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Die schöne Hester Prynne kommt Mitte des 17. Jahrhunderts nach Neuengland, wo sie dem strengen amerikanischen Puritanismus ausgesetzt ist. Sie verliebt sich in den Pastor der Gemeinde, von dem sie ein uneheliches Kind bekommt, während ihr Ehemann als verschollen auf See gilt. Zur Strafe für den Ehebruch muss sie ein scharlachrotes 'A' auf der Brust tragen. Sie sieht sich fortan den Anfeindungen der Dorfgemeinde ausgesetzt, während ihr heimgekehrter Gatte dem Pfarrer heftig zusetzt, bis dieser sich schließlich öffentlich zu seiner Liebe zu Hester bekennt.
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Seitenzahl: 340
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Der scharlachrote Buchstabe
© Nathaniel Hawthorne 1850
Die Originalausgabe erschien erstmals 1850 unter dem Titel The Scarlet Letter
Aus dem Englischen von Franz Blei
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildmaterial von Efes Kitap / Pixabay
© Lunata Berlin 2019
1. Die Gefängnistür
2. Der Marktplatz
3. Die Erkennung
4. Die Zusammenkunft
5. Esther mit der Nadel
6. Perle
7. Das Haus des Gouverneurs
8. Das Elfenkind und der Geistliche
9. Der Heilkünstler
10. Der Arzt und sein Patient
11. Das Innere eines Herzens
12. Die Vigilie des Geistlichen
13. Ein zweiter Blick auf Esther
14. Esther und der Arzt
15. Esther und Perle
16. Ein Spaziergang im Walde
17. Der Pfarrer und sein Pfarrkind
18. Flut von Sonnenschein
19. Das Kind am Bache
20. Der Geistliche im Labyrinth
21. Feiertag in Neu-England
22. Der Aufzug
23. Die Offenbarung des scharlachroten Buchstabens
24. Schluß
Eine gedrängte Menge von bärtigen Männern, in dunkelfarbigen Kleidern und grauen, hohen, spitz zulaufenden Hüten, wie von mit Kapuzen bedeckten oder barhäuptigen Frauen hatte sich vor einem Holzhause versammelt, dessen Tür aus schweren, starken Eichenbohlen mit eisernen Stacheln besetzt war.
Die Begründer einer neuen Kolonie haben, welches Utopia menschlicher Tugend und Glückseligkeit sie immer auch ursprünglich herbeiführen wollten, doch ohne Ausnahme unter ihren ersten praktischen Bedürfnissen stets gefunden, einen Teil des jungfräulichen Bodens zum Gottesacker und einen andern zum Gefängnis zu bestimmen. Man kann dieser Regel gemäß mit Sicherheit annehmen, daß die Begründer von Boston das erste Gefängnis irgendwo in der Nähe von Cornhill ebenso rechtzeitig gebaut haben, wie sie die Grenzen ihres ersten Begräbnisplatzes auf Isaak Johnsons Feld absteckten, dessen Grab später der Mittelpunkt und Kern aller Begräbnisse auf dem alten Kirchhof von King's Chapel wurde. Soviel steht fest: fünfzehn bis zwanzig Jahre nach der Anlage der Stadt war das hölzerne Gefängnisgebäude bereits mit Wetterflecken und andern Zeichen des Alters überdeckt, die seiner düstern Front ein noch finstereres Aussehen gaben. Der Rost auf dem schweren Eisenwerk seiner Eichentür sah antiker als alles andere in der Neuen Welt aus; gleich allem, was sich auf das Verbrechen bezieht, schien es nie eine Jugendzeit besessen zu haben. Vor diesem häßlichen Gebäude und zwischen ihm und dem Rädergleise der Straße lag ein Rasenfleck, stärk mit Kletten, Huflattich, Stechapfel und ähnlichem häßlichen Unkraut überwachsen, das offenbar etwas Verwandtes in dem Boden fand, der so früh schon die schwarze Blume der Zivilisation, ein Gefängnis, getragen hatte. Aber auf der einen Seite des Portals, fast an der Schwelle, rankte ein wilder Rosenbusch, der jetzt im Juni mit seinen zarten Juwelen bedeckt war, dem Gefangenen, ging er hinein, und dem verurteilten Verbrecher, kam er heraus, Duft und vergängliche Schönheit zu bieten und ihm zu beweisen, daß das tiefe Herz der Natur ihn bemitleiden und freundlich gegen ihn sein könne.
