Der scharlachrote Buchstabe - Nathaniel Hawthorne - E-Book + Hörbuch

Der scharlachrote Buchstabe E-Book und Hörbuch

Nathaniel Hawthorne

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Beschreibung

Der scharlachrote Buchstabe, 1850 von Nathaniel Hawthorne verfasst, gilt als eines der bedeutendsten Werke der amerikanischen Literatur. Die Handlung des Romans spielt in einer strenggläubigen Siedlung in Neuengland zu Zeiten des amerikanischen Puritanismus. Der Autor selbst entstammte einer puritanischen Familie. Somit kann dieses Buch als eine Abrechnung mit religiösem Eifer und Heuchelei gewertet werden. Auch eine Kritik an der zu Machtzwecken missbrauchten Religion lässt sich nicht leugnen. Erzählt wird die Geschichte der Ehebrecherin Esther Prynne, die trotz öffentlicher Anprangerung den Vater ihres unehelichen Kindes nicht nennen will. Die Einwohner wissen um ihren Ehebruch. Zur Strafe muss sie ein scharlachrotes 'A' auf ihrer Brust tragen. Der Leser erfährt vom Kampf Esthers um die Achtung der Dorfbewohner. Sie sucht die Vergebung ihrer Sünden. Alles verkompliziert sich, als der verschollen geglaubte Ehemann wieder auftaucht. Das Buch hat eine starke Verankerung in der amerikanischen Kultur. Es dürfte eines der meistgelesenen Bücher im englischsprachigen Raum sein. Wofür der Buchstabe 'A' steht, ist wohl das berühmteste Rätsel der amerikanischen Literatur. Null Papier Verlag

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Sprecher:Jürgen Fritsche
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Nathaniel Hawthorne

Der scharlachrote Buchstabe

Nathaniel Hawthorne

Der scharlachrote Buchstabe

(The Scarlet Letter)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Franz Blei EV: M. Maschler, Berlin, 1925 2. Auflage, ISBN 978-3-954183-04-3

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

I -- Die Ge­fäng­nis­tür

II -- Der Markt­platz

III -- Die Er­ken­nung

IV -- Die Zu­sam­men­kunft

V -- Esther mit der Na­del

VI -- Per­le

VII -- Das Haus des Gou­ver­neurs

VIII -- Das El­fen­kind und der Geist­li­che

IX -- Der Heil­künst­ler

X -- Der Arzt und sein Pa­ti­ent

XI -- Das In­ne­re ei­nes Her­zens

XII -- Die Vi­gi­lie des Geist­li­chen

XIII -- Ein zwei­ter Blick auf Esther

XIV -- Esther und der Arzt

XV -- Esther und Per­le

XVI -- Ein Spa­zier­gang im Wal­de

XVII -- Der Pfar­rer und sein Pfarr­kind

XVIII -- Flut von Son­nen­schein

XIX -- Das Kind am Ba­che

XX -- Der Geist­li­che im La­by­rinth

XXI -- Fei­er­tag in Neu-Eng­land

XXII -- Der Auf­zug

XXIII -- Die Of­fen­ba­rung des schar­lach­ro­ten Buch­sta­bens

XXIV -- Schluß

Dan­ke

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Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Das Buch

Der schar­lach­ro­te Buch­sta­be, 1850 von Na­tha­niel Haw­thor­ne ver­fasst, gilt als ei­nes der be­deu­tends­ten Wer­ke der ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­tur.

Die Hand­lung des Ro­mans spielt in ei­ner streng­gläu­bi­gen Sied­lung in Neu­eng­land zu Zei­ten des ame­ri­ka­ni­schen Pu­ri­ta­nis­mus. Der Au­tor selbst ent­stamm­te ei­ner pu­ri­ta­ni­schen Fa­mi­lie. So­mit kann die­ses Buch als eine Abrech­nung mit re­li­gi­ösem Ei­fer und Heu­che­lei ge­wer­tet wer­den. Auch eine Kri­tik an der zu Macht­zwe­cken miss­brauch­ten Re­li­gi­on lässt sich nicht leug­nen.

Er­zählt wird die Ge­schich­te der Ehe­bre­che­rin Esther Pryn­ne, die trotz öf­fent­li­cher An­pran­ge­rung den Va­ter ih­res un­ehe­li­chen Kin­des nicht nen­nen will. Die Ein­woh­ner wis­sen um ih­ren Ehe­bruch. Zur Stra­fe muss sie ein schar­lach­ro­tes ’A’ auf ih­rer Brust tra­gen.

Der Le­ser er­fährt vom Kampf Esthers um die Ach­tung der Dorf­be­woh­ner. Sie sucht die Ver­ge­bung ih­rer Sün­den. Al­les ver­kom­pli­ziert sich, als der ver­schol­len ge­glaub­te Ehe­mann wie­der auf­taucht.

Das Buch hat eine star­ke Veran­ke­rung in der ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur. Es dürf­te ei­nes der meist­ge­le­se­nen Bü­cher im eng­lisch­spra­chi­gen Raum sein. Wo­für der Buch­sta­be ’A’ steht, ist wohl das be­rühm­tes­te Rät­sel der ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­tur.

*

I -- Die Gefängnistür

Eine ge­dräng­te Men­ge von bär­ti­gen Män­nern, in dun­kel­far­bi­gen Klei­dern und grau­en, ho­hen, spitz zu­lau­fen­den Hü­ten, wie von mit Ka­pu­zen be­deck­ten oder bar­häup­ti­gen Frau­en hat­te sich vor ei­nem Holz­hau­se ver­sam­melt, des­sen Tür aus schwe­ren, star­ken Ei­chen­boh­len mit ei­ser­nen Sta­cheln be­setzt war.

Die Be­grün­der ei­ner neu­en Ko­lo­nie ha­ben, wel­ches Uto­pia mensch­li­cher Tu­gend und Glück­se­lig­keit sie im­mer auch ur­sprüng­lich her­bei­füh­ren woll­ten, doch ohne Aus­nah­me un­ter ih­ren ers­ten prak­ti­schen Be­dürf­nis­sen stets ge­fun­den, einen Teil des jung­fräu­li­chen Bo­dens zum Got­tesa­cker und einen an­dern zum Ge­fäng­nis zu be­stim­men. Man kann die­ser Re­gel ge­mäß mit Si­cher­heit an­neh­men, daß die Be­grün­der von Bo­ston das ers­te Ge­fäng­nis ir­gend­wo in der Nähe von Corn­hill eben­so recht­zei­tig ge­baut ha­ben, wie sie die Gren­zen ih­res ers­ten Be­gräb­nis­plat­zes auf Isaak John­sons Feld ab­steck­ten, des­sen Grab spä­ter der Mit­tel­punkt und Kern al­ler Be­gräb­nis­se auf dem al­ten Kirch­ho­fe von King’s Cha­pel wur­de. So­viel steht fest: fünf­zehn bis zwan­zig Jah­re nach der An­la­ge der Stadt war das höl­zer­ne Ge­fäng­nis­ge­bäu­de be­reits mit Wet­ter­fle­cken und an­dern Zei­chen des Al­ters über­deckt, die sei­ner düs­tern Front ein noch fins­te­re­res Aus­se­hen ga­ben. Der Rost auf dem schwe­ren Ei­sen­werk sei­ner Ei­chen­tür sah an­ti­ker als al­les an­de­re in der Neu­en Welt aus; gleich al­lem, was sich auf das Ver­bre­chen be­zieht, schi­en es nie eine Ju­gend­zeit be­ses­sen zu ha­ben. Vor die­sem häß­li­chen Ge­bäu­de und zwi­schen ihm und dem Rä­der­glei­se der Stra­ße lag ein Ra­sen­fleck, stärk mit Klet­ten, Huf­lat­tich, Stech­ap­fel und ähn­li­chem häß­li­chen Un­kraut über­wach­sen, das of­fen­bar et­was Ver­wand­tes in dem Bo­den fand, der so früh schon die schwar­ze Blu­me der Zi­vi­li­sa­ti­on, ein Ge­fäng­nis, ge­tra­gen hat­te. Aber auf der einen Sei­te des Por­tals, fast an der Schwel­le, rank­te ein wil­der Ro­sen­busch, der jetzt im Juni mit sei­nen zar­ten Ju­we­len be­deckt war, dem Ge­fan­ge­nen, ging er hin­ein, und dem ver­ur­teil­ten Ver­bre­cher, kam er her­aus, Duft und ver­gäng­li­che Schön­heit zu bie­ten und ihm zu be­wei­sen, daß das tie­fe Herz der Na­tur ihn be­mit­lei­den und freund­lich ge­gen ihn sein kön­ne.

