Der Ring und der Fluch - Anna Green - E-Book

Der Ring und der Fluch E-Book

Anna Green

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Beschreibung

Aus dem Dunkel hinter ihm erklang ein Ton, zuerst leise und unbestimmt, dann laut und deutlich vernehmbar bis in den äußersten Winkel des fernsten Gemaches. Es war nur ein kurzer Ausruf, der sich wieder und wieder hören ließ: »Hand! Ring!« und abermals: »Ring! Hand!«, bis ein keuchender Laut dazwischen kam, worauf wieder tiefe Stille eintrat. Wieder lauschten sie in atemloser Spannung, bis das leise Murmeln allmählich deutlicher wurde und sie Worte vernahmen, bei denen ihnen das Blut in den Adern erstarrte ...

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Anna Green

Der Ring und der Fluch

Erstes Buch.

Erstes Kapitel.

Die Stadtuhr von Sibley hatte eben zwölf geschlagen, und die Gerichtssitzung war zu Ende. Richter Evans, der den Vorsitz geführt, stand noch mit mehreren angesehenen Advokaten des Bezirks vor dem Tor des Gerichtsgebäudes. Das Gespräch der Herren drehte sich um den Kriminalfall, der gerade verhandelt worden war und um die verschiedenen Verbrecherklassen im allgemeinen.

Ferris, der Bezirksanwalt, hatte die Behauptung aufgestellt, daß da, wo Irreligiosität und strafwürdige Neigungen zur Herrschaft unter den höheren Ständen gelangen, die Entdeckung von Verbrechen auf fast unübersteigliche Hindernisse stoße. Um die Gerichte irre zu führen und eine begangene Missetat zu verbergen, fuhr er fort, vermag der Gebildete weit eher alle Künste der List und Verstellung zu Hilfe zu rufen, als der Verbrecher aus niederen Volksschichten, dem der Hang zum Bösen häufig sozusagen auf der Stirne geschrieben steht.

Wie jenem Vagabunden da drüben, fiel der Advokat Lord ein, indem er auf einen plumpen, untersetzten Menschen von verdächtigem Aussehen deutete, welcher mit einem Pack auf dem Rücken gerade aus dem Heckenweg herauskam, der dem Gerichtsgebäude schief gegenüber in die Hauptstraße mündete.

Seinesgleichen sieht man am häufigsten auf der Anklagebank, sagte darauf Rechtsanwalt Orkutt, der in Kriminalsachen einen nicht unbedeutenden Ruf genoß. Sehen Sie nur, wie er verstohlen um sich blickt. Er muß wohl bemerkt haben, daß wir ihn beobachten, denn er beschleunigt seinen Schritt und jetzt fängt er gar zu laufen an.

Der Kerl wird wohl irgendeinen Streich ausgeführt haben, sagte Evans.

Das dürfte ihm schlecht bekommen, äußerte der Bezirksanwalt. Es entwischt so leicht keiner. Die Spitzbuben führen hier zu Lande wahrhaftig kein Schlaraffenleben; Räuber und Diebe kommen selten mit ihrer Beute davon, und daß ein Mörder seiner Strafe entgeht, ist geradezu ein unerhörtes Vorkommnis.

Dann muß ja die Geheimpolizei in hiesiger Gegend ihr Geschäft ganz vortrefflich verstehen, ließ sich hier ein junger Mann vernehmen, welcher bisher geschwiegen hatte.

Das nicht gerade. Aber die Schurken fangen ihre Sache gar zu ungeschickt an; sie verstehen es nicht, die Spuren der Untat zu verwischen.

Wer pfiffig ist, hinterläßt überhaupt keine Spur, mischte sich jetzt eine scharfe Stimme in die Unterhaltung. Ein großer, rothaariger, etwas buckliger Mann trat aus dem Torweg, wo er, von den übrigen unbemerkt, sich bisher aufgehalten hatte. Niemand schien ihn zu kennen, er aber fuhr unbeirrt im gleichen Tone fort: Nur deshalb ist es so leicht, der Verbrecher habhaft zu werden, weil sie Spuren ihrer Tat hinterlassen und dann zu auffälligen Mitteln greifen, um sie zu verbergen. Wer unentdeckt bleiben will, der wählt zu der Tat am besten eine Waffe, die er am Orte selbst vorfindet, und womöglich eine belebte Verkehrsstraße, wo naturgemäß andere Menschen durch ihr Kommen und Gehen die Spuren verwischen, die etwa zurückgeblieben sind. So wird der Argwohn entkräftet, weil sich der Verdacht nach so verschiedenen Richtungen lenkt, daß die Verfolgung keinen Anhalt findet und schließlich ausgegeben werden muß. Sehen Sie zum Beispiel jenes Eckhaus da drüben – der Fremde zeigte auf ein schief gegenüberliegendes Gebäude – während wir hier stehen, sind Menschen verschiedenen Schlages durch den Seiteneingang nach der Küchentür gegangen und wieder zurück, unter andern jener verdächtig aussehende Hausierer. Wer dort wohnt, weiß ich nicht, aber nehmen wir einmal an, es wäre eine alleinstehende Frau. Käme nun in etwa einer Stunde jemand in ihren Garten und fände sie tot hinter dem Holzhaufen liegen und ihre eigene Axt daneben, – auf wen würde dann der Verdacht fallen? – Natürlich auf den fremden Hausierer, dem man, nach seinem Aussehen zu urteilen, jede Untat zutrauen kann. Aber ein Verdacht ist kein Beweis. Wenn er die Tat leugnet, würde kein Gerichtshof ihn als Mörder verurteilen, kein Richter den Stab über ihn brechen können.

Der bucklige Fremde ging hierauf gemächlich seines Weges, der Bezirksanwalt aber schien die einmal angeregte Frage noch weiter erörtern zu wollen.

Herr Byrd, wandte er sich an den vorhin erwähnten jungen Mann, was sagen denn Sie als Sachverständiger dazu? Meinen Sie nicht, daß es der Geheimpolizei gelingen würde, den Hausierer zu überführen?

Ich weiß nicht, versetzte der Angeredete zögernd, ich bin noch nicht gewiegt und erfahren genug in solchen Dingen, um eine bestimmte Meinung abzugeben. Doch habe ich Herrn Gryce, [*] unsern größten Neuyorker Detektiv, sagen hören, daß es ihm nur einmal vollständig mißlungen sei, irgendwelchen Aufschluß über eine verübte Mordtat zu erlangen. Die Sache ging ihm lange im Kopf herum und er hat sie uns weitläufig erzählt: ein jüdischer Händler war bei hellem lichtem Tage erschlagen worden, offenbar während er eine Schachtel mit Strumpfwaren von einem obern Brett herunterlangte, denn man fand ihn am Ladentisch liegen mit einer Wunde im Hinterkopf, die von einem Totschläger herrühren mochte. Sein Laden, der in einer belebten Straße lag, hatte eine Vorder- und eine Hintertür; es waren fortwährend Leute ein- und ausgegangen, aber wer die Bluttat verübt hatte, ließ sich nicht ermitteln. Auch die genauesten Nachforschungen brachten kein Licht in das Dunkel. Man wußte von niemand, der Böses gegen den Händler im Schilde geführt haben könnte, von keinem Verwandten, den es etwa nach seinen paar Dollars gelüstete. Sein Lebenslauf bot keinerlei verdächtige Umstände, man konnte nur mutmaßen, daß irgend jemand ihn habe aus dem Wege räumen wollen, aber wer und um welcher Ursache willen, das ist nie enthüllt worden. Nur der Täter selbst weiß es.