Dieser Rosenbusch hat sich durch einen sonderbaren Zufall in der Geschichte lebendig erhalten; ob er aber die dunkle alte Wildnis so lange nach dem Fall der riesigen Tannen und Eichen, die ihn ursprünglich beschatteten, überlebt, oder ob er, was zu glauben guter Grund vorhanden ist, unter den Schritten der begnadeten Anna Hutchinson aufgesprosst war, als sie in die Gefängnistür trat: dies zu bestimmen, wollen wir nicht auf uns nehmen. Da wir ihn so hart an der Schwelle unserer Erzählung finden, die jetzt aus jener unglückverkündenden Tür hervortreten soll, konnten wir kaum vermeiden, eine von seinen Blüten zu pflücken und dem Leser darzubieten. Hoffen wir, daß sie als Symbol einer duftigen moralischen Blüte, die sich vielleicht unterwegs findet, diene, oder gegen den düstern Schluß einer Geschichte menschlicher Schwäche und Schmerzen freundlich sich abhebe.
Von diesem sie gänzlich erfüllenden Bewusstsein, daß sie der Gegenstand einer strengen und allgemeinen Beobachtung sei, wurde die Trägerin des Scharlachbuchstabens endlich dadurch erlöst, daß sie am äußeren Saum der Zuschauermenge eine Gestalt bemerkte, welche unwiderstehlich Besitz von ihren Gedanken ergriff. Dort stand ein Indianer in seiner einheimischen Tracht, aber die roten Männer waren nicht so seltene Besucher der englischen Ansiedlungen, daß einer von ihnen zu solcher Zeit Esther Prynnes Aufmerksamkeit erregt oder gar alle übrigen Gegenstände und Gedanken aus ihrem Geiste verbannt haben würde. An der Seite des Indianers, und offenbar als sein Begleiter, stand ein weißer, in ein seltsames Gemisch von zivilisiertem und wildem Kostüm gekleideter Mann.
Er war von kleiner Statur und zeigte ein gefurchtes Gesicht, welches jedoch noch kaum alt genannt werden konnte. In seinen Zügen lag eine bemerkenswerte Intelligenz, als seien es die einer Person, welche ihren geistigen Teil so ausgebildet hatte, daß er nicht verfehlen konnte, den physischen nach sich zu formen und durch unverwechselbare Zeichen sichtbar zu machen. Wiewohl er durch eine scheinbar nachlässige Anordnung seiner zusammengewürfelten Kleidung versucht hatte, die Eigentümlichkeiten zu vermindern oder zu verringern, so war es für Esther Prynne doch erkennbar genug, daß die eine Schulter dieses Mannes sich über die andere erhob. In dem ersten Augenblick, wo sie dieses magere Gesicht und die geringe Entstellung der Gestalt bemerkte, drückte sie ihr Kind wieder mit so krampfhafter Gewalt an ihre Brust, daß der arme Säugling einen zweiten Schmerzensschrei ausstieß. Die Mutter schien ihn jedoch nicht zu hören.
