Der Schatten einer offenen Tür - Sasha Filipenko - E-Book

Der Schatten einer offenen Tür E-Book

Sasha Filipenko

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Beschreibung

Die gottverlassene Provinzstadt Ostrog wird von einer Suizidserie von Jugendlichen im Waisenhaus erschüttert. Kommissar Alexander Koslow aus Moskau soll die Ermittlungen in die Hand nehmen, doch die örtliche Polizei hat ihre eigenen Theorien. Als Petja, ein Sonderling mit einem Herz für die Natur, verhaftet wird, glaubt Koslow nicht an dessen Schuld. Aber warum geriet Petja damals derart außer sich, als der Bürgermeister von Ostrog den Heimkindern einen Griechenland-Urlaub spendieren wollte?

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Seitenzahl: 211

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Sasha Filipenko

Der Schatten einer offenen Tür

Roman

Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer

Diogenes

Inhalt

Widmung

Prolog

Erster Gesang

Zweiter Gesang

Dritter Gesang

Zwischenspiel eins

Vierter Gesang

Zwischenspiel zwei

Fünf‌ter Gesang

Sechster Gesang

Siebenter Gesang

Zwischenspiel drei

Achter Gesang

Bericht Charakteristik von Pjotr Petrowitsch Pawlow

Neunter Gesang

Zehnter Gesang

Elf‌ter Gesang

Zwölf‌ter Gesang

Dreizehnter Gesang

Vierzehnter Gesang

Fünfzehnter Gesang

Sechzehnter Gesang

Siebzehnter Gesang

Achtzehnter Gesang

Neunzehnter Gesang

Zwanzigster Gesang

Einundzwanzigster Gesang

Zweiundzwanzigster Gesang

Dreiundzwanzigster Gesang

Vierundzwanzigster Gesang

Epilog

Fragenliste für den Unterricht

Postskriptum

Zitatnachweis

Für Mascha und Romka

Prolog

Es beginnt mit einem weißen Blatt Papier. Mühevoll wie Sisyphos kämpft sich der Minutenzeiger Richtung Zwölf. In dem kleinen karelischen Dorf, in dem der Herbst zu Ende geht und auch diese Geschichte, fällt seit dem frühen Morgen Schnee. Plus-minus ein Grad, die Temperatur tanzt um den Nullpunkt, und der Himmel verbreitet dämmriges Licht.

Am Ufer des großen Sees steht ein Haus. Braun gestrichen, zweistöckig. Darin sitzt ein Mann auf einem wackeligen Stuhl und starrt auf das Papier, greift aber nicht zum Stift. Ungeachtet all der Schreibwerkstätten, die so gut wie jeder Schriftsteller irgendwo anbietet, bleibt die aus einem Heft gerissene Seite leer – Alexander weiß nicht, was er schreiben soll.

Im Haus ist es still. Kaum hörbar knarzt der Boden unter den Sohlen der alten Frau. Alexander dreht sich um, sieht seiner Mutter beim Blumengießen zu, Topf um Topf, während der Vater auf dem Teppich kauert und ein Puzzle zusammensetzt. Auf einem Bogen Velin sortiert er die zweitausend Teile nach Farben, erst mal alle weißen.

Der Morgen ist zäh und klamm. Genauso still könnte er sich fortsetzen, doch da steht Alexander auf. Ohne ein Wort an die Mutter geht er hinaus in den Flur, nur den Vater hat er flüchtig geküsst. Er schlüpft in die Halbschuhe, die für diese Gegend zu leicht sind, stößt die Tür auf und steht auf der Veranda. Der Sohn zündet sich eine Zigarette an, wirft durch die beschlagene Fensterscheibe einen Blick auf die Eltern. Er zieht den Kopf ein und scheint schon wieder hineingehen zu wollen, doch im nächsten Moment drückt er den an ein winziges Saxofon erinnernden Stummel aus und bricht in die entgegengesetzte Richtung auf. Steuert auf den See zu, wo gleich darauf das donnernde Echo eines Schusses vom Himmel widerhallt …

Erster Gesang

Mit einem Wattestäbchen im Ohr betrachtet der Revierinspektor den Vogelkäfig und grübelt. Sinniert, wie enorm bunt dieser Papagei ist. Alles im Raum – die ausgebleichte Fahne, das glanzlose Wappen, ja sogar die blassbraunen, neu gestrichenen Wände –, alles steht im Kontrast zu dem grellen Gefieder. Dieser Vogel ist so bunt, dass man ihn am liebsten mitsamt seinem Käfig aus dem Zimmer werfen würde.

