Der Ruf des Kondors - Astrid Fritz - E-Book

Der Ruf des Kondors E-Book

Astrid Fritz

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Beschreibung

Ein deutsches Auswandererschicksal und ein großes Abenteuer Im Sommer des Jahres 1852 sticht im Hamburger Hafen ein Auswandererschiff in See. Mit an Bord: der fünfzehnjährige Josef Scholz. Ziel des Dreimasters ist Chile. Dort will Josef seinen verschwundenen Bruder Raimund finden. Aber die neue Heimat entpuppt sich als rau und gefährlich. Bei einer Expedition in den Urwald lernt Josef den Mapuche-Jungen Kayuantu kennen. Schon bald verbindet die beiden eine tiefe Freundschaft. Auch die schöne Ayen hat ein Auge auf Josef geworfen. Doch als die Schamanin einen Bann über den jungen Deutschen ausspricht, werden seine Gefühle auf eine harte Probe gestellt …

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Astrid Fritz

Der Ruf des Kondors

Ein Auswanderer-Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein deutsches Auswandererschicksal und ein großes Abenteuer

 

Im Sommer des Jahres 1852 sticht im Hamburger Hafen ein Auswandererschiff in See. Mit an Bord: der fünfzehnjährige Josef Scholz. Ziel des Dreimasters ist Chile. Dort will Josef seinen verschwundenen Bruder Raimund finden. Aber die neue Heimat entpuppt sich als rau und gefährlich. Bei einer Expedition in den Urwald lernt Josef den Mapuche-Jungen Kayuantu kennen. Schon bald verbindet die beiden eine tiefe Freundschaft. Auch die schöne Ayen hat ein Auge auf Josef geworfen. Doch als die Schamanin einen Bann über den jungen Deutschen ausspricht, werden seine Gefühle auf eine harte Probe gestellt…

Vita

Astrid Fritz studierte Germanistik und Romanistik in München, Avignon und Freiburg. Als Fachredakteurin arbeitete sie anschließend in Darmstadt und Freiburg und verbrachte mit ihrer Familie drei Jahre in Santiago de Chile. Zu ihren großen Erfolgen zählen «Die Hexe von Freiburg», «Die Tochter der Hexe», «Turm aus Licht», «Der dunkle Himmel». Astrid Fritz lebt in der Nähe von Stuttgart.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2024

Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung any.way, Cathrin Günther

Coverabbildung Gemälde von Lenthe: Die Auswanderer, akg-images

ISBN 978-3-644-02250-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für meine Tochter Lisa Francisca, die in Chile geboren ist

1

in heftiger Windstoß trieb ihm Staub ins Gesicht. Josef stand auf dem Baumwall und starrte mit brennenden Augen auf das Gewirr von Masten und Takelage, das sich gegen den fahlen Abendhimmel abzeichnete. Bestimmt hundert Schiffe schwankten träge im brackigen Wasser des Hamburger Niederhafens. Schnelle, schlanke Klipper, die Gewürze und Tee aus Indien brachten, mit Kanonen bestückte Fregatten, wuchtige Drei- und Viermastbarken und dazwischen moderne Dampfschiffe.

Er würde Raimund finden, auch wenn er mit einem dieser Schiffe um die halbe Welt segeln musste!

Mit schweren Schritten ging er hinüber zum Kai. Trotz der späten Stunde herrschte hier lebhafte Geschäftigkeit. Kisten und Fässer wurden auf Lastkähne gehievt, Kies unter ohrenbetäubendem Lärm in Schuten gekippt. Herren in grauem Tuch und Zylinder beaufsichtigten argwöhnisch das Entladen ihrer Fuhrwerke, die einfachen Leute zerrten ihre Habseligkeiten in Leiterwägen hinter sich her. Die schwüle Hitze, die seit Tagen auf der Stadt lastete, machte die Menschen reizbar. Fortwährend wurde Josef angerempelt, hierhin und dorthin geschoben, stand den Hafenarbeitern und Reisenden überall im Weg.

Zum ersten Mal seit seiner überstürzten Flucht befielen Josef Mutlosigkeit und Zweifel. Seine Mutter würde sich wahrscheinlich die Seele aus dem Leib weinen, sein Vater würde toben, und Onkel Emil würde sich weigern, ihn nach Amerika mitzunehmen. Überhaupt: Wie konnte er so sicher sein, dass sein Bruder tatsächlich in Chile lebte?

Er erstarrte. Nur wenige Schritte vor ihm schob sich ein dunkelhaariger Mann durch die Menschenmenge, stieß sich grob mit den Ellbogen den Weg frei. Josef hatte die dunkelgrüne, zerschlissene Joppe sofort erkannt. Sein Vater war ihm also nach Hamburg gefolgt! Jetzt war alles zu Ende. Er wich zurück, wie ein aufgescheuchtes Wild, das seinem Jäger gegenübersteht. In diesem Moment blieb der Mann stehen, schob sich die Mütze aus dem Gesicht und schaute sich suchend um. Josef sah deutlich das bartlose Gesicht eines jungen Mannes.

Aufatmend lehnte er sich gegen eine Bretterwand und tastete nach der Geldbörse, die er am Leib festgebunden hatte und die seine gesamten Ersparnisse enthielt. Er war zum Umfallen müde, doch er wusste, dass es in Hafenstädten von Dieben und Gesindel nur so wimmelte. Ein Schwarm Möwen stürzte kreischend vor ihm nieder und zankte sich um ein Stück Brotrinde.

«He, verschwinde! Das ist mein Platz.»

Josef zuckte zusammen, als ihn ein Faustschlag in den Kniekehlen traf. Ein verwahrloster Alter kauerte neben ihm im Staub, aus den abgeschnittenen Hosenbeinen ragten zwei vernarbte, violett glänzende Beinstümpfe. Hastig packte Josef seinen Reisesack und stolperte davon, vorbei an zwei raufenden Burschen und einer Horde betrunkener Matrosen. An der Kaimauer blieb er mit klopfendem Herzen stehen. Der Gestank fauligen Wassers stieg ihm in die Nase. Er hatte Angst.

«Willst du anheuern, Jungchen?»

Josef fuhr herum. Vor ihm stand breitbeinig ein Seemann, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und musterte ihn von oben bis unten. In seinem Mundwinkel klebte eine erloschene Zigarette.

«Ich suche das Schiff, das übermorgen nach Chile abfährt.»

«Wie heißt es denn?»

Josef dachte nach. Zwar hatte Onkel Emil ihm viel von dem Segler erzählt, doch an den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern.

«Na, du bist mir ein Spaßvogel! Weißt du, wie viele Überseeschiffe im Hamburger Hafen liegen? Ganz Deutschland scheint im Moment auswandern zu wollen. Am besten fragst du dort drüben nach», er deutete auf ein schäbiges, langgestrecktes Gebäude, «bei den Schiffskontoren. Die sind um diese Zeit aber schon geschlossen.»

Josef bedankte sich. Der Seemann wollte schon weitergehen, doch dann wandte er sich noch einmal um.

«Sag mal, willst du heute Nacht hier Wurzeln schlagen?»

Jetzt nur nicht heulen, dachte Josef und bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. «Ich weiß nicht, wo man hier einen Schlafplatz findet.» Er hatte vorgehabt, sich irgendwo ein ruhiges und sicheres Fleckchen zu suchen, in einem Schuppen oder einer Lagerhalle, doch bei dem Trubel hier am Hafen konnte er sich das aus dem Kopf schlagen.

«Gib acht.» Der Mann kratzte sich das stopplige Kinn. «Wenn du dort hinten den Herrengraben hochgehst und dann die dritte Gasse links, findest du den Grünen Anker. Sag der Wirtin einen Gruß vom alten Hein von der Neptun, und sie soll dir eine Ecke zum Schlafen überlassen. Ich würde mich dafür mal wieder bei ihr erkenntlich zeigen.» Beim letzten Satz grinste er anzüglich.

«Viel Glück», rief er Josef nach, als der sich eilig auf den Weg machte.

Der Grüne Anker war eine düstere Kaschemme, in der sich die Seeleute zum Würfelspiel und Saufen trafen. Misstrauisch sah die Wirtin, eine vollbusige Frau mit roter, ungesunder Gesichtsfarbe, Josef an, als er seine Bitte vorbrachte und Heins Grüße bestellte.

«Hast du Geld?»

«Nicht viel. Aber Hein hat gemeint, er würde sich Ihnen erkenntlich zeigen, wenn Sie mich hier übernachten lassen», fügte er hinzu, ohne recht zu wissen, was damit gemeint war.

«Alter Schweinehund.» Die Frau strich sich mit dem Handrücken das strähnige Haar aus dem Gesicht. Dann nahm sie den Jungen beim Arm. «Komm mit. Aber dass dir eins klar ist: Du kannst nur für eine Nacht hier bleiben. Wenn ich lauter solche Gäste wie dich hätte, könnte ich meine Wirtschaft gleich schließen.»

Sie führte ihn in eine Kammer neben der Küche. Auf dem blanken Boden lag in der Ecke ein Haufen Lumpen, über den ein nachlässig geflicktes Leintuch gebreitet war. Ansonsten wirkte der Raum sauber und frisch gekehrt.

«Da kannst du schlafen.» Sie reichte ihm eine Pferdedecke. «Essen und trinken musst du aber bezahlen.»