Die­ser Ro­sen­busch hat sich durch einen son­der­ba­ren Zu­fall in der Ge­schich­te le­ben­dig er­hal­ten; ob er aber die dunkle alte Wild­nis so lan­ge nach dem Fall der rie­si­gen Tan­nen und Ei­chen, die ihn ur­sprüng­lich be­schat­te­ten, über­lebt, oder ob er, was zu glau­ben gu­ter Grund vor­han­den ist, un­ter den Schrit­ten der be­gna­de­ten Anna Hutchin­son auf­ge­sproßt war, als sie in die Ge­fäng­nis­tür trat: dies zu be­stim­men, wol­len wir nicht auf uns neh­men. Da wir ihn so hart an der Schwel­le un­se­rer Er­zäh­lung fin­den, die jetzt aus je­ner un­glück­ver­kün­den­den Tür her­vor­tre­ten soll, konn­ten wir kaum ver­mei­den, eine von sei­nen Blü­ten zu pflücken und dem Le­ser dar­zu­bie­ten. Hof­fen wir, daß sie als Sym­bol ei­ner duf­ti­gen mo­ra­li­schen Blü­te, die sich viel­leicht un­ter­wegs fin­det, die­ne, oder ge­gen den düs­tern Schluß ei­ner Ge­schich­te mensch­li­cher Schwä­che und Schmer­zen freund­lich sich ab­he­be.

II -- Der Marktplatz

Der Ra­sen­fleck vor dem Ge­fäng­nis im Ker­ker­gäß­chen war also an ei­nem Som­mer­mor­gen vor nicht we­ni­ger als zwei Jahr­hun­der­ten mit ei­ner ziem­lich großen An­zahl von Ein­woh­nern Bo­stons be­deckt, de­ren Au­gen auf­merk­sam auf die ei­sen­be­schla­ge­ne Ei­chen­tür ge­rich­tet wa­ren. Bei je­dem an­dern Vol­ke oder zu je­der spä­tern Pe­ri­ode der Ge­schich­te von Neu­eng­land wür­de die düs­te­re Starr­heit, wel­che die bär­ti­gen Phy­sio­gno­mi­en die­ser gu­ten Leu­te ver­stei­ner­te, ver­kün­det ha­ben, daß ir­gend et­was Ent­setz­li­ches be­vor­ste­he: sie hät­te nichts Ge­rin­ge­res als die er­war­te­te Hin­rich­tung ei­nes be­kann­ten Ver­bre­chers be­zeich­nen kön­nen, bei dem der Spruch ei­nes Tri­bu­nals nur den der öf­fent­li­chen Mei­nung be­stä­tigt hät­te. Aber bei der Stren­ge des Cha­rak­ters der frü­hen Pu­ri­ta­ner war ein Schluß die­ser Art nicht so zwei­fel­los zu zie­hen. Es konn­te sein, daß ein trä­ger Dienst­mann oder ein un­ge­hor­sa­mes Kind, das sei­ne El­tern der Zi­vil­be­hör­de über­ge­ben hat­ten, am Schand­pfahl ge­züch­tigt wer­den soll­te. Es konn­te sein, daß man einen An­ti­no­mis­ten, einen Quä­ker oder an­dern un­gläu­bi­gen Sek­tie­rer aus der Stadt peit­schen oder einen fau­len in­dia­ni­schen Land­strei­cher, den das Feu­er­was­ser des wei­ßen Man­nes zur Ver­übung von Stra­ße­nun­fug ge­trie­ben, mit Strie­men in den Schat­ten des Wal­des hin­aus­ja­gen woll­te. Es konn­te so­gar sein, daß eine Hexe, wie die alte Frau Hib­bins, die bös­ar­ti­ge Wit­we ei­ner Ma­gis­trats­per­son, am Gal­gen ster­ben soll­te. In je­dem die­ser Fäl­le wäre ziem­lich die glei­che Fei­er­lich­keit auf den Ge­sich­tern der Zuschau­er zu be­mer­ken ge­we­sen, wie sol­ches ei­nem Vol­ke ziem­te, bei wel­chem Re­li­gi­on und Ge­setz fast iden­tisch und in des­sen Cha­rak­ter bei­de so voll­kom­men ver­schmol­zen wa­ren, daß die mil­des­ten Hand­lun­gen der öf­fent­li­chen Dis­zi­plin ihm eben­so ehr­wür­dig und schau­er­lich er­schie­nen wie die strengs­ten. Die Teil­nah­me, wel­che eine Ge­set­zes­über­tre­tung von sol­chen um die Schand­büh­ne ver­sam­mel­ten Zuschau­ern er­war­ten konn­te, war in der Tat nur ge­ring und kalt. An­de­rer­seits konn­te eine Stra­fe, mit wel­cher in un­se­rer Zeit un­aus­bleib­lich ein ho­her Grad von spöt­ti­scher In­fa­mie und Lä­cher­lich­keit ver­bun­den sein wür­de, da­mals von ei­ner fast eben­so stren­gen Wür­de wie die To­dess­tra­fe selbst be­glei­tet sein.

Es war an dem Som­mer­mor­gen, wo un­se­re Ge­schich­te be­ginnt, ein be­mer­kens­wer­ter Um­stand, daß die Frau­en, von de­nen sich meh­re­re un­ter der Men­ge be­fan­den, ein be­son­de­res In­ter­es­se an der Be­stra­fung, wel­che hier be­vor­stand, zu neh­men schie­nen. Die Zeit be­saß noch nicht so viel Ge­fühls­ver­fei­ne­rung, daß eine Emp­fin­dung des Un­pas­sen­den die Trä­ge­rin­nen von Rö­cken und Mie­dern ab­ge­hal­ten hät­te, auf die öf­fent­li­chen Stra­ßen hin­aus­zu­tre­ten und ihre nicht un­sub­stan­ti­el­len Per­so­nen, wenn An­laß dazu vor­han­den, bei ei­ner Exe­ku­ti­on in die dem Scha­fott nächs­ten Rei­hen der Zuschau­er hin­ein­zu­zwän­gen.

Jene Frau­en und Jung­frau­en von alt­eng­li­scher Ge­burt und Er­zie­hung wa­ren mo­ra­lisch wie phy­sisch aus grö­be­ren Fa­sern ge­macht als ihre schö­nen, durch eine Rei­he von sechs bis sie­ben Ge­ne­ra­tio­nen von ih­nen ge­trenn­ten Nach­kom­men. Denn in die­ser Ket­te der Ge­schlechts­fol­ge hat jede Mut­ter ih­rem Kin­de eine schwä­che­re Blü­te, eine blei­che­re, kür­zer dau­ern­de Schön­heit und eine zar­te­re phy­si­sche Kon­sti­tu­ti­on, wo nicht einen Cha­rak­ter von ge­rin­ge­rer Kraft und So­li­di­tät wie ih­ren ei­ge­nen, ver­macht. Die Frau­en, wel­che jetzt um die Ge­fäng­nis­tür stan­den, wa­ren we­ni­ger als ein hal­b­es Jahr­hun­dert von der Zeit ent­fernt, wo die männ­li­che Eli­sa­beth die nicht ganz un­pas­sen­de Ver­tre­te­rin ih­res Ge­schlechts ge­we­sen war. Sie wa­ren ihre Lands­männ­in­nen, und das Rind­fleisch und das Bier ih­rer Hei­mat wa­ren zu­sam­men mit ei­ner um kei­nen Deut fei­ne­ren mo­ra­li­schen Diät zu gu­tem Teil in ihre Zu­sam­men­set­zung ein­ge­gan­gen. Die hel­le Mor­gen­son­ne schi­en da­her auf brei­te Schul­tern und vol­le Bu­sen und run­de, tiefro­te Wan­gen, die auf der fer­nen In­sel zur Rei­fe ge­die­hen und in der At­mo­sphä­re von Neu­eng­land kaum erst blei­cher oder schmä­ler ge­wor­den wa­ren. Über­dies war je­nen Ma­tro­nen, was die meis­ten von ih­nen zu sein schie­nen, eine Dreis­tig­keit und Gerad­heit der Rede ei­gen, wel­che uns so­wohl in be­zug auf ihre Fas­sung wie auf das Vo­lu­men ih­res To­nes in Schre­cken set­zen wür­de.