Sobald er auf den Marktplatz gelangt war und schon einige Zeit, ehe sie ihn gesehen, hatte der Fremde seine Augen auf Esther Prynne geheftet. Anfangs war es nachlässig gewesen, wie der Blick eines Mannes, der gewohnt ist, hauptsächlich nach innen zu blicken, und für welchen äußere Dinge ohne Wert und Wichtigkeit sind, wenn sie sich nicht auf etwas in seinem Geiste beziehen. Sehr bald war jedoch sein Blick scharf und durchdringend geworden. Ein zuckendes Entsetzen trat auf seine Züge, wie eine schnell darüber hingleitende Schlange, die eine kleine Pause machte, während alle ihre verschlungenen Wendungen deutlich sichtbar waren. Sein Gesicht wurde durch eine mächtige Bewegung verdunkelt, die er jedoch durch eine Anstrengung seines Willens so augenblicklich zügelte, daß bis auf diesen einzigen Augenblick dessen Ausdruck für den der Ruhe gegolten haben würde. Nach kurzer Zeit wurde das Zucken fast unmerklich und versank endlich ganz in den Tiefen seiner Natur. Als er fand, daß Esther Prynne ihre Augen auf die seinen heftete und sah, daß sie ihn zu erkennen schien, erhob er langsam und ruhig seinen Finger, machte damit eine Bewegung durch die Luft und legte ihn auf seine Lippen.
Hierauf berührte er die Schulter eines neben ihm stehenden Bürgers und redete ihn auf förmliche, höfliche Art an.
»Ich bitte Euch, guter Herr«, sagte er, »mir mitzuteilen, wer dieses Weib ist und weshalb es zur öffentlichen Schande hier steht.«
»Ihr müßt wohl ein Fremder in dieser Gegend sein, Freund«, entgegnete der Städter mit einem neugierigen Blick auf den Fragenden und dessen wilden Gefährten, »sonst würdet Ihr sicherlich von Frau Esther Prynne und ihren Missetaten gehört haben. Ich darf wohl sagen, daß sie großes Ärgernis in der Kirche des gottesfürchtigen Herrn Dimmesdale erregt hat.«
»Ihr habt recht«, entgegnete der andere, »ich bin ein Fremder und war zu meinem Schmerz, nicht freiwillig, ein Wanderer. Ich habe schweres Unglück zur See und zu Lande erfahren und bin lange in den Banden des Heidenvolks im Süden gewesen und jetzt von diesem Indianer hierhergebracht worden, um aus meiner Gefangenschaft erlöst zu werden. Wollt Ihr daher die Güte haben, mir zu sagen, worin Esther Prynnes – habe ich den Namen auch recht gehört? –, worin dieses Weibes Vergehen bestanden und was sie auf jene Schandbühne gebracht hat?«
»Wahrlich, Freund, es muß nach Euern Fährnissen und Eurem Aufenthalt in der Wildnis Euer Herz erfreuen, Euch endlich wieder in einem Lande zu befinden, wo die Sünde aufgespürt und angesichts der Vorgesetzten und des Volkes bestraft wird, wie hier in unserem gottesfürchtigen Neu-England. So wißt, Herr, daß jenes Weib die Ehefrau eines gelehrten Mannes von englischer Geburt war, der aber lange in Amsterdam gelebt hatte, wo es ihm vor einer guten Zeit in den Sinn kam, herüber zu fahren und sein Los mit dem unsern in Massachusetts zu vereinigen. Zu diesem Zwecke schickte er seine Frau voraus, während er selbst zurückblieb, um einige notwendige Geschäfte zu besorgen. Nun, guter Herr, in den zwei Jahren oder weniger, wo das Weib hier in Boston gelebt hat, sind keine Nachrichten von dem gelehrten Meister Prynne eingelaufen, und seine junge Frau sehet Ihr, die ihrer eigenen schlimmen Führung überlassen geblieben ist –«
»Oh! ich verstehe Euch,« sagte der Fremde mit bitterem Lächeln. »Ein so gelehrter Mann, wie der, von welchem Ihr sprecht, hätte auch dies aus seinen Büchern gelernt haben sollen, und wer mag, mit Eurer Gunst, Herr, der Vater jenes Kindes sein ... es kommt mir drei bis vier Monate alt vor, welches Frau Prynne in ihrem Arm hält?«