Der Revierinspektor ist bekümmert. Schwere Zeiten stehen bevor. In diesen Breitengraden versteht der Winter keinen Spaß – das Klima ist hier forsch wie die Menschen. Sehr bald wird die Kälte hereinbrechen. In wenigen Tagen, denkt der Mann, werden die Rohre einfrieren und die Straßen sich in Eisbahnen verwandeln. Es wird auch dieses Jahr wieder Stromausfälle geben, und irgendein besoffener Depp wird in einer Schneewehe einschlafen. Seine Familie wird diesen albernen Tod künstlich aufblasen und Ermittlungen verlangen, und keiner wird sich auch nur ein Fünkchen freuen für das glückliche Rindvieh, dessen sinnloses Leben endlich vorbei ist. So grübelt der Revierinspektor, während ihm Petja Pawlow gegenübersitzt. Bedacht darauf, den Polizisten nur ja nicht zu stören, sieht der Junge zum Fenster hinaus und wartet, dass dem Himmel irgendwann der Schnee ausgeht.

»Hör mal, Petak«, der Inspektor kehrt plötzlich von seiner Gedankenreise zurück, »du kennst dich doch aus mit Vögeln, oder? Diesen Papagei hab ich schon eine Woche da stehen, kann ich ihn jetzt mal frei im Zimmer herumfliegen lassen?«

»Zu früh. Zuerst muss der Vogel lernen, dass der Käfig sein Zuhause ist.«

»Na schön. Und wenn ich ihn dann später ganz rauslasse, kommt er auch wieder zurück?«

»Eher nicht. Wahrscheinlich erfriert er, oder andere Vögel hacken ihn tot.«

»Aha … Er tut mir leid, weißt du. So hilf‌los. Klettert den ganzen Tag von einer Stange auf die andere, knabbert am Gitter. Wenn’s nach mir ginge, wäre er längst erledigt. Glaub mir, wäre er nicht ein Geschenk meiner Tochter – ich hätte ihn schon abgemurkst! Hätte ihm den Hals umgedreht und ihn den Hunden im Hof rausgeschmissen!«

»Hunde dürfen keine Vogelknochen, die können sie nicht verdauen.«

»Auch wieder wahr …«

Nach dieser Beipflichtung versinkt der Revierinspektor wieder in Gedanken. So sitzen sie noch zwanzig Minuten da, bis der Beamte einschläft. Der Junge sieht ein, dass er besser ein andermal kommt, steht vorsichtig auf und stößt dabei versehentlich den Stuhl um. Der Revierinspektor schreckt hoch, reibt sich die Augen und merkt, dass dieser Pawlow ja wohl nicht grundlos da ist:

»Sag mal, Petja, was willst’n du eigentlich?«

»Ich will Anzeige erstatten.«

»Das hab ich schon kapiert, bin ja nicht blöd, aber was ist passiert?«

»Vor dem Café Bastille haben einige mir unbekannten Männer an unerlaubter Stelle geraucht.«

»Und?«

»Ich hab sie darauf aufmerksam gemacht …«

»Aha …«

»Und sie haben mich beschimpft.«

»Wie beschimpft?«

»Will ich nicht wiederholen.«

»Und was soll ich gegen sie geltend machen?«

»Grobheit!«

»Grobheit? Mein Gott, Petak, bist du extra gekommen, um ein paar Kerle anzuzeigen, die dich du weißt wohin geschickt haben? Polier ihnen die Fressen, und Ruhe ist!«

»Aber wenn wir alle einfach zuschlagen – wo führt denn das hin?«

»Zum Frieden, Petja, zum Frieden! Nur wer für seine Überzeugungen kämpft, kann den Krieg beenden! Die Menschen, Petja, die verhalten sich ja nur deswegen so verantwortungslos, weil sie ungestraft davonkommen. Hättest du ihnen eine reingehauen – glaub mir, sie wären gleich abgezogen!«