»Hört, Wei­ber!« rief eine Fünf­zig­jäh­ri­ge mit har­ten Zü­gen, »ich will euch et­was sa­gen. Es wür­de sehr zum öf­fent­li­chen Woh­le ge­rei­chen, wenn wir Wei­ber, die wir von rei­fem Al­ter und in gu­tem Rufe ste­hen­de Ge­mein­de­mit­glie­der sind, mit der Be­stra­fung von Mis­se­tä­te­rin­nen wie die­ser Esther Pryn­ne be­auf­tragt wür­den. Was meint ihr, Ge­vat­te­rin­nen? Wür­de die schlim­me Dir­ne, wenn sie vor uns fün­fen, die wir hier bei­sam­men ste­hen, zur Ab­ur­tei­lung ge­lang­te, mit ei­nem Spru­che, wie ihn die wür­di­gen Rich­ter ge­fällt ha­ben, da­von­kom­men? Mei­ner Treu, ich glaub es nicht.«

»Die Leu­te sa­gen«, sprach eine an­de­re, »daß Ehr­wür­den Pfar­rer Dim­mes­da­le, ihr from­mer Pas­tor, sich es schwer zu Her­zen näh­me, daß sei­ne Ge­mein­de von ei­nem sol­chen Skan­dal be­trof­fen wor­den ist.«

»Die Rich­ter sind got­tes­fürch­ti­ge Her­ren, aber viel zu gnä­dig -- das ist die Wahr­heit«, stimm­te eine drit­te herbst­li­che Ma­tro­ne bei. »Sie hät­ten al­ler­we­nigs­tens Esther Pryn­ne mit ei­nem glü­hen­den Ei­sen auf der Stirn bren­nen sol­len. Ma­dam Esther wür­de da­bei schön das Ge­sicht ver­zo­gen ha­ben, dar­auf könnt ihr euch ver­las­sen. Aber sie, das fre­che Ding, wird sich we­nig dar­aus ma­chen, was man ihr auf ihr Mie­der setzt! Sie kann es ja mit ei­ner Bro­sche oder ir­gend so ei­nem heid­nischen Zie­rat be­de­cken und eben­so mun­ter wie sonst auf der Stra­ße um­her­lau­fen.«

»Ja, aber«, sprach sanf­ter eine jun­ge Frau, die ein Kind an der Hand hielt, »sie mag das Zei­chen be­de­cken, wie sie will, der Schmerz wird ihr doch im­mer im Her­zen blei­ben.«

»Was re­den wir da von Zei­chen und Brand­mar­kun­gen auf ih­rem Mie­der oder am Flei­sche ih­rer Stirn!« rief ein an­de­res Frau­en­zim­mer, die häß­lichs­te und zu­gleich die un­barm­her­zigs­te un­ter die­sen selbst ein­ge­setz­ten Rich­te­rin­nen. »Das Weib hat über uns alle Schan­de ge­bracht und soll­te von Rechts we­gen ster­ben. Ist kein Ge­setz da­für da? Wahr­haf­tig, es gibt de­ren, in der Schrift so­wohl wie im Ge­setz­buch. Die Rich­ter, die sie wir­kungs­los ge­macht ha­ben, mö­gen es sich dann selbst dan­ken, wenn ihre ei­ge­nen Wei­ber und Töch­ter auf Ab­we­ge ge­ra­ten.«

»Gott sei uns gnä­dig, Ge­vat­te­rin!« rief ein Mann aus der Men­ge; »gibt es denn bei den Wei­bern kei­ne Tu­gend, au­ßer je­ner, die ei­ner heil­sa­men Furcht vor dem Gal­gen ent­springt? Das ist das här­tes­te Wort, was noch ge­spro­chen wor­den ist. Jetzt still, Ba­sen, der Schlüs­sel dreht sich in der Ge­fäng­nis­tür und hier kommt Frau Pryn­ne selbst.«

Die Tür des Ge­fäng­nis­ses wur­de von in­nen auf­ge­ris­sen, es zeig­te sich zu­erst, gleich ei­nem schwar­zen, in den Son­nen­schein hin­austre­ten­den Schat­ten, die Schre­ckens­ge­stalt des Stadt­büt­tels, De­gen an der Sei­te und Amts­stab in der Hand. Die­se Per­son ver­kün­de­te und stell­te in ih­rer Er­schei­nung die gan­ze düs­te­re Stren­ge des pu­ri­ta­ni­schen Ge­setz­ko­dex dar, wel­chen in sei­ner letz­ten und den Über­tre­ter zu­nächst be­rüh­ren­den An­wen­dung zur Aus­übung zu brin­gen sein Amt war. Er streck­te den Amts­stab in sei­ner lin­ken Hand aus und leg­te sei­ne rech­te auf die Schul­ter ei­ner jun­gen Frau, die er so vor­wärts zog, bis sie ihn auf der Schwel­le der Ge­fäng­nis­tür mit ei­ner Ge­bär­de voll na­tür­li­cher Wür­de und Cha­rak­ter­stär­ke zu­rück­s­tieß und wie aus ei­ge­nem An­trie­be in die freie Luft hin­austrat. Auf ih­ren Ar­men trug sie ein Kind, einen etwa drei Mo­na­te al­ten Säug­ling, der blin­zelnd sein klei­nes Ge­sicht von dem zu hel­len Lich­te des Ta­ges ab­wand­te, weil ihn sei­ne Exis­tenz bis­her nur mit dem grau­en Zwie­licht ei­nes Ker­kers oder an­dern düs­tern Ge­ma­ches im Ge­fäng­nis be­kannt ge­macht hat­te.

Die jun­ge Frau war hoch­ge­wach­sen und be­saß eine Ge­stalt von voll­kom­me­ner Ele­ganz im großen Maß­sta­be. Sie hat­te dunkles, üp­pi­ges Haar von sol­chem Glan­ze, daß es den Son­nen­schein schim­mernd zu­rück­warf, und ein Ge­sicht, das, nicht bloß durch re­gel­mä­ßi­ge Züge und war­me Far­be schön, auch noch den ein­drucks­vol­len Cha­rak­ter be­saß, wel­chen eine wohl­ge­form­te Stirn und tief­schwar­ze Au­gen ver­lei­hen. Über­dies sah sie vor­nehm aus, wie man bei den Frau­en je­ner Zeit die Vor­nehm­heit ver­stand, das heißt, sie be­saß mehr eine ge­wis­se Statt­lich­keit und Wür­de als die zar­te, ver­gäng­li­che und un­be­schreib­li­che Gra­zie, wel­che heut­zu­ta­ge als ihre Zei­chen gel­ten. Und nie hat­te Esther Pryn­ne vor­neh­mer in die­sem al­ten Sin­ne des Aus­drucks aus­ge­se­hen, als da sie aus dem Ge­fäng­nis­se trat. Die sie frü­her ge­kannt und er­war­tet hat­ten, daß ihre Schön­heit durch die Wol­ke des Un­glücks ge­trübt und ver­dun­kelt wer­den wür­de, wa­ren er­staunt, ja ent­setzt, als sie be­merk­ten, wie die­se her­vor­leuch­te­te und das Un­glück und die Schmach, worin sie gehüllt war, wie eine Glo­rie um sie er­strah­len ließ. Zwar lag dar­in für einen emp­fin­den­den Beo­b­ach­ter et­was aus­ge­sucht Schmerz­li­ches. Ihre Klei­dung, die sie für die­sen An­laß im Ge­fäng­nis­se selbst ge­fer­tigt und ganz nach ih­rer Phan­ta­sie an­ge­ord­net hat­te, schi­en die Lage ih­res Geis­tes, die ver­zwei­fel­te Gleich­gül­tig­keit ih­rer Stim­mung, durch eine wil­de, ma­le­ri­sche Ei­gen­tüm­lich­keit aus­zu­drücken; aber der Punkt, wel­cher al­ler Au­gen an­zog und so­zu­sa­gen die Trä­ge­rin ver­wan­del­te, war das Zei­chen, so daß Män­ner so­wohl wie Frau­en, wel­che mit Esther Pryn­ne in ver­trau­ter Be­kannt­schaft ge­we­sen wa­ren, jetzt den Ein­druck emp­fin­gen, als er­blick­ten sie sie zum ers­ten Male mit dem so phan­tas­tisch ge­stick­ten und auf ih­rem Bu­sen leuch­ten­den Schar­lach­buch­sta­ben. Er hat­te die Wir­kung ei­nes Zau­bers, nahm sie aus den ge­wöhn­li­chen Ver­hält­nis­sen und Ver­bin­dun­gen mit der Mensch­heit und hüll­te sie in eine ei­ge­ne Sphä­re.

»Sie hat viel Ge­schick­lich­keit mit der Na­del, das ist ge­wiß«, be­merk­te eine der Zuschaue­rin­nen, »hat aber je ein Frau­en­zim­mer vor die­ser scham­lo­sen Dir­ne eine sol­che Wei­se, es zu zei­gen, aus­fin­dig ge­macht? Nein, Ge­vat­te­rin­nen, wozu dient es, als um un­sern wa­ckern Rich­tern ins Ge­sicht zu la­chen und auf das, was jene, die wür­di­gen Her­ren, zur Stra­fe auf­er­leg­ten, sich et­was zu­gu­te zu tun.«

»Es wäre gut«, krächz­te das Weib mit dem ei­s­erns­ten Ge­sicht, »wenn wir der Ma­dam Esther ihr rei­ches Kleid von den zar­ten Schul­tern ris­sen, und was den ro­ten Buch­sta­ben be­trifft, den sie so ab­son­der­lich ein­ge­näht hat, so will ich einen Fet­zen von mei­nem Rheu­ma­tis­mus­fell her­ge­ben, um einen pas­sen­de­ren dar­aus zu ma­chen.«

»Frie­de, Nach­ba­rin­nen, Frie­de!« flüs­ter­te ihre jüngs­te Ge­nos­sin; »laßt sie das nicht hö­ren! In dem ge­stick­ten Buch­sta­ben ist kein Stich, den sie nicht in ih­rem ei­ge­nen Her­zen ge­fühlt hät­te.«

Jetzt mach­te der fins­te­re Büt­tel eine Be­we­gung mit dem Sta­be.