Josef nickte und bedankte sich. Nachdem er sein Bündel unter der Decke verstaut hatte, ging er zurück in die Schankstube. Dort verschlang er eine große Portion Kartoffeln mit Speck, die die Wirtin ihm gebracht hatte.

«Du bist ja mächtig ausgehungert. Hattest wohl einen weiten Weg?»

«Hm.» Josef schluckte den letzten Bissen herunter. «Ich komme aus Kurhessen, aus Rotenburg.»

Sie sah ihn prüfend an. «Sag mal, wissen deine Eltern eigentlich, wo du dich rumtreibst?»

«Ja», beeilte sich Josef zu versichern. «Ich bin mit meinem Onkel verabredet, morgen. Er ist schon seit ein paar Tagen hier in Hamburg.»

«Ich kann nämlich keinen Ärger mit der Polizei brauchen», murmelte sie, offenbar nicht ganz überzeugt von Josefs Antwort, und räumte den Tisch ab.

Jetzt, wo sein Magen gefüllt und der Schlafplatz gesichert war, sah die Welt freundlicher aus. Gleich morgen früh würde er sämtliche Gasthäuser nach Onkel Emil und seiner Familie ablaufen, denn irgendwo mussten sie schließlich untergekommen sein. Und wenn er erst mal in Südamerika war, würde er zusammen mit seinem Bruder hart arbeiten und reich werden und den Eltern eine Luxuspassage nach Chile bezahlen. Sein Vater würde schon sehen, dass es noch ein anderes Leben gab als das in seiner erbärmlichen Bauernkate. Ob es schwierig sein würde, Raimund ausfindig zu machen? Seitdem der Bruder sich vor drei Jahren mitten in der Nacht von ihm verabschiedet hatte, hatten sie nichts mehr von ihm gehört.

«Willst du wissen, was dir die Zukunft bringt?», riss ihn eine schrille Stimme aus seinen Gedanken. Eine Alte mit zahnlosem Mund, die Haare starr vor Dreck, hatte sich zu ihm an den Tisch gesetzt. Sie stank zum Gotterbarmen.

Als Josef schwieg, fuhr sie fort: «Ich sehe einen großen Segler, der dich wegbringt von hier, weit weg. Du wirst ein neues Leben beginnen. Gib mir ein paar Pfennige, und ich erzähle noch mehr.»

Josef zögerte, doch dann war seine Neugier stärker. Er nestelte unter seinem Rock in der Geldbörse und legte drei Münzen auf den Tisch. Die Alte nahm seine linke Hand. Mit ihren schmutzigen Fingern rieb sie seine Handfläche und starrte abwechselnd auf die Hand und in seine dunkelblauen Augen.

«Wald, überall dichter Wald – und viel Holz. Das Holz wird dich reich machen, und das Holz wird dir Leid bringen.»

«Werde ich meinen Bruder wiederfinden?», unterbrach Josef sie.

«Lass den Jungen in Ruhe, Theresa, und verschwinde!», herrschte die Wirtin die Alte an. Die Frau fluchte leise, stand aber schließlich auf. Als sie die Münzen einstecken wollte, schlug ihr die Wirtin auf die Finger.

«Das Geld gehört dem Jungen, und jetzt raus hier. Und dich», wandte sie sich an Josef, «hätten deine Eltern nicht allein herkommen lassen sollen, du Grünschnabel. Lässt dir von der erstbesten Vettel das Geld aus der Tasche ziehen.»

«Aber sie hat die Wahrheit gesagt, ich werde wirklich auswandern.»

«Kunststück! Jeder Fremde hier im Hafenviertel will weg. Du solltest dich künftig besser in Acht nehmen.»

Kleinlaut schob ihr Josef die Geldstücke zu. «Hier, für das Abendessen.»

«Behalte es, du wirst es brauchen können. Lass dir morgen früh eine warme Milch vom Küchenmädchen geben, und dann will ich dich hier nicht mehr sehen.»

«Danke, Sie sind sehr gut zu mir.»

«Unsinn», gab sie ruppig zurück und verschwand in der Küche.

Josef ging in die Kammer und machte sein Nachtlager zurecht. Jetzt erst spürte er, wie erschöpft seine Glieder von der langen Reise waren. Von Rotenburg bis Melsungen war er gewandert, immer an den Windungen der Fulda entlang. Dann hatte ihn ein mitleidiger Bauer auf seinem Karren bis Kassel mitgenommen, wo er erfahren musste, dass eine Bahnfahrt dritter Klasse nach Hamburg ein Vermögen kostete. Dann werde ich mich eben in einem Gepäckwagen verstecken, hatte er gedacht und sich abwartend auf den Bahnsteig gesetzt, als ihn ein Mann um Hilfe beim Verladen seines Gepäcks bat. Er und seine Familie – eine freundliche Frau, vier kleine Kinder und dazu noch die Schwiegermutter – seien auf dem Weg nach Hamburg, von wo aus sie eine Überfahrt nach Nordamerika gebucht hätten. Ihren gesamten Hausrat trugen diese Leute mit sich, und der Mann jammerte, dass sie bis zum Hafen dreimal umsteigen müssten. Geistesgegenwärtig war Josef der Gedanke gekommen, sich als Gepäckträger und Aufpasser für die gesamte Reise anzubieten, wenn ihm die Fahrkarte bezahlt würde. Zu seinem Erstaunen hatte der Mann eingewilligt.

Unter seiner schweren Decke wälzte Josef sich hin und her. Die Luft war stickig, aus der Küche drangen Geschirrgeklapper und der Geruch nach altem Bratfett herüber. Obwohl er die letzten Tage kaum geschlafen hatte, fand er keine Ruhe. Was hatte das zu bedeuten, das Gerede der Wahrsagerin von Holz und von Wäldern? Wusste sie denn, wie es in Chile aussah? Er dachte an die kühlen Uferwälder in seiner Heimat, wo er so oft mit Lisbeth, seiner jüngsten Schwester, herumgestromert war, und fühlte sich plötzlich unerträglich einsam. Zu Hause würden sie jetzt um den Eichenholztisch sitzen, die Mutter mit dem Austeilen der Suppe beschäftigt, während Anne, die Älteste, ihre Handarbeit zur Seite legte und die beiden Jüngsten, Lisbeth und Eberhard, vom Vater ermahnt würden, still zu sitzen. Der Vater – die alte Wut stieg in Josef hoch. Er war an allem schuld.

Nie hatte Josef es ihm recht machen können, und nachdem Raimund von zu Hause weggelaufen war, war alles nur noch schlimmer geworden. Josef wäre gern Tischler geworden, wie Onkel Emil, der jüngere Bruder seiner Mutter. Doch der Vater hatte es verboten. Sogar wenn er die Schule besuchte, hatte sein Vater ihn jedes Mal beschimpft: Josef müsse eines Tages den Hof übernehmen, und dazu brauche er sich das Hirn nicht mit solch nutzlosem Zeug vollzustopfen. Mehr als einmal hatte Josef Prügel bezogen, als er nach dem Vormittagsunterricht zu spät zur Feldarbeit gekommen war. Doch er war fest entschlossen, niemals Ackerbauer wie sein Vater zu werden. Dieses ewige Darben und Schuften, ohne je Erfolg ernten zu können. Nach den letzten drei Missernten hatte sich der Vater verschuldet und einen Teil seines Landes verkaufen müssen. Gerade mal elf Morgen waren ihm noch geblieben, steiniges Land, an dem der Pflug zerschrammte und dessen magere Erträge die Familie nicht satt machten.

«Warum gehen wir nicht mit Onkel Emil nach Chile?», hatte Josef seinen Vater einmal gefragt. «Dort geben sie fruchtbares Land an die Siedler. So viele Familien aus Rotenburg sind schon dort, und alle hier im Ort reden davon, wie gut es ihnen geht.» Raimund erwähnte er wohlweislich nicht.

«Hör auf damit! Hier ist unser Grund und Boden, hier sind unsere Wurzeln. Schon mein Großvater hat diese Scholle als freier Bauer bewirtschaftet. Und was Emil Kießling betrifft», seine Stimme wurde lauter, «der ist ein Taugenichts, genau wie dein Bruder Raimund. Weder als Tischlergeselle noch als Bauer kommt er auf einen grünen Zweig – nur deshalb haut er ab nach Amerika.»

«Und wir? Kommen wir etwa auf einen grünen Zweig? Uns geht es doch Jahr für Jahr schlechter. Noch so eine Missernte, und wir enden alle als Tagelöhner. Oder noch Schlimmeres.»

Eine schallende Ohrfeige brachte Josef zum Schweigen. Im Beisein des Vaters durfte über dieses Thema nie wieder gesprochen werden.

Doch der hässlichste Vorfall, der für Josef das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, lag erst eine gute Woche zurück. An jenem heißen Tag Anfang Juli hatten sie in aller Eile die Heuernte eingefahren, da ein Gewitter aufzog. Gerade noch rechtzeitig – denn kaum hatte der Wagen in der Scheune Schutz gefunden, brach das Unwetter los, und ein Platzregen verwandelte den Hof in eine Schlammwüste. Nachdem das Heu abgeladen und das Pferd versorgt war, versammelten sich alle in der Küche, wo Lisbeth das Vesper gerichtet hatte.

«Das Ausbessern der Zäune können wir für heute vergessen», knurrte der Vater mit einem unwilligen Blick nach draußen, wo der Wolkenbruch inzwischen in feinen Nieselregen übergegangen war. Josef war das recht.

