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Jurek Walter sitzt seit Jahren in Isolationshaft. Niemand darf ohne Aufsicht seine Zelle betreten. Dem Serienmörder wird zugetraut, auch hinter Gittern noch schreckliches Unheil anzurichten. Als eines seiner letzten Opfer plötzlich lebendig wieder auftaucht, steht für Kommissar Joona Linna fest, dass der Mörder einen Komplizen haben muss. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Die Schwester des geretteten Mannes war damals auch verschwunden - und ist womöglich noch am Leben! Um ihren Aufenthaltsort zu erfahren, bittet Joona seine Kollegin Saga Bauer, sich in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Jemand muss das Vertrauen des Serienmörders gewinnen ...
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Zeit:7 Std. 24 min
LARS KEPLER ist das Pseudonym von Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril. DER HYPNOTISEUR, ihr Krimidebüt, war sensationell erfolgreich. Es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und hat in vielen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt.
DER SANDMANN, der vierte Kriminalroman mit Kommissar Joona Linna, setzt die Erfolgsgeschichte fort. Das Buch führte in Schweden wochenlang die Bestsellerliste an.
Das Ehepaar lebt mit seinen Kindern in Stockholm.
www.larskepler.com
LARS KEPLER
DER SANDMANN
KRIMINALROMAN
Übersetzung aus dem Schwedischen von Paul Berf
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Titel der schwedischen Originalausgabe: »Sandmannen«
Für die Originalausgabe: Copyright © 2012 by Lars Kepler First published by Albert Bonniers Förlag, Stockholm, Sweden Published in the German language by arrangement with Bonnier Group Agency, Stockholm, Sweden
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau Umschlagmotiv: © Elle Moss / Trevillion Images E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-4494-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
ES IST MITTEN in der Nacht, und der Wind weht Schnee vom Meer heran. Auf einer hohen Eisenbahnbrücke geht ein junger Mann in Richtung Stockholm. Sein Gesicht ist bleich wie beschlagenes Glas. Seine Jeans ist steif von gefrorenem Blut. Er geht zwischen den Schienen und steigt über die Schwellen. Fünfzig Meter unter ihm liegt das Eis der Meeresbucht wie ein Streifen Leinen. Die weißen Bäume und Öltanks des Hafens sind kaum zu sehen, und durch das Scheinwerferlicht des Containerkrans tief unter der Brücke wirbeln Schneeflocken.
Warmes Blut läuft über den linken Unterarm des Mannes in seine Hand und tropft von den Fingerkuppen herab.
Es rauscht und sirrt, als sich auf der zwei Kilometer langen Brücke ein Nachtzug nähert.
Der junge Mann taumelt, setzt sich auf die Schienen, rappelt sich dann jedoch wieder auf und geht weiter.
Der Zug verdrängt die Luft, und die Sicht wird von Schneerauch behindert. Die Traxx-Lokomotive ist bereits mitten auf der Brücke, als der Lokomotivführer den Mann auf den Gleisen entdeckt. Er hupt und sieht, wie die Gestalt beinahe hinfällt, dann aber einen großen Satz nach links auf das zweite Gleis macht, um sich schließlich an dem dünnen Brückengeländer festzuhalten.
Die Kleider am Körper des Mannes flattern. Die Brücke unter seinen Füßen bebt. Er bleibt mit weit aufgerissenen Augen und einer Hand auf dem Geländer regungslos stehen.
Alles ist wirbelnder Schnee und abgrundtiefe Dunkelheit.
Als er weitergehen will, klebt seine blutige Hand schon leicht an dem eisigen Geländer.
Sicherheitstrakt der Gerichtspsychiatrie
Löwenströmsches Krankenhaus
DAS STAHLTOR FÄLLT hinter dem neuen Arzt mit einem dumpfen Ton ins Schloss. Das metallische Echo fliegt an ihm vorbei und die Wendeltreppe hinab.
Als es dann plötzlich vollkommen still wird, läuft Anders Rönn ein Schauer über den Rücken.
Von diesem Tag an wird er im Sicherheitstrakt der Gerichtspsychiatrie arbeiten.
In dem streng isolierten Bunker ist seit dreizehn Jahren der gealterte Jurek Walter untergebracht, der zur Sicherheitsverwahrung in der Psychiatrie verurteilt wurde.
Der junge Arzt weiß nicht viel über seinen Patienten, er kennt nur die Diagnose: »Schizophrenie, unspezifisch. Chaotisches Denken. Wiederkehrende akute psychotische Zustände mit bizarren und sehr gewaltsamen Zügen.«
Anders Rönn weist sich auf Ebene Null aus, gibt sein Handy ab und hängt den Schlüssel zum Stahltor in ein Kästchen, dann öffnet die Frau vom Sicherheitsdienst die erste Tür der Schleuse. Er geht hinein und wartet, bis sich die Tür geschlossen hat, bevor er zur nächsten weitergeht. Als ein Signal ertönt, öffnet die Frau auch diese. Anders Rönn dreht sich um und winkt ihr zu, ehe er durch den Korridor zum Personalraum der Isolierstation geht.
Oberarzt Roland Brolin ist ein kräftig gebauter Mann zwischen fünfzig und sechzig mit hängenden Schultern und kurzen, stoppeligen Haaren. Er raucht unter der Dunstabzugshaube in der Küchenzeile und blättert in einem Artikel über die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen in der Ärztezeitung.
»Jurek Walter darf niemals mit jemandem vom Personal allein sein«, erklärt der Oberarzt. »Er darf keine anderen Patienten treffen, keinen Besuch empfangen und niemals das Außengelände betreten. Außerdem …«
»Niemals?«, unterbricht Anders Rönn ihn. »Ist es denn erlaubt, jemanden …«
»Nein, das ist es nicht.« Roland Brolin schneidet ihm mit gereizter Stimme das Wort ab.
»Was hat er denn eigentlich getan?«
»Nur nette Dinge«, antwortet der Oberarzt und geht in Richtung Flur.
Obwohl Jurek Walter der schlimmste Serienmörder ist, den es in Schweden je gegeben hat, ist er für die Öffentlichkeit ein unbeschriebenes Blatt. Die Gerichtsverhandlungen im Rathaus fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und die Akten des Falls unterliegen der Geheimhaltung.
Anders Rönn und Oberarzt Roland Brolin passieren eine weitere Sicherheitstür und eine junge Frau mit tätowierten Armen und gepiercten Wangen zwinkert ihnen zu.
»Kommt lebend zurück«, sagt sie kurz.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagt Roland Brolin mit gesenkter Stimme zu Anders Rönn. »Jurek Walter ist ein ruhiger, älterer Herr. Er prügelt sich nicht und wird niemals laut. Unsere goldene Regel lautet, dass wir niemals zu ihm hineingehen. Aber Leffe von der Nachtschicht hat leider beobachtet, dass er sich ein Messer gebastelt und unter seiner Matratze versteckt hat, und das müssen wir natürlich konfiszieren.«
»Wie gehen wir vor?«, fragt Anders.
»Wir verstoßen gegen die Regeln.«
»Wir gehen zu Jurek Walter hinein?«
»Sie gehen zu ihm hinein … und bitten ihn höflich, Ihnen das Messer zu geben.«
»Ich soll da reingehen …?«
Roland Brolin lacht laut und erläutert anschließend, dass sie so tun würden, als injizierten sie dem Patienten wie üblich eine Dosis Risperdal, während es in Wahrheit eine Überdosis Zypadhera sei.
Der Oberarzt zieht seine Zugangskarte durch ein weiteres Lesegerät und tippt eine Zahlenkombination ein. Es piept, und das Schloss der Sicherheitstür surrt.
»Warten Sie«, sagt Roland Brolin und hält ihm eine kleine Schachtel mit gelben Ohrstöpseln hin.
»Sie haben doch gesagt, er wird nicht laut.«
Roland Brolin verzieht matt den Mund, betrachtet seinen neuen Kollegen mit müden Augen und seufzt schwer.
»Jurek Walter wird mit Ihnen sprechen, und zwar ganz ruhig und bestimmt sehr freundlich«, erläutert er mit ernster Stimme. »Aber wenn Sie dann heute Abend nach Hause fahren, werden Sie Ihr Auto in den Gegenverkehr lenken und frontal mit einem Lastwagen zusammenstoßen … oder Sie fahren noch kurz beim Baumarkt vorbei und kaufen sich eine Axt, bevor Sie Ihre Kinder aus der Kita abholen.«
»Soll ich jetzt etwa Angst bekommen?«, fragt Anders Rönn lächelnd.
»Nein, aber Sie werden hoffentlich vorsichtig sein«, entgegnet Roland Brolin.
Anders Rönn ist normalerweise nicht gerade ein Glückspilz, aber als er in der Ärztezeitung die Stellenanzeige für eine längerfristige Vertretungsstelle im Sicherheitstrakt des Löwenströmschen Krankenhauses las, schlug sein Herz schneller.
Mit dem Auto sind es nur zwanzig Minuten nach Hause, und es besteht die Aussicht, dass die Vertretungsstelle in eine Festanstellung umgewandelt wird.