»Macht Platz, gute Leu­te, macht Platz -- im Na­men des Kö­nigs!« rief er; »öff­net einen Durch­gang und ich ver­spre­che euch, daß Esther Pryn­ne an einen Ort ge­stellt wer­den soll, wo Mann, Weib und Kind von jetzt an bis eine Stun­de nach Mit­tag eine gute Aus­sicht auf ihre schö­ne Klei­dung ha­ben sol­len. Ge­seg­net sei die recht­schaf­fe­ne Ko­lo­nie von Massa­chus­sets, wo die Bos­heit an den Son­nen­schein ge­zo­gen wird. Kommt vor­an, Ma­dam Esther, und zeigt Eu­ren Schar­lach­buch­sta­ben auf dem Markt­platz!«

So­fort öff­ne­te sich eine Gas­se un­ter der Zuschau­er­men­ge. Un­ter dem Vor­gan­ge des Büt­tels und in Beglei­tung ei­ner un­re­gel­mä­ßi­gen Pro­zes­si­on von fins­ter­bli­cken­den Män­nern und Wei­bern mit un­freund­li­chen Ge­sich­tern brach Esther Pryn­ne nach dem für ihre Stra­fe be­stimm­ten Platz auf. Neu­gie­ri­ge Schul­jun­gen, die von der Sa­che we­nig mehr ver­stan­den, als daß sie einen hal­b­en Fei­er­tag da­durch er­hiel­ten, lie­fen vor dem Zuge her und wen­de­ten be­stän­dig den Kopf zu­rück, um in ihr Ge­sicht und auf das blin­zeln­de Kind in ih­ren Ar­men und den schmach­vol­len Buch­sta­ben an ih­rer Brust zu gaf­fen. Zu je­ner Zeit war die Ent­fer­nung von der Ge­fäng­nis­tür nach dem Markt­plat­ze nicht groß. Nach der Er­fah­rung der Ge­fan­ge­nen zu mes­sen, konn­te sie je­doch für eine Rei­se von ei­ni­ger Län­ge gel­ten, da sie, so hoch­fah­rend ihr Be­neh­men auch war, wohl bei je­dem Schrit­te je­ner, wel­che sich her­bei­dräng­ten, um sie zu se­hen, eine Qual er­litt, als ob ihr Herz auf die Stra­ße ge­wor­fen wor­den sei, da­mit sie alle dar­auf tre­ten und es mit den Fü­ßen von sich sto­ßen konn­ten. In un­se­rer Na­tur liegt je­doch die eben­so wun­der­ba­re wie gnä­di­ge Vor­keh­rung, daß der Lei­den­de das Äu­ßers­te, was er er­dul­det, nie an sei­ner ge­gen­wär­ti­gen Qual, son­dern haupt­säch­lich an dem da­nach zu­rück­blei­ben­den Schmer­ze er­kennt. Esther schritt da­her mit fast hei­te­rer Hal­tung durch die­sen Teil ih­rer Prü­fung und ge­lang­te zu ei­ner Art von Schand­büh­ne am west­li­chen Ende des Markt­plat­zes. Sie stand fast ge­ra­de un­ter dem Gie­bel der ers­ten Kir­che von Bo­ston und schi­en dort niet- und na­gel­fest zu sein.

Wirk­lich bil­de­te die­se Büh­ne einen Teil von ei­ner Straf­ma­schi­ne­rie, wel­che jetzt seit zwei bis drei Ge­ne­ra­tio­nen bei uns nur noch his­to­risch und durch die Sage be­kannt ist, aber in den al­ten Zei­ten für ein so wirk­sa­mes Hilfs­mit­tel zur Be­för­de­rung des gu­ten Be­neh­mens der Bür­ger galt, wie nur je die Guil­lo­ti­ne un­ter den Schre­ckens­män­nern von Frank­reich; kurz, es war die Büh­ne des Pran­gers, und über ihr er­hob sich das Ge­stell die­ses Dis­zi­pli­nar­werk­zeu­ges, wel­ches so ge­formt war, daß es den mensch­li­chen Kopf um­faß­te und ihn so den Bli­cken des Pub­li­kums hin­hielt. In die­sem Gerüs­te von Holz und Ei­sen ver­kör­per­te und of­fen­bar­te sich ein Ide­al von Schmach. Ich glau­be, daß es ge­gen un­se­re ge­mein­schaft­li­che Na­tur, was auch die Ver­ge­hen des In­di­vi­du­ums sein mö­gen, kei­ne grö­ße­re Miß­hand­lung ge­ben kann, als dem Schul­di­gen zu ver­bie­ten, sein Ge­sicht vor Scham zu ver­ber­gen, wie es das We­sen die­ser Stra­fe ist. In Esther Pryn­nes Fal­le lau­te­te je­doch, wie es nicht sel­ten auch bei an­de­ren vor­kam, der Spruch nur dar­auf, daß sie eine ge­wis­se Zeit auf der Schand­büh­ne ste­hen sol­le, ohne aber den Griff um den Hals und die Fes­se­lung des Kop­fes zu er­lei­den, wel­che die teuf­lischs­te Ei­gen­schaft der häß­li­chen Ma­schi­ne war. Sie kann­te ihre Rol­le voll­kom­men, stieg eine höl­zer­ne Trep­pe hin­auf und zeig­te sich so der sie um­ge­ben­den Men­ge in etwa der Höhe ei­ner Manns­schul­ter über der Stra­ße.

Wenn sich un­ter den pu­ri­ta­ni­schen Zuschau­ern ein Pa­pist ge­fun­den hät­te, so wür­de er viel­leicht in die­sem schö­nen Wei­be mit dem Kin­de am Bu­sen einen Ge­gen­stand ge­se­hen ha­ben, der ihn an das Bild der gött­li­chen Mut­ter er­in­ner­te, in des­sen Dar­stel­lung so vie­le be­rühm­te Ma­ler mit­ein­an­der ge­wett­ei­fert ha­ben, et­was, das ihn wirk­lich, aber nur durch den Kon­trast an das ge­hei­lig­te Bild sünd­lo­ser Mut­ter­schaft er­in­nern muß­te, de­ren Kind die Welt er­lö­sen soll­te. Hier be­fleck­te die tiefs­te Sün­de die hei­ligs­te Ei­gen­schaft des mensch­li­chen Le­bens und brach­te eine sol­che Wir­kung her­vor, daß die Welt um der Schön­heit die­ses Wei­bes wil­len nur noch dunk­ler und durch das Kind, wel­ches sie ge­bo­ren hat­te, nur um so mehr ver­lo­ren war.

Das Schau­spiel war nicht ohne eine ge­wis­se Schau­er­lich­keit, wie sie stets den An­blick von Schuld und Schan­de bei ei­nem Mit­ge­schöp­fe be­glei­ten muß, ehe die Ge­sell­schaft ver­derbt ge­nug ge­wor­den ist, um dar­über zu lä­cheln, statt sich zu ent­set­zen. Die Zeu­gen von Esther Pryn­nes Schmach wa­ren noch nicht über die­se ur­sprüng­li­che Ein­fach­heit hin­aus­ge­kom­men; sie wa­ren streng ge­nug, um auf ih­ren Tod, wenn das Ur­teil auf die­sen ge­lau­tet hät­te, ohne Mur­ren über die Schwe­re der Stra­fe zu bli­cken, be­sa­ßen aber nichts von der Herz­lo­sig­keit ei­nes an­dern so­zia­len Zu­stan­des, wel­cher in ei­ner Schau­stel­lung, wie der ge­gen­wär­ti­gen, nur ein The­ma zum Scher­zen ge­fun­den ha­ben wür­de. Selbst wenn Nei­gung vor­han­den ge­we­sen wäre, die Sa­che ins Lä­cher­li­che zu zie­hen, so hät­te sie von der fei­er­li­chen An­we­sen­heit des Gou­ver­neurs mit meh­re­ren sei­ner Räte, ei­nes Rich­ters, ei­nes Ge­ne­rals und der Geist­li­chen der Stadt, wel­che alle auf ei­nem Bal­kon des Ver­samm­lungs­hau­ses, der sich über der Büh­ne be­fand, sa­ßen oder stan­den, über­wäl­tigt oder zu­rück­ge­drängt wer­den müs­sen. Wenn sol­che Per­so­nen einen Teil des Schau­spiels bil­den konn­ten, ohne die Ma­je­stät oder Ehr­wür­dig­keit ih­res Ran­ges und Am­tes auf das Spiel zu set­zen, so war mit Si­cher­heit zu schlie­ßen, daß die Voll­stre­ckung ei­nes Rich­ter­spru­ches eine ein­dring­li­che, wirk­sa­me Be­deu­tung ha­ben wür­de. Die Zuschau­er­men­ge blieb da­her auch düs­ter und ernst. Die un­glück­li­che De­lin­quen­tin hielt sich so gut auf­recht, wie es nur ein Weib un­ter der Last von Tau­sen­den un­barm­her­zi­ger, auf sie ge­hef­te­ter und auf ih­ren Bu­sen kon­zen­trier­ter Au­gen ver­moch­te. Fast war es un­er­träg­lich. Von lei­den­schaft­lich im­pul­si­ver Na­tur, hat­te sie sich ge­gen die Sti­che und gif­ti­gen Ver­wun­dun­gen des Hoh­nes und der Schmä­hung des Pub­li­kums, die sich in je­der Art von Be­lei­di­gun­gen Luft ma­chen konn­ten, ge­rüs­tet, aber die fei­er­li­che Geis­tes­s­tim­mung des Vol­kes be­saß et­was um so viel Furcht­ba­re­res, daß sie sich fast sehn­te, alle jene star­ren Ge­sich­ter zu spöt­ti­scher Lus­tig­keit ver­zerrt und sich als Ge­gen­stand der­sel­ben zu se­hen. Wenn ein schal­len­des Ge­läch­ter un­ter der Men­ge aus­ge­bro­chen wäre, zu dem je­der Mann, je­des Weib, je­des Kind mit sei­ner schril­len Stim­me einen An­teil ge­lie­fert hät­te, so wür­de Esther Pryn­ne dar­auf viel­leicht nur mit ei­nem bit­te­ren, ver­ächt­li­chen Lä­cheln geant­wor­tet ha­ben; aber un­ter der blei­er­nen Wucht, wel­che zu er­tra­gen ihr Schick­sal war, hat­te sie in man­chen Au­gen­bli­cken das Ge­fühl, als ob sie aus vol­ler Kraft ih­rer Lun­ge schrei­en und sich von dem Gerüs­te auf den Bo­den her­ab­stür­zen oder plötz­lich wahn­sin­nig wer­den müs­se.