Seit einigen Monaten hatte er jede freie Minute in der Tischlerei verbracht, wo Onkel Emil als Geselle arbeitete. Der Meister hatte bald erkannt, wie geschickt sich der Junge anstellte, und ihm alte Möbel zum Ausbessern überlassen. Es war nicht viel, was Josef mit dieser Arbeit verdiente, doch seine Sparbüchse füllte sich stetig. Spätestens bis zum nächsten Frühjahr wollte er genug Geld beisammenhaben, um seinen Vater mit einem neuen Pflug zu überraschen. Aber dann hatte ihm der Vater verboten, weiterhin zu Emil in die Werkstatt zu gehen; er war wütend darüber, dass sein Schwager ihm mit seinen Auswanderungsplänen den Kopf verdrehte.

Josef biss sich auf die Lippen. Wenn er sich jetzt kurzerhand aus dem Staub machte, konnte er vielleicht noch die Kommode fertig bekommen, für die er sich einen großen Batzen Geld versprach. Außerdem war es Emils letzter Arbeitstag, übermorgen würden er und seine Familie die große Reise antreten.

An der Stalltür fing ihn der Vater ab.

«Wohin willst du?»

Josef stotterte, suchte nach einer Ausrede. Dann fiel sein Blick auf die Feile in seiner Hand, und er schwieg.

«Du wolltest also wieder in die Werkstatt?» Die Augen des Vaters blitzten vor Zorn, als er dem Jungen die Feile aus der Hand riss und auf den dampfenden Misthaufen schleuderte.

«Gib Antwort, wenn ich dich etwas frage! Du wolltest in die Werkstatt?»

«Ja.»

Der Vater versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige.

«Habe ich dir das nicht verboten?»

«Ja.»

Die zweite Ohrfeige ließ Josef stolpern, und er rutschte der Länge nach in den Schlamm.

«Glaubst wohl, du bist zu was Besserem geboren?»

Hart packte der Vater ihn am Arm und schleifte ihn in das Halbdunkel des Stalls.

«Zieh dein Hemd aus und dreh dich zur Wand!»

Josef hörte das Klackern der Gürtelschnalle, dann ein Sirren, als der Vater den Gürtel aus dem Hosenbund löste. Der erste Schlag war der schlimmste. Er brannte wie Feuer, und vor seinen Augen tanzten kleine Funken. Josef biss sich die Lippen blutig, stöhnte nur leise bei jedem Schlag. Er spürte, wie es warm seinen Rücken herunterrann. Dann herrschte Stille.

Ohne den Kopf zu wenden, stieß Josef hervor: «Kein Wunder, dass mein Bruder weggelaufen ist. Bei der vielen Prügel! Oder gab es noch einen anderen Grund?»

«Halt den Mund, verdammt nochmal!»

«Ich werde ihn suchen gehen. In Chile. Das schwör ich dir.»

«Dann bist du nicht mehr mein Sohn!»

Und du bist nicht mehr mein Vater, dachte Josef, als er jetzt, acht Tage später und weit weg von daheim, den schrecklichen Streit wieder vor Augen hatte. Verzeih mir, Mutter, flüsterte er in die Dunkelheit. Aber ich lasse dich nicht im Stich. Er ballte die Hände zu Fäusten. Ich werde Raimund wiederfinden, und wir werden so viel Geld verdienen, dass du nicht mehr nächtelang die Kleidung fremder Leute flicken musst.

In diesem Gedanken lag etwas Tröstliches. Mit tränenverschmiertem Gesicht schlief Josef endlich ein.

 

Die Sonne brannte auf die engen, nach Urin und Fisch stinkenden Gassen. Verschwitzt setzte sich Josef auf den Rand eines Brunnens. Er war enttäuscht. In sieben Wirtshäusern hatte er bereits nach seinem Onkel gefragt und überall nur ein Kopfschütteln zur Antwort bekommen. Seine Kehle war staubtrocken, und er beschloss, sich in der kleinen Schänke gegenüber ein Zitronenwasser zu leisten.

Der redselige Wirt hatte ihn wohl gleich als Fremden erkannt und fragte ihn nach seinen Plänen aus. Bereitwillig erzählte Josef, dass er auf der Suche nach seinem Onkel und dessen Familie sei, die nach Chile auswandern wollten, und dass sein ältester Bruder bereits dort lebe.

«Hast du es schon mal in den Logierhäusern versucht?», fragte der Wirt und schenkte ihm nach.

«Logierhäuser?» Josef hatte davon noch nie gehört.

«Na, du scheinst mir ja kein Auswanderer zu sein. Pass auf: Wenn du nach Übersee willst, steigst du nicht einfach mit deinem Bündel auf ein Schiff. Da müssen eine Menge Dinge erledigt werden. Die Passage muss bei der Reederei bestätigt und bezahlt sein, dazu gehört ein Haufen Papierkram. Dein Hab und Gut wird erfasst und im Speicher der Reederei bis zur Abfahrt gelagert. Reiseutensilien und Proviant müssen in Spezialgeschäften gekauft werden, und natürlich braucht man ein kommodes Zimmer bis zur Abfahrt, zum Beispiel in einem Logierhaus für Auswanderer, wo sich meist gleich ein Warenmagazin befindet. Wer gescheit ist, überlässt die ganze Rennerei und Sucherei einem Agenten und macht sich ein paar schöne Tage in Hamburg.»

«Kennen Sie solche Agenten?»

«Natürlich. Woher, sagst du, stammt deine Familie? Aus Kurhessen?»

«Ja, aus Rotenburg.»

«Da waren vorgestern welche hier. So ein großer, dünner Mann, etwa Mitte zwanzig, mit Frau und zwei kleinen Kindern, denen habe ich einen Agenten vermittelt.»

«Das könnten sie sein», rief Josef und sprang auf. «Hatten sie einen Hund dabei?»

«Genau, so einen struppigen schwarz-weißen Köter. Erinnere mich nicht dran, der hat mir vor dem Tresen den Boden vollgekotzt.»

Eilig schulterte Josef sein Bündel und ließ sich den Weg zum Logierhaus erklären. Dann bezahlte er – nicht ohne sich zu wundern, wie hoch in Hamburg der Preis für ein Zitronenwasser war – und stürzte hinaus. Als er schließlich vor dem Tor des hohen Klinkerbaus stand, krampfte sich sein Magen zusammen. Was, wenn ihn Onkel Emil wieder nach Hause schickte?

Für weitere Grübeleien blieb aber keine Zeit, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein stutzerhaft gekleideter Mann stieß den Jungen beinahe um. Dahinter erschien die lange Gestalt seines Onkels.

«He, pass doch auf!», schnauzte der Mann in Frack und Zylinder Josef an.

«Was zum Teufel machst du denn hier?», polterte Emil los.

«Ich komme mit euch.»

«Bist du von allen guten Geistern verlassen?»

«Was ist nun?», unterbrach sie der andere Mann und zupfte ungeduldig an seinen Koteletten. «Soll ich Sie jetzt ins Warenmagazin bringen oder nicht?»

«Passt es Ihnen in einer halben Stunde? Ich muss mich erst um meinen Neffen kümmern.» Emil ballte seine Faust vor Josefs Nase. Josef unterdrückte ein Grinsen. Onkel Emil konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, das wusste er.

«Sagen wir: in zwei Stunden. Aber keine Minute später, ich habe schließlich noch andere Klienten.» Dann tänzelte der Agent wieder ins Haus zurück.

«Aufgeblasener Geck», knurrte Emil und wandte sich dann seinem Neffen zu. «Wissen deine Eltern, dass du hier bist?»

«Nein.»

An jenem Abend, als ihm der Vater den Rücken blutig geprügelt hatte, war Josef klargeworden, dass er von zu Hause fortmusste. Nur Lisbeth war in seine Pläne eingeweiht. Die Mutter hätte seine Entscheidung zwar verstanden, dessen war er sich sicher. Doch er war zu feige gewesen, es ihr zu sagen, denn er ertrug es nicht, sie weinen zu sehen.

«Herr im Himmel – dann bist du einfach ausgerissen? Was soll das?»

«Ich werde mit euch nach Chile segeln.»

«Und von welchem Geld willst du die Passage bezahlen, bitte schön?»

«Ich hab über dreißig Taler gespart. Eigentlich wollte ich Vater davon einen neuen Pflug kaufen …» Josefs Stimme begann zu zittern.

Ein Anflug von Mitleid zeigte sich auf Emils Gesicht. Dann räusperte er sich. «Gehen wir hinein. Luise wird nicht sehr begeistert sein.»

Winselnd sprang der Hund an Josef hoch, als er die Kammer betrat, und Katja und Hänschen fielen ihrem Vetter um den Hals. Seine Tante Luise schimpfte minutenlang, ohne Luft zu holen, um ihn schließlich in ihre fleischigen Arme zu nehmen.

So lang und dürr Emil war, so klein und rundlich war Luise. Sie hatte braune Kinderaugen über runden, rosigen Wangen, einen ausladenden Busen über breiten Hüften, selbst die Waden hatten etwas Kugelrundes. Nur die Fesseln waren schlank wie bei einem Rennpferd. Als Kind hatte sich Josef manchmal vor dem energischen Temperament seiner Tante gefürchtet, doch inzwischen mochte er sie gern, auch wenn sie so anders als seine Mutter war.