»Aber das darf man doch nicht! Das ist gegen das Gesetz!«

»Och, Petka, Petka …« Der Revierinspektor seufzt schwer, steht auf und öffnet die Oberlichte. Er reibt sich die Nasenwurzel, dreht sich eine Zigarette, spuckt eine Tabakfaser von der Zungenspitze und sagt müde: »Da züchten sie solche wie dich heran, Petja, und wir müssen’s auslöffeln. Leuten wie dir müsste mal einer von klein auf erklären, wie beschissen die Welt ist! Nichts zu machen! Sieh dich um – was willst du hier verändern? Den Horizont? Die Wolken? Und trotzdem: Wir leben, und das gar nicht mal so schlecht! Nicht diese Typen bräuchten Erziehung, sondern du!«

»Aber ich bin doch im Recht!«

»Na ja, lokal vielleicht schon, Petja, aber nicht global!«

»Heißt das, Sie nehmen keine Anzeige auf?«

»Mhm.«

»Aha, dann schönen Tag noch!«

»Auch dir, Petja, gesund bleiben!«

 

Die Mütze auf, geht Petja hinaus. Bei genauerem Hinsehen fällt einem auf, dass an diesem unbeholfenen Menschen alles ein wenig aus den Fugen ist. Die Lippen ein bisschen dicker als normal, die Ohren stehen etwas zu weit ab. Würden Sie versuchen, ihn wirklichkeitsgetreu zu zeichnen, dann hielte man Sie entweder für ein Genie oder gäbe Ihnen wegen Unkenntnis der menschlichen Proportionen eine Vier.

Der Schnee fällt inzwischen noch dichter, er gleicht einer Wand. Petja lässt seinen Blick über die Provinzstadt schweifen, die sich bis zum Horizont erstreckt. Über die düstere Kulisse aus asymmetrischen Holzhäusern und grotesk emporragenden Plattenbauten, in denen die Nachbarn einander Zellengenossen und Aufseher in einem sind. Rechts der Wald, links der Friedhof und ein Bahnübergang. Ein paarmal am Tag halten hier Güterzüge an und versperren die einzige Zufahrt zur Welt der Toten.

Bei seinem alten Moskwitsch angekommen, stemmt Petja das Knie gegen die Tür, kriegt sie jedoch erst beim dritten Versuch auf. Die Warnlichter auf dem Armaturenbrett signalisieren ihm, dass der Magen seines Autos wieder Nachschub braucht.

Den Moskwitsch hat sich Petja nicht grundlos gekauft. Die öffentlichen Verkehrsmittel in Ostrog sind eine Katastrophe. Der Bürgermeister bemüht sich um private Sammeltaxis, die sich die meisten Einwohner aber nicht leisten können. Aus Mitleid hat Petja ein Gratistaxi gegründet und bringt dreimal die Woche, pünktlich zu Feierabend, die Ostroger von A nach B. Natürlich ärgern solche Tricks die Sammeltaxifahrer, die Petja deswegen hie und da verprügeln, aber er nimmt es ihnen nicht wirklich übel.

›Brave Männer, sie müssen ja ihre Familien ernähren‹, denkt er.

Nach dem Tanken steigt Petja aufs Gas, doch da merkt er, dass er schon wieder den Schlauch in der Tanköffnung hat stecken lassen. Das ist ihm schon einmal passiert. Er holt das letzte Geld aus dem Portemonnaie und geht fügsam zur Kasse. Darauf gefasst, wie beim letzten Mal angeschrien zu werden, legt er gesenkten Blickes einen Geldschein hin, hört jedoch zu seiner Verwunderung eine freundliche Stimme:

»Schon gut, Petka, war erst das zweite Mal bei dir. Macht nichts! Einer von den Gemeindearbeitern ist schon viermal mitsamt dem Schlauch losgefahren. Da fragt man sich doch, wie man so einem die Kanalisation anvertrauen kann?«

Noch in der Hofeinfahrt muss Petja lächeln. Er findet, er sollte zum Dank einmal die Zapfsäule putzen. Aber das kann auch warten, ganz im Gegensatz zu seinem Plakat.