Und doch gab es Zwi­schen­räu­me, wo das gan­ze Schau­spiel, des­sen her­vor­ra­gends­ter Ge­gen­stand sie war, ih­ren Au­gen zu ent­schwin­den schi­en oder we­nigs­tens nur un­deut­lich vor den­sel­ben schim­mer­te, wie eine Mas­se von un­voll­kom­men ge­form­ten Ge­s­pens­ter­ge­stal­ten. Ihr Geist und be­son­ders ihr Erin­ne­rungs­ver­mö­gen ent­wi­ckel­te eine über­na­tür­li­che Tä­tig­keit und stell­te fort­wäh­rend an­de­re Sze­nen vor sie hin, als jene grob aus­ge­haue­ne Stra­ße ei­ner klei­nen Stadt am Sau­me der west­li­chen Wild­nis, an­de­re Ge­sich­ter als die­je­ni­gen, wel­che un­ter den Krem­pen je­ner ho­hen Spitz­hü­te streng auf sie blick­ten, Erin­ne­run­gen von der ge­ring­fü­gigs­ten und un­we­sent­lichs­ten Art; Vor­gän­ge aus ih­ren Kind­heits- und Schul­jah­ren, Spie­le, kin­di­sche Zän­ke­rei­en und die klei­nen häus­li­chen Züge ih­res Jung­fer­nal­ters dräng­ten sich in Ver­bin­dung mit Bil­dern aus den erns­tes­ten Ver­hält­nis­sen ih­res spä­te­ren Le­bens vor sie zu­sam­men, und das eine war ge­nau eben­so leb­haft wie das an­de­re, als ob alle von glei­cher Wich­tig­keit oder alle gleich­mä­ßig nur ein Spiel sei­en. Vi­el­leicht war das ein in­stinkt­mä­ßi­ger Kunst­griff ih­res Geis­tes, um sich durch die Vor­stel­lung die­ser phan­tas­ma­go­ri­schen Ge­stal­ten von der drücken­den Last und Här­te der Wirk­lich­keit zu be­frei­en.

Moch­te dem sein, wie ihm woll­te, die Schand­büh­ne des Pran­gers war ein Stand­punkt, wel­cher Esther Pryn­ne den gan­zen Weg, den sie seit ih­rer glück­li­chen Kind­heit ge­wan­delt war, über­bli­cken ließ. Wäh­rend sie auf die­ser Un­glücks­hö­he stand, er­blick­te sie von neu­em ihr Hei­mat­dorf in Alt-Eng­land und ihr Va­ter­haus, ein ver­fal­le­nes Ge­bäu­de von grau­em Stein und ärm­li­chem Aus­se­hen, das aber als Be­weis sei­ner frü­he­ren Vor­nehm­heit noch ein halb­ver­wisch­tes Wap­pen­schild ih­res Va­ters mit sei­ner kah­len Stirn und sei­nem ehr­wür­di­gen wei­ßen Bart, wel­cher über den alt­mo­di­schen Eli­sa­beth­kra­gen her­ab­hing, und das ih­rer Mut­ter mit dem Bli­cke sorg­li­cher Lie­be, wel­chen es stets in ih­rer Erin­ne­rung trug und der selbst nach ih­rem Tode so oft das Hemm­nis ei­nes sanf­ten Vor­wurfs in den Pfad ih­rer Toch­ter ge­legt hat­te. Sie er­blick­te ihr ei­ge­nes, von mäd­chen­haf­ter Schön­heit glü­hen­des Ge­sicht, wel­ches das gan­ze In­ne­re des trü­ben Spie­gels er­hell­te, in wel­chem sie ge­wohnt ge­we­sen war, es zu be­trach­ten. Dort sah sie noch ein Ge­sicht, das ei­nes Man­nes von vor­ge­rück­ten Jah­ren, ein blei­ches, ma­ge­res Ge­lehr­ten­ant­litz mit von dem Lam­pen­schei­ne, wel­cher ih­nen bei­ge­stan­den hat­te, so man­chen schwe­ren Fo­li­an­ten durch­zu­stu­die­ren, ge­trüb­ten und ge­schwäch­ten Au­gen. Und doch be­sa­ßen die­se trü­ben Au­gen eine selt­sa­me, durch­drin­gen­de Ge­walt, wenn es die Ab­sicht ih­res Be­sit­zers war, in der mensch­li­chen See­le zu le­sen. Die­se Ge­stalt des Stu­dier­zim­mers und des Klos­ters war, wie Esther Pryn­nes weib­li­che Phan­ta­sie her­auf­zu­ru­fen nicht ver­fehl­te, et­was ver­wach­sen und ihre lin­ke Schul­ter um ein ge­rin­ges hö­her als die rech­te. So­dann er­ho­ben sich vor ihr in der Bil­der­ga­le­rie der Erin­ne­rung die win­ke­li­gen, schma­len Gas­sen, die ho­hen grau­en Häu­ser, die mäch­ti­gen Ka­the­dra­len und die al­ten, schnör­ke­li­gen öf­fent­li­chen Ge­bäu­de ei­ner Kon­ti­nen­tal­stadt, wo sie ein neu­es, im­mer noch mit dem ver­wach­se­nen Ge­lehr­ten in Ver­bin­dung ste­hen­des Le­ben er­war­tet hat­te ein neu­es Le­ben, wel­ches sich aber von ge­al­ter­ten und ab­ge­nutz­ten Ma­te­ria­li­en ge­nährt, wie ein Bü­schel grü­nen Moo­ses an ei­ner zer­brö­ckeln­den Mau­er. End­lich kehr­te an die Stel­le die­ser wech­seln­den Sze­nen der un­ebe­ne Markt­platz der pu­ri­ta­ni­schen Nie­der­las­sung zu­rück mit der gan­zen ver­sam­mel­ten Be­woh­ner­schaft der Stadt, wel­che ihre stren­gen Bli­cke auf Esther Pryn­ne hef­te­te -- ja, auf sie selbst, die auf der Büh­ne des Pran­gers stand, mit ei­nem Kin­de auf ih­rem Arm und dem schar­lach­ro­ten, phan­tas­tisch mit Gold­sei­de durch­säum­ten Buch­sta­ben A auf ih­rer Brust.

Konn­te es Wahr­heit sein? Sie preß­te das Kind so hef­tig an ihre Brust, daß es einen Schrei aus­stieß. Sie senk­te ihre Au­gen auf den Schar­lach­buch­sta­ben und be­rühr­te ihn so­gar mit ih­rem Fin­ger, um sich zu über­zeu­gen, daß das Kind und die Schan­de wirk­lich exis­tier­ten. Ja, das wa­ren ihre Wirk­lich­kei­ten -- al­les üb­ri­ge war ver­schwun­den.