«Dir ist wohl klar, dass wir dich nach Hause schicken müssen», sagte sie ernst. «Kannst doch nicht einfach ausreißen! Außerdem: Wir haben keinen Groschen zu viel, dafür zwei kleine Kinder und einen unnützen Hund. Und da sollen wir dich auch noch durchfüttern?»

«Ich arbeite für euch. Tischlern, pflügen, Holz hacken – ich mache alles, was ihr wollt. Und wenn ich erst Raimund gefunden habe, seid ihr mich wieder los.»

Luise kniff die Augen zusammen. «Weißt du eigentlich, wie groß Chile ist? Wie willst du deinen Bruder da finden?»

«Na ja, irgendwer von den Rotenburgern wird schon wissen, wo er steckt.»

«Hat man so was Verrücktes schon gehört? Und was ist mit deinen armen Eltern? Die werden vor Sorge umkommen. O nein, mein Lieber, morgen früh geht’s ab nach Hause.»

«Bitte, Tante Luise! Vater ist doch froh, wenn er einen Esser weniger am Tisch hat. Und Mutter –» Er spürte wieder die Tränen aufsteigen und schluckte. «Lisbeth wird ihr schon sagen, wo ich bin. Wisst ihr, wie sehr Mutter euch beneidet, weil ihr den Mut habt auszuwandern? Wenn ich erst auf eigenen Füßen stehe, werde ich sie und Lisbeth nachholen. Und die anderen Geschwister natürlich auch.» Nur Vater nicht, dachte er. Der würde sowieso lieber in seiner armseligen Hütte verrecken, als etwas Neues zu wagen.

«Prahlhans!» Emil verpasste ihm eine Kopfnuss. Dann wandte er sich an seine Frau: «Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee ist, den Jungen zurückzuschicken. Kennst doch meinen Schwager – bei ein paar Maulschellen wird’s da nicht bleiben.»

Luises Blick wurde unsicher. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. «Macht, was ihr wollt. Aber meinen Segen habt ihr nicht!»

«Ihr nehmt mich also mit!» Stürmisch gab Josef seiner Tante einen Kuss. Die schob ihn von sich weg.

«Worauf wartet ihr beiden noch? Morgen geht das Schiff ab, also erkundigt euch, ob noch ein Platz frei ist.»

Auf dem Weg zum Hafen fragte Josef seinen Onkel nach dem Mann, der die Tür geöffnet hatte.

«Den hat uns ein Kneipenwirt aufgeschwatzt. Ich hab das dumme Gefühl, dass dieser Agent ein Halsabschneider ist. Hast du dir die schäbige Mansarde angesehen, in der wir schlafen? Voller Spinnweben und altem Gerümpel, dazu stinkt es nach Mäusedreck. Zwanzig Mark will er für die drei Nächte. Zu diesem Preis könnten wir in Rotenburg zwei Wochen im Löwen wohnen. Und als er aufgezählt hat, was wir alles an Gerätschaften und Ausrüstung für die Überfahrt brauchen, ist mir ganz schwindlig geworden.»

Vor dem flachen Gebäude der Schiffskontoren, in dem ein Bureau ans andere gereiht war, blieb Emil stehen und scharrte mit der Schuhspitze im Staub.

«Bevor wir da reingehen – hast du es dir gut überlegt? Ich meine, niemand weiß, was uns in Chile erwartet, in einer Gegend, wo noch Wilde wohnen und die Erde von Urwald bedeckt ist. Es wird harte Knochenarbeit sein, vielleicht auf Jahre hinaus.»

Josef zuckte die Schultern.

«Das macht mir nichts aus. Und besser als bei uns wird es allemal sein. Hast du denn vergessen, was der Mann vom Auswandererverein uns damals erzählt hat?»

Hunderte von Tagelöhnern, Kleinbauern und Handwerkern waren zu der Versammlung der kurhessischen Auswanderungsgesellschaft geströmt, zu der ihn Onkel Emil mitgenommen hatte. Der Redner, ein Hüne von Mann, der vor Gesundheit und Energie nur so strotzte, war im Auftrag von Vicente Pérez Rosales, dem chilenischen Kolonialdirektor, nach Hessen gesandt worden, um arbeitswillige Familien zur Auswanderung nach Südchile zu bewegen. Ein riesiges Stück Land, fern der Indianergebiete, an einem See mit dem unaussprechlichen Namen Llanquihue sollte urbar gemacht und besiedelt werden. In den schönsten Farben schilderte er das «Italien Südamerikas», das unerschöpfliche Reichtümer biete und in dem bereits unzählige blühende Landgüter entstanden seien. Er sprach von fruchtbaren Böden, dem äußerst gesunden Klima, das weder Gewitter noch Hagel kenne, sondern nur warme Sommer und milde Winter. Einem Paradies gleich, gebe es weder tödliche Fieber noch giftige Insekten oder Raubtiere, und daher sei dieses Land allen anderen Ländern Amerikas vorzuziehen.

«Gottes Beistand und der Fleiß der Siedler wird dieser Provinz Wohlstand bringen und ein blühendes Deutschland entstehen lassen. Kommen Sie ins freie Amerika – dort finden Sie eine bessere Zukunft als hier in Kurhessen», waren seine abschließenden Worte gewesen.

Josef konnte sich gut daran erinnern, wie beeindruckt Emil von den günstigen Konditionen gewesen war. Die chilenische Regierung verpflichtete sich zur Übergabe einer Landparzelle von vierzig Hektar für jede Familie und zwanzig Hektar für jeden Sohn über zwölf Jahre sowie eines Gespanns Ochsen – alles zahlbar in zehn Jahresraten und zu einem Preis, für den man hier höchstens vier Morgen Viehweide bekam. Darüber hinaus würden jeder Familie kostenlos Baumaterial und Saatgut, drei Milchkühe, fünf Schafe und ein Pferd zur Verfügung gestellt. Als Gegenleistung verpflichteten sich die Kolonisten lediglich, die Parzellen zu bebauen und zu bewirtschaften, und sie mussten sich als erfahrene Landwirte ausweisen können.

«Wenn du mich als deinen Sohn mitnimmst, bekommst du noch zwanzig Hektar dazu», hatte ihm Josef damals ernsthaft vorgeschlagen. Seitdem war ihm der Gedanke, seinem Bruder nach Chile nachzufolgen, nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

Erwartungsvoll sah er jetzt, sozusagen am Ziel seiner Träume, den Onkel an.

Emil Kießling sog hörbar die Luft ein. «Gut. Dann gehen wir hinein und buchen deine Überfahrt.»

Beinahe feierlich klangen seine Worte.

Sie betraten einen winzigen, kahlen Raum, in dem sich ein gutes Dutzend Menschen drängte. Hinter einer mit Papieren und Büchern beladenen Theke saß ein glatzköpfiger Mann. Es dauerte lange, bis sie an der Reihe waren.

«Womit kann ich dienen?» Aus kurzsichtigen Augen blinzelte der Mann Emil an.

«Meine Familie und ich haben für die Helene nach Chile gebucht. Ich wüsste gern, ob noch ein Platz für meinen Neffen frei ist.»

«Sie sind reichlich spät dran, die Helene läuft morgen aus.»

Er zog einen dicken Stapel Papier, der von einem Bindfaden zusammengehalten wurde, zu sich heran. Mit der Linken blätterte er, mit der Rechten kratzte er sich Schorf vom kahlen Schädel.

«Wollen mal sehen, wollen mal sehen. Ja, ein Kajütenplatz ist noch frei. 147 Taler kostet die Passage.» Josef spürte, wie der Mann seine ärmliche Kleidung geringschätzig musterte.

Emil wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Wir dachten eher an eine Passage im Zwischendeck.»

«Tut mir leid, das Zwischendeck ist seit Wochen ausgebucht.»

«Nun, äh, danke!»

«Nichts für ungut. In etwa drei Wochen läuft die Herrmann nach Chile aus, vielleicht haben Sie da mehr Glück.» Dann brummte er etwas wie «von heut auf morgen auswandern wollen» und schüttelte den Kopf.

Emil schob den erstarrten Josef mit sanftem Druck hinaus.

«Ich kann nicht zurück. Vater schlägt mich tot», stieß Josef endlich hervor. Er ließ sich auf den schmutzigen Bürgersteig sinken und starrte schweigend vor sich hin. Hilflos ging Emil vor ihm auf und ab. Ganz offensichtlich wusste er auch keinen Rat.

«Josef, mein Junge, ich hab’s.» Emil blieb plötzlich stehen. «Du gehst nach Kassel zu Luises Bruder. Der sucht einen Lehrjungen für seine Schlosserei.»

Wütend sprang Josef auf.

«Ich will nach Chile!» Mit hochrotem Kopf schüttelte er den Arm seines Onkels ab.

In diesem Moment klopfte der glatzköpfige Mann aus dem Kontor von innen an das Fenster und winkte aufgeregt mit den Händen.

«Meint er uns?» Verständnislos sah Josef auf das feiste Gesicht hinter der Scheibe.

«Los, komm», rief Emil und zerrte seinen Neffen zurück in das Bureau.

«Da haben Sie aber Glück!» Der Mann thronte hinter seiner Theke wie ein türkischer Pascha und grinste über sein breites Gesicht.