Petja geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Alle Fächer sind leer. Er hatte ja vorgehabt, einkaufen zu gehen, aber wegen der heute erlebten Grobheit hat er das komplett vergessen. In der vergeblichen Hoffnung auf irgendetwas Essbares durchwühlt er alle Schubladen und schaut auf dem Fensterbrett nach, aber sogar Reis und Instantnudeln sind aus.

Die Jacke wieder an, geht Petja hinaus Richtung Laden. Die Gewitterwolken verziehen sich, und die Gefiederten sind im Dunkeln verschwunden. An ihre Stelle treten Orion und der Fuhrmann, und jetzt strahlen die Sterne so hell, dass Petja ganz warm wird ums Herz.

Im Laden würde er seine Freude gerne teilen, weswegen er die Mütze zieht und voller Sanftmut grüßt:

»Guten Abend!«

Die Frau lässt ihre Nase in der Zeitschrift Yachten und Kutter stecken – woher auch immer sie die haben mag.

»Guten Abend!«, wiederholt Petja.

»Was brüllst du denn so, Pawlow? Ich sperre in einer Minute zu – beeil dich, wenn du was brauchst!«

»Ich brülle nicht, ich grüße!«

»Noch mal, du hast noch eine Minute! Brauchst du was?«

»Zuerst einmal, Frau Galja, hätte ich gern, dass Sie mich zurückgrüßen!«

»Wieso glaubst du, dass ich verpflichtet bin, dich zu grüßen? Steht das etwa irgendwo? Zahlst du mir was dafür? Mach schon, einen Zehner für ›’n Abend‹! Wenn du was kaufen willst – tu das! Aber wenn dir jemand was angetan hat, Petetschka, dann lass deine Wut nicht an mir aus!«

»Wie kommen Sie denn auf Wut? Niemand hat mir was angetan! Ich will nur, dass Sie mich grüßen, und dann würde ich Ihnen von den Sternen erzählen!«

»Und wenn ich das nicht will?«

»Was heißt, nicht will? Wieso – nicht wollen? Das sind doch die Grundregeln des Anstands!«

»Weil du ja so anständig bist, was? Ist es etwa anständig, andere Leute zu belehren? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Kunden ich hier täglich bedienen muss? Soll ich die etwa alle grüßen?«

»Frau Galja, wenn Ihnen Ihre Arbeit nicht gefällt, dann kündigen Sie doch! Ich verlange von Ihnen nichts Übernatürliches, aber man kann doch wohl einen Menschen grüßen, der zum Einkaufen kommt?«

»Hör mal, Petja, mir reicht’s dann auch mal! Willst du was kaufen, dann jetzt! Wenn nicht – raus mit dir!«

»Na gut, dann geben Sie mir bitte das Beschwerdebuch!«

»Das was?!«

»Das Beschwerdebuch!«

»So was haben wir noch nie gehabt! Du bist der Erste, der hier was auszusetzen hat!«

»Na gut, dann geben Sie mir bitte vier Packungen Nudeln, einen Sack Trockenkringel und dieses karierte Heft da.«

»Wozu brauchst du das Heft?«

»Ich mache Ihnen ein Beschwerdebuch!«

 

Frau Galja legt das Gewünschte betont langsam auf den Ladentisch. Mit dem Kugelschreiber, den er auch gleich dazugekauft hat, malt Petja vier rote Wörter auf den grünen Umschlag: Für Anregungen und Beschwerden. Auf der ersten Seite hinterlässt er vor den Augen der verblüfften Verkäuferin ein ausführliches Feedback. Der Kunde fordert Respekt und die Einhaltung elementarer Umgangsformen. Als er fertig ist, überreicht Petja das Heft der Verkäuferin, packt seine Waren in sein Einkaufsnetz und geht. Als Frau Galja sicher ist, dass Pawlow weit genug weg ist, reißt sie die erste Seite heraus, behält aber das Heft. Womöglich kann ein Heft Für Anregungen und Beschwerden ihrem Laden mehr Ansehen verleihen.

Nach dem Abendessen macht sich Petja ans Werk. Er beschwert einen Bogen Velin mit vier Büchern: Fahrenheit 451,Einer flog über das Kuckucksnest,1984 und Nimmerklug in Sonnenstadt, nimmt einen Pinsel zur Hand, tunkt ihn in die Wasserfarbe und schreibt die am Morgen erdachte Losung:

Fabrikenschlot bringt Vogeltod!