Nach seinem Praktischen Jahr am Krankenhaus Skaraborg und in einer Poliklinik in Huddinge hat er sich mit kurzen Zeitverträgen am Sankt Sigfrids-Krankenhaus über Wasser halten müssen. Die langen Fahrten nach Växjö und die unregelmäßigen Arbeitszeiten ließen sich aber nur schwer mit Petras Stelle in der Hortverwaltung und der Belastung durch das autistische Syndrom seiner Tochter Agnes vereinbaren.
Es ist gerade einmal zwei Wochen her, da saßen Anders und Petra am Küchentisch, um eine Lösung zu finden.
»So geht es einfach nicht mehr weiter«, sagte er ganz ruhig.
»Aber was sollen wir denn tun?«, flüsterte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Anders und strich die Tränen von ihren Wangen.
Agnes’ Betreuerin in der Vorschule hatte erzählt, dass Agnes einen schweren Tag gehabt habe. Sie hatte sich geweigert, ihr Milchglas loszulassen, und daraufhin war sie von den anderen Kindern ausgelacht worden. Sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass die Mahlzeit vorbei war, denn Anders hatte sie nicht zur selben Zeit wie sonst abgeholt. Er war direkt von Växjö aus zur Vorschule gefahren, war aber dennoch erst gegen sechs dort angekommen. Da hatte Agnes noch immer mit im Speisesaal gesessen, die Hände hielt sie fest um das Glas geschlossen.
Als sie nach Hause kamen, hatte Agnes sich in ihr Zimmer gestellt, die Wand neben dem Puppenhaus angestarrt und auf ihre introvertierte Art in die Hände geklatscht. Er und Petra wissen nicht, was sie an der Wand sieht, aber sie sagt, dass dort graue Stäbchen auftauchen, die sie zählen und stoppen muss. Manchmal reichen ihr schon zehn Minuten, aber an diesem Abend musste sie mehr als vier Stunden so stehen bleiben, bis ihre Eltern sie ins Bett bringen konnten.
DIE LETZTE SICHERHEITSTÜR schließt sich hinter ihnen, und sie gehen durch einen Flur zu dem einzigen der drei Isolierzimmer, das benutzt wird. Das Licht der Neonröhre an der Decke spiegelt sich im Kunststoffboden. In etwa ein Meter Höhe ist die Gewebetapete ganz abgescheuert, dort wo der Servierwagen entlangschabt.
Der Oberarzt benutzt seine Zugangskarte und lässt Anders durch die schwere Metalltür vorgehen.
Hinter Panzerglas sieht Anders einen schlanken Mann auf einem Plastikstuhl sitzen. Er trägt eine blaue Jeans und ein Jeanshemd. Der Mann ist glattrasiert, und seine Augen sind seltsam ruhig. Die vielen Falten in seinem blassen Gesicht erinnern an rissigen Lehm in einem ausgetrockneten Flussbett.
Jurek Walter ist nur für zwei Morde und einen Mordversuch verurteilt worden, steht aber in weiteren neunzehn Mordfällen unter dringendem Tatverdacht.
Dreizehn Jahre zuvor wurde er im Lill Jans-Wald auf frischer Tat ertappt, als er eine fünfzigjährige Frau zwang, wieder in einen Sarg in der Erde zu steigen. Sie war fast zwei Jahre lang von ihm gezwungen worden, in diesem Sarg zu bleiben, und sie hatte es überlebt. Die Frau war damals in einem grauenvollen Zustand gewesen, sie war unterernährt, ihre Muskeln waren verkümmert, sie hatte furchtbare Erfrierungen und schwere Gehirnschäden erlitten und sich wundgelegen. Hätte die Polizei Jurek Walter nicht aufgespürt und ihn an ihrem Sarg gefasst, wäre er wahrscheinlich nie gestoppt worden.
Der Oberarzt greift zu drei schmalen Ampullen mit einem gelben Pulver, fügt Wasser hinzu und schüttelt sie vorsichtig, ehe er die Flüssigkeit auf eine Spritze zieht.
Er setzt die Ohrstöpsel ein und öffnet anschließend eine kleine Luke in der Tür. Metall rasselt, und ein satter Geruch von Beton und Staub schlägt ihnen entgegen.
Mit schleppender Stimme teilt der Oberarzt Jurek Walter mit, dass es Zeit für seine Spritze sei.
Der Mann hebt den Kopf, steht geschmeidig von seinem Stuhl auf, wendet den Blick der Luke in der Tür zu, nähert sich und knöpft gleichzeitig sein Hemd auf.
»Bleiben Sie stehen, und ziehen Sie das Hemd aus«, weist Roland Brolin ihn an.
Jurek Walter bewegt sich weiter langsam vorwärts, woraufhin Roland Brolin rasch die Luke schließt und verriegelt. Jurek Walter hält inne, öffnet die letzten Knöpfe und lässt das Hemd zu Boden fallen.
Sein Körper ist früher durchtrainiert gewesen, doch heute hängen die Muskeln und die faltige Haut schlaff herab.
Der Oberarzt öffnet wieder die Luke. Jurek Walter legt die letzten Meter zurück und streckt einen sehnigen Arm mit hunderten von Pigmentflecken hindurch.
Anders Rönn reinigt den Oberarm mit Alkohol. Roland Brolin drückt die Spritze in den weichen Muskel und injiziert die Flüssigkeit viel zu schnell. Jurek Walters Hand zuckt vor Überraschung leicht zusammen, aber er zieht den Arm trotzdem erst zurück, als er die Erlaubnis dazu erhält. Der Oberarzt schließt und verriegelt hastig die Luke, nimmt die Ohrstöpsel heraus und schaut in den Raum hinter dem Panzerglas.
Jurek Walter geht mit stolpernden Schritten zum Bett, bleibt stehen und setzt sich dann.
Plötzlich schaut er zur Tür, und Roland Brolin lässt die Spritze fallen.
Er versucht noch, sie aufzufangen, aber da rollt sie schon über den Beton. Anders Rönn macht einen Schritt und hebt die Spritze auf, und als sie sich beide wieder aufrichten und dem Isolierzimmer zuwenden, sehen sie, dass die Innenseite des Panzerglases beschlagen ist. Jurek Walter hat die Fensterscheibe angehaucht und mit dem Finger »JOONA« darauf geschrieben.
»Was steht da?«, fragt Anders Rönn mit schwacher Stimme.
»Er hat Joona geschrieben.«
»Joona?«
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«
Die Kondensschicht verschwindet, und sie sehen, dass Jurek Walter dasitzt, als hätte er sich nie wegbewegt. Er betrachtet den Arm, in den das Medikament injiziert wurde, massiert den Muskel und sieht die beiden Ärzte durch die Scheibe an.
»Sonst stand da nichts?«, fragt Anders Rönn.
»Ich habe nur gesehen …«
Durch die dicke Tür dringt ein tierisches Brüllen zu ihnen hinaus. Jurek Walter ist vom Bett heruntergerutscht, kniet und schreit. Die Sehnen an seinem Hals sind gespannt, die Adern geschwollen.
»Wie viel haben Sie ihm eigentlich gegeben?«, fragt Anders Rönn.
Jurek Walters Augen rollen nach oben und werden weiß, er stützt sich mit der Hand ab, streckt ein Bein aus, kippt jedoch jäh nach hinten, schlägt mit dem Kopf gegen den Nachttisch, schreit, und sein ganzer Körper beginnt, krampfhaft zu zucken.
»Oh verdammt«, flüstert Anders Rönn.
Jurek Walter rutscht auf den Boden, tritt unkontrolliert mit den Beinen, beißt sich in die Zunge, schnaubt Blut auf seine Brust und liegt anschließend keuchend auf dem Rücken.
»Was machen wir, wenn er stirbt?«
»Ihn verbrennen«, antwortet Brolin.
Jurek Walter wird von neuen Krämpfen geschüttelt, und seine Hände schlagen in alle Richtungen, bis sie zur Ruhe kommen.
Brolin schaut auf die Uhr. Schweiß läuft ihm über die Wangen.
Jurek Walter wimmert, dreht sich auf die Seite und versucht aufzustehen, aber seine Kräfte versagen.
»In ein paar Minuten können Sie hineingehen«, erklärt der Oberarzt.
»Ich soll wirklich da reingehen?«
»Er ist bald außer Gefecht.«
Jurek Walter kriecht auf allen vieren, und mit Speichel vermischtes Blut läuft ihm aus dem Mund. Er wankt und kriecht langsamer, bis er schließlich zu Boden sinkt und regungslos liegen bleibt.
ANDERS RÖNN SCHAUT durch die dicke Glasscheibe in der Tür. In den letzten zehn Minuten hat Jurek Walter sich nicht mehr gerührt. Sein Körper ist nach den Krämpfen erschlafft.
Der Oberarzt zieht den Schlüssel aus der Tasche, steckt ihn ins Schloss, zögert, schaut durchs Fenster und schließt auf.
»Viel Spaß«, sagt er.
»Was tun wir, wenn er aufwacht?«, fragt Anders Rönn.
»Er darf nicht aufwachen.«
Brolin öffnet, und Anders Rönn geht hinein. Die Tür wird hinter ihm zugemacht, und das Schloss rasselt. Im Isolierzimmer riecht es nach Schweiß, aber auch noch nach etwas anderem. Es ist der säuerliche Geruch von Essigessenz. Jurek Walter liegt vollkommen still, aber sein Rücken hebt und senkt sich in langsamen Atemzügen.