»Wahrlich, Freund, die Sache ist ein Rätsel geblieben und der Daniel, welcher es lösen soll, fehlt noch«, antwortete der Städter. »Madam Esther weigert sich unbedingt zu sprechen, und die Richter haben vergeblich ihre Köpfe zusammengesteckt. Vielleicht blickt gar der Schuldige, den Menschen unbekannt, auf dieses traurige Schauspiel und vergißt, daß er von Gott gesehen wird.«
»Der gelehrte Mann,« bemerkte der Fremde mit einem abermaligen Lächeln, »sollte selbst kommen, um das Geheimnis zu erforschen.«
»Das geziemt ihm allerdings, wenn er noch am Leben ist«, antwortete der Städter. »Nun, guter Herr, unser Magistrat in Massachusetts hat bedacht, daß dieses Weib jung und schön ist, und ohne Zweifel stark zu ihrem Falle verlockt wurde, und daß überdies aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Ehemann auf dem Grunde der See liegt, und deshalb nicht den Mut gehabt, die ganze Strenge unseres gerechten Gesetzes gegen sie zur Anwendung zu bringen. Die Strafe, welches dasselbe auferlegt, ist der Tod, aber in ihrer großen Gnade und Herzensmilde haben sie Frau Prynne nur dazu verurteilt, drei Stunden lang auf dem Gerüste des Prangers zu stehen und von da an bis an ihr Lebensende ein Zeichen der Schande auf ihrer Brust zu tragen.«
»Ein weiser Spruch«, bemerkte der Fremde, ernst den Kopf neigend; »auf diese Weise wird sie eine lebende Predigt gegen die Sünde sein, bis der schmachvolle Buchstabe auf ihrem Leichenstein ausgehauen wird. Dennoch ist's mir ärgerlich, daß der Teilnehmer ihrer Missetat nicht wenigstens auf der Bühne neben ihr steht; aber man wird ihn kennen ... man wird ihn kennen ... man wird ihn kennen!«
Er verbeugte sich höflich gegen den mitteilsamen Bürger, flüsterte seinem indianischen Begleiter einige Worte zu, und sie drängten sich beide durch die Menge.
Während dies vorging, hatte Esther Prynne auf ihrer Erhöhung gestanden und ihre Augen immer noch mit einem so unverwandten Blicke auf den Fremden geheftet, daß in manchen Momenten alle übrigen Gegenstände der sichtbaren Welt zu verschwinden und nur sie und ihn zurückzulassen schienen. Eine solche Begegnung würde ohne Zweifel noch weit entsetzlicher gewesen sein, als selbst deren jetzige Art, wo die heiße Mittagssonne auf ihr Gesicht herab brannte und ihre Schande beschien, mit dem scharlachroten Zeichen der Schmach auf der Brust und dem Sündenkinde auf ihren Armen, mit einem ganzen wie zu einem Feste herbeigekommenen Volke, welches die Züge angaffte, die nur in dem stillen Scheine des Kamins im glücklichen Schatten des Heimathauses oder unter einem Frauenschleier in der Kirche hätten sichtbar sein sollen. So entsetzlich es auch war, so wußte sie doch, daß sie einen Schutz an der Gegenwart dieser Tausende von Zeugen besaß. Es war besser, so dazustehen und so viele zwischen ihm und sich zu haben, als ihn, mit ihm allein, von Angesicht zu Angesicht zu begrüßen. Sie suchte sozusagen in der öffentlichen Schaustellung Zuflucht und fürchtete den Augenblick, wo ihr deren Schutz entzogen werden würde. In diese Gedanken versunken, hörte sie kaum, daß eine Stimme hinter ihr sprach, bis diese ihren Namen mehr als einmal in lautem, feierlichem, der ganzen Versammlung hörbarem Tone wiederholt hatte.
»Hört mich an, Esther Prynne!« sagte die Stimme.