Zweiter Gesang

Nach sieben Jahren Zuchthaus in Ostrog erfindet sich Arkadi Baumann neu, sucht sich spaßeshalber diesen Namen aus und baut sich ein neues Leben auf – gleich hier in Ostrog. Jahrelang hat er die vergitterte Steppe betrachtet und irgendwann beschlossen, dass diese ganze Region, alles, bis zum Horizont, eines Tages ihm allein gehören würde. So kommt es auch. Experimentierfreudig baut der Ex-Häftling auf herrenlosen Feldern hektarweise Baumwolle an, und während die Ostroger noch behaupten, dass das nie was werden könne (immerhin eine riskante Gegend für den Ackerbau), erntet Baumann viertklassige Baumwolle, und sein Geschäft beginnt zu blühen. Genau genommen geht es so steil bergauf, dass Baumann eine Hygienewarenfabrik gründet und mit der Zeit fast alle Immobilien von Ostrog aufkauft. Und dann wird er, ohne es selbst so richtig mitzubekommen, Bürgermeister der Provinzstadt, zuerst nur inoffiziell, aber bald auch durch eine Wahl legitimiert. Die Ostroger lieben ihren Baumann, und dass er jetzt da, wo der tote Wald steht, eine weitere Fabrik hinbauen will, das finden sie alle klasse – alle außer Petja.

Die alten, morschen Bäume dienen vielen Tieren als Lebensraum. Die Spechte klopfen Höhlen in die Stämme, in denen auch Kohlmeisen, Blaumeisen und Käuzchen nisten. Weil Petja nur zu gut weiß, was für einen unheilbaren Schaden eine Fabrik in der Natur anrichtet, will er allen Ostrogern erklären, dass in dem alten Wald auf keinen Fall gebaut werden dürfe. Zu seiner Verwunderung muss er jedoch feststellen, dass das Schicksal der Vögel keinen interessiert.

»Sag mal, Petja, was willst du denn? Hier kämpfen die Leute seit Jahrzehnten ums Überleben! Wer aus dem Knast entlassen wird, sitzt jahrelang arbeitslos herum! Und für Heimkinder wie dich gibt es erst recht keine Arbeit, das weißt du selbst am besten. Und du kommst uns mit dem toten Wald? Jetzt, wo einmal in hundert Jahren neue Arbeitsplätze geschaffen werden sollen?«

»Denkt ihr gar nicht daran, dass die Nistgebiete vom Dreizehenspecht bis hier herüberreichen?«

»Von wem bitte?«

»Vom Dreizehenspecht! Das ist eine äußerst seltene Art!«

»Du bist selber eine seltene Art, Petja! Mach dich mal lieber an die Arbeit!«

 

Als Petja erfährt, dass Baumann am Samstagmorgen das Totholz besichtigen will, malt er ein Plakat und macht im Morgengrauen das, was man in Moskau einen Einzelprotest nennt.

Beim Anblick des Demonstranten sagt der Bürgermeister nichts. Als Ex-Häftling ist er kein Freund der vielen Worte. Er handelt lieber, als er spricht. Ist ein Mann der Tat, der Gespräche ohne Gruß beginnt und ohne Abschiedsfloskeln beendet. Seine Äußerungen bestehen großteils aus Verben, die meisten im Imperativ. Die Worte fallen entweder aus ihm heraus (wenn ihm sein Gegenüber egal ist) oder schlagen knallhart zu wie Peitschenhiebe. Für Baumann gibt es nur zwei Kategorien von Menschen: nützliche und unnütze.

»Zeig her!«, befiehlt er.

Kaum hat er das Plakat in der Hand, lässt er los, und es fällt in den Schnee. Baumann hat kein Interesse an Petjas Kritzelei. Der tote Wald gehört längst ihm, die Pläne sind fertig, und akkurat in diesen Minuten sind die Bauleiter dabei, die Arbeiter in Busse zu verfrachten. Baumann wendet sich ab und wirft dem Jungen zum Abschied hin:

»Zieh Leine!«

 

Petja sieht dem Bürgermeister und seinen Gehilfen hinterher und kapiert, dass das kein Blitzkrieg wird. Baumann lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Angesichts des beeindruckenden Trupps von willigen Beratern sieht Petja ein, das Projekt kann nur gestoppt werden, wenn ganz Ostrog dagegen protestiert.