Und noch Einer , sagte Richter Evans mit Nachdruck: Gott!

Es entstand eine feierliche Stille. Rechtsanwalt Orkutt sah nach seiner Uhr.

Ich muß zum Essen gehen, sagte er und schritt nach flüchtigem Gruß quer über die Straße auf das bescheidene Wohnhaus einer Witwe zu, bei welcher er sein Mittagsmahl einzunehmen pflegte, so oft er um diese Zeit im Gericht zu tun hatte.

Die andern Herren standen noch einige Minuten beisammen und sahen den Rechtsanwalt drüben in den Heckenweg einbiegen und in der Haustüre der Witwe verschwinden. Eben waren auch sie im Begriff auseinander zu gehen, als Advokat Lord, einen Ruf der Verwunderung ausstoßend, nach dem Hause deutete, in welches Orkutt eingetreten war. Aller Blicke lichteten sich dorthin. Auf der Schwelle stand der Rechtsanwalt, der offenbar in höchster Eile wieder herausgestürzt war.

Er winkt uns, Ferris, rief Lord, und von unbestimmter Furcht angespornt, eilten beide Herren über die Straße ihrem Freunde entgegen, der in ungewöhnlicher Erregung schleunigst auf sie zukam.

Ein Mord, rief er ihnen schon von weitem zu, ein Zusammentreffen grausigster Art! Drinnen liegt Frau Klemmens blutend am Boden mit einer tiefen Wunde im Kopf.

Sprachlos vor Schrecken starrten Lord und der Bezirksanwalt einander einen Augenblick an, dann stürmten sie vorwärts.

Halt, rief Ferris, plötzlich still stehend, wo ist der Mensch, der so sachverständig über Mordtaten zu reden verstand und die Art, wie man sich vor Entdeckung schützt? Das kann kein bloßer Zufall sein, – er muß sofort zur Stelle. Er winkte den jungen Byrd herbei, der ihnen nachgeeilt kam.

Rasch, rief er, holen Sie den Polizeidiener Hunt, er soll den buckligen Rotkopf festnehmen. Eine Frau liegt drüben in ihrem Blute, und jener Mensch muß darum wissen.

Byrd zögerte keinen Augenblick; der Bezirksanwalt aber zog Orkutt mit sich fort dem Hause zu, an dessen Türe Lord bereits auf sie wartete.

Sie traten zusammen ein; allen voran Ferris, ein kühner Mann, der vor nichts zurückschreckte. Das erste Zimmer war leer, kein Zeichen von Unordnung bemerkbar; es schien die Wohnstube der Witwe zu sein; auf dem Tisch in der Mitte lag Orkutts Hut, wo er ihn beim Eintreten hingelegt hatte. Nie ganze Wohnung machte einen behaglichen, ja wohlhabenden Eindruck. Frau Klemmens hatte zwar allein gelebt und sich kein Dienstmädchen gehalten, befand sich aber, nach ihrer Einrichtung zu schließen, durchaus nicht in dürftigen Umstanden. Durch die offene Türe sah man im Nebenzimmer das seine Porzellanservice auf dem gedeckten Eßtisch glänzen.

Sie traten ein.

Dort liegt sie, sagte Orkutt, nach der andern Seite des Zimmers deutend.

Die Arme weit ausgestreckt, lag die Unglückliche, aus einer Kopfwunde blutend, hinter dem Tisch am Boden; in einer Hand hielt sie ihre Uhr, die sie aus dem Gürtel gezogen, die andere berührte fast ein Stück Knüppelholz, das offenbar als Mordwerkzeug gedient hatte. Sie war starr und unbeweglich, allem Anschein nach tot.

Entsetzlich! rief Lord zurückschreckend. Welche Verruchtheit, einer harmlosen Frau auf so schändliche Weise das Leben zu nehmen!

Auch Ferris war tief erschüttert. Ein gräßliches Beispiel, das genau zu dem vorgetragenen Fall paßt, sagte er kopfschüttelnd. Wie läßt sich das begreifen? Er öffnete eine Tür, die auf die Hintergasse führte, und ließ die frische Luft hereinströmen.

Die Hintertür war nicht verschlossen? rief Lord mit einem fragenden Blick auf Orkutt, welcher unverwandt auf die leblose Gestalt am Boden starrte. Ihn mochte wohl der schreckliche Anblick überwältigen, hatte ihm doch die Frau seit Jahren so manches Mal bei Tische gegenüber gesessen.

Was sagten Sie? Nicht verschlossen? erwiderte er, aus seinem Sinnen auffahrend. Das wundert mich nicht, Sie verschloß die Türen nie, obgleich ich es ihr wiederholt wegen ihrer zunehmenden Taubheit anriet.

Von der Hinterseite des Hauses konnte man eine weite Strecke unbebauten Landes übersehen; Orkutt ließ die Blicke ringsumher schweifen. Es ist kein Mensch zu sehen, sagte er nach einer Weile.

Die Flucht ließe sich auf dem Sumpfboden durch das Riedgras kaum bewerkstelligen, entgegnete der andere. Wer aber in der Gegend gut Bescheid weiß, könnte auf dem Hügelpfad in die jenseitigen Wälder gelangen, um der Verfolgung zu entgehen. Aber was ist Ihnen denn, Orkutt?

Nichts – mir war nur, als hörte ich ein Stöhnen.

Ferris hatte sich über die regungslos Daliegende gebeugt und ihren Kopf aufgehoben, um ihr ins Gesicht zu sehen. Die Frau ist nicht tot, stieß er in höchster Erregung hervor.

Ist das möglich? riefen die andern wie aus einem Munde.

Sie atmet noch; sehen Sie nur, wie ihre Brust sich langsam hebt und senkt. Der Bösewicht hat seine Sache schlecht gemacht; vielleicht kann sie uns noch selbst Auskunft geben.

Schwerlich, murmelte der Rechtsanwalt, der Schlag muß mit furchtbarer Gewalt geführt worden sein, er wird sie der Denkkraft beraubt haben.

Jedenfalls muß sogleich für ärztliche Hilfe gesorgt werden; wäre nur Doktor Tredwell hier!

Ich will ihn geschwind holen.

Orkutt wollte sich entfernen, aber schon ging die Türe auf, ein Menschenschwarm drang herein, unter ihnen Doktor Tredwell, der als Coroner [*] und Gerichtsarzt fungierte. Auf seine Anordnung ward Frau Klemmens in ihr Schlafzimmer getragen, welches sich gleichfalls im untern Stock befand. Ein schnell herbeigeholter zweiter Arzt nahm am Kopfende des Bettes Platz, um das erste Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins zu erspähen. Alle Unbeteiligten mußten das Haus verlassen; draußen im Hof harrte die unruhige Menge mit gespannter Erwartung, was sich ferner ereignen, welche Wendung die Dinge nehmen würden.

Unterdessen saß drinnen im Eßzimmer der Bezirksanwalt zusammen mit dem Coroner in ernstem Gespräch.

Es unterliegt keinem Zweifel, meinte letzterer, daß sie den Schlag erhalten hat, als sie gerade damit beschäftigt war, die Uhr richtig zu stellen. Er zeigte auf die offenstehende, große, altmodische Wanduhr neben der Türe. Sie hat ihre Absicht nicht mehr ausführen können, fuhr er fort, die Uhr geht noch zehn Minuten nach, wie ein Vergleich mit der meinigen lehrt, mit welcher die Taschenuhr der Frau Klemmens genau übereinstimmt. Der Angriff muß von hinten erfolgt sein, und zwar völlig unerwartet. Hätte sie sich umgewandt, so wäre sie an der Stirn getroffen worden; ihre Taubheit hat sie verhindert, den Schritt des Mörders zu hören, und in ihre Beschäftigung vertieft, hat sie die grausame Hand nicht gesehen, die sich gegen sie erhob. Unbegreiflich, daß irgend jemand so viel daran gelegen sein konnte, sie aus der Welt zu schaffen! Wäre ein Raub beabsichtigt gewesen, so würde man ihr die Uhr nicht gelassen haben. Auch liegt hier eine Summe Kleingeld neben ihrem Teller; das hätte ein Vagabund sicherlich eingesteckt. Das Knüppelholz hat der Mörder von dem Haufen dort am Herd genommen.