Obwohl er weiß, dass der Mann tief schläft, hält Anders Rönn Distanz zu ihm.
Es herrscht eine eigentümliche, aufdringliche Akustik in dem Raum, als folgten die Laute ein wenig zu schnell auf die Bewegungen.
Der Arztkittel raschelt bei jedem Schritt.
Jurek Walter atmet schneller.
Am Waschbecken tropft der Wasserhahn.
Anders Rönn erreicht das Bett, wendet den Blick Jurek Walter zu und lässt sich dann auf die Knie fallen.
Als er sich bückt und unter das festgeschraubte Bett zu schauen versucht, sieht er aus den Augenwinkeln kurz den Oberarzt, der ihn mit ängstlichen Augen durch die Panzerglasscheibe beobachtet.
Auf dem Fußboden liegt nichts.
Er reckt den Kopf noch weiter vor, mustert Jurek Walter aufmerksam und legt sich anschließend flach auf den Boden.
Jetzt kann er den Mann nicht mehr im Auge behalten. Er muss ihm den Rücken zukehren, um nach dem Messer suchen zu können.
Schwaches Licht fällt unter das Bett. Entlang der Wand liegen Wollmäuse.
Unwillkürlich stellt er sich vor, Jurek Walter hätte die Augen geöffnet.
Etwas ist zwischen Lattenrost und Matratze gesteckt worden. Es ist schwer zu erkennen, was es ist.
Anders Rönn streckt sich, kommt aber nicht an den Gegenstand heran. Er muss sich auf dem Rücken unter das Bett schieben. Dort ist so wenig Platz, dass er den Kopf nicht drehen kann. Er zieht sich weiter unter das Bett und spürt bei jedem Atemzug den Druck des Bettgestells auf seinem Brustkorb. Seine Finger tasten, aber er muss sich noch etwas weiter hineinschieben. Ein Knie stößt gegen eine Latte. Er bläst eine Staubflocke von seinem Gesicht fort und bewegt sich langsam weiter.
Plötzlich ertönt hinter ihm im Isolierzimmer ein dumpfer Knall, aber er kann sich nicht umdrehen und hinsehen. Also bleibt er still liegen und lauscht, aber seine eigenen Atemzüge gehen so schnell, dass er Mühe hat, andere Geräusche wahrzunehmen.
Vorsichtig streckt er die Hand aus, erreicht den Gegenstand mit den Fingerspitzen, rutscht noch ein Stück weiter und bekommt ihn zu fassen.
Jurek Walter hat aus einem Stück Stahl ein kurzes Messer mit einer Klinge hergestellt.
»Kommen Sie«, ruft der Oberarzt durch die Luke.
Anders Rönn versucht, sich wieder hinauszuwinden, und kratzt sich dabei die Wange auf.
Irgendwo hängt er fest, er kommt nicht weiter, sein Arztkittel hat sich verfangen, und es ist unmöglich, ihn im Liegen abzustreifen.
Er glaubt, scharrende Bewegungen von Jurek Walter zu hören, aber vielleicht hat er sich auch geirrt.
Anders Rönn zieht, so fest er kann. Die Nähte knirschen, aber sie halten. Er weiß, dass er sich wieder unter das Bett schieben muss, um den Kittel loszumachen.
»Was tun Sie denn da?«, ruft Roland Brolin mit aufgeregter Stimme.
Die kleine Luke in der Tür klirrt und wird wieder verriegelt.
Anders Rönn sieht, dass eine Tasche seines Kittels an einer lose herabhängenden Bettlatte hängen geblieben ist. Er macht sie rasch los, hält die Luft an und windet sich erfüllt von wachsender Panik hinaus. Das Bett schürft über Bauch und Knie, dann bekommt er mit einer Hand einen Bettpfosten zu packen und zieht sich hinaus.
Jurek Walter liegt auf der Seite, ein Auge ist im Schlaf halb geöffnet und starrt blind vor sich hin.
Anders Rönn geht mit schnellen Schritten zur Tür, begegnet durch das Panzerglas hindurch dem erregten Blick des Oberarztes und versucht zu lächeln, aber als er spricht, ist seiner Stimme der Stress anzuhören:
»Machen Sie die Tür auf.«
Roland Brolin öffnet stattdessen die Luke:
»Erst geben Sie mir das Messer.«
Anders Rönn sieht ihn fragend an und streckt das Messer durch die Luke.
»Sie haben doch noch etwas gefunden«, sagt Roland Brolin.
»Nein«, widerspricht Anders Rönn und sieht Jurek Walter an.
»Einen Brief.«
»Da war sonst nichts.«
Jurek Walter beginnt, sich auf dem Boden zu winden und schwach zu schnaufen.
»Schauen Sie in seinen Taschen nach«, sagt der Oberarzt und lächelt gestresst.
»Warum?«
»Weil das eine Visitation ist.«
Anders Rönn macht kehrt und nähert sich vorsichtig Jurek Walter. Seine Augen sind wieder geschlossen, aber auf dem faltigen Gesicht haben sich Schweißperlen gebildet.
Widerwillig bückt sich Anders Rönn und greift in eine der Taschen. Der Jeansstoff des Hemds strafft sich auf den Schultern, und Jurek Walter brummt leise.
In der Gesäßtasche steckt ein Plastikkamm. Zitternd durchsucht Anders Rönn die engen Taschen.
Von seiner Nasenspitze tropft Schweiß, und er muss heftig blinzeln.
Jurek Walters große Hand schließt sich mehrmals.
Die Taschen sind leer.
Anders Rönn schaut zum Panzerglas und schüttelt den Kopf. Er kann nicht sehen, ob Brolin hinter der Tür steht. Das Licht der Deckenlampe spiegelt sich in ihrem Glas wie eine graue Sonne.
Er muss jetzt hier raus.
Es ist schon zu viel Zeit verstrichen.
Anders Rönn richtet sich auf und eilt zur Tür. Der Oberarzt ist nicht mehr da. Anders geht ganz nahe an das Glas heran, sieht aber nichts.
Jurek Walter atmet so schnell wie ein Kind, das einen Albtraum hat.
Anders Rönn hämmert gegen die Tür. Seine Hände knallen fast lautlos gegen das dicke Metall. Er hämmert noch einmal. Er hört nichts, und es geschieht nichts. Er klopft mit seinem Ehering an die Glasscheibe und sieht dann an der Wand einen Schatten wachsen.
Ein Schauer läuft ihm über Rücken und Arme. Mit pochendem Herzen und Adrenalin im Körper dreht er sich um und sieht, dass Jurek Walter sich langsam aufsetzt. Sein Gesicht ist schlaff, und der Blick seiner hellen Augen geht ins Nichts. Er blutet immer noch aus dem Mund, und seine Lippen sehen seltsam rot aus.
ANDERS RÖNN HÄMMERT gegen die schwere Stahltür und ruft, aber der Oberarzt macht ihm nicht auf. Als er sich wieder dem Patienten zuwendet, hämmert der Puls in seinem Kopf. Jurek Walter sitzt auf dem Boden, blinzelt ihn mehrmals an und macht Anstalten aufzustehen.
»Es ist eine Lüge«, sagt Jurek Walter so, dass Blut auf sein Kinn spritzt. »Man behauptet, ich sei ein Monster, aber ich bin nur ein Mensch …«
Zum Aufstehen fehlt ihm die Kraft, stattdessen sinkt er keuchend auf den Fußboden zurück.
»Ein Mensch«, murmelt er.
Mit einer müden Bewegung schiebt er eine Hand unter sein Hemd, zieht ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus und wirft es Anders Rönn vor die Füße.
»Der Brief, nach dem er gefragt hat«, erläutert er. »Sieben Jahre lang habe ich darum gebeten, einen Anwalt sprechen zu dürfen … Es geht mir gar nicht darum, dass ich mir Hoffnungen mache, hier jemals wieder herauszukommen … Ich bin der, der ich bin, aber ich bin immer noch ein Mensch …«
Anders Rönn bückt sich und streckt sich nach dem Blatt, ohne Jurek Walter aus den Augen zu lassen. Der runzlige Mann versucht erneut aufzustehen, stützt sich auf die Hände und wankt, schafft es aber, einen Fuß auf den Boden zu setzen.
Anders Rönn hebt das Blatt vom Boden auf, weicht zurück und hört endlich ein klirrendes Geräusch, als ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt wird. Er dreht sich um, starrt durch das Panzerglas und spürt, dass er weiche Knie hat.
»Sie hätten mir keine Überdosis geben sollen«, murmelt Jurek Walter.
Der junge Arzt dreht sich nicht um, weiß aber, dass Jurek Walter nun steht und ihn ansieht.
Das Panzerglas in der Tür ist wie eine Scheibe aus trübem Eis. Es lässt sich nicht erkennen, wer auf der anderen Seite steht und den Schlüssel im Schloss dreht.
»Aufmachen, aufmachen«, flüstert er und hört Atemzüge hinter seinem Rücken.
