rosensträusse auf den Wanderer hinunterwerfen; nein, die Menschen sassen in ihren Stuben, rechnend an Lebensplänen und lange Zahlenreihen in ihre Bücher kritzelnd.

Drinnen sprach Herr Winkelmann, und durch das weisse Rouleau hindurch machte sein Schatten eine deutliche Verneigung. Gust griff nach seiner Brust und wandte sich erschreckt von der unbeweglichen Finsternis ab, die mit kohlschwarzen Augen wartend zu ihm hinüberblickte.

Dann schob er die Finger an den Mund, denn Tante Betti war nicht anwesend, und seine Gedanken ritten auf schwarzen Rossen weiter.

Er hatte seine Mutter weinen sehen, nicht weinen, schluchzen, diese geliebte Frau, die all seine Kinderjahre hindurch gelacht hatte.

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