Auf den buckligen Rotkopf, von dem ich Ihnen erzählte, fällt der stärkste Verdacht, meinte der Bezirksanwalt. Vielleicht stellt sich heraus, daß er verrückt ist.

Ich möchte das noch bezweifeln, versetzte der Doktor nachdenklich.

Im Hofe entstand jetzt Lärm und lebhaftes Stimmengewirr. Die Menge bestürmte den zurückkehrenden Byrd mit neugierigen Fragen, ohne jedoch die gewünschte Auskunft von ihm zu erhalten.

Byrd, ein junger Detektiv, war erst kürzlich von Neuyork herübergerufen worden, weil man seine Dienste in einem gerade zur gerichtlichen Verhandlung gelangten Fall zu gebrauchen dachte.

Nun, was haben Sie ausgerichtet? wandte sich Ferris an den eben Eintretenden.

Der bucklige Rotkopf, wie Sie ihn nennen, ist verschwunden, entgegnete Byrd; vielleicht gelingt es Hunt, seine Fährte wieder aufzufinden. Den Hausierer aber, der so ängstlich um die Ecke schlich, während wir vor dem Gericht standen, habe ich festgenommen; das schien mir das Erste und Wichtigste!

Meinen Sie? erwiderte Ferris, der des jungen Mannes einnehmenden, aber harmlosen Gesichtsausdruck mit gutmütigem Spott betrachtete. Halten Sie etwa den Hausierer für den Schuldigen, weil jener schlaue Unbekannte unsere Aufmerksamkeit in so auffälliger Weise auf ihn gelenkt hat?

Byrd errötete in augenblicklicher Verlegenheit, doch faßte er sich schnell. Ich weiß noch zu wenig von dem Tatbestand, sagte er, um auf den mutmaßlichen Täter schließen zu können.

Das Verbrechen ist fast genau auf die Weise verübt worden, wie sie der Bucklige angab, war des Bezirksanwalts Erwiderung. Im Begriff, die Wanduhr zu stellen, ist die Frau von hinten zu Boden geschlagen worden; dort liegt das Holzstück, das von ihrem Herd genommen wurde und als Mordwaffe gedient hat; die abscheuliche Theorie wurde hier in die Praxis umgesetzt.

Und glauben Sie, daß eine längere Zeit zwischen der Untat und ihrer Entdeckung verflossen ist?

Nein. Das Essen dampfte noch in der Küche, wo es zum Anrichten bereit stand.

Dann, meinte Byrd zuversichtlich, kann ich Sie versichern, daß der Bucklige den Streich nicht geführt hat. Dazu wäre doch wohl seine Anwesenheit hier im Zimmer erforderlich gewesen. Nun habe ich ihn aber den Morgen über mit eigenen Augen im Gerichtssaal gesehen. Er saß in der Nähe der Tür und fiel mir besonders auf.

Merkwürdig, brummte Ferris in ärgerlichem Ton; er ließ sich nicht gern auf einem Irrtum ertappen.

Es ist nur ein Schritt über die Straße, gab der Doktor zu bedenken, wie leicht kann er sich eine Zeitlang entfernt haben, ohne daß Sie es gewahr wurden.

Byrd wußte hierauf keine Antwort. Der Hausierer scheint mir höchst verdächtig, äußerte er.

Schwerlich hätte er das Geld hier liegen lassen, sagte Ferris, auf das Silbergeld deutend.

Wer kann wissen, was ihn bewogen hat, sich aus dem Staube zu machen, ohne zuvor die Früchte seines Verbrechens zu ernten? Jedenfalls glaube ich, der Hausierer wird den Gerichten zu schaffen machen und nicht der Bucklige.

Sich höflich vor den beiden Herren verbeugend, verließ Byrd mit diesen Worten das Zimmer.

Möglich, daß der junge Mensch recht hat, murmelte Ferris vor sich hin. Und doch: der Rotkopf muß ein Prophet und Hellseher sein oder er hat um das Verbrechen gewußt!

Der Gerichtsarzt nickte zustimmend.

Zweites Kapitel.

Seitdem man die Witwe auf ihr Lager gebettet, waren anderthalb Stunden verflossen, ohne daß eine merkliche Veränderung in ihrem Zustand eingetreten wäre. Außer dem Arzt saßen noch mehrere Nachbarinnen an ihrem Bette, auf jeden ihrer Atemzüge lauschend und des Augenblicks harrend, wo Leben in die unbeweglichen Züge kommen würde, auf welchen schon die Schatten des Todes lagerten.

Im Wohnzimmer besprach sich Ferris mit dem Rechtsanwalt Orkutt darüber, was er etwa im Laufe der Jahre von den Verhältnissen der Frau in Erfahrung gebracht habe, mit welcher er in fast täglichem Verkehr gestanden. Draußen am Hoftor bildeten sich noch immer neue Gruppen Teilnehmender oder Neugieriger. Man stritt eifrig hin und her, ob der Hausierer oder der Bucklige der Mörder sei, sprach von Charakter und Lebensweise der Witwe, von der Möglichkeit ihres Wiederaufkommens, wiederholte die Aussprüche des Doktors und stellte eigene Vermutungen auf.

Byrd, der junge Detektiv, lehnte am Gitter, scheinbar mit eigenen Gedanken beschäftigt, und ließ sich das bunte Stimmengewirr ruhig um den Kopf herumschwirren. Auf einmal erschallte ein kurzer Aufschrei – es entstand eine plötzliche Stille – dann ward eine klare, volltönende Frauenstimme vernehmbar, welche die herrische Frage tat:

Habe ich recht gehört – ist es wahr – Frau Klemmens ermordet – von einem Vagabunden in ihrem eigenen Hause? – Gebt mir Antwort!

Sofort hefteten sich aller Augen auf die Sprecherin, die von der Straße herkam. Byrd sah, wie sich die Menge teilte, und ein junges Mädchen in den Hof trat. Es war eine auffallende Erscheinung, majestätisch in Haltung und Gebärde, eine hohe, stolze Gestalt, die den Blick wohl unwillkürlich gefesselt hätte, selbst wenn ihre Gesichtszüge nicht so blendend schön gewesen wären. Hatte man aber erst einmal in dies Antlitz geschaut, so vermochte man sich schwer wieder loszureißen. Es lag ein rätselhaftes Etwas darin. Nicht nur die hohe weiße Stirn, die tiefklaren Augen, deren durchsichtiges Grau sich unaufhörlich zu verändern schien, die gerade, feingeschnittene Nase, der ausdrucksvolle Mund war es, was den Beschauer selbst gegen seinen Willen festhielt; mehr als durch ihre Schönheit, durch den Reiz ihrer blühenden Jugend, fesselte sie noch durch ihr ganzes eigentümliches Wesen. Man fühlte, dies war ein Weib, das man anbeten, dem man sich blind ergeben konnte, aber das gänzlich zu begreifen man nie hoffen durfte.

