Der Schatzmeister - J. S. Fletcher - E-Book

Der Schatzmeister E-Book

J.S. Fletcher

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Beschreibung

Highmarket, ein ruhiger Ort in Yorkshire. Ein Ort, in dem jeder jeden zu kennen mag, aber auch jeder seine Geheimnisse pflegt. Ein Neuankömmling wird ermordet aufgefunden, und ein düsteres Geheimnis der Stadt droht, ans Licht zu kommen. Null Papier Verlag

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J. S. Fletcher

Der Schatzmeister

Kriminalroman

J. S. Fletcher

Der Schatzmeister

Kriminalroman

(The Borough Treasurer)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Hans Barbeck EV: Peter J. Oestergaard Verlag, 1931 (281 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-962815-55-4

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Inhaltsverzeichnis

Zu­sam­men­fas­sung

1. Ka­pi­tel – Er­pres­sung.

2. Ka­pi­tel – Ver­bre­chen und Er­folg.

3. Ka­pi­tel – Mord.

4. Ka­pi­tel – Im Kie­fern­wald.

5. Ka­pi­tel – Der Strick.

6. Ka­pi­tel – Der Bür­ger­meis­ter.

7. Ka­pi­tel – Nächt­li­che Tä­tig­keit.

8. Ka­pi­tel – Mr. Har­bo­rough.

9. Ka­pi­tel – Ki­te­lys Vor­le­ben.

10. Ka­pi­tel – Das Loch im Stroh­dach.

11. Ka­pi­tel – Chri­sto­pher Pett.

12. Ka­pi­tel – Vä­ter­li­che Sor­ge.

13. Ka­pi­tel – Der an­ony­me Brief.

14. Ka­pi­tel – Das Blatt mit den Zah­len.

15. Ka­pi­tel – Eins führt zum an­de­ren.

16. Ka­pi­tel – Die ein­sa­me Hei­de.

17. Ka­pi­tel – Die Ob­duk­ti­on.

18. Ka­pi­tel – Das Buch mit den Zei­tungs­aus­schnit­ten

19. Ka­pi­tel – Ein großer Mann in grau­em An­zug.

20. Ka­pi­tel – Ge­ständ­nis.

21. Ka­pi­tel – Die ge­stör­te Flucht.

22. Ka­pi­tel – Die Hand im Dun­keln.

23. Ka­pi­tel – An­ge­neh­me Ge­fan­gen­schaft.

24. Ka­pi­tel – Rein ge­schäft­li­cher Ver­kehr.

25. Ka­pi­tel – Kein wei­te­res Zeug­nis.

26. Ka­pi­tel – Arg­wohn.

27. Ka­pi­tel – Mr. Wray­thwai­te von Wraye.

28. Ka­pi­tel – Ver­gan­gen­heit.

29. Ka­pi­tel – Ohne Über­le­gung.

30. Ka­pi­tel – Co­ther­sto­ne.

31. Ka­pi­tel – Letz­tes Ka­pi­tel.

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Zusammenfassung

High­mar­ket, ein ru­hi­ger Ort in Yorks­hi­re. Ein Ort, in dem je­der je­den zu ken­nen mag, aber auch je­der sei­ne Ge­heim­nis­se pflegt.

Ein Neu­an­kömm­ling wird er­mor­det auf­ge­fun­den, und ein düs­te­res Ge­heim­nis der Stadt droht, ans Licht zu kom­men.

1. Kapitel

Erpressung.

In der Mit­te der Haupt­stra­ße von High­mar­ket stand eine wuch­ti­ge, mas­si­ve Tor­fahrt, die noch aus dem Mit­tel­al­ter stamm­te. Wenn man hin­durch­ging, kam man auf einen qua­dra­ti­schen Hof, zu des­sen Sei­ten sich alte Stein­häu­ser er­ho­ben. Wel­cher Be­stim­mung die­se Ge­bäu­de frü­her ge­dient hat­ten, war nicht mehr zu er­ken­nen, jetzt wur­de hier ein Bau­ge­schäft be­trie­ben. Gro­ße Sta­pel nor­we­gi­schen Hol­zes türm­ten sich an der Mau­er; Schie­fer­plat­ten aus Wa­les, Mar­mor­stu­fen aus Aber­de­en und Ze­ment von Port­land la­ger­ten hier in Men­gen. Die Räu­me der Ge­bäu­de wa­ren mit al­len mög­li­chen Ma­te­ria­li­en ge­füllt, die zum Haus­bau be­nö­tigt wur­den: Tür- und Fens­ter­be­schlä­ge aus Ei­sen und Bron­ze, Zink, Blei, Dach­zie­gel, Röh­ren und alle Be­darfs­ar­ti­kel, die die mo­der­ne Tech­nik da­für ge­schaf­fen hat­te. Auf ei­ner po­lier­ten Mes­sing­plat­te am Ein­gang konn­te man den Na­men der Fir­ma le­sen: »Mal­la­lieu & Co­ther­sto­ne, Bau­ge­schäft.«