«Ich kann Ihnen die freudige Mitteilung machen, dass soeben ein Herr seine Passage auf der Helene storniert hat. Hat es wohl mit der Angst zu tun bekommen.» Dabei kicherte er.

«Hurra!», schrie Josef. Die Leute im Kontor drehten sich erstaunt um.

«Das macht 68 Taler. Bitte jetzt gleich.»

«Aber so viel Geld hab ich nicht», flüsterte Josef seinem Onkel erschrocken zu.

«Ist schon in Ordnung. Gib ihm, was du hast.»

Josef leerte seinen Geldsack auf die Theke. Lauter kleine Münzen. Sichtlich angewidert verdrehte der Kahlkopf die Augen und begann zu zählen.

«Sechsundzwanzig, siebenundzwanzigeinhalb, achtundzwanzig Taler!» Das restliche Kleingeld schob er dem Jungen wieder hin und nahm hastig die vierzig Taler, die Emil aus der Tasche gezogen hatte, an sich.

«So, und nun zu den Formalitäten. Wie heißt Ihr Sohn?»

«Er ist mein Neffe. Josef Scholz heißt er.»

«Wie alt?»

«Fünfzehn.»

«Sind Sie der Vormund?»

«Nein.»

«Dann braucht er noch die Einwilligung seines Vaters oder Vormunds. Hier, auf diesem Papier.»

Josef war bei diesen Worten zusammengezuckt.

«Ist das so wichtig?», stotterte Emil. «Ich meine, wo es doch so eilt …»

«Nun, bei der Einschiffung wird auf so was nicht allzu sehr geachtet, aber für die chilenischen Behörden ist das Papier bei Minderjährigen unerlässlich.»

Hastig riss ihm Josef das Formular aus der Hand.

«Ich laufe eben zu Vater ins Logierhaus und lass es unterschreiben. Können Sie mir einen Stift mitgeben?»

«Recht so, Junge. Aber komm schnell zurück, sonst muss ich die Passage anderweitig vergeben.»

Als sie auf der Straße standen, begann Emil zu schimpfen.

«Du bringst uns noch in Teufels Küche. Das ist Urkundenfälschung, was du vorhast.»

«Ich muss mit nach Chile, Onkel Emil, verstehst du das nicht? Was zählt da schon so ein blöder Papierfetzen.»

Er zog Emil in einen Hauseingang und ahmte die krakelige Unterschrift seines Vaters nach. Dann rannte er zurück ins Schiffskontor.

 

«Ihr wart ja Ewigkeiten unterwegs», begrüßte Luise die beiden, als sie zwei Stunden später die stickige Mansarde betraten. Und mit einem Blick auf Josefs strahlendes Gesicht fügte sie hinzu: «Wie ich sehe, ist alles gutgegangen. Beeilen wir uns, der Agent wartet nebenan im Magazin. Er war ziemlich ungehalten, weil ihr nicht pünktlich zurück wart.»

Das Magazin war ein hoher, dunkler Raum mit Regalen bis unter die Decke. Das Angebot reichte von Backobst und Dauerwurst über Essgeschirr bis hin zu Matratzen und modernen Klappstühlen. Der Agent bekam leuchtende Augen, als er sie an den Regalreihen entlangführte.

«Beginnen wir mit den Lebensmitteln. Ich rate Ihnen: Decken Sie sich reichlich mit Proviant ein. Bis nach Chile sind Sie drei Monate unterwegs, und erfahrungsgemäß ist die Verpflegung an Bord mäßig bis ungenießbar.»

Luise erstarrte beim Anblick der Preise, mit denen die Ware ausgezeichnet war. «Das ist ja dreimal so teuer wie in Rotenburg», sagte sie leise zu ihrem Mann, und Josef sah verunsichert zu Boden. Ihm wurde klar, welches Loch die vierzig Taler für seine Überfahrt in ihre Reisekasse gerissen haben mussten.

«Danke, aber mit Proviant sind wir reichlich ausgestattet», wandte Luise sich an den Agenten. Josef ahnte, dass das gelogen war.

«Was Sie aber unbedingt brauchen, sind gute Matratzen. Diese hier sind extra nach den Maßen der Kojen gearbeitet. Ich versichere Ihnen, Sie schlafen darin wie in einem Himmelbett.»

«Und ich versichere Ihnen, die sind spätestens in vier Wochen verschimmelt», flüsterte eine Stimme hinter ihnen. Josef sah sich um. Im Halbdunkel stand dort ein schmächtiger Mann mit dicker Nickelbrille und schütterem Bart, dunkle Locken hingen ihm wirr in die Stirn.

«Gestatten: Mein Name ist Armbruster, Paul Armbruster.» Mit einem Seitenblick auf den Agenten, der inzwischen mit Emil weitergegangen war, sagte er leise: «Kaufen Sie nichts in diesem Magazin, alles überteuert und von schlechter Qualität. Die Auswanderer werden inzwischen ausgenommen wie die Weihnachtsgänse.»

Der Agent wandte sich um und warf Armbruster einen drohenden Blick zu.

«Aber ich weiß nicht … Wir hatten ihm versprochen, sein Warenangebot zu prüfen und …», flüsterte Luise ebenso leise.

«Lassen Sie mich nur machen», unterbrach Armbruster sie und ging mit festem Schritt auf den säuerlich dreinblickenden Agenten zu. Gespannt beobachteten Josef und Luise den kurzen Disput zwischen den beiden. Die Worte «Kontrakt» und «Advokat» fielen einige Male, dann verstummte der Agent.

«Alles in Ordnung, kommen Sie.» Armbruster zwinkerte Josef und den Kindern zu und eilte Richtung Ausgang. Die Familie folgte ihm wie eine Schafherde dem Leithammel.

Draußen fragte Luise ungehalten: «Wieso mischen Sie sich in unsere Angelegenheiten ein? Ob man uns nun übervorteilen wollte oder nicht, sei dahingestellt. Aber wer sagt, dass wir Ihnen trauen können?»

«Verzeihen Sie vielmals, gnädige Frau.» Der Mann wirkte zerknirscht. «Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, ich dachte nur … nun, als ich Sie vorhin auf der Straße vor dem Magazin sah, war ich mir gleich sicher, dass Sie auswandern wollen und in die Fänge eines dieser Wucherer geraten sind. Da bin ich Ihnen gefolgt und …»

«Das wird ja immer schöner!» Luise stemmte die Arme in die Seite. «Jetzt werden wir auch noch von Ihnen verfolgt.»

Josef verstand nicht, warum sich seine Tante so feindselig gebärdete. Ihm gefiel dieser freundliche Herr, der etwas Linkisches, Jungenhaftes an sich hatte, obwohl er sicher um einiges älter als Onkel Emil war.

«Jetzt mach mal langsam, Frau», verteidigte Emil den unglückseligen Armbruster. «Ich finde es sehr nett von dem Herrn, dass er uns helfen will. Wir sind fremd hier, kennen uns weder mit den Preisen noch mit den Gepflogenheiten aus, da können wir jeden Ratschlag gut gebrauchen.» Er wandte sich an den unerwarteten Helfer. «Entschuldigen Sie, meine Frau meint das nicht so, manchmal geht ihr einfach der Gaul durch.»

«Und du lässt dich von jedem beschwatzen: erst vom Wirt, dann von diesem Agenten und jetzt vielleicht auch noch von diesem vornehmen Herrn.» Luise schnaubte.

«Vornehmer Herr?», wiederholte Armbruster sichtlich verlegen und rückte seine Brille zurecht, die ihm ständig auf die Nasenspitze rutschte. «Ich bitte Sie. Ich bin ein einfacher Buchhändler aus Kassel und auf dem Weg nach Chile, wo das Leben hoffentlich ein wenig angenehmer ist als in Deutschland.»

«Dann sind wir ja Landsleute!», rief Emil. «Und wir wollen auch nach Chile, morgen, mit der Helene.»

«Das ist schön. Dann reisen wir zusammen.» Armbruster sah Luise eindringlich an. «Vertrauen Sie mir, gnädige Frau.»

«Ach, lassen Sie doch das ‹gnädige Frau›. Luise Kießling ist mein Name.»

«Vertrauen Sie mir, liebe Frau Kießling. Lassen Sie uns gemeinsam zu Herrn Fries am Neuen Wall gehen. Dort gibt es Matratzen, die der Feuchtigkeit auf See widerstehen und nur den halben Preis kosten. Was haben Sie für Geschirr dabei?»

«Verzinktes Blech.»

«Gut so. Dann lassen wir bei einem Spengler Ihren Namen einschlagen, sonst geht es bei dem Durcheinander auf dem Zwischendeck gleich verloren. Als Zusatzproviant empfehlen sich Kaffee, Salz, Zucker, Backobst und Zitronen.»

«Sind Sie schon einmal ausgewandert?» Zum ersten Mal richtete Josef das Wort an den Buchhändler.

Der lachte herzhaft.

«Nein, mein Junge. Das macht man im Leben wohl nur ein einziges Mal. Ich weiß nur, dass Betrug und Prellerei in den Überseehäfen inzwischen an der Tagesordnung sind. Kennst du Carl Schurz?»

Josef schüttelte den Kopf.