Ihr Kleid war von dunkelgrüner Farbe; die Handschuhe hielt sie in der Hand, ihr ganzes Auftreten drückte die äußerste Bestürzung aus.

Ist sie tot – sagt mir's, wenn ihr's wißt! wiederholte sie heftig, als alle noch immer schwiegen.

Schwer verletzt ist sie, ließ sich endlich ein derber Bursche vernehmen, der Arzt gibt keine Hoffnung.

Der Eindruck dieser Worte war unverkennbar. Eine fahle Blässe bedeckte urplötzlich das Gesicht des Mädchens; krampfhaft preßte sie die Hände zusammen und schien nur mühsam ihre Fassung zu bewahren, doch stand sie hoch aufgerichtet da, sich gewaltsam bezwingend.

Schrecklich, schrecklich, murmelten ihre Lippen, als spräche sie zu sich selbst, es kann nur Unheil daraus entstehen. Dann, als besinne sie sich plötzlich, wo sie sei, wandte sie sich kopfschüttelnd an die ihr zunächst Stehenden: Und ein Hausierer soll der Täter sein?

Man hat ihn als des Mordes verdächtig festgenommen.

Dann müssen ja wohl dringende Beweise gegen ihn vorliegen, sagte sie. Sich den Weg durch die Menge bahnend, welche ihr scheu und ehrerbietig Platz machte, betrat sie das Haus.

Byrd hatte sich vorgebeugt, um ihr nachzublicken; dann wandte er sich an ein altes Weib in der Menge.

Kennen Sie die Dame? fragte er. Sie ist wohl eine Verwandte der unglücklichen Frau?

Die Züge der Alten nahmen einen grimmigen Ausdruck an. Nein, krächzte sie heiser, nicht einmal eine Bekannte.

Die Antwort kam Byrd unerwartet; es schien ihm wohl der Mühe wert, der Sache auf den Grund zu gehen. Eben wollte er dem Fräulein ins Haus folgen, als er sich von dem Weibe zurückgehalten sah.

Ich meine nur, flüsterte sie geheimnisvoll, sie besuchten einander nicht; gekannt haben sie sich natürlich, wie wäre das anders möglich in unserer kleinen Stadt!

Byrd fand die junge Dame mitten im Wohnzimmer stehen, in stolzer, entschlossener Haltung, den Blick auf die Türe geheftet, die in Frau Klemmens' Schlafgemach führte; Rechtsanwalt Orkutt war zu ihr getreten.

Dies ist kein Platz für Sie, Imogen, sagte letzterer mit wahrhaft väterlicher Besorgnis; was suchen Sie hier an dem Ort des Schreckens? – Gehen Sie lieber heim; bei meiner Rückkehr sollen Sie alles erfahren, was Ihnen zu wissen frommt! Seine Stimme klang sanft, fast zärtlich.

Ihre Augen suchten den Boden: Ich weiß, ich habe kein Recht hier einzudringen, versetzte sie, aber ich kann nicht gehen, ohne den Ort gesehen zu haben, wo man die arme Frau in ihrem Blute gefunden hat und die Mordwaffe, mit welcher der Streich geführt wurde; bitte, zeigen Sie mir alles, Herr Ferris! Sie schien die Gewährung ihres seltsamen Verlangens mit Zuversicht zu erwarten, als sei sie sich der Macht ihrer Persönlichkeit bewußt.

Ich will den Coroner fragen, versetzte der Bezirksanwalt und ging nach dem Eßzimmer. Sie wartete jedoch die Erlaubnis nicht ab, sondern folgte ihm auf dem Fuße zu dem Schauplatz der Schreckenstat, wo sie sich alles genau zeigen und berichten ließ. Niemand widersetzte sich ihrem Willen; es schien, als habe sie nur zu befehlen, um ihre Wünsche erfüllt zu sehen; alle behandelten sie mit Rücksicht, fast mit ehrfurchtsvoller Scheu, nur Orkutt sah aus, als verursache ihm ihr Benehmen Unruhe und Besorgnis.

Und ein Hausierer hat die Tat verübt? rief sie aus, gedankenvoll vor sich niederblickend. Plötzlich stutzte sie. Byrd, der allen ihren Bewegungen folgte, sah, wie sie einen Schritt vorwärts tat und den Fuß sorgfältig auf eine Stelle des Teppichs niedersetzte.

Sie hat etwas erspäht, dachte der Detektiv und wartete, daß sie sich hinunterbeugen werde; aber sie stand aufrecht da und schien nur durch allerlei Fragen die Aufmerksamkeit der Anwesenden von ihrer Person ablenken zu wollen.

Klopft da nicht jemand an der Hintertür? rief sie plötzlich. Doktor Tredwell ging nachzusehen.

Haben Sie nichts gehört? wandte sie sich an Ferris. Auch dieser blickte nach der Richtung hin. Als sie aber bemerkte, daß noch jemand sie von der Tür des Wohnzimmers aus beobachtete, verzichtete sie auf jeden weiteren Versuch.

Von der Tür her vernahm man ein leises Gespräch, konnte jedoch im Zimmer die Worte nicht verstehen. Es war eine Botschaft aus dem Gasthaus, wo der Hausierer einstweilen in Haft gehalten wurde. Der Mensch hatte in schrecklicher Angst eingestanden, er habe aus einem Hause, wo man ihm zu essen gegeben, mehrere Löffel mitgenommen. Er glaubte, man wolle ihn um dieses Diebstahls willen ins Gefängnis führen und gab freiwillig seinen Raub heraus. Von dem furchtbaren Verdacht, der über ihm schwebte, hatte er offenbar keine Ahnung.

Dem Bezirksanwalt war diese Nachricht augenscheinlich nicht unwillkommen. Nun, wir werden ja sehen, sagte er, wieder ins Zimmer tretend, und fügte hinzu, als er die Blicke der jungen Dame ungeduldig fragend auf sich gerichtet sah: Es scheint sich doch als sehr zweifelhaft zu erweisen, ob der Hausierer der Täter ist.

Sie schrak zusammen und trat unwillkürlich auf Ferris zu. Sogleich näherte sich Byrd der Stelle, wo der kleine Gegenstand lag, den sie vorhin mit ihrem Fuß bedeckt hatte; es war ein Ring, den er gelassen aufhob.

Sie gab nicht acht darauf, sondern fragte, den erregten, fast angsterfüllten Blick auf den Bezirksanwalt richtend, mit erstickter Stimme:

Was sagen Sie? Nicht der Hausierer? Aber wer ist dann der Mörder?

Das ist bis jetzt noch eine offene Frage, entgegnete Ferris, das aufgeregte Mädchen verwundert betrachtend.

Beruhigen Sie sich doch, Imogen! nahm hier Orkutt wieder das Wort; wozu diese heftige Gemütsbewegung über eine Angelegenheit, die doch für Sie nicht von so entscheidender Wichtigkeit ist? Ich bitte Sie dringend, gehen Sie nach Hause.

Ein abweisender Blick war ihre ganze Antwort auf die wohlgemeinte Ermahnung; sie stand unbeweglich da, das Auge bald auf den einen, bald auf den andern der Herren gerichtet, als suche sie in deren Mienen eine Bestätigung der entsetzlichen Furcht zu lesen, die sich in ihrem Innern barg.

Da fühlte sie ihren Arm berührt.

Entschuldigen Sie, mein Fräulein, sagte hinter ihr eine Stimme in sorglos heiterem Tone, gehört dies vielleicht Ihnen?

Wie aus einem Traum erwachend, wandte sie sich um; aller Augen schauten auf Byrd, in dessen geöffneter Hand ein wertvoller Diamantring funkelte.