III -- Die Erkennung

Von die­sem sie gänz­lich er­fül­len­den Be­wußt­sein, daß sie der Ge­gen­stand ei­ner stren­gen und all­ge­mei­nen Beo­b­ach­tung sei, wur­de die Trä­ge­rin des Schar­lach­buch­sta­bens end­lich da­durch er­löst, daß sie am äu­ße­ren Sau­me der Zuschau­er­men­ge eine Ge­stalt be­merk­te, wel­che un­wi­der­steh­lich Be­sitz von ih­ren Ge­dan­ken er­griff. Dort stand ein In­dia­ner in sei­ner ein­hei­mi­schen Tracht, aber die ro­ten Män­ner wa­ren nicht so sel­te­ne Be­su­cher der eng­li­schen An­sied­lun­gen, daß ei­ner von ih­nen zu sol­cher Zeit Esther Pryn­nes Auf­merk­sam­keit er­regt oder gar alle üb­ri­gen Ge­gen­stän­de und Ge­dan­ken aus ih­rem Geis­te ver­bannt ha­ben wür­de. An der Sei­te des In­dia­ners, und of­fen­bar als sein Beglei­ter, stand ein wei­ßer, in ein selt­sa­mes Ge­misch von zi­vi­li­sier­tem und wil­dem Ko­stüm ge­klei­de­ter Mann.

Er war von klei­ner Sta­tur und zeig­te ein ge­furch­tes Ge­sicht, wel­ches je­doch noch kaum alt ge­nannt wer­den konn­te. In sei­nen Zü­gen lag eine be­mer­kens­wer­te In­tel­li­genz, als sei­en es die ei­ner Per­son, wel­che ih­ren geis­ti­gen Teil so aus­ge­bil­det hat­te, daß er nicht ver­feh­len konn­te, den phy­si­schen nach sich zu for­men und durch un­ver­wech­sel­ba­re Zei­chen sicht­bar zu ma­chen. Wie­wohl er durch eine schein­bar nach­läs­si­ge An­ord­nung sei­ner zu­sam­men­ge­wür­fel­ten Klei­dung ver­sucht hat­te, die Ei­gen­tüm­lich­kei­ten zu ver­min­dern oder zu ver­rin­gern, so war es für Esther Pryn­ne doch er­kenn­bar ge­nug, daß die eine Schul­ter die­ses Man­nes sich über die an­de­re er­hob. In dem ers­ten Au­gen­blick, wo sie die­ses ma­ge­re Ge­sicht und die ge­rin­ge Ent­stel­lung der Ge­stalt be­merk­te, drück­te sie ihr Kind wie­der mit so krampf­haf­ter Ge­walt an ihre Brust, daß der arme Säug­ling einen zwei­ten Schmer­zens­schrei aus­stieß. Die Mut­ter schi­en ihn je­doch nicht zu hö­ren.

So­bald er auf den Markt­platz ge­langt war und schon ei­ni­ge Zeit, ehe sie ihn ge­se­hen, hat­te der Frem­de sei­ne Au­gen auf Esther Pryn­ne ge­hef­tet. An­fangs war es nach­läs­sig ge­we­sen, wie der Blick ei­nes Man­nes, der ge­wohnt ist, haupt­säch­lich nach in­nen zu bli­cken, und für wel­chen äu­ße­re Din­ge ohne Wert und Wich­tig­keit sind, wenn sie sich nicht auf et­was in sei­nem Geis­te be­zie­hen. Sehr bald war je­doch sein Blick scharf und durch­drin­gend ge­wor­den. Ein zu­cken­des Ent­set­zen trat auf sei­ne Züge, wie eine schnell dar­über hin­glei­ten­de Schlan­ge, die eine klei­ne Pau­se mach­te, wäh­rend alle ihre ver­schlun­ge­nen Wen­dun­gen deut­lich sicht­bar wa­ren. Sein Ge­sicht wur­de durch eine mäch­ti­ge Be­we­gung ver­dun­kelt, die er je­doch durch eine An­stren­gung sei­nes Wil­lens so au­gen­blick­lich zü­gel­te, daß bis auf die­sen ein­zi­gen Au­gen­blick des­sen Aus­druck für den der Ruhe ge­gol­ten ha­ben wür­de. Nach kur­z­er Zeit wur­de das Zu­cken fast un­merk­lich und ver­sank end­lich ganz in den Tie­fen sei­ner Na­tur. Als er fand, daß Esther Pryn­ne ihre Au­gen auf die sei­nen hef­te­te und sah, daß sie ihn zu er­ken­nen schi­en, er­hob er lang­sam und ru­hig sei­nen Fin­ger, mach­te da­mit eine Be­we­gung durch die Luft und leg­te ihn auf sei­ne Lip­pen.

Hier­auf be­rühr­te er die Schul­ter ei­nes ne­ben ihm ste­hen­den Bür­gers und re­de­te ihn auf förm­li­che, höf­li­che Art an.

»Ich bit­te Euch, gu­ter Herr«, sag­te er, »mir mit­zu­tei­len, wer die­ses Weib ist und wes­halb es zur öf­fent­li­chen Schan­de hier steht.«

»Ihr müßt wohl ein Frem­der in die­ser Ge­gend sein, Freund«, ent­geg­ne­te der Städ­ter mit ei­nem neu­gie­ri­gen Blick auf den Fra­gen­den und des­sen wil­den Ge­fähr­ten, »sonst wür­det Ihr si­cher­lich von Frau Esther Pryn­ne und ih­ren Mis­se­ta­ten ge­hört ha­ben. Ich darf wohl sa­gen, daß sie großes Är­ger­nis in der Kir­che des got­tes­fürch­ti­gen Herrn Dim­mes­da­le er­regt hat.«

»Ihr habt recht«, ent­geg­ne­te der an­de­re, »ich bin ein Frem­der und war zu mei­nem Schmerz, nicht frei­wil­lig, ein Wan­de­rer. Ich habe schwe­res Un­glück zur See und zu Lan­de er­fah­ren und bin lan­ge in den Ban­den des Hei­den­volks im Sü­den ge­we­sen und jetzt von die­sem In­dia­ner hier­her­ge­bracht wor­den, um aus mei­ner Ge­fan­gen­schaft er­löst zu wer­den. Wollt Ihr da­her die Güte ha­ben, mir zu sa­gen, worin Esther Pryn­nes -- habe ich den Na­men auch recht ge­hört? --, worin die­ses Wei­bes Ver­ge­hen be­stan­den und was sie auf jene Schand­büh­ne ge­bracht hat?«

»Wahr­lich, Freund, es muß nach Eu­ern Fähr­nis­sen und Eu­rem Auf­ent­halt in der Wild­nis Euer Herz er­freu­en, Euch end­lich wie­der in ei­nem Lan­de zu be­fin­den, wo die Sün­de auf­ge­spürt und an­ge­sichts der Vor­ge­set­zen und des Vol­kes be­straft wird, wie hier in un­se­rem got­tes­fürch­ti­gen Neu-Eng­land. So wißt, Herr, daß je­nes Weib die Ehe­frau ei­nes ge­lehr­ten Man­nes von eng­li­scher Ge­burt war, der aber lan­ge in Ams­ter­dam ge­lebt hat­te, wo es ihm vor ei­ner gu­ten Zeit in den Sinn kam, her­über zu fah­ren und sein Los mit dem un­sern in Massa­chu­setts zu ver­ei­ni­gen. Zu die­sem Zwe­cke schick­te er sei­ne Frau vor­aus, wäh­rend er selbst zu­rück­b­lieb, um ei­ni­ge not­wen­di­ge Ge­schäf­te zu be­sor­gen. Nun, gu­ter Herr, in den zwei Jah­ren oder we­ni­ger, wo das Weib hier in Bo­ston ge­lebt hat, sind kei­ne Nach­rich­ten von dem ge­lehr­ten Meis­ter Pryn­ne ein­ge­lau­fen, und sei­ne jun­ge Frau se­het Ihr, die ih­rer ei­ge­nen schlim­men Füh­rung über­las­sen ge­blie­ben ist --«

»Oh! ich ver­ste­he Euch«, sag­te der Frem­de mit bit­te­rem Lä­cheln. »Ein so ge­lehr­ter Mann, wie der, von wel­chem Ihr sprecht, hät­te auch dies aus sei­nen Bü­chern ge­lernt ha­ben sol­len, und wer mag, mit Eu­rer Gunst, Herr, der Va­ter je­nes Kin­des sein... es kommt mir drei bis vier Mo­na­te alt vor, wel­ches Frau Pryn­ne in ih­rem Arm hält?«

»Wahr­lich, Freund, die Sa­che ist ein Rät­sel ge­blie­ben und der Da­niel, wel­cher es lö­sen soll, fehlt noch«, ant­wor­te­te der Städ­ter. »Ma­dam Esther wei­gert sich un­be­dingt zu spre­chen, und die Rich­ter ha­ben ver­geb­lich ihre Köp­fe zu­sam­men­ge­steckt. Vi­el­leicht blickt gar der Schul­di­ge, den Men­schen un­be­kannt, auf die­ses trau­ri­ge Schau­spiel und ver­gißt, daß er von Gott ge­se­hen wird.«