«Macht nichts. Ist ein Bekannter von mir, der ist vor kurzem erst nach England, von dort dann weiter nach Nordamerika gegangen. Vielleicht erzähle ich dir ein andermal mehr von ihm. Ich war ihm bei den Reisevorbereitungen behilflich und konnte dabei eine Menge wertvoller Erfahrungen sammeln. In jedem Fall hüte man sich vor den Empfehlungen von Gastwirten und Kommissionären. So sollte man –»

«Gehen wir also zu diesem Herrn Fries», unterbrach Luise seinen Redeschwall. «Es ist höchste Zeit.»

2

it ihren prallen Segeln ließ die stattliche, etwas gedrungene Dreimastbark die Deutsche Bucht rasch hinter sich und nahm Kurs auf die Straße von Dover. Paul Armbruster lehnte an der Reling. Die Gischt, die am Bugspriet emporspritzte, kühlte seine Wangen. Nur zu, altes Schiff, dachte er, bring mich weg von diesem unseligen Land. Sieben Tage war die Helene wegen konträrer Winde zunächst auf der Elbe herumgedümpelt wie ein schläfriges Tier, und Armbruster hatte den Anblick des nahen Ufers kaum noch ertragen. Jetzt spürte er, wie der Druck und die Unruhe, die in den letzten Monaten auf ihm gelastet hatten, allmählich nachließen.

Leise summte er das Lied vor sich hin, das sie bei der Abfahrt in die kühle Morgenluft geschmettert hatten:

Nun ist die Scheidestunde da,

Wir reisen nach Amerika.

Die Wagen steh’n schon vor der Tür,

Mit Weib und Kind marschieren wir.

Ich aber marschiere allein, ohne Weib und Kind, dachte Armbruster, und um seine Mundwinkel erschien ein bitterer Zug.

«Störe ich?»

Mit einem scheuen Lächeln stellte sich Josef neben ihn, Max, der kleine schwarz-weiß gefleckte Hund, folgte ihm dicht auf den Fersen.

«Aber nein! Ich freue mich, wenn du mir Gesellschaft leistest.»

Armbruster betrachtete den schmächtigen Jungen mit den zerzausten hellbraunen Haaren. Das feingeschnittene, schmale Gesicht hatte noch etwas Kindliches, doch in den Augen blitzten Neugier und Willenskraft. Er könnte mein Sohn sein, hat das gleiche Alter wie August, dachte Armbruster, und bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Er wandte den Blick ab und sah wieder hinaus auf die gischtbesetzten Wellen.

«Wir gewinnen an Fahrt, nicht wahr?», fragte Josef.

«Macht dir das Angst?»

«Nein, im Gegenteil.» Josef lachte. «Endlich kommen wir voran.»

«So sehe ich es auch. Aber ich fürchte, demnächst wird es hier von Reisenden wimmeln, die es in ihren stickigen Kojen nicht mehr aushalten. Und denen es nicht allzu gut gehen wird.»

Armbruster behielt recht. Aus dem frischen Wind wurde bald eine steife Brise, und die Helene schlingerte wie betrunken durch die zerwühlte See. Die ersten Seekranken klammerten sich an die Reling und würgten und spuckten.

«Spart euch das auf, bis wir Kap Hoorn passieren und in einen richtigen Sturm kommen», spotteten die Matrosen und kletterten in die Rahen, um die ersten Segel zu reffen.

«Angesichts der menschlichen Biologie verwischen sich die Standesunterschiede recht schnell.» Armbruster deutete hinüber zum Achterdeck. Aus den Kammern der Kajüte wankten drei Damen in vornehmen Reifröcken und übergaben sich im Schutz ihrer pastellfarbenen Sonnenschirmchen.

«Wo sind eigentlich deine Tante und dein Onkel?»

«Unter Deck bei den Kindern. Ich glaube, Onkel Emil hat es auch erwischt.»

«Du bist gegen den Willen deines Vaters mitgekommen, nicht wahr?»

«Nun ja – er hätte mich niemals fortgelassen.» Josef zögerte. «Eigentlich sollte ich darüber nicht sprechen. Meine Tante hat Angst, dass sie sonst Schwierigkeiten bei der Einwanderungsbehörde bekommen. Aber Ihnen kann ich doch vertrauen, oder?»

Armbruster nickte. «Ich kann schweigen wie ein Grab.»

Josef berichtete stockend und in knappen Worten von den schrecklichen Auseinandersetzungen mit seinem Vater und wie er schließlich Hals über Kopf von zu Hause weggelaufen war. «In Chile», schloss er seinen Bericht, «will ich meinen Bruder Raimund wiederfinden, der dort lebt.»

Armbruster zog überrascht die Augenbrauen hoch. «Du hast einen Bruder, der nach Chile ausgewandert ist? Deine Tante und dein Onkel haben ihn nie erwähnt.»

«Wir haben ja nie wieder von ihm gehört. Tante Luise meint, dass er vielleicht ganz woanders steckt, denn er hätte nie und nimmer das Geld für die Überfahrt gehabt. Aber zu mir hat Raimund gesagt, dass er nach Chile will, weil er damit weit genug weg von unserem Vater ist.»

«Und wann war das?»

«Vor drei Jahren, als ein paar Familien aus unserem Ort sich dorthin auf den Weg gemacht haben.»

Mit belegter Stimme erzählte er von jener stürmischen Aprilnacht, in der er erwacht war und seinen Bruder angezogen neben seinem Bett stehen gesehen hatte. Er wolle sich verabschieden, hatte Raimund geflüstert, denn er würde am Morgen heimlich mit den Auswanderern nach Hamburg und von dort nach Chile gehen. Draußen stünden schon die Karren mit dem Gepäck bereit, und darin wolle er sich verstecken bis zum Hamburger Hafen.

«Ich wollte ihn zurückhalten, habe geheult und gejammert und gesagt, er sollte doch an unsere Mutter denken und an uns Geschwister, aber es war nichts zu machen. Und dann sagte er noch, dass er jetzt endlich wisse, warum Vater ihn hasse. Ich wollte wissen, was er damit meinte, aber es war weiter nichts aus ihm herauszubringen. Leider!»

«Wahrscheinlich ging es ihm wie dir, und er hat die ständigen Streitereien mit eurem Vater nicht mehr ausgehalten.»

«Das glaube ich nicht. Raimund hatte ein viel dickeres Fell als ich. Nein, irgendetwas war vorgefallen zwischen ihm und Vater, aber keiner in unserer Familie spricht darüber.»

Josef beugte sich zu dem Hund und kraulte ihm das struppige Fell.

«Du hast deinen Bruder sehr gern, nicht wahr?»

Josef nickte.

«Er hat mich immer beschützt. Ich war ja noch nicht mal zwölf, als er wegging, und ich wollte auch immer so stark sein wie er. Alle Burschen im Ort hatten vor ihm Respekt.»

Armbruster blickte hinüber zu den Kreidefelsen der englischen Küste, die mächtig und hell aus dem Dunst auftauchten, und schwieg.

«Da haben wir ja etwas gemeinsam, dein Bruder, du und ich», sagte er schließlich.

«Wieso? Sind Sie auch von zu Hause ausgerissen?»

«So ähnlich. Aber das erzähle ich dir ein andermal.»

In diesem Moment schlug ihm eine Hand hart auf die Schulter.

«Ist das Ihr Köter?»

Der Erste Steuermann, ein vierschrötiger Kerl namens Lars Feddersen, baute sich breitbeinig vor ihnen auf. Über seine Stirn zog sich eine hässliche Narbe, und auch sonst wirkte sein Gesicht nicht gerade vertrauenerweckend.

«Er gehört zu mir», antwortete Josef und zog Max zu sich.

«Du bindest ihn sofort am Fockmast fest», herrschte Feddersen den Jungen an. «Sonst sperre ich ihn eigenhändig in den Laderaum. Haben wir uns verstanden? Und was ist das da?»

Aufgebracht stieß er mit dem Fuß gegen ein Paar Stiefel, das neben den Wasserfässern lehnte.

Ein junger Bursche, der sich auf den Planken ausgestreckt hatte, hob den Kopf. Es war Karl, der Schlossergeselle, mit dem Armbruster seine Koje teilte.

«Das sind meine Stiefel.»

Feddersen begann zu brüllen. «Verdammt nochmal, hab ich nicht schon tausendmal gesagt, dass auf Deck nichts herumliegen darf?»

Karl stand auf und wollte seine Stiefel an sich nehmen, doch der Steuermann war schneller.

«Schaut nur alle her», schrie er. «Ich werde euch lehren, die Schiffsordnung einzuhalten.» In hohem Bogen warf er die Stiefel über Bord.

Karl stürzte auf den Steuermann zu und wollte ihn am Kragen packen.

«Noch einen Schritt weiter», blaffte Feddersen, «und ich lasse dich kielholen.»

Armbruster fuhr dazwischen. «Hör auf, Karl, das bringt doch nichts.» Dann wandte er sich an Feddersen und sagte, so ruhig es ihm möglich war: «Das kommt einem Diebstahl gleich. Wir werden uns in aller Schärfe beim Kapitän beschweren.»

«Tut das, ihr Landratten, tut das.» Feddersen lachte höhnisch und setzte seinen Rundgang fort, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Armbruster sah ihm nach. «Ich habe den Eindruck, mit diesem Mann werden wir noch häufiger Ärger bekommen.»

 

«Sie wollen sich also im Urwald ansiedeln?», fragte Armbruster.