Ich fand ihn am Boden zu Ihren Füßen, erklärte der Detektiv der jungen Dame in ehrerbietigem Ton. In Orkutts Zügen malte sich heftige Bestürzung, auch die übrigen zeigten ihr Erstaunen beim Anblick des kostbaren Juwels.

Imogen dagegen hatte auf einmal ihre volle Ruhe wiedergewonnen, wie dies starke Naturen im Augenblick der Gefahr vermögen.

Ich danke Ihnen, erwiderte sie, sich anmutig verneigend und die Hand langsam nach dem Ringe ausstreckend. Ja, er ist mein, ich habe ihn wohl fallen lassen, ohne es zu bemerken. Sie sah Orkutts fragenden Blick auf sich gerichtet und errötete leicht, steckte aber, ohne zu zögern, den Ring an den Finger.

Der junge Detektiv war von dieser Wendung der Dinge höchlich überrascht. Daß sie sich so kaltblütig einen Gegenstand aneignen würde, von dem er alle Ursache hatte, zu glauben, daß er ihr nicht gehöre, hatte er nicht erwartet. Es beunruhigte ihn innerlich in hohem Grade, um so mehr, als die beiden andern Herren den Vorgang als ganz natürlich zu betrachten schienen; doch besaß er Selbstbeherrschung genug, nichts von seinem Argwohn merken zu lassen. Mißvergnügt, daß ihm der Versuch so schlecht gelungen war, trat er an ein Fenster des Wohnzimmers.

Nun kommen Sie, Imogen, ich begleite Sie nach Hause, sagte jetzt Orkutt, dem Fräulein den Arm reichend, länger können Sie doch unmöglich hier bleiben wollen.

Noch bevor sie eine Erwiderung fand, öffnete sich jedoch die Tür zum Schlafzimmer: auf der Schwelle erschien der Arzt, welcher bei der Sterbenden Wache gehalten, um ihre letzten Seufzer zu vernehmen. Seine feierliche Miene, seine erhobene Hand verkündeten deutlich, was vorging; ein Schauer der Erwartung durchrieselte die Herzen aller Anwesenden.

Sie regt sich, sie bewegt die Lippen, flüsterte der Arzt ins Zimmer hineinhorchend.

Aus dem Dunkel hinter ihm erklang ein Ton, zuerst leise und unbestimmt, dann laut und deutlich vernehmbar bis in den äußersten Winkel des fernsten Gemaches. Es war nur ein kurzer Ausruf, der sich wieder und wieder hören ließ: »Hand! Ring!« und abermals: »Ring! Hand!«, bis ein keuchender Laut dazwischen kam, worauf wieder tiefe Stille eintrat.

Gerechter Himmel! rief Ferris und eilte auf die Tür zu.

Der Arzt hielt ihn zurück.

Ruhe! gebot er, vielleicht spricht sie noch einmal, warten wir!

Alle lauschten in angstvoller Spannung, aber das Schweigen ward nicht wieder unterbrochen. Nicht lange, so verkündete der Arzt, daß Frau Klemmens wieder in den früheren Zustand der Betäubung gesunken sei; ob sie noch einmal erwachen werde, ließ sich nicht vorhersagen.

Tredwell, der Bezirksanwalt und der Detektiv atmeten wie erleichtert auf; als sie sich umschauten, sahen sie, daß sich das Fräulein mit der weißen Hand krampfhaft am Fensterbrett festhielt; ihr Blick schweifte ins Weite, während Orkutt sie voll Zweifel und Bangigkeit zu betrachten schien. Sobald der Rechtsanwalt jedoch gewahrte, daß seine Freunde ihn beobachteten, verschwand der Ausdruck der Furcht aus seiner für gewöhnlich so ernsten, ruhigen Miene.

Als sie jetzt wieder ins Zimmer zurückblickte, glaubte Byrd noch die letzten Spuren einer furchtbaren Angst in ihren Zügen zu erspähen. Auf Orkutt zutretend, sagte sie in heiserem Ton: Ich möchte nach Hause. Es ist schrecklich hier.

Der Rechtsanwalt war nur zu gerne bereit, ihrem Wunsche zu willfahren; aber noch ehe sie das Haus verlassen konnten, wartete ihrer ein neues Grauen. An der Tür der Sterbenden erschien abermals der Arzt mit erhobener Hand.

Still, sagte er, sie bewegt sich wieder, als wollte sie sprechen.

Wieder lauschten sie in atemloser Spannung, bis das leise Murmeln allmählich deutlicher wurde und sie Worte vernahmen, bei denen ihnen das Blut in den Adern erstarrte. Orkutt und das Weib an seiner Seite prallten auseinander, als sei ein zweischneidiges Schwert zwischen sie gefahren.

»Fluch über ihn, «klang es von dem Bette her, »Fluch über den Verbrecher! Ihn soll die Rache des Himmels ereilen, wo er geht und steht!«                                                        

Bleich und entsetzt starrten die Anwesenden einander an, als sähen sie schon die rächende Hand das Haupt des Schuldigen berühren. Schon im nächsten Augenblick hatte Imogen die Tür aufgerissen und war wie ein gescheuchtes Wild auf die Straße gestürzt, ehe noch Orkutt sich aus seiner Betäubung aufraffen konnte, um ihr zu folgen.

Drittes Kapitel.

Dürfte ich wohl fragen, wer die junge Dame ist? erkundigte sich Byrd bei dem Bezirksanwalt, der mit ihm abseits in einer Ecke des Eßzimmers stand.

Eben trat Rechtsanwalt Orkutt wieder ins Zimmer zurück, nachdem er vergeblich versucht hatte, die Flüchtige einzuholen.

Es ist Fräulein Dare, erwiderte Ferris in gedämpftem Tone, eine vielbewunderte Schönheit; man sagt, sie stehe im Begriff, sich zu verheiraten mit – Er unterbrach sich und warf einen bedeutsamen Blick auf Orkutt, ohne jedoch den Satz zu vollenden.

Wirklich! rief der Detektiv, der jetzt Orkutt, in welchem er bisher nur den scharfsinnigen Kriminalisten gesehen hatte, mit ganz neuem Interesse betrachtete.

Der Rechtsanwalt war ein kleiner blonder, beweglicher Herr in den vierzigen, von guter Haltung und leichten Umgangsformen, aus dessen gefälligen Gesichtszügen jetzt indessen eine geheime Besorgnis sprach, die er vergebens zu bemeistern trachtete. Doktor Tiedwell war ein schönerer Mann und Ferris höher von Wuchs, aber doch machte Orkutts ganze Persönlichkeit einen tieferen Eindruck und erschien Byrd wohlgeeignet, dem weiblichen Gemüt Bewunderung, vielleicht auch Zuneigung einzuflößen.

Das Fräulein scheint großen Anteil an dem Ereignis zu nehmen, bemerkte der Detektiv wieder zu Ferris gewandt.

Das ist so Frauenart, entgegnete dieser leichthin. Aber aus Fräulein Dare ist im allgemeinen nur schwer klug zu weiden – bald zeigt sie mehr Gefühl als man erwartet, bald weniger.

Orkutt trat jetzt näher. Mir scheint, sagte er mit nicht mißzuverstehender Beziehung auf den ihm fremden, jungen Mann, es sollten bei dieser Sache so wenig Personen wie möglich beteiligt sein!

Erlauben Sie, Orkutt, daß ich Ihnen Herrn Byrd vorstelle, nahm Ferris sogleich das Wort; er steht im Dienste der Polizei und hat mir in dem Kriminalfall, der heute verhandelt wurde, Beistand geleistet.