»Der ge­lehr­te Mann«, be­merk­te der Frem­de mit ei­nem aber­ma­li­gen Lä­cheln, »soll­te selbst kom­men, um das Ge­heim­nis zu er­for­schen.«

»Das ge­ziemt ihm al­ler­dings, wenn er noch am Le­ben ist«, ant­wor­te­te der Städ­ter. »Nun, gu­ter Herr, un­ser Ma­gis­trat in Massa­chu­setts hat be­dacht, daß die­ses Weib jung und schön ist, und ohne Zwei­fel stark zu ih­rem Fal­le ver­lockt wur­de, und daß über­dies al­ler Wahr­schein­lich­keit nach ihr Ehe­mann auf dem Grun­de der See liegt, und des­halb nicht den Mut ge­habt, die gan­ze Stren­ge un­se­res ge­rech­ten Ge­set­zes ge­gen sie zur An­wen­dung zu brin­gen. Die Stra­fe, wel­ches das­sel­be auf­er­legt, ist der Tod, aber in ih­rer großen Gna­de und Her­zens­mil­de ha­ben sie Frau Pryn­ne nur dazu ver­ur­teilt, drei Stun­den lang auf dem Gerüs­te des Pran­gers zu ste­hen und von da an bis an ihr Le­bens­en­de ein Zei­chen der Schan­de auf ih­rer Brust zu tra­gen.«

»Ein wei­ser Spruch«, be­merk­te der Frem­de, ernst den Kopf nei­gend; »auf die­se Wei­se wird sie eine le­ben­de Pre­digt ge­gen die Sün­de sein, bis der schmach­vol­le Buch­sta­be auf ih­rem Lei­chen­stein aus­ge­hau­en wird. Den­noch ist’s mir är­ger­lich, daß der Teil­neh­mer ih­rer Mis­se­tat nicht we­nigs­tens auf der Büh­ne ne­ben ihr steht; aber man wird ihn ken­nen... man wird ihn ken­nen... man wird ihn ken­nen!«

Er ver­beug­te sich höf­lich ge­gen den mit­teil­sa­men Bür­ger, flüs­ter­te sei­nem in­dia­ni­schen Beglei­ter ei­ni­ge Wor­te zu, und sie dräng­ten sich bei­de durch die Men­ge.

Wäh­rend dies vor­ging, hat­te Esther Pryn­ne auf ih­rer Er­hö­hung ge­stan­den und ihre Au­gen im­mer noch mit ei­nem so un­ver­wand­ten Bli­cke auf den Frem­den ge­hef­tet, daß in man­chen Mo­men­ten alle üb­ri­gen Ge­gen­stän­de der sicht­ba­ren Welt zu ver­schwin­den und nur sie und ihn zu­rück­zu­las­sen schie­nen. Eine sol­che Be­geg­nung wür­de ohne Zwei­fel noch weit ent­setz­li­cher ge­we­sen sein, als selbst de­ren jet­zi­ge Art, wo die hei­ße Mit­tags­son­ne auf ihr Ge­sicht her­ab brann­te und ihre Schan­de be­schi­en, mit dem schar­lach­ro­ten Zei­chen der Schmach auf der Brust und dem Sün­den­kin­de auf ih­ren Ar­men, mit ei­nem gan­zen wie zu ei­nem Fes­te her­bei­ge­kom­me­nen Vol­ke, wel­ches die Züge an­gaff­te, die nur in dem stil­len Schei­ne des Ka­mins im glück­li­chen Schat­ten des Hei­mat­hau­ses oder un­ter ei­nem Frau­en­schlei­er in der Kir­che hät­ten sicht­bar sein sol­len. So ent­setz­lich es auch war, so wuß­te sie doch, daß sie einen Schutz an der Ge­gen­wart die­ser Tau­sen­de von Zeu­gen be­saß. Es war bes­ser, so da­zu­ste­hen und so vie­le zwi­schen ihm und sich zu ha­ben, als ihn, mit ihm al­lein, von An­ge­sicht zu An­ge­sicht zu be­grü­ßen. Sie such­te so­zu­sa­gen in der öf­fent­li­chen Schau­stel­lung Zuf­lucht und fürch­te­te den Au­gen­blick, wo ihr de­ren Schutz ent­zo­gen wer­den wür­de. In die­se Ge­dan­ken ver­sun­ken, hör­te sie kaum, daß eine Stim­me hin­ter ihr sprach, bis die­se ih­ren Na­men mehr als ein­mal in lau­tem, fei­er­li­chem, der gan­zen Ver­samm­lung hör­ba­rem Tone wie­der­holt hat­te.

»Hört mich an, Esther Pryn­ne!« sag­te die Stim­me.

Es ist be­reits ge­sagt wor­den, daß ge­ra­de über dem Gerüst, auf wel­chem Esther Pryn­ne stand, eine Art von Bal­kon oder of­fe­ner Ga­le­rie an dem Ver­samm­lungs­hau­se an­ge­bracht war. Dies war der Ort, wo im Bei­sein des ver­sam­mel­ten Ma­gis­trats und mit dem gan­zen Pomp und Ze­re­mo­ni­ell, wo­von der­glei­chen öf­fent­li­che Vor­gän­ge zu je­ner Zeit be­glei­tet wa­ren, Pro­kla­ma­tio­nen er­las­sen zu wer­den pfleg­ten. Hier saß, um die Sze­ne, wel­che wir be­schrei­ben, an­zu­se­hen, Gou­ver­neur Bel­ling­ham selbst, mit ei­ner Ehren­wa­che von vier Hel­le­bar­den tra­gen­den Ser­gean­ten um sei­nen Stuhl. Er hat­te eine dunkle Fe­der an sei­nem Hute, einen ge­stick­ten Saum an sei­nem Man­tel und dar­un­ter einen schwar­zen Sam­me­t­rock, und war ein Mann von vor­ge­rück­ten Jah­ren, in des­sen Ge­sicht schwe­re Er­fah­run­gen ihre Fur­chen ein­ge­gra­ben hat­ten. Er war nicht übel zum Haup­te und Ver­tre­ter ei­ner Ge­mein­schaft ge­eig­net, wel­che ih­ren Ur­sprung und Fort­schritt so­wie ih­ren ge­gen­wär­ti­gen Zu­stand nicht den Im­pul­sen der Ju­gend, son­dern der stren­gen ge­zü­gel­ten Ener­gie der Man­nes­jah­re und der fins­tern Klug­heit des Al­ters ver­dank­te, und ge­ra­de des­halb so viel be­wirk­te, weil sie sich so we­nig ein­bil­de­te und er­hoff­te. Die üb­ri­gen her­aus­ra­gen­den Köp­fe, wel­che den Gou­ver­neur um­ga­ben, zeich­ne­ten sich durch eine wür­de­vol­le Mie­ne aus, wie sie ei­ner Zeit an­ge­hör­te, in der man die For­men der Ob­rig­keit in der Hei­lig­keit gött­li­cher Ge­set­ze ge­bor­gen wuß­te. Sie wa­ren ohne Zwei­fel gute, ge­rech­te und wei­se Män­ner, aber es wür­de nicht leicht ge­we­sen sein, un­ter der gan­zen Men­schen­fa­mi­lie die glei­che An­zahl von wei­sen und tu­gend­haf­ten Per­so­nen aus­zu­wäh­len, die we­ni­ger ge­eig­net ge­we­sen wä­ren, über ein ir­ren­des Frau­en­herz zu Ge­richt zu sit­zen und des­sen Ge­we­be von Gu­tem und Bö­sem zu ent­wir­ren, als die streng aus­se­hen­den Män­ner, wel­chen Esther Pryn­ne jetzt ihr Ge­sicht zu­wen­de­te. Sie schi­en in der Tat zu wis­sen, daß die Teil­nah­me, wel­che sie er­war­ten konn­te, nur in dem grö­ßern und wär­me­rn Her­zen der Men­ge lie­ge, denn als sie ihre Au­gen zu dem Bal­kon er­hob, er­bleich­te das un­glück­li­che Weib und beb­te.

Die Stim­me, die ihre Auf­merk­sam­keit ver­langt hat­te, war die des ehr­wür­di­gen und be­rühm­ten John Wil­son, äl­tes­ten Geist­li­chen von Bo­ston, ei­nes großen Ge­lehr­ten, wie die meis­ten sei­ner Stan­des­ge­nos­sen in je­ner Zeit, und da­bei ei­nes Man­nes von gü­ti­gem, freund­li­chem Geis­te. Die­se letz­te Ei­gen­schaft war je­doch we­ni­ger sorg­fäl­tig ent­wi­ckelt wor­den als sei­ne in­tel­lek­tu­el­len Ga­ben und, die Wahr­heit zu ge­ste­hen, eher eine Sa­che der Be­schä­mung als der Ge­nug­tu­ung für ihn. Da stand er nun mit dem Sau­me von grau­en Lo­cken um sein Käpp­chen, wäh­rend sei­ne grau­en, an das um­schat­te­te Licht sei­nes Stu­dier­zim­mers ge­wöhn­ten Au­gen in dem un­ver­misch­ten Son­nen­schein blin­zel­ten wie die von Esthers Kind. Er sah aus wie die dun­kel­ge­sto­che­nen Por­träts, wel­che wir vor al­ten Pre­digt­bü­chern se­hen, und be­saß eben­so­we­nig Recht wie ei­nes die­ser Por­träts her­vor­zu­tre­ten, wie er es jetzt tat, und sich in eine Fra­ge mensch­li­cher Schuld, Lei­den­schaft und Pein zu mi­schen.