Die Tür geht auf, und Anders Rönn stolpert aus der Isolierzelle. Er schlägt gegen die Betonwand des Flurs und hört den dumpfen Knall, als die Tür geschlossen wird, und das Klackern, als der schwere Mechanismus des Schlosses auf das Drehen des Schlüssels reagiert.
Keuchend lehnt er sich an die kühle Wand, dreht sich um und sieht, dass nicht der Oberarzt ihn gerettet hat, sondern die junge Frau mit den gepiercten Wangen.
»Ich begreife nicht, was passiert ist«, sagt sie. »Brolin muss den Verstand verloren haben, denn sonst nimmt er es mit der Sicherheit immer sehr genau.«
»Ich werde mit ihm reden …«
»Vielleicht ging es ihm ja nicht gut … ich glaube, er ist zuckerkrank.«
Anders Rönn wischt seine feuchten Handflächen am Arztkittel ab und sieht die Frau an.
»Danke, dass Sie mir aufgemacht haben«, sagt er.
»Für Sie tue ich doch alles«, erwidert sie scherzhaft.
Er versucht, ihr sein lockeres, jungenhaftes Lächeln zu schenken, aber als er sie durch die Sicherheitstür begleitet, schlottern seine Knie. Sie bleibt an der Überwachungszentrale stehen und sieht ihn an.
»Das einzige Problem bei dem Job hier unten«, sagt sie, »ist ehrlich gesagt, dass es so verdammt ruhig ist, dass man eine Menge Süßigkeiten futtern muss, um sich wachzuhalten.«
»Das hört sich doch gut an.«
Auf einem Monitor sieht man Jurek Walter, der auf seinem Bett sitzt und den Kopf in die Hände gestützt hat. Der Aufenthaltsraum mit dem Fernseher und dem Laufband ist verwaist.
DEN RESTLICHEN TAG verwendet Anders Rönn darauf, sich mit den neuen Arbeitsabläufen mit Visiten auf Station 30, individuellen Therapieplänen und Entlassungsgutachten vertraut zu machen, aber seine Gedanken schweifen immer wieder zu dem Brief in seiner Tasche und zu Jurek Walters Worten ab.
Um zehn nach fünf verlässt er die Gerichtspsychiatrie und tritt in die kühle Winterluft hinaus. Jenseits des beleuchteten Krankenhausgeländes hat sich die Winterdunkelheit herabgesenkt.
Er wärmt seine Hände in den Jackentaschen und eilt über das Straßenpflaster auf den großen Parkplatz vor dem Haupteingang des Krankenhauses.
Als er kam, war der Platz voller Autos, inzwischen ist er fast leer.
Er blinzelt und sieht, dass hinter seinem Wagen jemand steht.
»Hallo!«, ruft Anders Rönn und geht schneller.
Ein Mann dreht sich um, streicht sich mit der Hand über den Mund und weicht vom Auto zurück. Es ist Oberarzt Roland Brolin.
Anders Rönn geht die letzten Meter langsamer und zieht den Autoschlüssel aus der Tasche.
»Sie erwarten sicher eine Entschuldigung«, sagt Brolin mit einem bemühten Lächeln.
»Ich möchte nur ungern mit der Krankenhausleitung darüber sprechen müssen, was heute passiert ist«, erwidert Anders.
Brolin sieht ihm in die Augen, streckt die linke Hand aus und öffnet sie.
»Geben Sie mir den Brief«, sagt er ruhig.
»Welchen Brief?«
»Den Brief, von dem Jurek Walter wollte, dass Sie ihn finden«, antwortet der Oberarzt. »Einen Zettel, ein Stück Zeitungspapier, eine Ecke Karton.«
»Ich habe wie besprochen das Messer geholt.«
»Das war der Köder«, entgegnet Brolin. »Sie glauben doch nicht, dass er sich grundlos diesen Schmerzen aussetzt?«
Anders Rönn sieht den Oberarzt an, der sich mit der Hand Schweiß von der Oberlippe wischt.
»Was tun wir, wenn der Patient einen Anwalt sprechen möchte?«, fragt er.
»Nichts«, flüstert Brolin.
»Hat er Sie schon einmal darum gebeten?«
»Ich weiß nicht, ich hätte es ohnehin nicht gehört, da ich grundsätzlich Ohrstöpsel trage«, antwortet Brolin lächelnd.
»Aber ich kapiere ehrlich gesagt nicht, warum …«
»Sie brauchen diesen Job«, unterbricht der Oberarzt ihn. »Ich habe gehört, dass Sie in Ihrem Jahrgang die schlechtesten Noten hatten, Sie müssen sicher hohe Kredite abtragen, haben keinerlei Erfahrung, keine Referenzen.«
»Sind Sie fertig?«
»Sie sollten mir jetzt einfach den Brief geben«, antwortet Brolin und beißt die Zähne zusammen.
»Ich habe keinen Brief gefunden.«
Brolin sieht ihm eine Weile in die Augen.
»Sollten Sie irgendwann einmal einen Brief finden«, sagt er, »müssen Sie ihn mir geben, ohne ihn zu lesen.«
»Verstehe«, sagt Anders Rönn und schließt den Wagen auf.
Als er sich hineinsetzt, die Tür zuschlägt und das Auto anlässt, hat er das Gefühl, dass der Oberarzt ein wenig erleichtert aussieht. Er ignoriert Brolin, der ans Fenster klopft, legt einfach nur den Gang ein und fährt los. Im Rückspiegel sieht er den Oberarzt, der stehen bleibt und dem Wagen hinterherstarrt, ohne zu lächeln.
ALS ANDERS RÖNN nach Hause kommt, zieht er rasch die Tür hinter sich zu, schließt ab und legt die Sicherheitskette vor.
Sein Herz pocht schnell – aus irgendeinem Grund ist er vom Auto bis zum Haus gerannt.
Aus Agnes’ Zimmer dringt Petras ruhige Stimme an sein Ohr. Anders lächelt. Sie liest ihrer Tochter schon aus Ferien auf Saltkrokan vor. Normalerweise sind die Schlafrituale um diese Zeit noch längst nicht bis zur Gutenachtgeschichte fortgeschritten. Es muss wieder ein guter Tag gewesen sein. Weil er die neue Stelle hat, konnte Petra ihre Arbeitszeit reduzieren.
Auf dem Fußboden im Flur hat sich rund um Agnes’ lehmverschmierte Winterstiefel ein nasser Fleck gebildet. Mütze und Wollkragen liegen vor der Kommode auf dem Boden. Anders geht in die Küche, stellt die Sektflasche auf den Tisch, bleibt stehen und schaut in den dunklen Garten hinaus.
Er denkt an Jurek Walters Brief und weiß nicht, was er tun soll.
Die Zweige des großen Fliederstrauchs scharren über das Fenster. Er betrachtet das schwarze Glas, sieht das Spiegelbild seiner Küche, hört, wie die Zweige knarren, und überlegt, dass er die große Gartenschere aus der Abstellkammer holen sollte.
»Warte, warte«, hört er Petra sagen. »Ich lese erst noch zu Ende …«
Anders geht leise zum Kinderzimmer. Die Prinzessinnenlampe an der Decke leuchtet. Petra schaut vom Buch auf und begegnet seinem Blick. Sie hat ihre hellbraunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden und trägt wie üblich ihre Herzohrringe. Agnes sitzt auf ihrem Schoß und wiederholt, dass es wieder falsch gewesen sei und dass sie noch einmal mit dem Hund anfangen müssten.
Anders betritt den Raum und lässt sich vor ihnen auf die Knie fallen.
»Hallo, mein kleiner Liebling«, sagt er.
Agnes begegnet flüchtig seinem Blick und schaut dann weg. Er streicht behutsam über ihren Kopf, steckt ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und steht auf.
»Es ist noch etwas zu essen da, das kannst du dir warmmachen«, sagt Petra. »Ich muss erst das Kapitel noch einmal lesen, dann komme ich.«
»Das mit dem Hund war falsch«, wiederholt Agnes, den Blick auf den Fußboden gerichtet.
Anders geht in die Küche, holt den Teller mit dem Essen aus dem Kühlschrank und stellt ihn neben der Mikrowelle auf die Arbeitsfläche.
Langsam zieht er den Brief aus der Gesäßtasche seiner Jeans und erinnert sich, dass Jurek Walter mehrfach wiederholt hat, er sei ein Mensch.
In einer kleinen, schrägen Handschrift hat er einige wenige, fast nichtssagende Sätze auf das dünne Papier geschrieben. Der Brief ist an eine Anwaltskanzlei in Tensta adressiert und enthält lediglich eine offizielle Anfrage. Jurek Walter bittet um juristischen Beistand, um die Begründung für seine Verurteilung zur Sicherheitsverwahrung zu verstehen. Er hat das Bedürfnis, sich seine Rechte erklären zu lassen und sich über die Möglichkeit zu informieren, in der Zukunft gegen das Urteil Beschwerde einzulegen.
Anders Rönn weiß nicht, woher sein plötzliches Unbehagen rührt, aber irgendetwas am Ton des Briefs, an der korrekten Wortwahl in Kombination mit der fast legasthenischen Schreibweise erscheint ihm seltsam.