Ein Detektiv also! sagte der Rechtsanwalt, Byrd mit prüfendem Blick betrachtend. Schade, fügte er verbindlich hinzu, daß die Pflichten, die Sie übernommen haben, Sie hindern, sich dem Gericht in Sachen dieses geheimnisvollen Mordanfalls zur Verfügung zu stellen.

Sich höflich gegen Byrd verbeugend, nahm Orkutt wieder seinen früheren Platz in der Nähe der Tür des Schlafzimmers ein, in welchem die Sterbende noch immer atmete. Byrd bemerkte, daß seine Gegenwart nicht erwünscht sei, und wollte sich eben zurückziehen, als der Coroner, welcher eine Zeitlang anderweitig beschäftigt gewesen, ins Zimmer trat und den Detektiv zu sich heranwinkte.

Kommen Sie, sagte er, ich brauche Ihre Hilfe.

Byrd warf einen fragenden Blick auf den Bezirksanwalt, der ihm beistimmend zunickte, und folgte dann dem Coroner die Treppe hinauf in ein Gemach, das dieser sorgfältig hinter ihnen verschloß.

Es ist mir von großem Wert, begann Doktor Tredwell, Sie hier an Ort und Stelle zu haben. Ich möchte Sie fragen, ob Sie willens wären, dem Gericht bei Entdeckung des Mörders behilflich zu sein?

Wie Sie wissen, bin ich nicht mein eigener Herr, entgegnete der junge Mann im Gefühl einer unbestimmten Abneigung, sich weiter in die rätselhafte Angelegenheit zu mischen. Ich habe die Befehle meiner Vorgesetzten zu befolgen; auch leidet das Geschäft, womit mich Herr Ferris betraut hat, keinen Aufschub, und ihm bin ich die erste Rücksicht schuldig.

Ferris ist ein verständiger Mann – er wird uns keinerlei Schwierigkeiten machen.

Aber mir fehlt die Erlaubnis aus Neuyork.

Die werde ich sofort auf telegraphischem Wege einholen.

Byrd zögerte noch immer. Mir scheint der Fall zu einfach, sagte er, um außergewöhnlicher Maßregeln zu bedürfen. Sollte nicht Ihre hiesige Ortspolizei dazu genügen? – Eine Frau ist bei hellem Tage erschlagen worden und der mutmaßliche Täter befindet sich bereits in Ihrer Gewalt.

So glauben Sie noch immer, daß der Hausierer den Mord begangen hat? fragte Tredwell ungeduldig über des andern gleichgültiges Wesen.

Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der Täter nicht jener Mann war, den ich den ganzen Morgen bei der Gerichtsverhandlung gesehen und von dem ich kaum ein Auge verwandt habe.

Dann muß er ja eine ganz besondere Anziehungskraft für Sie besessen haben, bemerkte der Coroner mit leichtem Spott.

Es wird wohl auch noch durch andere Zeugen zu ermitteln sein, ob er den Saal verlassen hat oder nicht, war Byrds etwas gereizte Antwort. Er schien des fruchtlosen Streites über diese Angelegenheit herzlich überdrüssig.

Wie dem auch sei, entgegnete der Coroner auf ein Blatt Papier blickend, das er in der Hand hielt, ob der Bucklige ein Hexenmeister ist oder ein Mitschuldiger – ein Narr, der sein eigenes Geheimnis nicht zu wahren weiß, oder ein Verräter, der seine Werkzeuge preisgibt – jedenfalls wird diese Rechtssache keinen so einfachen Verlauf nehmen, wie Sie erwarteten. Es scheint in der Stadt nicht bekannt gewesen zu sein, daß Frau Klemmens einen Feind besaß, sie selbst war sich dessen aber wohl bewußt, wie ein angefangener Brief beweist, den ich auf ihrem Schreibtisch gefunden habe. Möglich, daß jener Hausierer nur den Streich geführt hat, und der eigentliche Urheber der Mordtat anderswo zu suchen ist.

Des jungen Mannes Augen glänzten bei dieser Eröffnung; sein Berufsinteresse war augenscheinlich erwacht. Doch streckte er die Hand nicht nach dem Briefe aus, den ihm Tredwell hinhielt.

Wenn ich den Fall nicht übernehme, fügte er ausweichend, so ist es besser, ich mische mich nicht weiter hinein.

Aber Sie werden ihn übernehmen, entgegnete der andere, den der Widerstand, auf welchen er so unerwartet traf, nur noch mehr in dem Entschluß bestärkte, sich Byrds Mithilfe zu sichern. Jedenfalls verschreibe ich mir einen Detektiv aus Neuyork. Die in unserer Stadt verübte Mordtat darf nicht ungesühnt bleiben, und wir wollen uns die beste Hilfe verschaffen, welche zu haben ist. Schwerlich wird aber das Polizeiamt einen andern herschicken wollen, wenn Sie schon auf dem Platze sind.

Wer weiß, versetzte Byrd, ohne seine Zurückhaltung aufzugeben, es gibt mancherlei Geheimpolizisten in unserem Bureau; einer wird zu dieser Arbeit verwendet, ein anderer zu jener; vielleicht tauge ich gar nicht für dies Geschäft.

Das wird sich finden, erwiderte der unerschütterliche Tredwell, inzwischen lesen Sie hier den Brief!

Dieser bestimmten Aufforderung widersetzte sich der junge Mann nicht länger, er nahm das Schreiben und las:

»Liebe Emilie!

Warum ich Dir eigentlich heute schreibe, weiß ich nicht. Ich habe alle Hände voll zu tun, und der Morgen ist sonst nicht meine Zeit für schriftliche Herzensergüsse – aber mir ist heute so ängstlich zu Mute, und ich fühle mich recht verlassen. Es will mir gar nichts nach Wunsch gehen, und da fallen mir die mancherlei Ursachen zu geheimer Furcht, die ich stets gehabt, besonders schwer aufs Gemüt. Das ist immer der Fall, wenn ich mich nicht ganz wohl fühle. Vergebens sage ich mir, daß achtbare Leute sich schwer zu einem Verbrechen hinreißen lassen. Es leben so viele, denen mein Tod nur allzu willkommen wäre, und ich schwebe fortwährend in der Angst vor einem –«

Gewaltsamen Ende, ergänzte Tredwell, als der junge Mann schwieg.

Wahrscheinlich ein Familiengeheimnis, äußerte dieser. Sollte nicht Rechtsanwalt Orkutt, der mit Frau Klemmens auf vertrautem Fuße gestanden hat, darüber Auskunft geben können?

Wohl möglich, aber ihn möchte ich nicht fragen. Er wird vermutlich die Verteidigung des Verbrechers zu übernehmen haben und schwerlich wünschen, sich an unserer Voruntersuchung zu beteiligen.

Byrd sah dem Coroner fest ins Auge; er schien einen Entschluß gefaßt zu haben.

Ist Ihnen nicht eingefallen, sagte er, daß Herrn Orkutt noch andere Gründe bewegen könnten, mit seiner Meinung in dieser Angelegenheit zurückzuhalten? Die junge Dame, welche hier war, fuhr er fort, ohne Tredwells verwunderte Miene zu beachten, scheint über das verübte Verbrechen in so furchtbarer Aufregung zu sein, daß ich glauben sollte, er werde sich schon aus Rücksicht für sie von der ganzen Sache möglichst fernhalten.