Es ist bereits gesagt worden, daß gerade über dem Gerüst, auf welchem Esther Prynne stand, eine Art von Balkon oder offener Galerie an dem Versammlungshause angebracht war. Dies war der Ort, wo im Beisein des versammelten Magistrats und mit dem ganzen Pomp und Zeremoniell, wovon dergleichen öffentliche Vorgänge zu jener Zeit begleitet waren, Proklamationen erlassen zu werden pflegten. Hier saß, um die Szene, welche wir beschreiben, anzusehen, Gouverneur Bellingham selbst, mit einer Ehrenwache von vier Hellebarden tragenden Sergeanten um seinen Stuhl. Er hatte eine dunkle Feder an seinem Hut, einen gestickten Saum an seinem Mantel und darunter einen schwarzen Samtrock, und war ein Mann von vorgerückten Jahren, in dessen Gesicht schwere Erfahrungen ihre Furchen eingegraben hatten. Er war nicht übel zum Haupte und Vertreter einer Gemeinschaft geeignet, welche ihren Ursprung und Fortschritt sowie ihren gegenwärtigen Zustand nicht den Impulsen der Jugend, sondern der strengen gezügelten Energie der Mannesjahre und der finstern Klugheit des Alters verdankte, und gerade deshalb so viel bewirkte, weil sie sich so wenig einbildete und erhoffte. Die übrigen herausragenden Köpfe, welche den Gouverneur umgaben, zeichneten sich durch eine würdevolle Miene aus, wie sie einer Zeit angehörte, in der man die Formen der Obrigkeit in der Heiligkeit göttlicher Gesetze geborgen wußte. Sie waren ohne Zweifel gute, gerechte und weise Männer, aber es würde nicht leicht gewesen sein, unter der ganzen Menschenfamilie die gleiche Anzahl von weisen und tugendhaften Personen auszuwählen, die weniger geeignet gewesen wären, über ein irrendes Frauenherz zu Gericht zu sitzen und dessen Gewebe von Gutem und Bösem zu entwirren, als die streng aussehenden Männer, welchen Esther Prynne jetzt ihr Gesicht zuwendete. Sie schien in der Tat zu wissen, daß die Teilnahme, welche sie erwarten konnte, nur in dem größeren und wärmeren Herzen der Menge liege, denn als sie ihre Augen zu dem Balkon erhob, erbleichte das unglückliche Weib und bebte.
Die Stimme, die ihre Aufmerksamkeit verlangt hatte, war die des ehrwürdigen und berühmten John Wilson, ältesten Geistlichen von Boston, eines großen Gelehrten, wie die meisten seiner Standesgenossen in jener Zeit, und dabei eines Mannes von gütigem, freundlichem Geiste. Diese letzte Eigenschaft war jedoch weniger sorgfältig entwickelt worden als seine intellektuellen Gaben und, die Wahrheit zu gestehen, eher eine Sache der Beschämung als der Genugtuung für ihn. Da stand er nun mit dem Saum von grauen Locken um sein Käppchen, während seine grauen, an das umschattete Licht seines Studierzimmers gewöhnten Augen in dem unvermischten Sonnenschein blinzelten wie die von Esthers Kind. Er sah aus wie die dunkelgestochenen Porträts, welche wir vor alten Predigtbüchern sehen, und besaß ebensowenig Recht wie eines dieser Porträts hervorzutreten, wie er es jetzt tat, und sich in eine Frage menschlicher Schuld, Leidenschaft und Pein zu mischen.