Er hebt das Plakat auf und plant eine Expedition durch die Nachbarschaft. Schnell rennt er zu seinem Moskwitsch, denn er darf auf keinen Fall Zeit verlieren.

›Wie gut, dass heute Samstag ist‹, denkt er. ›Wie wunderbar, da kann ich gleich ganz viele erreichen!‹

»Hallo, Herr Inspektor? Guten Tag! Ja, ja, hier Petka, Petja Pawlow! Ja! Haben Sie eine Minute für mich? Herr Inspektor, Sie wissen, dass der Bürgermeister eine Fabrik bauen will? Das ist Ihnen bekannt, ja? Na ja, und ich rufe Sie nun an, um Ihnen zu sagen, dass er das auf keinen Fall tun darf! Was? Sie hören mich schlecht? Was? Warum er das nicht darf? Ich sage Ihnen, warum! Und zwar, weil in der Natur, wie Sie doch sicher wissen, jedes Element seinen Sinn hat, das Leben genauso wie der Tod. Hallo? Hallo, Sie reißen ab! Hören Sie mich? Ich sage, jedes Element, das Leben genauso wie der Tod, alles hat seinen Sinn! Man darf den Wald nicht daran hindern, so zu sterben, wie er muss, hören Sie? Der Wald muss welken, modern und zur Nahrungsquelle für Insekten werden. Was? Wieso hören Sie mich so schlecht? Na ja, ich steh hier an der Straße, mitten in der Wiese, komme gerade vom Wald! Herr Inspektor, ich sage Ihnen, der Wald muss sich zersetzen und auf‌lösen, verstehen Sie? Wir haben nicht das Recht, uns in den natürlichen Kreislauf einzumischen, das bringt Unglück! Gleichgewicht, Nachhaltigkeit und Selbsterneuerung – das ist es, was der Wald braucht! Verstehen Sie, Herr Inspektor, der Wald muss auf natürliche Weise sterben! Hören Sie mich? Auf natürliche Weise! Wenn schon Bäume fällen, dann besser die lebenden! Was? Doch, doch, ich meine die lebenden, jawohl! Weil sie dichter und saftiger sind, finden Insekten darin keine Heimstatt. Aber ein toter Baum ist ein reicher Nährboden! Verstehen Sie? Haben Sie mich jetzt gehört? Das ist sehr wichtig, Herr Inspektor! Sehr wichtig! Ein toter Baum beherbergt so viel Leben, wie ein lebender Baum nie unterbringen kann! Hallo! Hallo! Was? Was sagen Sie? Mit diesem Scheiß? …«

 

Petja dreht den Zündschlüssel, das Auto grummelt und rollt Richtung Stadt. So beginnt sein Widerstand gegen Ostrog. Einer aus dem Waisenhaus gegen mehrere Tausend Einwohner. Zur Rettung des Waldes wird er jeden Einzelnen überzeugen müssen.

Gleich am nächsten Morgen beginnt Petja, von Haus zu Haus zu gehen und offene Briefe zu schreiben. Ein paar an die Kreiszeitung, zwei in die Hauptstadt. Natürlich werden Petjas Texte nicht publiziert und nicht einmal gelesen, aber er denkt gar nicht ans Aufgeben. Auf verlassenen Betonwänden wiederholt er in großen schwarzen Lettern seine Parole: Fabrikenschlot bringt Vogeltod! Als die Schriftzüge aufzufallen beginnen (was in einer Kleinstadt nicht lange dauert), erinnert sich der Revierinspektor daran, dass er sich den Dorf‌trottel noch einmal vorknöpfen wollte.