Als er ins Arbeitszimmer geht und einen Briefumschlag heraussucht, gehen ihm Jurek Walters Worte nicht aus dem Kopf. Er schreibt die Adresse ab, legt den Brief in den Umschlag und frankiert ihn.
Anschließend verlässt er das Haus, überquert in der kühlen Dunkelheit eine Brachfläche und geht zu dem Kiosk am Kreisverkehr hinauf. Nachdem er den Brief eingeworfen hat, bleibt er eine ganze Weile stehen und betrachtet den Sandavägen und die vorbeifahrenden Autos, ehe er wieder heimkehrt.
Der Wind lässt das gefrorene Gras wogen wie Wasser. Ein Hase wird aufgeschreckt und rennt in Richtung der alten Gärten davon.
Er öffnet das Gartentor und schaut zum Küchenfenster hinein. Das Gebäude wirkt wie ein Puppenhaus. Alles ist hell erleuchtet und gut einsehbar. Er blickt geradewegs in den Flur und sieht das blaue Bild, das dort schon immer gehangen hat.
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer steht offen. Mitten im Raum steht der Staubsauger. Er ist noch eingesteckt.
Plötzlich nimmt Anders eine Bewegung wahr und zuckt vor Überraschung zusammen. Im Schlafzimmer, neben ihrem Bett, steht jemand.
Anders will schon hineinrennen, als ihm klar wird, dass die Gestalt sich in Wahrheit im Garten auf der Rückseite des Hauses befindet.
Er kann sie nur durch das Schlafzimmerfenster sehen.
Anders läuft auf dem Plattenweg an der Sonnenuhr vorbei und um die Hausecke herum.
Der Eindringling muss ihn gehört haben, denn er ist schon auf der Flucht. Anders hört, wie sich jemand durch die Fliederhecke presst. Er läuft hinterher, schiebt die Äste zur Seite und versucht, etwas zu sehen, aber es ist zu dunkel.
ALS DER SANDMANN seinen fürchterlichen Staub in den Raum bläst, steht Mikael in der Dunkelheit auf. Er hat gelernt, dass es sinnlos ist, die Luft anzuhalten. Denn wenn der Sandmann will, dass die Kinder schlafen, dann schlummern sie ein.
Er weiß nur zu gut, dass seine Augen bald schwer werden, so schwer, dass er sie nicht mehr aufhalten kann. Er weiß, dass er sich auf die Matratze legen und zu einem Teil der Dunkelheit werden muss.
Seine Mutter erzählte ihm früher oft von der Tochter des Sandmanns, dem mechanischen Mädchen Olimpia. Sie schleicht sich zu den Kindern hinein, sobald sie eingeschlafen sind, und zieht die Decke über ihre Schultern, damit sie nicht frieren.
Mikael lehnt sich an die Wand, spürt die Furchen im Beton.
Der dünne Sand schwebt wie Nebel in der Dunkelheit. Das Atmen fällt einem schwer. Die Lunge kämpft, um das Blut mit Sauerstoff zu versorgen.
Er hustet und leckt sich die Lippen. Sie sind trocken und schon taub.
Seine Lider werden immer schwerer.
Jetzt schaukelt die ganze Familie auf der Hollywoodschaukel. Zwischen den Blättern in der Fliederlaube glitzert sommerliches Licht. Die rostigen Schrauben knirschen.
Mikael lächelt breit.
Wir schaukeln hoch, und Mama versucht zu bremsen, aber Papa gibt der Schaukel noch mehr Schwung. Der Tisch vor uns wird getroffen, so dass der Erdbeersaft in den Gläsern hochschwappt.
Die Schaukel schwingt nach hinten, und Papa lacht und hebt die Hände, wie man es tut, wenn man Achterbahn fährt.
Mikaels Kopf fällt herab, und er reißt ihn wieder hoch und öffnet die Augen in der Dunkelheit, taumelt zur Seite und stützt sich mit der Hand an der kühlen Wand ab. Er wendet sich der Matratze zu und denkt, dass er sich hinlegen muss, bevor er ohnmächtig wird, als seine Knie plötzlich einfach nachgeben.
Er fällt, schlägt auf den Boden, begräbt einen Arm unter sich und spürt den Schmerz in Handgelenk und Schulter bis in den bereits einsetzenden Schlaf ausstrahlen.
Schwer wälzt er sich auf den Bauch und versucht zu kriechen, aber seine Kräfte versiegen. Keuchend liegt er mit der Wange auf dem Betonboden und versucht, etwas zu sagen, hat aber keine Stimme mehr.
Obwohl er bis zuletzt dagegen ankämpft, fallen seine Augen zu.
Als er in die Finsternis entgleitet, hört er im selben Moment, dass der Sandmann in den Raum tapst und mit seinen mehligen Füßen die Wand bis zur Decke hochschleicht. Er bleibt stehen, streckt seine Arme zu ihm herunter und versucht, ihn mit Fingerspitzen aus Porzellan zu erreichen.
Alles ist schwarz.
Als Mikael erwacht, ist sein Mund wie ausgedörrt, und er hat Kopfschmerzen. Seine Augen sind verklebt von altem Sand. Er ist so müde, dass sein Gehirn versucht, wieder einzuschlafen, aber ein kleiner Funke in seinem Bewusstsein registriert, dass es etwas gibt, was sich grundlegend verändert hat.
Das Adrenalin kommt wie ein heißer Stoß.
Er setzt sich in der Dunkelheit auf und hört an der Akustik, dass er sich in einem anderen, einem größeren Raum befindet.
Er ist nicht mehr in der Kapsel.
Die Einsamkeit lässt ihn eiskalt werden.
Vorsichtig kriecht er über den Boden und erreicht eine Wand. Seine Gedanken drehen sich im Kreis. Er kann sich nicht mehr erinnern, wann er jeden Gedanken an einen Ausbruch aus der Kapsel aufgab.
Sein Körper ist nach dem langen Schlaf noch träge. Er richtet sich auf zitternden Beinen auf, folgt der Wand bis zu einer Ecke, tastet sich weiter vor und erreicht eine Platte aus Metall. Schnell fährt er über ihre Ränder und begreift, dass es sich um eine Tür handelt, er streicht mit den Händen über die Fläche und findet die Klinke.
Seine Hände zittern.
Es ist vollkommen still im Raum.
Vorsichtig drückt er die Klinke herunter und ist so darauf eingestellt, dass er Widerstand spürt, dass er beinahe stürzt, als die Tür einfach nachgibt und sich öffnet.
Er macht einen großen Schritt, steht in einem helleren Raum und muss für einen Moment die Augen schließen.
Das Ganze kommt ihm wie ein Traum vor.
Lass mich hier rauskommen, denkt er.
Er hat pochende Kopfschmerzen.
Er blinzelt, sieht, dass er sich in einem Korridor befindet, und geht ihn auf schwachen Beinen hinab. Sein Herz rast so sehr, dass es ihm fast den Atem verschlägt.
Er versucht, leise zu sein, wimmert aber trotzdem vor Angst.
Der Sandmann wird bald zurückkommen – er vergisst seine Kinder nicht.
Mikael kann die Augen nicht richtig öffnen, geht aber dennoch auf das verschwommene Licht vor ihm zu.
Ist das eine Falle, fragt er sich. Vielleicht wird er ja wie ein Insekt von einer brennenden Kerze angelockt.
Trotzdem geht er weiter und stützt sich mit der Hand an der Wand ab.
Er stößt gegen große Ballen Isolierwolle, stöhnt vor Angst, taumelt zur Seite, schlägt mit der Schulter gegen die andere Wand, schafft es aber, sich auf den Beinen zu halten.
Er bleibt stehen und hustet so leise, wie er nur kann.
Das Licht vor ihm kommt von einer Glasscheibe in einer Tür.
Er stolpert weiter und drückt die Klinke herunter, aber die Tür ist abgeschlossen.
Nein, nein, nein.
Er zerrt an der Klinke, stemmt sich gegen die Tür, zerrt erneut. Die Tür ist abgeschlossen. Am liebsten würde er sich einfach auf den Boden sinken lassen, so verzweifelt ist er. Plötzlich hört er hinter sich ganz sanfte Schritte, wagt es aber nicht, sich umzudrehen.
DER SCHRIFTSTELLER REIDAR Frost leert sein Weinglas, stellt es auf den Esstisch und schließt für einen Moment die Augen, um sich wieder zu beruhigen. Einer seiner Gäste klatscht in die Hände. Veronica in ihrem blauen Kleid hat sich der Zimmerecke zugewandt, hält sich die Hände vors Gesicht und beginnt zu zählen.
Die Gäste laufen in verschiedene Richtungen auseinander, ihre Schritte und ihr Gelächter verteilen sich auf die vielen Zimmer des Gutshofs.
Sie haben abgemacht, dass man sich nur im Erdgeschoss verstecken darf, aber Reidar steht langsam auf, geht zu einer schmalen Geheimtür und schiebt sich in den Serviergang. Vorsichtig steigt er die enge Bedienstetentreppe hoch, öffnet die Geheimtür im Wandbehang und geht zu seinen Privaträumen.
Er weiß, dass er sich hier lieber nicht alleine aufhalten sollte, trotzdem durchquert er die hintereinanderliegenden Salons.