»Esther Prynne«, sagte der Geistliche, »ich habe mit meinem jungen Amtsbruder hier gerungen, unter dessen Lehre des göttlichen Wortes du zu sitzen das Vorrecht genossen hast –« hier legte Herr Wilson seine Hand auf die Schulter eines blassen jungen Mannes neben ihm – »ich habe, sage ich, diesen gottesfürchtigen jungen Mann zu überreden gesucht, daß er sich deiner annehmen möchte, um hier im Angesicht des Himmels und vor diesen rechtschaffenen und weisen Beamteten und dem ganzen Volke über die Schwärze und Bosheit deiner Sünde zu sprechen. Da er dein natürliches Temperament besser kennt als ich, so könnte er auch besser beurteilen, welche Gründe der Liebe oder der Furcht anzuführen seien, um über deine Hartnäckigkeit und Verstockung zu siegen, damit du nicht länger den Namen desjenigen verschweigen mögest, welcher dich zu diesem schweren Falle gelockt hat; aber er stellt mir mit der übermäßigen Weichheit eines jungen Mannes, obgleich er über seine Jahre hinaus weise ist, entgegen, daß es der Natur des Weibes Unrecht tun hieße, wenn man es zwinge, die Geheimnisse seines Herzens bei so hellem Tageslichte und in Gegenwart einer so großen Menge aufzudecken. Wahrlich, die Schmach liegt, wie ich ihn zu überzeugen suchte, in der Begehung der Sünde und nicht in deren Offenbarung. Ich frage Euch noch einmal, Bruder Dimmesdale, was sagt Ihr dazu? Mußt du es sein oder ich, der sich der Seele dieser armen Sünderin annimmt?«
Es erhob sich ein Gemurmel unter den ernsten würdevollen Männern auf dem Balkon, und Gouverneur Bellingham sprach dessen Bedeutung aus, indem er mit gebietender, wenn auch aus Achtung für den jungen Geistlichen, welchen er anredete, gemilderter Stimme sagte:
»Guter Master Dimmesdale, die Verantwortlichkeit für die Seele dieses Weibes ist in hohem Maße Eure Sache. Es geziemt Euch daher, solches zur Reue und als Beweis und Folge derselben zum Geständnis zu ermahnen.«
Diese direkte Anrede zog die Augen der ganzen versammelten Menge auf Ehrwürden Dimmesdale, einen jungen Geistlichen, der von einer der großen englischen Universitäten alle Gelehrsamkeit jener Zeit in unser wildes Waldland mitgebracht hatte. Seine Beredsamkeit und seine fromme Begeisterung hatten ihm bereits in seinem Berufe hohes Ansehen verschafft. Er war ein Mann von höchst auffallendem Äußern, mit weißer, hoher, fast überhängender Stirn, großen, braunen, melancholischen Augen und einem Munde, der, außer wenn er mit Gewalt zusammengepreßt war, leicht bebte und zugleich nervösen Gefühlsreichtum und eine ungeheure Selbstbeherrschung ausdrückte. Trotz seiner hohen Naturgaben und gelehrten Errungenschaften hatte der junge Geistliche ein besorgtes, erschrecktes, halb wie von Furcht erfülltes Aussehen, als ob er sich auf dem Pfade der menschlichen Existenz völlig verirrt und fremd fühlte und sich nur in seiner eigenen Abgeschiedenheit wohlfühlen könnte. Er wandelte daher, soweit es seine Pflichten gestatteten, auf schattigen Nebenwegen, und erhielt sich auf diese Art einfach und kindlich und trat, wenn es an der Zeit war, dann mit einer Frische und einem Duft und einer tauigen Reinheit des Gedankens hervor, welche, wie viele sagten, sie wie die Rede eines Engels berührten.
Solcher Art war der junge Mann, welchen der ehrwürdige Herr Wilson und der Gouverneur so offen vor das Publikum gezogen und ihm geboten hatten, vor aller Ohren über das selbst in seiner Befleckung so heilige Geheimnis einer Frauenseele zu sprechen. Die Schwierigkeit seiner Lage trieb ihm das Blut aus der Wange und ließ seine Lippen erbeben.