»Esther Pryn­ne«, sag­te der Geist­li­che, »ich habe mit mei­nem jun­gen Amts­bru­der hier ge­run­gen, un­ter des­sen Leh­re des gött­li­chen Wor­tes du zu sit­zen das Vor­recht ge­nos­sen hast --« hier leg­te Herr Wil­son sei­ne Hand auf die Schul­ter ei­nes blas­sen jun­gen Man­nes ne­ben ihm -- »ich habe, sage ich, die­sen got­tes­fürch­ti­gen jun­gen Mann zu über­re­den ge­sucht, daß er sich dei­ner an­neh­men möch­te, um hier im An­ge­sicht des Him­mels und vor die­sen recht­schaf­fe­nen und wei­sen Be­am­te­ten und dem gan­zen Vol­ke über die Schwär­ze und Bos­heit dei­ner Sün­de zu spre­chen. Da er dein na­tür­li­ches Tem­pe­ra­ment bes­ser kennt als ich, so könn­te er auch bes­ser be­ur­tei­len, wel­che Grün­de der Lie­be oder der Furcht an­zu­füh­ren sei­en, um über dei­ne Hart­nä­ckig­keit und Ver­sto­ckung zu sie­gen, da­mit du nicht län­ger den Na­men des­je­ni­gen ver­schwei­gen mö­gest, wel­cher dich zu die­sem schwe­ren Fal­le ge­lockt hat; aber er stellt mir mit der über­mä­ßi­gen Weich­heit ei­nes jun­gen Man­nes, ob­gleich er über sei­ne Jah­re hin­aus wei­se ist, ent­ge­gen, daß es der Na­tur des Wei­bes Un­recht tun hie­ße, wenn man es zwin­ge, die Ge­heim­nis­se sei­nes Her­zens bei so hel­lem Ta­ges­lich­te und in Ge­gen­wart ei­ner so großen Men­ge auf­zu­de­cken. Wahr­lich, die Schmach liegt, wie ich ihn zu über­zeu­gen such­te, in der Be­ge­hung der Sün­de und nicht in de­ren Of­fen­ba­rung. Ich fra­ge Euch noch ein­mal, Bru­der Dim­mes­da­le, was sagt Ihr dazu? Mußt du es sein oder ich, der sich der See­le die­ser ar­men Sün­de­rin an­nimmt?«

Es er­hob sich ein Ge­mur­mel un­ter den erns­ten wür­de­vol­len Män­nern auf dem Bal­kon, und Gou­ver­neur Bel­ling­ham sprach des­sen Be­deu­tung aus, in­dem er mit ge­bie­ten­der, wenn auch aus Ach­tung für den jun­gen Geist­li­chen, wel­chen er an­re­de­te, ge­mil­der­ter Stim­me sag­te:

»Gu­ter Mas­ter Dim­mes­da­le, die Verant­wort­lich­keit für die See­le die­ses Wei­bes ist in ho­hem Maße Eure Sa­che. Es ge­ziemt Euch da­her, sol­ches zur Reue und als Be­weis und Fol­ge der­sel­ben zum Ge­ständ­nis zu er­mah­nen.«

Die­se di­rek­te An­re­de zog die Au­gen der gan­zen ver­sam­mel­ten Men­ge auf Ehr­wür­den Dim­mes­da­le, einen jun­gen Geist­li­chen, der von ei­ner der großen eng­li­schen Uni­ver­si­tä­ten alle Ge­lehr­sam­kei­ten je­ner Zeit in un­ser wil­des Wald­land mit­ge­bracht hat­te. Sei­ne Be­red­sam­keit und sei­ne from­me Be­geis­te­rung hat­ten ihm be­reits in sei­nem Be­ru­fe ho­hes An­se­hen ver­schafft. Er war ein Mann von höchst auf­fal­len­dem Äu­ßern, mit wei­ßer, ho­her, fast über­hän­gen­der Stirn, großen, brau­nen, me­lan­cho­li­schen Au­gen und ei­nem Mun­de, der, au­ßer wenn er mit Ge­walt zu­sam­men­ge­preßt war, leicht beb­te und zu­gleich ner­vö­sen Ge­fühls­reich­tum und eine un­ge­heu­re Selbst­be­herr­schung aus­drück­te. Trotz sei­ner ho­hen Na­tur­ga­ben und ge­lehr­ten Er­run­gen­schaf­ten hat­te der jun­ge Geist­li­che ein be­sorg­tes, er­schreck­tes, halb wie von Furcht er­füll­tes Aus­se­hen, als ob er sich auf dem Pfa­de der mensch­li­chen Exis­tenz völ­lig ver­irrt und fremd fühl­te und sich nur in sei­ner ei­ge­nen Ab­ge­schie­den­heit wohl­füh­len könn­te. Er wan­del­te da­her, so­weit es sei­ne Pf­lich­ten ge­stat­te­ten, auf schat­ti­gen Ne­ben­we­gen, und er­hielt sich auf die­se Art ein­fach und kind­lich und trat, wenn es an der Zeit war, dann mit ei­ner Fri­sche und ei­nem Duft und ei­ner taui­gen Rein­heit des Ge­dan­kens her­vor, wel­che, wie vie­le sag­ten, sie wie die Rede ei­nes En­gels be­rühr­ten.

Sol­cher Art war der jun­ge Mann, wel­chen der ehr­wür­di­ge Herr Wil­son und der Gou­ver­neur so of­fen vor das Pub­li­kum ge­zo­gen und ihm ge­bo­ten hat­ten, vor al­ler Ohren über das selbst in sei­ner Be­fle­ckung so hei­li­ge Ge­heim­nis ei­ner Frau­en­see­le zu spre­chen. Die Schwie­rig­keit sei­ner Lage trieb ihm das Blut aus der Wan­ge und ließ sei­ne Lip­pen er­be­ben.

»Sprich zu dem Wei­be, mein Bru­der«, sag­te Herr Wil­son, »es ist von Wich­tig­keit für ihre See­le und da­her, wie der ver­ehr­te Gou­ver­neur sagt, auch von Wich­tig­keit für dei­ne ei­ge­ne, un­ter de­ren Ob­hut sich die ihre be­fin­det. Er­mah­ne sie, die Wahr­heit zu ge­ste­hen.«

Ehr­wür­den Dim­mes­da­le neig­te, wie es schi­en, in stum­mem Ge­be­te den Kopf und trat so­dann vor.

»Esther Pryn­ne«, sag­te er, sich über den Bal­kon beu­gend und ihr fest in die Au­gen bli­ckend, »du hörst, was die­ser gute Mann sagt, und siehst die Verant­wort­lich­keit, in wel­che ich ge­sto­ßen wer­de. Wenn du fühlst, daß es zur För­de­rung dei­nes See­len­frie­dens bei­trägt und daß dei­ne ir­di­sche Stra­fe da­durch wirk­sa­mer wird, dir die Se­lig­keit zu er­wer­ben, so ge­bie­te ich dir, den Na­men dei­nes Sün­den- und Lei­dens­ge­nos­sen aus­zu­spre­chen. Schwei­ge nicht aus miß­ver­stan­de­nem Mit­leid und zar­ter Rück­sicht für ihn, denn glau­be mir, Esther, daß es, wenn er auch von ei­nem ho­hen Plat­ze her­ab­stei­gen und dort auf dei­ner Büh­ne der Schmach ne­ben dir ste­hen müß­te, doch für ihn so bes­ser wäre, als wenn er le­bens­lang ein sün­di­ges Herz ver­ber­gen müß­te. Was kann dein Schwei­gen für ihn tun, als ihn ver­su­chen, ja ge­wis­ser­ma­ßen zwin­gen, sei­ne Sün­de durch Heu­che­lei zu ver­grö­ßern! Der Him­mel hat dir eine of­fe­ne Schmach ge­währt, da­mit du da­durch einen of­fe­nen Tri­umph über das Böse in dei­nem In­nern und den äu­ßern Schmerz er­rin­gen mö­gest. Be­sin­ne dich, ehe du ihm -- der viel­leicht nicht den Mut hat, die­sen selbst zu er­fas­sen --, den bit­tern aber heil­sa­men Kelch ver­wei­gerst, wel­cher jetzt dei­nen Lip­pen ge­bo­ten wird.«