Jedes Mal, wenn er das nächste Zimmer betritt, schließt er die Tür hinter sich, bis er die hintere Galerie erreicht.
An der Wand stehen die Kartons mit den Kleidern und Spielsachen der Kinder. Eine Kiste ist offen, und man blickt auf ein hellgrünes Lasergewehr.
Durch Fußboden und Wände hindurch hört er gedämpft Veronicas Stimme: »Hundert! Ich komme!«
Durch die Fenster fällt sein Blick auf Äcker und Pferdekoppeln. Etwas weiter entfernt liegt die lange Birkenallee, die zum Gut Råcksta führt.
Reidar zieht einen Lehnstuhl über den Boden und hängt sein Jackett über die Rückenlehne. Als er auf das Sitzpolster steigt, spürt er seinen Rausch. Schweiß nässt den Rücken seines weißen Hemds. Mit einer kraftvollen Bewegung wirft er das Seil über den Dachbalken. Der Stuhl unter ihm knarrt bei der Bewegung. Das schwere Seil schießt über den Balken, und das Tauende schwingt pendelnd hin und her.
Staub wirbelt durch die Luft.
Die gepolsterte Sitzfläche fühlt sich unter seinen Halbschuhen seltsam weich an.
Gedämpftes Lachen und Rufen dringt vom Fest zu ihm herauf, und Reidar schließt einen Moment die Augen und denkt an die Kinder, an ihre kleinen, wunderbaren Gesichter, ihre Schultern und schmalen Arme.
Er kann sich jederzeit ihre hellen Stimmen und schnellen Füße auf dem Fußboden vergegenwärtigen – die Erinnerung fährt wie eine Sommerbrise durch seine Seele und lässt ihn kalt und verlassen zurück.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mikael, denkt er.
Seine Hände zittern so stark, dass es ihm nicht gelingt, eine Schlinge zu knüpfen. Er versucht still zu stehen, ruhiger zu atmen, und will es gerade noch einmal versuchen, als jemand an eine der Türen klopft.
Er wartet ein paar Sekunden, lässt dann das Seil los, steigt vom Stuhl herunter und greift nach seinem Jackett.
»Reidar?«, ruft leise eine Frau.
Es ist Veronica, sie muss beim Zählen heimlich geguckt und beobachtet haben, dass er in dem Serviergang verschwand. Sie öffnet die Türen zu den verschiedenen Salons, und je näher sie kommt, desto deutlicher hört er ihre Stimme.
Reidar schaltet das Licht aus, verlässt das Kinderzimmer, öffnet die Tür zum nächsten Salon und bleibt dort stehen.
Veronica kommt ihm mit einem Sektglas in der Hand entgegen. In ihren dunklen, betrunkenen Augen liegt ein warmer Glanz.
Sie ist groß und schlank und hat ihre schwarzen Haare zu einer kleidsamen Pagenfrisur schneiden lassen.
»Habe ich gesagt, dass ich mit dir schlafen will?«, fragt er.
Sie dreht sich taumelnd um sich selbst.
»Lustig«, sagt sie mit traurigem Blick.
Veronica Klimt ist Reidars Literaturagentin. In den vergangenen dreizehn Jahren hat er zwar keine einzige Zeile mehr geschrieben, aber die drei Bücher, die er damals verfasst hatte, bringen ihm immer noch Geld ein.
Inzwischen dringt aus dem Esszimmer Musik zu ihnen herauf, der schnelle Bassrhythmus lässt die Grundmauern des Gutshauses erzittern. Reidar bleibt neben der Couch stehen und streicht sich mit der Hand durch sein silbriges Haar.
»Ihr hebt mir doch ein Schlückchen Sekt auf?«, fragt er und setzt sich auf die Couch.
»Nein«, antwortet Veronica und reicht ihm ihr halbvolles Glas.
»Dein Mann hat mich angerufen«, sagt Reidar. »Er findet, dass du langsam nach Hause kommen solltest.«
»Ich will nicht, ich will mich scheiden lassen und …«
»Das darfst du nicht«, unterbricht er sie.
»Warum sagst du das?«
»Weil du nicht glauben sollst, dass mir etwas an dir liegt«, antwortet er.
»Das tue ich auch nicht.«
Er leert das Glas, legt es einfach auf die Couch, schließt die Augen und spürt das Schwindelgefühl seines Rauschs.
»Du sahst traurig aus, und da habe ich mir Sorgen gemacht.«
»Mir geht es prächtig«, widerspricht er ihr.
Lachen ertönt, und die Tanzmusik wird so laut gestellt, dass man die Vibrationen im Boden an den Füßen spürt.
»Deine Gäste scheinen dich allmählich zu vermissen.«
»Dann wollen wir mal hinuntergehen und diesen Laden auf den Kopf stellen«, erwidert er lächelnd.
Seit sieben Jahren sorgt Reidar Frost dafür, praktisch rund um die Uhr Menschen um sich zu haben. Er hat einen riesigen Bekanntenkreis. Manchmal feiert er auf seinem Gut große Feste, manchmal lädt er zu intimeren Essen ein. An gewissen Tagen, wenn eins seiner Kinder Geburtstag hat, fällt es ihm extrem schwer weiterzuleben. Und er weiß genau, dass ihn Einsamkeit und Stille ohne die Gesellschaft von Menschen schnell besiegen würden.
REIDAR UND VERONICA öffnen die Türen zum Speisesaal, und die dröhnende Musik hämmert in ihre Brustkörbe. Menschen stehen dicht gedrängt und tanzen in der Dunkelheit rund um den großen Tisch. Manche essen noch Rehrücken und gegrilltes Wurzelgemüse.
Der Schauspieler Wille Strandberg hat sein Hemd aufgeknöpft, und es ist nicht zu verstehen, was er ihnen zuruft, als er sich tanzend zu Reidar und Veronica durchkämpft.
»Take it off«, ruft Veronica.
Wille Strandberg lacht, reißt sich das Hemd vom Leib, wirft es ihr zu, legt die Hände in den Nacken und tanzt vor ihr. Sein runder Bierbauch hüpft im Takt der schnellen Bewegungen.
Reidar leert ein weiteres Glas Wein und tanzt anschließend mit kreisenden Hüften vor Wille Strandberg.
Die Musik wird ruhiger, säuselnder, und der alte Verleger David Sylwan packt Reidars Arm und haucht ihm mit verschwitztem und glücklichem Gesicht etwas zu.
»Bitte?«
»Wir sind heute noch gar nicht gegeneinander angetreten«, wiederholt David.
»Poker?«, fragt Reidar. »Schießen, Ringen …«
»Schießen!«, rufen mehrere.
»Holt die Büchse und ein paar Flaschen Sekt«, befiehlt Reidar lächelnd.
Der hämmernde Rhythmus setzt wieder ein, und alle weiteren Gespräche gehen darin unter. Reidar hebt ein Ölgemälde von der Wand und trägt es aus dem Raum. Es ist ein Porträt von ihm selbst, gemalt von Peter Dahl.
»Ich mag dieses Bild«, sagt Veronica und versucht, ihn aufzuhalten.
Reidar schüttelt ihre Hand von seinem Arm ab und geht weiter. Fast alle Gäste folgen ihm in den eiskalten Park hinaus. Auf der Erde wölbt sich sanft und glatt der Neuschnee. Flocken wirbeln unter einem schwarzen Himmel.
Reidar stapft durch den Schnee und hängt das Porträt an einem Apfelbaum mit schneebedeckten Ästen auf. Wille Strandberg folgt ihm mit einer Handfackel, die er aus einem Karton im Putzschrank geholt hat. Er zieht die Plastikkappe ab und zieht an der Schnur. Es knallt, und Funken sprühen, als die Fackel mit grellem Licht zu leuchten beginnt. Lachend torkelt er zu dem Baum und stellt die Fackel dort in den Schnee. Das weiße Licht erleuchtet den Stamm und die nackten Äste.
Nun können alle das Gemälde von Reidar, der einen silbrig schimmernden Stift in der Hand hält, sehen.
Der Übersetzer Berzelius hat drei Sektflaschen mitgebracht, und David Sylwan hält lächelnd Reidars alten Colt hoch.
»Das ist nicht lustig«, sagt Veronica ohne Kraft in der Stimme.
David stellt sich mit dem Colt in der Hand neben Reidar. Er schiebt sechs Kugeln in die Kammern und lässt anschließend die Trommel rotieren.
Wille Strandberg läuft immer noch mit nacktem Oberkörper herum, aber da er betrunken ist, spürt er die Kälte nicht.
»Wenn du gewinnst, darfst du dir im Stall ein Pferd aussuchen«, murmelt Reidar und nimmt David den Revolver ab.
»Seid bitte vorsichtig«, sagt Veronica.
Reidar tritt ein paar Schritte zur Seite, zielt mit gestrecktem Arm und schießt, trifft aber nicht. Der Knall hallt zwischen den Gebäuden wider.
Einige Gäste klatschen höflich Beifall, als hätte er Golf gespielt.
»Jetzt bin ich dran«, verkündet David lachend.
Veronica steht fröstelnd im Schnee. Ihre Füße brennen in den dünnen Sandaletten vor Kälte.
»Ich mag dieses Porträt«, sagt sie erneut.