Wo denken Sie hin? – Fräulein Dares Interesse an der Mordtat ist bloße Neugier, von welcher sie sich als gebildete junge Name freilich etwas zu sehr hat fortreißen lassen. Aber man kennt ihre Eigenheiten schon in hiesiger Stadt. Sie meinen doch nicht im Ernst, daß das Fräulein etwas mit dem schrecklichen Ereignis zu schaffen haben kann? –

Byrd errötete leicht; die Worte: »Also gehört ihr der Diamantring wirklich?« schwebten ihm schon auf den Lippen, doch widerstand es ihm, seinen Argwohn gegen das schöne Mädchen, für den er keinerlei Beweise hatte, verlauten zu lassen.

Tredwell bemerkte sein Zögern und fuhr fort: Nein, Fräulein Dare steht zu diesem Vorfall sicher in keinerlei Beziehung. Sie ist eins der unbescholtensten Mädchen unserer Stadt, und Frau Klemmens ist ihr völlig unbekannt, ich glaube fest, sie hat ihren Namen heute zum erstenmal gehört.

Byrds hübsche, männliche Züge erhellten sich sichtlich. Gut denn, sagte er, wenn sich bei der gerichtlichen Untersuchung nicht herausstellt, wer der Täter ist, und Sie meine Hilfe wirklich begehren, will ich mir aus Neuyork Erlaubnis einholen, den Fall zu übernehmen. Inzwischen – –

Inzwischen halten Sie immerhin die Augen offen, versetzte der Coroner, den Brief, welchen ihm Byrd wieder eingehändigt hatte, sorgfältig in der Brusttasche bergend. Und vor allem – unverbrüchliches Schweigen!

Der junge Mann verbeugte sich und folgte Tredwell die Treppe hinab. Drunten hatte unterdessen der Arzt den Ausspruch getan, daß Frau Klemmens' Zustand noch in gleicher Weise stundenlang fortdauern könne, und der Tod vielleicht nicht vor Mitternacht eintreten werde. Ihre Lebenskraft ist aber bereits zu sehr erschöpft, um ihr noch irgend welche Äußerung zu gestatten; sie wird ohne Kampf in die Ewigkeit hinüberschlummern, versicherte er.

Unter diesen Umständen zogen es Orkutt und Ferris vor, sich zu entfernen. Kaum waren sie fort, so begann Byrd mit seinen eigenen Beobachtungen am Schauplatz der Tat. Sie richteten sich zunächst auf die Lage der verschiedenen Türen zu dem Herd, wo das Holzstück gelegen, und zu der Wanduhr, vor welcher der Angriff erfolgt war; er entwarf eine flüchtige Zeichnung der Ortsverhältnisse, notierte auch die auf dem Tisch befindlichen Gegenstände, öffnete dann die Seitentür und schaute vorsichtig ins Freie hinaus.

Sein früheres, gleichgültiges, schläfriges Wesen hatte ihn gänzlich verlassen, nichts entging seinem scharfen Auge, er war wie umgewandelt, entschlossen, umsichtig, voll Tatkraft. Tredwell beobachtete ihn mit Wohlgefallen. »Flink und schlau wie ein Wiesel«, dachte er bei sich und wünschte sich Glück zu dem Gehilfen.

Gegen zwei Uhr verließ Byrd das Haus, um mit Ferris bei der Fortsetzung der am Morgen begonnenen Gerichtsverhandlung zugegen zu sein. In Frau Klemmens' Hof harrte noch immer eine zahlreiche Menschenmenge, und kaum war der junge Mann auf die Straße getreten, als ihm jenes alte Weib wieder in den Weg kam, welches die Neugier offenbar an Ort und Stelle zurückgehalten hatte. Mit häßlichem Grinsen sah sie ihm ins Gesicht.

Darf ich nicht wissen, Herr, wie die Sachen stehen? krächzte sie. Gewiß können Sie mir sagen, was das schöne Fräulein mit der Geschichte zu tun hat!

Wer? –

Ich meine das naseweise junge Ding, das glaubt, es habe nur zu befehlen, und alle müßten ihr Platz machen. Sie ist dabei beteiligt, das lasse ich mir nicht nehmen – was hätte sie sonst hier zu suchen gehabt?

Byrd konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren, als er seinen eigenen geheimen Argwohn aus dem Munde dieses widerlichen Geschöpfs vernahm. Fräulein Dare hat nicht das geringste mit der Mordtat zu tun, erwiderte er, sie kennt die Frau gar nicht und nimmt nur Anteil an ihrem Unglück.

Hi, hi, hi! kicherte die Alte, sobald eine nur ein hübsches Lärvchen hat, macht sie die Männer alle zu Narren. Was das für ein Anteil war, stand ihr ja im Gesicht geschrieben, und für nichts und wieder nichts stürmt man nicht so in ein fremdes Haus hinein. Nun, wir werden's ja sehen! Ein Mord läßt sich nicht vertuschen, und da wird sich's zeigen, was das schöne Fräulein damit zu schaffen hat.

Die letzten Worte sprach die Alte mit so eigentümlicher Betonung, daß es Byrd auffallen mußte. Halt! rief er, wenn Sie etwas von Fräulein Dare wissen, was uns andern verborgen ist – dann, heraus damit, sogleich! Spricht aber nur Bosheit aus Ihnen, fügte er in aufwallendem Zorn hinzu, haben Sie nur gesehen, daß das Fräulein das Haus der Witwe in großer Bestürzung verließ und wollen Sie darauf Ihre verleumderischen Anspielungen gründen, so hüten Sie sich! Herr Ferris und Herr Orkutt lassen nicht mit sich spassen und werden nicht dulden, daß Sie mit Ihrem Geschwätz den Ruf der jungen Dame besudeln!

Dabei packte er das Weib beim Arm.

Die Wirkung der Drohung war eine augenblickliche. Sich von ihm losmachend, krächzte die Alte: Was sollte ich wohl wissen? Nichts, als was aus jeder Miene und Gebärde des Fräuleins sprach. Wenn Sie's nicht verstehen können, ist's Ihr Schaden. Damit hinkte sie schnell die Straße hinunter und sah sich von Zeit zu Zeit kopfschüttelnd um, als wollte sie sagen: Die Reihe kommt schon noch an mich; dann will ich reden, und niemand soll mir's wehren!

In nachdenklicher Stimmung begab sich der junge Mann nach dem Gerichtsgebäude. Hatte er denn ganz und gar vergessen, daß er Detektiv war? Anstatt die Alte in Schrecken zu setzen, hätte er die Gelegenheit ergreifen sollen, ihr auf geschickte Weise alles abzufragen, was sie etwa wußte. Was hatte ihn nur vermocht, so ganz ungeschäftsmäßig zu handeln? War der Eindruck, den Fräulein Dares Schönheit auf ihn gemacht hatte, seine Bewunderung ihrer Reize wirklich so groß, daß ihm alles daran lag, in seinem eben erst neu befestigten Glauben an sie nicht wieder irre zu werden? – Anders ließ es sich nicht erklären. – Aber gesetzt, sie war unschuldig, wie der Coroner mit solcher Sicherheit behauptete, gesetzt, es sprach nur Haß und Bosheit aus den Reden der greulichen Hexe, war es dann nicht seine Pflicht, das Fräulein vor der giftigen Zunge der Alten zu warnen oder wenigstens ihren Freund, den Rechtsanwalt, sofort von jenen verleumderischen Worten in Kenntnis zu setzen? – Wenn ein Mädchen, das meinem eigenen Herzen nahe stände, so schändlich verlästert würde, müßte ich da nicht wünschen, es zu erfahren, um die Geliebte schützen zu können? fragte er sich.