An ei­nem Ok­to­ber­nach­mit­tag stan­den die bei­den In­ha­ber auf dem Hof. Sie wa­ren eben aus dem Büro ge­kom­men, um die neu­en Trans­port­wa­gen zu be­sich­ti­gen, die nach den Zeich­nun­gen Mal­la­lieus ge­baut wor­den wa­ren. Er zeig­te Co­ther­sto­ne, der sich mehr mit der Buch­hal­tung und der Kor­re­spon­denz be­fass­te, stolz ihre Vor­zü­ge.

Mal­la­lieu war ein großer, statt­li­cher Mann zwi­schen fünf­zig und sech­zig Jah­ren. Er sah re­prä­sen­ta­tiv und wür­de­voll aus und hielt viel auf gute Klei­dung. Sei­ne klei­nen Au­gen blitz­ten leb­haft und schie­nen al­les zu be­ob­ach­ten. Er hat­te den Hut ein we­nig in den Na­cken ge­scho­ben und wies eben auf ei­ni­ge Ein­zel­hei­ten der Ent­la­de­vor­rich­tun­gen hin.

»Siehst du, Co­ther­sto­ne, mit ei­nem ein­zi­gen Hand­griff kann man den gan­zen Wa­gen ent­la­den. Man soll­te sich die Idee ei­gent­lich pa­ten­tie­ren las­sen.«

Co­ther­sto­ne trat et­was nä­her. Er war im Ge­gen­satz zu sei­nem Kom­pa­gnon schlank und be­weg­lich. Ob­wohl er jün­ger als Mal­la­lieu war, sah er doch äl­ter aus; an den Schlä­fen war sein dün­nes Haar schon er­graut. Mal­la­lieu mach­te den Ein­druck un­ver­wüst­li­cher Kraft und Ge­sund­heit; in Co­ther­sto­nes un­ru­hi­gem We­sen, in sei­ner Spra­che und in sei­nen Be­we­gun­gen ver­riet sich da­ge­gen eine Ner­vo­si­tät, die fast an Furcht grenz­te. Er ging schnell um den einen Wa­gen her­um und be­trach­te­te ihn von al­len Sei­ten.

»Das stimmt«, er­wi­der­te er. »Es ist eine gute Idee, aber wenn sie pa­ten­tiert wer­den soll, müs­sen wir uns so­fort dar­um küm­mern, ehe die­se Wa­gen in Be­trieb ge­nom­men wer­den.«

»Nun, so ge­fähr­lich ist es nicht! In High­mar­ket ver­steht nie­mand et­was da­von oder ist so schlau, uns das Ge­heim­nis ab­zu­gu­cken«, mein­te Mal­la­lieu in gu­ter Lau­ne. »Vi­el­leicht könn­te man die Sa­che vor­läu­fig als Mus­ter­schutz an­mel­den.«

»Ich will dar­an den­ken. Auf je­den Fall lohnt es sich.«

Mal­la­lieu zog sei­ne große, gol­de­ne Uhr aus der Ta­sche und sah auf das ju­we­len­be­setz­te Zif­fer­blatt.

»Alle Wet­ter!« rief er. »Schon vier Uhr! Ich habe eine Sit­zung im Rat­haus in ei­ner Vier­tel­stun­de – aber be­vor ich nach Hau­se gehe, kom­me ich noch ein­mal her.«

Er eil­te durch das Tor hin­aus. Co­ther­sto­ne be­trach­te­te die Wa­gen noch ein­mal ein­ge­hend, sah ei­ni­ge Pa­pie­re durch, die er in der Hand hielt, und ging dann in das La­ger, um die neu­an­ge­kom­me­nen Sen­dun­gen zu prü­fen. Er war noch da­mit be­schäf­tigt, als ein An­ge­stell­ter zu ihm trat.