»Ich auch«, entgegnet Reidar und feuert noch einen Schuss ab.
Die Kugel trifft die obere Ecke des Bildes. Staub wirbelt auf, der Goldrahmen löst sich ein wenig und hängt schief.
David nimmt Reidar kichernd den Revolver aus der Hand, wankt, fällt und feuert einen Schuss in den Himmel ab und dann einen weiteren, als er aufzustehen versucht.
Manche Gäste klatschen, andere prosten ihm lachend zu.
Reidar nimmt den Revolver wieder an sich und fegt den Schnee ab.
»Der letzte Schuss entscheidet«, sagt er.
Veronica geht zu ihm und küsst ihn auf den Mund.
»Wie geht es dir?«
»Großartig«, antwortet er. »Ich könnte nicht glücklicher sein.«
Veronica sieht ihn an und streicht ihm die Haare aus der Stirn. Von der Gruppe auf der Steintreppe schallen Pfiffe und Lachen herüber.
»Ich habe eine bessere Zielscheibe gefunden«, ruft eine rothaarige Frau, an deren Namen er sich nicht erinnert.
Sie schleift eine gigantische Puppe durch den Schnee. Plötzlich kann sie die große Puppe nicht mehr halten, sie fällt auf die Knie und rappelt sich wieder auf. Das Leopardenmuster ihres Kleids ist voller feuchter Flecken.
»Ich habe sie gestern schon gesehen, sie lag in der Garage unter einer schmutzigen Plane«, verkündet sie jubelnd.
Berzelius eilt zu ihr, um ihr tragen zu helfen. Die Puppe aus lackiertem Plastik stellt Spiderman dar und ist genauso groß wie Berzelius.
»Bravo, Marie!«, ruft David Sylwan.
»Erschießt Spiderman«, murmelt eine der Frauen hinter ihnen.
Reidar blickt auf, sieht die große Puppe und lässt die Waffe in den Schnee fallen.
»Ich muss schlafen«, sagt er schroff.
Er schlägt Wille Strandberg das Sektglas aus der Hand, das dieser ihm hinhält, und kehrt auf wackligen Beinen zum Haupthaus zurück.
VERONICA BEGLEITET MARIE, als sie in dem großen Gutshaus nach Reidar suchen. Sie gehen durch Zimmer und Salons. Sein Jackett liegt auf der Treppe zur oberen Etage, und sie steigen hinauf. Es brennt kein Licht, aber weiter hinten sehen sie das flackernde Licht eines Feuers. Reidar sitzt vor dem offenen Kamin auf einer Couch. Die Manschettenknöpfe hat er abgenommen, und das Hemd hängt lose über seine Hände. Auf dem niedrigen Bücherschrank neben ihm stehen vier Flaschen Château Cheval Blanc.
»Ich wollte mich nur entschuldigen«, sagt Marie und stützt sich an der Tür ab.
»Lasst mich in Ruhe«, murmelt Reidar.
»Es war dumm von mir, die Puppe hinauszuschleifen, ohne vorher zu fragen«, fährt Marie fort.
»Von mir aus könnt ihr den ganzen alten Krempel verbrennen«, erwidert er.
Veronica geht zu ihm, fällt auf die Knie und schaut lächelnd zu seinem Gesicht auf.
»Hast du Marie eigentlich schon begrüßt?«, fragt sie. »Sie ist Davids Freundin … glaube ich.«
Reidar prostet der rothaarigen Frau zu und trinkt einen großen Schluck. Veronica nimmt ihm das Glas aus der Hand, kostet den Wein und setzt sich.
Sie streift die Schuhe ab, lehnt sich zurück und legt ihre nackten Füße in seinen Schoß.
Behutsam tätschelt er ihre Wade, streichelt über den blauen Fleck, den der neue Bügelriemen des Sattels dort hinterlassen hat, über die Innenseite ihres Schenkels bis zu ihrem Schoß hinauf. Sie lässt es zu, und es scheint ihr egal zu sein, dass Marie noch im Raum ist.
Die Flammen in der großen Feuerstätte schlagen hoch. Die Hitze pulsiert, und sein Gesicht glüht so sehr, dass es fast brennt.
Marie kommt vorsichtig näher. Reidar sieht sie an. Ihre roten Haare locken sich in der Wärme des Zimmers. Ihr Leopardenkleid ist fleckig und zerknittert.
»Eine Bewunderin«, sagt Veronica und zieht das Glas zurück, als Reidar es zu erreichen versucht.
»Ich liebe Ihre Bücher«, sagt Marie.
»Welche Bücher?«, fragt er schroff.
Er steht auf, holt ein neues Glas aus dem Vitrinenschrank und schenkt Wein ein. Marie deutet die Geste falsch und streckt die Hand aus, um es entgegenzunehmen.
»Ich gehe davon aus, dass Sie auf den Pott gehen, wenn Sie pissen wollen«, sagt Reidar und trinkt.
»Sie brauchen doch nicht gleich …«
»Und wenn Sie Wein wollen, dann trinken Sie verdammt nochmal Wein«, unterbricht er sie mit lauter Stimme.
Marie errötet und schnappt nach Luft. Mit zittriger Hand nimmt sie die Flasche und schenkt sich selbst ein. Reidar seufzt schwer und sagt dann mit sanfterer Stimme:
»Ich finde, dieses Jahr gehört zu den besseren.«
Er nimmt die Flasche mit und setzt sich wieder.
Lächelnd beobachte er Marie, als sie sich neben ihn setzt, das Weinglas dreht und kostet.
Reidar lacht und schenkt ihr nach, sieht ihr in die Augen, wird ernst und küsst sie dann auf den Mund.
»Was tun Sie denn da?«, flüstert sie.
Reidar küsst Marie noch einmal ganz sanft. Sie zieht den Kopf weg, kann aber ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie trinkt etwas Wein, sieht ihm in die Augen, lehnt sich vor und küsst ihn.
Er streichelt ihren Nacken unter den Haaren, fährt mit der Hand über ihre rechte Schulter und spürt, dass der schmale Träger ihres Kleids ins Fleisch eingesunken ist.
Sie stellt ihr Glas ab, küsst ihn noch einmal und denkt, dass sie verrückt ist, als sie es zulässt, dass er ihre Brüste liebkost.
Reidar unterdrückt seine Tränen mit solcher Macht, dass sein Hals schmerzt, als er unter dem Kleid ihren Oberschenkel streichelt, wo er ihr Nikotinpflaster spürt, während sich seine Hand ihrem Po nähert.
Als er versucht, ihren Slip herunterzuziehen, schlägt sie seine Hand fort, steht auf und wischt sich den Mund ab.
»Wir sollten vielleicht wieder zu den anderen hinuntergehen«, sagt sie und versucht, neutral zu klingen.
»Ja«, sagt er.
Veronica sitzt auf der Couch, rührt sich nicht und begegnet auch nicht ihrem suchenden Blick.
»Kommt ihr mit?«
Reidar schüttelt den Kopf.
»Okay«, flüstert Marie und geht zur Tür.
Ihr Kleid schimmert, als sie den Raum verlässt. Reidar starrt durch die Türöffnung hinaus. Die Dunkelheit sieht aus wie schmutziger Samt.
Veronica steht auf, nimmt ihr Weinglas vom Tisch und trinkt. An ihrem Kleid haben sich unter den Armen Schweißflecken gebildet.
»Du bist ein Schwein«, sagt sie.
»Ich versuche nur, mein Leben in vollen Zügen zu genießen«, entgegnet er leise.
Er greift nach ihrer Hand, legt sie an seine Wange, hält sie dort fest und sieht in ihre traurigen Augen.
DAS FEUER IM KAMIN ist erloschen und der Salon eiskalt, als Reidar auf der Couch erwacht. Seine Augen brennen, und er denkt an die Geschichten seiner Frau über den Sandmann, der den Kindern Sand in die Augen streut, so dass sie sanft entschlummern und die ganze Nacht durchschlafen.
»Verdammt«, flüstert Reidar und setzt sich auf.
Er ist nackt und hat Wein aufs Leder verschüttet. In der Ferne hört man das Donnern eines Flugzeugs. Durch die staubigen Fenster fällt morgendliches Licht herein.
Reidar steht auf und sieht, dass Veronica zusammengekauert auf dem Boden vor dem Kamin liegt. Sie hat die Tischdecke um sich geschlungen. Im Wald hört man irgendwo die bellenden Laute eines flüchtenden Rehs. Das Fest im Erdgeschoss geht weiter, aber es ist nicht mehr ganz so laut wie noch vor Stunden. Reidar greift nach der halbvollen Weinflasche und verlässt torkelnd den Raum. Als er die knarrende Eichentreppe zu seinem Schlafzimmer hochsteigt, pochen seine Schläfen. Er bleibt auf dem Treppenabsatz stehen, seufzt und kehrt wieder um. Behutsam trägt er Veronica auf die Couch, deckt sie zu, hebt ihre Lesebrille vom Fußboden auf und legt sie auf den Tisch.
Reidar Frost ist zweiundsechzig Jahre alt und der Autor von drei Weltbestsellern, der so genannten Sanctum-Reihe.