Er hatte es sich mit Emil und Luise Kießling auf dem Vorschiff bequem gemacht. Die Helene machte bei acht bis neun Seemeilen die Stunde gute Fahrt entlang der portugiesischen Küste, und fast alle Passagiere hielten sich an Deck auf, um die milde Abendsonne zu genießen. Delphine begleiteten in anmutigen Sprüngen das Schiff. Wale, die sich in respektvoller Entfernung hielten, schleuderten hier und dort ihre Fontänen in die Luft, in Violett und Purpur schimmerten Riesenquallen unter der Wasseroberfläche.

«Nun ja.» Emil nippte an seinem Tee, der, wie alles an Bord, nach Salzwasser schmeckte. «Wenn die Böden dort tatsächlich so fruchtbar sind, lohnt sich die Mühe hoffentlich.»

«Aber wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Sie doch Tischler?»

«Das stimmt. Ich hab auch mein Werkzeug eingepackt. Aber erstens bin ich kein Meister, und zweitens werden in Chile Ackerbauern gesucht, wie uns ausdrücklich gesagt wurde.»

«Soweit ich weiß, wird dort weder nach Zunft noch nach Meisterbrief gefragt. Kommen Sie doch als Tischler mit mir nach Valdivia, dort ist das Leben einfacher als in der Wildnis. Verpflichtungen gegenüber den Chilenen gehen Sie ja erst ein, wenn Sie Ihre Parzelle erwerben. Bis dahin können Sie sich niederlassen, wo und als was Sie wollen.»

«Warten wir’s ab. Erst mal müssen wir diese verdammte Seefahrt überstehen.» Emil konnte außer Tee immer noch nichts zu sich nehmen.

«Was werden Sie in Valdivia machen?» Josef hatte sich mit Hänschen, seinem kleinen Vetter, zu ihnen gesetzt. Einmal mehr versetzte es Armbruster einen Stich, wenn er den Jungen und seine Familie so einträchtig beieinander sah.

«Er wird wahrscheinlich ein gutes Werk tun und den Indianern Lesen beibringen», mischte sich Luise ein.

Armbruster lächelte gutmütig. «Ganz falsch liegen Sie nicht. Am liebsten wäre mir natürlich eine florierende Buchhandlung, und Deutsche gibt es in dieser Provinz mittlerweile viele. Sollte ich damit jedoch keinen Erfolg haben, werde ich mich als Schulmeister verdingen.»

«Hatten Sie in Kassel auch eine Buchhandlung?», fragte Josef.

Armbruster schluckte. Dann sagte er bedächtig: «Ja, das hatte ich. Doch in Deutschland ist es eng geworden, und ein bisschen geht es mir wie dir: Mich hat auf einmal die Abenteuerlust gepackt.»

Luises Augen glitzerten belustigt. «Na, für einen Abenteurer scheinen Sie mir aber nicht der Richtige zu sein.»

Armbruster spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und ärgerte sich darüber, dass ihn diese Frau immer so schnell aus der Fassung brachte.

«Jetzt schauen Sie mich doch nicht so entgeistert an.» Luise legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm. «Ich hab das nicht so gemeint. Ich wollte damit nur sagen, dass die meisten auf dem Zwischendeck hier Handwerker und Bauern sind, einfache Leute, nicht so gelehrt wie Sie. Wussten Sie übrigens, dass die ersten deutschen Siedler, die vor sechs Jahren nach Chile auswanderten, Familien aus unserem Rotenburg waren?»

Ein fast kindlicher Trotz stieg in Armbruster auf. «Ja, das wusste ich, liebe Frau Kießling, und als Zeichen meiner Gelehrtheit kann ich Ihnen sogar sagen, wie das Schiff damals hieß, nämlich Catalina.»

«Catalina hieß auch das Schiff, auf dem Raimund mitfahren wollte», platzte es aus Josef heraus.

«Catalina. Ich höre immer Catalina – verflucht sei dieser Seelenverkäufer», hörten sie eine grimmige Stimme hinter sich. Armbruster wandte sich um. Gegen den Abendhimmel zeichnete sich die massige Silhouette des Ersten Steuermanns ab. Er musste sich herangeschlichen haben wie eine Katze.

«Waren Sie auch auf der Catalina?» Josef war aufgesprungen.

«Bis zu ihrer letzten Fahrt. Da hätte uns das verfluchte Schiff beinah alle umgebracht.» Lars Feddersen spuckte auf die Planken und wollte schon weitergehen, doch Josef hielt ihn am Ärmel.

«Warten Sie doch. Sie müssen meinen Bruder kennen. Raimund, Raimund Scholz. Er ist im April vor drei Jahren mit der Catalina nach Chile ausgewandert.»

Unwillig blieb der Mann stehen und musterte den Jungen von oben bis unten. Armbruster glaubte so etwas wie Erstaunen in den kalten, rotgeränderten Augen aufblitzen zu sehen. Dieser Mann kannte Josefs Bruder, dessen war er sich sicher. Aber Feddersen schüttelte den Kopf. «Ich hab mich nie für die Passagiere interessiert. Und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe, ich muss arbeiten.»

Der Gedanke, dass der Erste Steuermann etwas über seinen Bruder wissen könnte, verfolgte Josef bis in den Schlaf. In den nächsten Tagen suchte er immer wieder dessen Nähe, doch Feddersen schien ihm aus dem Weg zu gehen. Hinzu kam, dass dessen Jähzorn inzwischen bei allen gefürchtet war. Vor allem mit Karl, dem jungen Schlosser, geriet er immer wieder aneinander. Einmal, als sich Karl in der Nähe der Kanaren auf den Ausguck gewagt hatte, ließ der Steuermann ihn auf halber Höhe an den Mast binden, in der sengenden Sonne, eine volle Stunde lang.

«Jetzt kannst du dir die Inseln in Ruhe anschauen», hatte Feddersen hinaufgebrüllt. «Es wird das letzte Stück Land sein, das du bis Kap Hoorn zu sehen bekommst.»

 

Der kräftige Nordost-Passat brachte sie zügig voran, und sie näherten sich der heißen Zone zwischen den Wendekreisen. Bei herrlichem Sonnenschein und frischem Wind blieben die Reisenden den ganzen Tag an Deck, lasen, schrieben Briefe oder schwatzten miteinander. Manche spielten Karten, obwohl das vom Kapitän nicht gern gesehen wurde. Inzwischen hatte sich Josef an das Auf und Ab des Schiffs gewöhnt und ging breitbeinig wie ein erfahrener Seemann selbst bei unruhiger See an Deck spazieren.

Paul Armbruster hatte sich mit Fritz, einem jungen Lehrer aus Bremen, zusammengetan und unterrichtete die Kinder. Hin und wieder setzte sich Josef dazu, wenn er nicht gerade das Meer betrachtete, an dem er sich nicht sattsehen konnte. Mit jeder Seemeile, die sie zurücklegten, verblasste das überlebensgroße Bild seines Vaters. Ein einziges Mal nur träumte er von Raimund: Mitten im Urwald erhob sich ein riesiger Berg Feuerholz, dessen Spitze von Wolken verhüllt war. Josef war ganz allein, wusste aber, dass sich dort oben auf dem Gipfel sein Bruder befand. Die Holzscheite rutschten unter ihm weg, als er hinaufkletterte, zerschürften ihm Knie und Ellbogen, immer wieder verlor er den Halt und glitt in die Tiefe. Endlich hatte er den Gipfel erreicht, erschöpft und schweißüberströmt. Vor ihm saß auf einem goldenen Thron sein Bruder, nackt bis auf ein Tuch um die Hüften, und sein Körper war mit Narben übersät. Die dunkelbraunen Haare reichten ihm bis auf die Schultern. Bartwuchs bedeckte fast vollständig das Gesicht, aus dem die tiefgrünen Augen, die Raimund als Einziger in dieser Eindringlichkeit von der Mutter geerbt hatte, wie Smaragde hervorleuchteten. Raimund erhob sich, als er Josef erblickte, und half ihm die letzten Meter herauf. Du hättest nicht kommen dürfen, waren seine Worte, mein Reich ist keine Welt für dich. Dann nahm er seinen jüngeren Bruder auf den Rücken, wie er es oft getan hatte, als Josef noch ein Kind war, und trug ihn leichtfüßig den Berg wieder hinunter. Der Urwald war verschwunden, stattdessen wogte vor ihnen wie geschmolzenes Blei der Ozean. Ein Ruderboot lag am Fuß des Berges. Behutsam setzte Raimund seinen Bruder hinein. Fahr wieder zu unserer Mutter, sagte er. Lebe wohl, Jossi, und pass gut auf dich auf. Dann gab er dem Boot einen kräftigen Stoß. Josef wollte zurückrudern, doch die Ruder waren zerbrochen und der Berg aus Feuerholz verschwunden.

In diesem Moment erwachte Josef. Sein Gesicht war nass von Schweiß und Tränen. Jossi – diesen Namen hatte er beinahe vergessen. Nur sein großer Bruder durfte ihn so nennen. Jossi, ich beschütze dich, hatte Raimund immer gesagt, Raimund, der groß und stark war und ihn, den zarten, schmächtigen Jungen, gegen die Angriffe und Hänseleien der Jungen im Dorf verteidigte. Josef wälzte sich in der Koje hin und her. Zweifel keimten in ihm auf, ob er seinen Bruder in dem riesigen, fremden Land wiederfinden würde.

 

Im Zwischendeck hatte sich inzwischen die Krätze ausgebreitet. Der rötlich-braune Hautausschlag befiel zuerst die Kinder, die die ganze Nacht weinten und sich die wunde Haut blutig kratzten.