»Mr. Ki­te­ly ist ge­kom­men, um sei­ne Mie­te zu be­zah­len. Er möch­te Sie selbst spre­chen.«

»Fün­f­und­zwan­zig, sechs­und­zwan­zig, sie­ben­und­zwan­zig«, zähl­te Co­ther­sto­ne, dem die­se Un­ter­bre­chung sehr un­ge­le­gen kam. »Füh­ren Sie ihn in mein Pri­vat­bü­ro. ich kom­me gleich hin­über.«

Er führ­te die be­gon­ne­ne Ar­beit erst zu Ende, trug den ge­nau­en Be­fund in eine Lis­te ein und wand­te sich dann zu den Bü­ro­räu­men. Kur­ze Zeit spä­ter be­grüß­te er in sei­nem Pri­vat­kon­tor einen äl­te­ren Herrn, der vor kur­z­em an der Stadt­gren­ze ein Haus von ihm ge­mie­tet hat­te.

»Gu­ten Tag, Mr. Ki­te­ly! Ich freue mich, Sie wie­der ein­mal zu se­hen. Leu­te, die ihre Mie­te be­zah­len, sind im­mer will­kom­men. Neh­men Sie bit­te Platz. Hof­fent­lich sind Sie mit der Woh­nung dort zu­frie­den?«

Der Be­su­cher setz­te sich, leg­te die Hän­de auf sei­nen alt­mo­di­schen Spa­zier­stock und sah sei­nen Haus­wirt mit ei­nem merk­wür­di­gen Lä­cheln an. Nach sei­ner schlan­ken, et­was zu ha­ge­ren Ge­stalt, dem ab­ge­tra­ge­nen, schwar­zen An­zug und der Kra­wat­te hät­te man ihn für einen Geist­li­chen hal­ten kön­nen. Er war glatt ra­siert und schon er­graut. Co­ther­sto­ne wuss­te nur, dass die­ser Mann in der Lage war, sei­ne Mie­ten und Steu­ern re­gel­mä­ßig zu zah­len, und hielt ihn für einen pen­sio­nier­ten Kir­chen­die­ner.

»Man soll­te doch den­ken, dass Sie und Mr. Mal­la­lieu kein Geld brau­chen«, sag­te er ru­hig. »Ihr Ge­schäft scheint ja sehr flott zu ge­hen.«

»Ach, es ist al­les nicht so, wie es aus­sieht. Wir ha­ben uns al­ler­dings nicht zu be­kla­gen, Mr. Ki­te­ly.« Er setz­te sich an den Schreib­tisch und schrieb eine Quit­tung aus. »Sie zah­len fünf­und­zwan­zig Pfund im Jahr, das macht 6 Pfund und 5 Schil­ling pro Quar­tal. Darf ich Ih­nen ein Glas Whis­ky ein­schen­ken?«

Ki­te­ly nahm ei­ni­ge Bank­no­ten und Sil­ber­geld her­aus, zähl­te sie auf und nahm die Quit­tung. Aber er sah Co­ther­sto­ne im­mer noch mit dem ei­gen­tüm­li­chen lä­cheln­den Aus­druck an.

»Dan­ke, das neh­me ich gern an.«

Er be­ob­ach­te­te Co­ther­sto­ne, der eine ge­schlif­fe­ne Whis­kyfla­sche und Glä­ser aus dem Schran­ke nahm und von ei­nem Fil­ter in der Ecke fri­sches Was­ser hol­te, um die Ge­trän­ke zu mi­schen. Dann nahm er das Glas mit ei­nem höf­li­chen Ni­cken und trank Co­ther­sto­ne zu.

»Wie ge­fällt es Ih­nen denn in Ihrem Haus, Mr. Ki­te­ly? Ha­ben Sie et­was aus­zu­set­zen?«

»Nein, nicht dass ich wüss­te.«

Es lag eine merk­wür­di­ge Zu­rück­hal­tung in Ki­te­lys We­sen, und Co­ther­sto­ne schau­te ihn et­was ver­wun­dert an.

»Und High­mar­ket ge­fällt Ih­nen auch? Sie woh­nen ja nun schon ei­ni­ge Zeit hier und ha­ben sich si­cher ganz gut ein­ge­lebt.«

»Es ist al­les so, wie ich es er­war­tet hat­te«, ent­geg­ne­te Ki­te­ly. »Schön ru­hig und fried­lich. Und wie geht es Ih­nen hier?«

»Wie es mir hier geht?« frag­te Co­ther­sto­ne er­staunt. »Ich bin doch schon seit fünf­und­zwan­zig Jah­ren hier!« Ki­te­ly nahm einen Schluck aus sei­nem Gla­se, setz­te es dann auf den Tisch und sah Co­ther­sto­ne durch­drin­gend an.

»Ja, Sie ha­ben recht. Vor fünf­und­zwan­zig Jah­ren ka­men Sie mit Ihrem Teil­ha­ber hier­her. Und vor drei­ßig Jah­ren mach­te ich zum ers­ten Mal Ihre Be­kannt­schaft. Aber das ha­ben Sie wahr­schein­lich ver­ges­sen.«

Co­ther­sto­ne rich­te­te sich plötz­lich auf und warf Ki­te­ly einen fra­gen­den Blick zu. Sei­ne schar­fen Züge sa­hen noch an­ge­spann­ter aus als sonst.