Diese Betrachtungen hatten zur Folge, daß Byrd nach beendeter Gerichtsverhandlung Orkutt beiseite zog, um, wenn auch mit innerem Widerstreben, die Frage an ihn zu richten, ob er wisse, daß die junge Dame, mit der sie heute im Hause der Frau Klemmens zusammengetroffen seien, hier in der Stadt eine Feindin besitze, die es sich angelegen sein lasse, böswillige Verleumdungen über sie zu verbreiten.

Der Rechtsanwalt sah ihn verwundert und mißtrauisch an. Ich verstehe Sie nicht, sagte er, was lassen sich für Beschuldigungen gegen eine Dame von Fräulein Dares Ruf und Stellung vorbringen?

Das Weib behauptet, meinte Byrd, Fräulein Dare müsse ein besonderes geheimes Interesse an der heute begangenen Mordtat haben, sonst wäre sie nicht voll Schrecken in das Haus der Frau Klemmens gestürzt. Ich habe getan, was ich konnte, um ihr die Unhaltbarkeit eines solchen Argwohns zu beweisen, aber ich fürchte, ich habe sie nur für den Augenblick zum Schweigen gebracht, und sie wird ihre alberne Geschichte bald weiter erzählen.

Orkutt ließ einen zornigen Ausruf hören; Byrd bemerkte, daß er bleich geworden war von innerer Erregung, obwohl er seine äußere Ruhe bald wieder gewann.

Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung, sagte er; ich bin Fräulein Dares bester Freund und kenne sie genügend, um zu versichern, daß sie auch nicht in dem entferntesten Zusammenhang mit dem verübten Verbrechen steht. Ihr heutiges, allerdings etwas auffälliges Benehmen wird sie mir gewiß leicht erklären können. Sie würden mich verbinden, wenn Sie die Angelegenheit nicht weiter besprechen wollten, bis ich mir aus des Fräuleins eigenem Munde Aufschluß darüber verschafft habe, woher ihr besonderes Interesse an dem Ereignis stammt.

Er streckte dem Detektiv lächelnd die Hand hin, aber der sichtliche Zwang, den er sich antat, berührte Byrd aufs peinlichste. Es schien ihm fast, als fänden seine eigenen geheimen Zweifel ein Echo in der Brust des Rechtsanwalts.

Viertes Kapitel.

Orkutt war kein Mann, auf den weibliche Reize mit ihren verführerischen Künsten Eindruck machten. Ob nun seine Unempfindlichkeit aus einem früheren Herzenserlebnis entsprang, welches er vor dem Geklatsch der Nachbarn und sogenannten guten Freunde zu verbergen gewußt hatte, oder aus einer von Natur kalten Gemütsart, gewiß ist, daß er jahrelang sowohl der schmeichelhaften Annäherung anerkannter Schönen als den schüchternen Bemühungen anderer liebender Herzen mit einer Geflissentlichkeit ausgewichen war, die an Geringschätzung grenzte.

Mit dem Tage, an welchem Imogen Dare sein Haus betrat, ward dies jedoch anders. Von ihr ging ein Licht aus, das für den trockenen Geschäftsmann zu einem neuen Lebenselement wurde und ihm die düstere, alte Behausung freundlich erhellte.

In Sibley hatte man längst vergessen, daß dies schöne, stolze, einnehmende Mädchen einst als namenloses Findelkind auf der Schwelle einer armen Frau gefunden worden war, die es mitleidig aufgenommen und Mutterstelle an ihm vertreten hatte. Der Frau, welche allein in der Welt stand, erschien das Kind als eine wahre Gottesgabe. Zu einer solchen wurde es auch wirklich für sie, denn jedermann wetteiferte, ihr bei der Pflege und Erziehung der reizenden begabten Kleinen mit Rat und Tat beizustehen, so daß ihr die nötigen Mittel völlig ungesucht zuflossen.

Zwar verlor Imogen in ihrem elften Jahre die Wohltäterin ihrer Kindheit durch den Tod, aber sie hatte das Glück, sofort eine neue Heimat zu finden. Ein reiches, herzensgutes Ehepaar nahm sie an Kindesstatt an und gab ihr Gelegenheit, sich die Schätze einer höheren Bildung anzueignen und die feineren Umgangsformen der Welt, welcher sie jetzt angehören sollte, zu erwerben. Sie bewahrte dabei jedoch die Eigenart ihres Charakters, die schon früh zu Tage getreten war, und zugleich gewann ihre äußere Erscheinung täglich neue Reize. Ein kräftiger, kerngesunder Körper, ihre einzige, kostbare Mitgift für das Leben, trug noch dazu bei, die Pracht ihrer Schönheit zu erhöhen, die sich mit der Zeit immer herrlicher entfaltete.

So verflossen für Imogen fünf Jahre in Glück und Wohlstand, als plötzlich ihr Geschick abermals eine neue Wendung nahm. Ihre Pflegeeltern verloren durch einen Bankerott ihr ganzes Vermögen, und als sie bald darauf starben, sah sie sich, kaum erwachsen, gezwungen, auf eigenen Füßen zu stehen. Zwar fehlte es ihr nicht an mancherlei Anerbietungen, um ihre Zukunft zu sichern, sie wies jedoch alle fremde Hilfe zurück und suchte nach einer Stelle, wo sich ihr Gelegenheit böte, ihre Kräfte zu verwerten und sich durch Arbeit ihren Unterhalt zu erwerben.

Eine solche fand sich denn auch bald für sie in dem Hause des Rechtsanwalts Orkutt als Stütze seiner betagten Schwester, welche der Wirtschaft vorstand. Die alte Dame bedurfte einer jüngern Kraft, die ihr die Arbeit erleichtern und zugleich neues Leben und Interesse ins Haus bringen sollte. Daß das Mädchen eine Schönheit war, schien ihr kein Hindernis; sie ließ Imogen frei schalten und walten, und legte ihr selbst dann keinen Zwang auf, als sie sah, welche Anziehungskraft die neue Hausgenossin auf ihren Bruder ausübte. Schon Imogens erster Anblick hatte ihn mit Bewunderung erfüllt, und bald fügte er sich willenlos ihrer unbewußten Herrschaft. Sie schien ihrer ganzen Natur nach für keine untergeordnete Stellung geschaffen und ward bald der leitende Geist an Orkutts Tisch und Herd.

In allem erwies sie sich als das gerade Gegenteil der Mädchen, mit welchen er bisher verkehrt hatte. Zuerst zurückhaltend, stolz, unnahbar, dann, als ihr Bildungstrieb mehr und mehr erwachte, lernbegierig, unverdrossen, bereit auf alle seine Erklärungen und Beweisführungen einzugehen. Zwischen jenen Stunden aber, welche sie seiner Aufforderung folgend, bei ihm im Studierzimmer zubrachte, aus seinen Büchern lesend und lernend, und der weit gefährlicheren Zeit, da er sie im Wohnzimmer aufsuchte, an ihrer Seite saß und nicht in Büchern, sondern in ihren Augen zu lesen suchte, lag ein langer, harter Kampf.

Orkutt liebte sie. Aber so heftig die Leidenschaft auch sein Herz ergriffen hatte, er hielt den Gedanken an eine Heirat lange Zeit von sich fern. Sie sollte seine Tochter werden, die Erbin seines Vermögens, seine Stütze im Alter. Dieser Entschluß war jedoch nur von kurzer Dauer. Imogen kam von einem Besuch in Buffalo zurück, wohin er sie geschickt hatte, als sein innerer Zwiespalt allzustark wurde, und er erkannte gleich beim ersten Wiedersehen klar und deutlich, daß jene Absicht unausführbar sei. Sie mußten einander als Gatten angehören, oder es galt, die Verbindung zwischen ihnen ein für allemal abzubrechen.