»Hör mal, Petak, wofür machst du denn diesen ganzen Krach, hm? Seit Tagen ist die Stadt in Aufruhr! Bist doch ein kluger Junge, das wirst du doch verstehen. Musst du dem Baumann wirklich Steine in den Weg legen, was?«

»Die Fabrik darf nicht gebaut werden!«

»Du bist ein komischer Kauz! Tust so korrekt, kämpfst für den Umweltschutz, dabei rollst du selber Wattestäbchen! Weißt du etwa nicht, wie die die Weltmeere verschmutzen?«

»Natürlich weiß ich das! Das macht mir auch Sorgen! Jeden Tag, wenn ich mich ans Fließband setze, packt mich der Zweifel! Ich verspreche Ihnen, sobald ich einen anderen Job finde, verlasse ich die Fabrik!«

»Pfui, Petka, was läuft denn nur falsch bei dir? Was bist du denn so dogmatisch? War doch nur ein Witz! Brauchst doch keinen neuen Job! Und so einen Deppen wie dich nimmt auch keiner außer Baumann! Solltest ihm eigentlich dankbar sein! Du verdankst ihm dein Brot! Und gar nicht wenig! Jetzt hast du mal deine Meinung gesagt, hast dein Plakat präsentiert, und ich bin sicher, der Baumann hat dich gehört. Ist ja ein progressiver Mensch, hat lange gesessen, hatte Zeit nachzudenken. Und er hält ganz bestimmt alle Umweltschutzauf‌lagen ein. Was willst du also noch, hm?«

»Wie gesagt, es geht nicht um Auf‌lagen, sondern darum, dass die Fabrik überhaupt nicht gebaut werden darf!«

»Du bist doch nur sauer, weil die Leute ihn toll finden und dich nicht. Gib doch zu, Petja, es wurmt dich, dass einer aus dem Knast Gutes tun kann. Na komm, gib’s zu! Bist du eifersüchtig? Bist doch eifersüchtig, stimmt’s? Aber da brauchst du doch nicht eifersüchtig zu sein, Petja! Lass doch mal! Und schau nicht von oben herab auf den Baumann. Ja, er war im Bau, war viele Jahre hinter Gittern, aber er hat seine Strafe abgesessen! Der Baumann hilft uns allen! Während du dir Sorgen um die Piepmätze machst, versorgt er die ganze Stadt mit modernen Klosetts! Verstehst du, ich bin mein halbes Leben rausgegangen zum Scheißen! Vielleicht verdanke ich es überhaupt ihm, dass ich mich mit vierzig zum ersten Mal wie ein richtiger Mensch fühle!«

»Wie wenig Sie brauchen, um sich als Mensch zu fühlen …«

»Vielleicht ist es wenig, Petja, aber ich weiß, was es ihn gekostet hat!«

»Aber die Fabrik führt in die Katastrophe!«

»Und in was für eine?«

»Die Vögel verschwinden!«

»Zum Teufel mit den blöden Vögeln!« Von Pawlows Sturheit platzt dem Revierinspektor der Kragen, er haut mit der Faust auf den Tisch. »Sollen sie sich doch alle heute noch scharenweise verpissen! Ich hab hier schon einen Vogel im Käfig, was interessieren mich die im Wald?!«

»Sie sollten nicht so …«, setzt Petja an. »Wissen Sie zum Beispiel, dass in Regionen, in denen mehr Störche leben, die Geburtenraten höher sind?«

»Sehr witzig!«

»Es stimmt aber! Eine wissenschaftliche Studie hat gezeigt, dass da, wo Störche nisten, die durchschnittliche Geburtenrate höher ist als im Rest des Landes.«

»Und wie hängt das zusammen?«

»Gar nicht, aber es ist eine Tatsache.«

»Ja, ja, kein Zusammenhang, aber eine Tatsache. Willst du Tatsachen? Willst du Tatsachen, Petja, ja? Tatsache ist, dass wir nur das Papier verschwenden mit dir! Wir haben alle die Schnauze voll. Du bist für uns nichts als ein Hofnarr. Läufst hier rum und ziehst allen die Gedärme durch die Nase. Aber Tatsache ist, Petja, Tatsache ist, dass der Baumann sogar jetzt, während du hier sitzt und dich bei mir über ihn beschwerst, gerade dabei ist, für alle unsere Heimkinder eine Reise ans Meer zu organisieren.«

»An was für ein Meer denn jetzt wieder?«

»Ans richtige, echte Meer! Während du die Leute zum Streik aufrufst, tut Baumann Gutes und lässt alle Kinder nach Griechenland fliegen!«