«Ich will nach Hause», jammerte die fünfjährige Katja. Die winzigen Sommersprossen auf ihrer Nase begannen zu zittern. «Ich will nicht mehr auf diesem dummen Schiff bleiben.»

Luise bestrich die entzündeten Stellen mit einer dicken Schicht Salbe, die sie aus Schwefelpulver und Schweineschmalz gemischt hatte. «Die Salbe wird euch ganz schnell helfen», versuchte sie die Kinder zu trösten. Josef spürte, wie es auch ihn zwischen Fingern und Zehen zu jucken begann.

«Mit Salbe allein werdet ihr gegen die Krätze nicht ankommen», meinte am Nachmittag der Kapitän, dem Luise den Ausbruch der Krankheit gemeldet hatte. «Das beste Heilmittel ist Salzwasser. Ich werde zwei, drei Bottiche mit Meerwasser füllen lassen. Jeden Morgen, jeden Abend ein Vollbad, schmiert danach eure Salbe auf die roten Stellen, und ihr werdet sehen, in einer Woche ist der Spuk vorbei.»

«Danke, Herr Kapitän.»

So gab es morgens und abends jedes Mal Geschrei, wenn die Kinder auf dem Vorschiff ins Salzwasser getaucht wurden. Josef tat es den Erwachsenen gleich und biss die Zähne zusammen, auch wenn das Salz auf der offenen Haut wie Feuer brannte.

«Dieses Gebrüll ist ja unerträglich», beschwerte sich einer der Kajütpassagiere, ein untersetzter, feister Gastwirt aus Hanau namens Hartmut Ehret. An der Hand hielt er einen seiner Söhne, einen dicklichen Jungen in Josefs Alter.

Luise, die gerade dabei war, die Kinder vorsichtig trockenzureiben, beachtete ihn nicht. «Reich mir mal das andere Handtuch herüber, Josef.»

«Erst die Läuse, dann die Krätze», fuhr der Gastwirt fort. «Dass ihr Bauern euch nicht sauber halten könnt!»

Luise ließ das Handtuch sinken. «Haben Sie schon mal wochenlang in einem Raum mit hundertdreißig Menschen zugebracht? Zu viert in einer Koje? Nein? Dann halten Sie besser Ihren Mund.» Damit kehrte sie Hartmut Ehret den Rücken zu. Josef konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, woraufhin Ehrets Sohn wütend das Gesicht verzog und ihm die Zunge herausstreckte.

Unmengen von Möwen verrieten die Nähe der Kapverdischen Inseln, als das Schiff in eine Flaute geriet. Tagelang kam es bei spiegelglatter See nicht vom Fleck, sein Bugspriet wankte wie eine Kompassnadel mal nach Norden, mal nach Osten. Erbarmungslos brannte die Sonne im Zenit und ließ das Pech in den Plankenritzen schmelzen. Ohne Wind war die Hitze kaum zu ertragen, vor allem den kleinen Kindern und den Älteren wurden die Tage zur Qual. Die Lust auf ein Bad im Atlantik verging auch den Mutigsten angesichts der Haie, die sich nun häufiger dem Schiff näherten. Für die Kajütengäste hatte der Kapitän auf dem Achterdeck ein riesiges Sonnensegel spannen lassen.

«Die lassen es sich gutgehen», seufzte Luise und rückte mit Josef und ihren Kindern den winzigen Schattenflecken hinterher, die die aufgehängten Kleidungsstücke boten. «Wenn wir hier nun ewig treiben?»

«Soweit ich weiß, hatte bisher jede Flaute ein Ende», lachte Armbruster und sah von seinem Buch auf. «Aber ich habe mal in einem Reisebericht gelesen, dass im Indischen Ozean –»

Luise winkte ab. «Ihre Vorträge sind zwar immer höchst interessant, aber bei dieser Hitze ertrag ich sie kaum.»

Verlegen rückte Armbruster seine Brille zurecht und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Josef fragte sich, warum seine Tante immer so schroff sein musste. Dabei war er sich sicher, dass sie den Buchhändler längst in ihr Herz geschlossen hatte. Er sah hinüber zu den beiden Viermastern, die in einiger Entfernung ebenso hilflos im Wasser trieben wie die Helene. Ein schwacher Trost.

Eine Seeschwalbe segelte dicht über Josefs Kopf hinweg und verschwand in der dunstigen Ferne. Als Josef aufstand und ihr nachsah, legte Armbruster sein Buch zur Seite.

«Machen wir weiter mit unseren Spanischlektionen?»

Doch Josef schüttelte den Kopf. Ihm war weder nach Gesprächen noch nach Gesellschaft zumute. Armbruster stellte sich neben ihn an die Reling.

«Du wirst von Tag zu Tag schweigsamer. Was ist mit dir?»

«Nichts.»

«Du denkst an zu Hause, nicht wahr?» Und als Josef schwieg, fuhr er fort: «Wir glauben immer, dass eine Entscheidung, die wir getroffen haben, endgültig sein muss, aber das ist nicht wahr. Im Moment kannst du nicht zurück, du musst Geduld haben, bis wir diese lange Reise hinter uns haben. Aber dann kannst du dich wieder neu entscheiden. Vergiss das nicht.»

Am nächsten Morgen tauchte ein weiteres Schiff am Horizont auf, eine Dreimastbark wie die Helene. Geduldig stand der Kapitän in der prallen Sonne auf dem Vorschiff und starrte durch sein Fernrohr. Endlich ließ er es sinken und wandte sich an die Passagiere.

«Es ist die Sophia, ein Dreimaster unserer Gesellschaft. Auf dem Weg von Valparaíso nach Hamburg. In ein bis zwei Stunden wird sie uns passieren. Wer will, kann ihr Grüße an die Heimat mitgeben.» Dann gab er Befehl, das Beiboot bereit zu machen.

Ein plötzlicher Regenschauer hätte nicht mehr Leben an Deck auslösen können. Aufgeregt drängten und stießen sich die Passagiere die enge Stiege nach unten, um Papier und Stift zu suchen. Josef war als Erster wieder oben und lehnte sich an den Mast. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume. Kurz vor der Abfahrt in Hamburg hatte er seiner Mutter in aller Eile ein paar flüchtige Zeilen geschrieben: dass sie sich keine Sorgen zu machen bräuchte und dass er auf dem Weg nach Chile sei. Jetzt, wo er die Möglichkeit zu einem ausführlichen Brief hatte, fand er nicht die richtigen Worte.

Er legte die Stirn in Falten und sah seine Mutter vor sich, wie sie ihn als kleinen Jungen ins Bett brachte und nach dem Gutenachtkuss noch einmal seine Decke zurechtzupfte. Er sah ihre schmalen Hände, die von den nächtlichen Näharbeiten zerstochen waren. Zögernd begann er zu schreiben, doch bald flog der Stift nur so über das Papier.

Den 27. Juli, 1852

 

Liebste Mutter! Heute können wir einem Schiff, dem wir begegnet sind, Post mitgeben. Wenn wir Glück haben, erreichen wir in acht Wochen Chile. Du würdest es nicht glauben, aber der Atlantische Ozean ist wirklich unendlich, du siehst wochenlang kein Land, nicht mal das kleinste Inselchen. Es gibt Fische, die fliegen wie Vögel in der Luft, und Walfische fünfmal so groß wie unsere Kate, und das Meer leuchtet, manchmal von der brennenden Sonne, die darin versinkt, und in manchen Nächten von innen. Dann könnte man meinen, dass vom Meeresgrund die Lichter einer großen Stadt heraufschimmern.

Wir verbringen die Abende wegen der großen Hitze auf Deck. Jemand spielt Mundharmonika oder Akkordeon, dazu singen wir traurige Seemannslieder oder Lieder aus der Heimat. Manchmal wird aber auch getanzt und gelacht.

Paul Armbruster, ein Buchhändler aus Kassel, gibt den Kindern Unterricht. Er weiß so viel zu erzählen. Wusstest du, dass auf der Südhälfte der Erdkugel alles verkehrt ist? Die Sonne läuft entgegen der Uhr, der Mond nimmt falsch herum zu und ab, im Norden ist es heiß, im Süden ist es kalt, und wenn ihr in Rotenburg im Schnee versinkt, werden wir in Chile Hochsommer haben. Herr Armbruster hat auch das mit dem Meeresleuchten erklärt: Es rührt von leuchtenden Algen und Quallen her, ähnlich wie bei unseren Glühwürmchen.

Auch Onkel Emil und Tante Luise und den Kindern geht es gut. Bisher hatten wir noch keine schlimme Krankheit. Gegen den Skorbut kauen wir rohe Zwiebeln. Vor einer Woche ist sogar ein Kind auf die Welt gekommen, ein gesundes Mädchen, das zu Ehren des Schiffes auf den Namen Helene getauft wurde. Es ist zwar ein Arzt an Bord, der für seine Dienste kostenlose Überfahrt hat, doch der ist meist betrunken oder selber krank, und so haben eine ältere Frau und Tante Luise bei der Geburt alles in die Hand genommen. Sie haben die Kinder und uns Jungen weggescheucht, bis es nach ein paar Stunden vorbei war. Die arme Frau hat geschrien wie am Spieß, doch Tante Luise hat gemeint, es sei eine leichte und glückliche Geburt gewesen!