»Sprich zu dem Weibe, mein Bruder«, sagte Herr Wilson, »es ist von Wichtigkeit für ihre Seele und daher, wie der verehrte Gouverneur sagt, auch von Wichtigkeit für deine eigene, unter deren Obhut sich die ihre befindet. Ermahne sie, die Wahrheit zu gestehen.«
Ehrwürden Dimmesdale neigte, wie es schien, in stummem Gebete den Kopf und trat sodann vor.
»Esther Prynne«, sagte er, sich über den Balkon beugend und ihr fest in die Augen blickend, »du hörst, was dieser gute Mann sagt, und siehst die Verantwortlichkeit, in welche ich gestoßen werde. Wenn du fühlst, daß es zur Förderung deines Seelenfriedens beiträgt und daß deine irdische Strafe dadurch wirksamer wird, dir die Seligkeit zu erwerben, so gebiete ich dir, den Namen deines Sünden- und Leidensgenossen auszusprechen. Schweige nicht aus mißverstandenem Mitleid und zarter Rücksicht für ihn, denn glaube mir, Esther, daß es, wenn er auch von einem hohen Platze herabsteigen und dort auf deiner Bühne der Schmach neben dir stehen müßte, doch für ihn so besser wäre, als wenn er lebenslang ein sündiges Herz verbergen müßte. Was kann dein Schweigen für ihn tun, als ihn versuchen, ja gewissermaßen zwingen, seine Sünde durch Heuchelei zu vergrößern! Der Himmel hat dir eine offene Schmach gewährt, damit du dadurch einen offenen Triumph über das Böse in deinem Innern und den äußern Schmerz erringen mögest. Besinne dich, ehe du ihm – der vielleicht nicht den Mut hat, diesen selbst zu erfassen –, den bittern aber heilsamen Kelch verweigerst, welcher jetzt deinen Lippen geboten wird.«
Die Stimme des jungen Pastors war bebend, lieblich, voll, tief und gebrochen. Das Gefühl, welches sie so offen kundgab, ließ sie mehr noch als die direkte Bedeutung der Worte in aller Herzen widerhallen und einte die Zuhörer zu gleicher Teilnahme. Selbst der arme Säugling an Esthers Busen wurde von demselben Einfluss berührt, denn er lenkte seinen bis jetzt ziellosen Blick auf Herrn Dimmesdale und hielt seine kleinen Arme mit halb erfreutem, halb klagendem Lallen in die Höhe. Dem Volke kam die Aufforderung des Geistlichen so mächtig vor, daß es nicht anders glaubte, als daß Esther Prynne den Namen des Schuldigen aussprechen, oder daß dieser selbst, auf welchem hohen oder geringen Platze er auch stehen mochte, durch eine innere, unvermeidliche Notwendigkeit hervorgezogen und gezwungen werden würde, die Bühne zu besteigen.
Esther schüttelte den Kopf.
»Weib, überschreite nicht die Grenzen der Gnade des Himmels!« rief der ehrwürdige Herr Wilson herber als bisher. »Der kleine Säugling ist mit einer Stimme begabt worden, um den Rat, welchen du gehört hast, zu unterstützen und zu bestätigen. Sprich den Namen aus! Dies und deine Reue wird vielleicht bewirken, daß dir der Scharlachbuchstabe von der Brust genommen wird.«
»Nie!« antwortete Esther Prynne, indem sie nicht auf Herrn Wilson, sondern in die tiefen besorgten Augen des jüngeren Geistlichen blickte. »Er ist zu tief eingebrannt, Ihr könnt ihn nicht wegnehmen. Und könnte ich doch seine Pein zugleich mit meiner eigenen auf mich nehmen.«
»Sprich, Weib!« sagte kalt und streng eine andere, aus der um das Gerüst versammelten Menge herauftönende Stimme. »Sprich und gib deinem Kinde einen Vater!«
»Ich will nicht sprechen«, erwiderte Esther, jetzt bleich wie der Tod, aber doch dieser Stimme, welche sie nur zu sicher erkannte, antwortend: »Und mein Kind muß einen himmlischen Vater suchen, es soll nie einen irdischen kennen.«