»Im Ernst?!«

»Ja!«

»Aber das darf man nun wirklich auf keinen Fall tun!«

»Ach, du! Auch das soll man also nicht dürfen! Irgendwie bin ich gar nicht überrascht, Petja. Ist dir das selbst nicht zu dumm, hm? Dies darf man nicht, das darf man nicht! Keine Fabriken bauen, keine Kinder ans Meer schicken …«

»Genau, auf keinen Fall!«

»Darf ich dich Schlaumeier mal fragen, warum denn nicht?«

»Ist Ihnen das nicht selbst klar?«

»Nein, ob du’s glaubst oder nicht!«

»Nehmen wir zum Beispiel einmal den Löffelstrandläufer …«

»Was für einen Scheißlöffelläufer jetzt wieder?!«

»Der Löffelstrandläufer, eine seltene Vogelart, lebt in Tschukotka …«

»Und?«

»Er pflanzt sich in Russland nur sehr schlecht fort. Eine Zeit lang war der Vogel fast am Aussterben, da beschlossen Ornithologen, ihn nach England zu bringen, sozusagen unter bessere Bedingungen. Die Fachleute dachten, dort würde er sich wohler fühlen, aber daraus wurde nichts! Tote Eier, verstehen Sie?«

»Herrgott noch mal, Petja, was ist das für ein Käse? Wieso Fortpflanzung? Was für Löffelläufer? Was haben die mit uns zu tun? So, es reicht, man muss wissen, wann’s genug ist! Bist ja ein guter Junge, aber manchmal kommt mir vor, dein Kopf ist nicht dein bester Freund. Ich hab mir das lang genug angehört, ach was, alle hier haben dich lang genug ausgehalten, aber irgendwann ist Schluss. Du wirst jetzt schön nach Hause gehen und mal ganz still über dein Verhalten nachdenken, verstanden?«

»Aber ich wollte Ihnen noch erklären, wie …«

»Marsch, ab nach Hause, wird’s bald!«

 

Und Petja nimmt seine Mütze und geht. Die neue Nachricht macht ihn sprachlos. Mitten auf der Straße bleibt er stehen und versucht, das Gehörte zu verdauen: »Eine Reise … ans Meer … Katastrophe …«

Nicht nur die Nachricht, auch die Taubheit des Inspektors verstört Petja. »Versteht er nicht, dass das nichts Gutes bringt? Wie konnte er den Löffelstrandläufer einfach so ignorieren?«

Petja schnieft, beißt sich auf die Lippen. Die Zeit drängt, so viel ist klar. Offenbar muss sein Kampf um den Wald jetzt eine Weile warten.

»Wenn der Baumann sich die Kinder vornimmt, dann fliegen sie schon bald ans Meer … Jetzt heißt es, schnell und sicher handeln, vielleicht sogar radikal …«

So geht Petja auch vor. Trotz der Ermahnung des Inspektors hört er nicht nur nicht auf, sondern geht sogar zum Gegenangriff über. Überzeugt, dass die Fahrt ans Meer direkt in die Katastrophe führt, sucht er sogleich die Leiterin des Waisenhauses auf, dessen Zögling er selbst einmal war.

»Ljudmila Antonowna, Sie müssen diese Reise ablehnen!«

»Freiwillig auf einen Gratisurlaub verzichten? Petja, hast du sie nicht alle?«

 

Weil er bei den Erwachsenen nicht durchkommt, versucht es Petja bei den Kindern. Eines nach dem anderen bringt er sie zum toten Wald und bittet sie, vernünftig zu sein:

»Was spielst du denn da, Rin?«

»Angry Birds heißt das … Guck mal, Onkel Petja, die Vögel sind die Kanonenkugeln, mit denen schießt man die Schweine ab …«

»Und das macht Spaß?«

»Na klar!«

»Aha. Hör mal, ich wollte dir was sagen …«

»Was denn, Onkel Petja?«

»Wegen der Reise nach Griechenland …«

»Das weißt du also schon, ja?«

»Ja …«

»Toll, nicht wahr?«

»Jetzt mach doch mal das Spiel aus, Rin!«

»Hey, aus der Hand reißen gilt nicht, Onkel Petja!«

»Von mir aus, aber du glotzt die ganze Zeit auf dein Display und siehst die echte Welt nicht!«

»Okay, okay, kein Grund, so auszurasten.«