Acht Jahre zuvor verließ er sein Haus in Tyresö, nachdem er das Gut Råcksta in der Nähe von Norrtälje erworben hatte. Zweihundert Hektar Wald, Felder, Ställe und eine sehr schöne Pferdekoppel, auf der er gelegentlich seine fünf Pferde trainiert. Vor dreizehn Jahren wurde Reidar Frost auf eine Art einsam, wie man sie seinem schlimmsten Feind nicht wünscht. Sein Sohn und seine Tochter verschwanden eines Abends spurlos, als sie sich aus dem Haus geschlichen hatten, um sich heimlich mit einem Freund zu treffen. Die Fahrräder von Mikael und Felicia wurden auf einem Fußweg in der Nähe von Badholmen gefunden. Außer einem Kommissar mit finnischem Akzent gingen damals alle davon aus, dass die Kinder zu nahe am Wasser gespielt hatten und in der Bucht Erstaviken ertrunken waren.
Die Polizei stellte die Suche schließlich ein, obwohl die Leichen der beiden nie gefunden wurden. Reidars Ehefrau Roseanna ertrug ihn und ihre eigene Trauer nicht. Sie zog vorübergehend zu ihrer Schwester, verlangte die Scheidung und reiste mit ihrem Anteil aus dem gemeinsamen Vermögen ins Ausland. Nur zwei Monate nach ihrer Trennung wurde sie in einem Pariser Hotel in der Badewanne gefunden. Sie hatte Selbstmord begangen. Auf dem Fußboden lag eine Zeichnung, die Felicia als Muttertagsgeschenk für sie gemacht hatte.
Die Kinder wurden für tot erklärt. Ihre Namen stehen auf dem Stein eines Grabs, das Reidar nur selten besucht. Als die Todeserklärung rechtskräftig wurde, lud er seine Freunde noch am selben Tag zu einem Fest ein, das er seither am Leben erhält wie ein Feuer, das man besser nicht ausgehen lässt.
Reidar Frost ist davon überzeugt, dass er sich auf diese Weise zu Tode trinken wird, weiß gleichzeitig aber auch, dass er sich das Leben nehmen würde, wenn man ihn alleine ließe.
EIN GÜTERZUG SCHIESST durch die nächtliche Winterlandschaft. Die Traxx-Lokomotive zieht eine fast dreihundert Meter lange Kette von Waggons.
Im Führerstand sitzt Lokomotivführer Erik Johnsson. Seine Hand liegt auf dem Führerpult. Der Lärm aus dem Maschinenraum und von den Gleisen ist rhythmisch und monoton.
Im Lichttunnel der beiden Scheinwerfer scheint der Schnee auf ihn zuzustürzen. Der Rest ist Dunkelheit.
Als der Zug aus der großen Kurve um Vårsta herausfährt, beschleunigt Erik Johnsson wieder.
Es ist so viel feiner Schnee in der Luft, dass er spätestens in Hallsberg anhalten muss, um die Bremsen zu kontrollieren.
Weit vor ihm springen im Schneedunst zwei Rehe vom Bahndamm auf den weißen Acker hinab, bewegen sich mit magischer Eleganz durch den Schnee und verschwinden in der Nacht.
Als der Zug sich der langen Igelsta-Brücke nähert, denkt Erik an die Zeit zurück, in der Sissela ihn manchmal auf seinen Fahrten begleitete. In jedem Tunnel und auf jeder Brücke hatten sie sich geküsst. Heute weigert sie sich, seinetwegen auch nur eine einzige Yoga-Stunde zu verpassen.
Er bremst vorsichtig, lässt Hall hinter sich und rollt auf die hohe Brücke hinaus. Als würde man fliegen. Schnee wirbelt im Scheinwerferlicht im Kreis, so dass man beinahe das Gefühl dafür verliert, wo oben und unten ist.
Die Lokomotive ist bereits mitten auf der Brücke, hoch über dem Eis der Hallsfjärden, als Lokomotivführer Erik Johnsson im Dunst einen zitternden Schatten erblickt. Auf dem Gleis ist ein Mensch. Erik hupt kräftig und sieht, wie die Gestalt einen großen Schritt nach rechts auf die zweite Trasse macht.
Die Lokomotive nähert sich ihm mit hoher Geschwindigkeit. Für eine halbe Sekunde befindet sich der Mann im Lichtkegel der Scheinwerfer. Er blinzelt. Ein junger Mann mit einem toten Gesicht. Die Kleider schlottern an seinem schlanken Leib, und dann ist er fort.
Erik ist sich nicht bewusst, dass er die Bremse betätigt hat und der ganze Zug langsamer wird. Es donnert und quietscht metallisch, und er weiß nicht, ob er den jungen Mann nun angefahren hat oder nicht.
Er zittert, spürt, wie das Adrenalin durch seine Adern strömt, und ruft die Notrufzentrale an.
»Ich bin Lokomotivführer und auf der Igelsta-Brücke gerade an einem Menschen vorbeigefahren … er war mitten auf den Gleisen, aber ich glaube nicht, dass ich ihn angefahren habe …«
»Ist jemand verletzt?«, erkundigt sich die Frau in der Zentrale.
»Ich glaube nicht, dass ich ihn erwischt habe, ich habe ihn nur ein paar Sekunden gesehen.«
»Wo genau haben Sie ihn gesehen?«
»Mitten auf der Igelsta-Brücke.«
»Auf dem Gleis?«
»Hier gibt es nur Gleise, es ist eine Eisenbahnbrücke …«
»Stand er oder bewegte er sich in eine Richtung?«
»Das weiß ich nicht.«
»Mein Kollege alarmiert bereits die Polizei und den Notarzt in Södertälje. Die Brücke muss vorläufig für den Zugverkehr gesperrt werden.«
DIE NOTRUFZENTRALE BEORDERT unverzüglich Streifenwagen zu beiden Enden der langen Brücke. Nur neun Minuten später fährt der erste mit Blaulicht vom Nyköpingsvägen ab und nimmt die schmale Schotterpiste neben der Sydgatan. Die Straße führt in Serpentinen steil aufwärts. Sie ist nicht geräumt worden, und loser Schnee wird auf Motorhaube und Windschutzscheibe geschleudert.
Die Polizisten steigen am Brückenkopf aus dem Auto und gehen mit eingeschalteten Taschenlampen auf die Gleise hinaus. Es ist nicht ganz leicht, auf den Schienen vorwärtszukommen. Auf der Autobahn tief unter ihnen rollt der Verkehr. Die vier Gleise werden zu zwei Schienensträngen zusammengeführt und verlaufen hoch über dem Industriegebiet Björkudden und der zugefrorenen Bucht.
Der vordere Polizist bleibt stehen und zeigt auf etwas. Jemand ist ganz offensichtlich vor ihnen parallel zum rechten Gleis gegangen. Im unruhigen Licht der Taschenlampen sind fast verwischte Fußspuren und einzelne Blutspritzer zu sehen.
Die Lichtkegel der Taschenlampen folgen den Schienen, aber die Polizisten können niemanden sehen. Die Lichter des Hafens beleuchten die Gleise von unten und lassen den Schnee zwischen den Schienen wie Brandrauch pulsieren.
Erst jetzt erreicht der andere Streifenwagen den mehr als zwei Kilometer entfernten Brückenkopf auf der anderen Seite der tiefen Förde.
Es poltert unter den Reifen, als Polizeimeister Jasim Muhammed parallel zur Eisenbahnlinie fährt. Sein Kollege Fredrik Mosskin hat gerade Funkkontakt mit den Kollegen auf der Brücke hergestellt.
Der Wind fährt ins Mikrofon, so dass es fast unmöglich ist, die Stimme des Beamten zu hören, aber es ist jedenfalls erst kürzlich jemand auf der Eisenbahnbrücke gegangen.
Der Wagen hält, und die Scheinwerfer beleuchten eine hohe Felswand. Fredrik beendet das Gespräch und starrt ins Leere.
»Was ist los?«, erkundigt sich Jasim.
»Er scheint auf dem Weg zu unserer Seite zu sein.«
»Was haben sie über Blut gesagt? Haben sie viel Blut gefunden?«
»Habe ich nicht verstanden.«
»Dann wollen wir mal nachsehen«, meint Jasim und öffnet die Autotür.
Das Blaulicht flackert über Fichten mit schneebeschwerten Ästen.
»Der Krankenwagen ist unterwegs«, sagt Fredrik.
Der Schnee ist nicht verharscht, so dass Jasim bis zu den Knien einsinkt. Er hakt die Taschenlampe los und leuchtet die beiden Gleise ab. Fredrik rutscht auf dem Bahndamm ab, steigt dann aber weiter hoch.
»Welches Tier hat mitten auf dem Rücken ein zusätzliches Arschloch?«, fragt Jasim.
»Keine Ahnung«, murmelt Fredrik.
Es ist so viel Schnee in der Luft, dass sie das Licht der Taschenlampen ihrer Kollegen auf der anderen Seite der Brücke nicht ausmachen können.
»Ein Polizeipferd«, gibt Jasim sich selbst die Antwort.
»Was zum Teufel …«
»Den hat meine Schwiegermutter immer ihren Kindern erzählt«, sagt er lächelnd und geht auf die Brücke hinaus.