»Was sag­ten Sie da eben?« frag­te er un­si­cher.

»Vor drei­ßig Jah­ren lern­te ich Sie und Mr. Mal­la­lieu ken­nen. Ich dach­te mir schon, dass Sie es ver­ges­sen hät­ten – ich aber nicht!«

Co­ther­sto­ne starr­te sei­nen Be­su­cher sprach­los an, dann er­hob er sich lang­sam, ging zur Tür, ver­ge­wis­ser­te sich, ob sie ge­schlos­sen war, und kam dann wie­der zu­rück.

»Was mei­nen Sie denn?«

»Was ich sage!« ent­geg­ne­te Ki­te­ly mit ei­nem tro­ckenen Auf­la­chen. »Es ist drei­ßig Jah­re her, seit­dem ich Sie zu­erst sah.«

»Wo denn?«

Ki­te­ly for­der­te ihn durch eine Hand­be­we­gung auf, sich zu set­zen, und Co­ther­sto­ne ge­horch­te. Er fuhr zu­sam­men, als Ki­te­ly die Hand auf sei­nen Arm leg­te.

»Wol­len Sie wirk­lich wis­sen, wo das war?« frag­te er, in­dem er sich nä­her zu Co­ther­sto­ne neig­te. »Nun, ich will es Ih­nen sa­gen. Sie sa­ßen da­mals bei­de auf der An­kla­ge­bank vor den Ge­schwo­re­nen!«

Co­ther­sto­ne ant­wor­te­te nicht. Er hat­te die Spit­zen sei­ner Fin­ger zu­sam­men­ge­legt und starr­te dau­ernd in Ki­te­lys Ge­sicht, als ob die­ser von den To­ten auf­er­stan­den wäre. Er fühl­te sich ent­setz­lich elend und wil­len­los; es war ihm, als ob er un­ter dem Bann ei­ner Hyp­no­se stän­de. Er konn­te sich we­der be­we­gen noch spre­chen, wäh­rend Ki­te­ly ihn be­rühr­te und ihn un­heil­voll an­sah.

»Ja, das sind nun ein­mal Tat­sa­chen«, fuhr Ki­te­ly fort, »dar­an lässt sich nichts än­dern. Ich kann mich jetzt auf al­les be­sin­nen. Nach und nach ist es mir wie­der ein­ge­fal­len. Sie und Mal­la­lieu ka­men mir gleich be­kannt vor. Da­mals hie­ßen Sie na­tür­lich noch nicht Mal­la­lieu und Co­ther­sto­ne, son­dern Sie wa­ren ganz ein­fach –«

Co­ther­sto­ne schüt­tel­te plötz­lich die Hand des an­de­ren ab. Sein blas­ses Ge­sicht wur­de dun­kel­rot, und die Adern auf sei­ner Stirn tra­ten her­vor.

»Ver­dammt noch ein­mal, wer sind Sie denn ei­gent­lich?« frag­te er lei­se, aber hef­tig.

Ki­te­ly schüt­tel­te den Kopf und lä­chel­te ru­hig.

»Sie brau­chen sich des­we­gen nicht auf­zu­re­gen, ob­wohl das von Ihrem Stand­punkt aus ja er­klär­lich ist. Wer ich bin? Ich trat vor fünf­und­drei­ßig Jah­ren in die Po­li­zei­trup­pe ein und war noch bis vor kur­z­er Zeit dort tä­tig.«

»Also ein De­tek­tiv!« rief Co­ther­sto­ne.

»Das war ich da­mals noch nicht, als ich Sie vor Ge­richt sah. Das kam erst spä­ter. Ich habe mir nach­her noch manch­mal über­legt, was wohl aus Ih­nen ge­wor­den sein könn­te, aber ich habe mir nie­mals träu­men las­sen, dass ich Sie hier tref­fen wür­de. Sie ha­ben sich also nach dem Nor­den ge­wandt, nach­dem Sie Ihre Zeit ab­ge­ses­sen hat­ten, ha­ben Ihren Na­men ge­än­dert, ein neu­es Le­ben be­gon­nen, und nun sit­zen Sie hier. Aus­ge­zeich­net, muss ich sa­gen!«

Co­ther­sto­ne hat­te sich in­zwi­schen ge­fasst. Er war auf­ge­stan­den und lehn­te nun mit dem Rücken ge­gen den Ka­min. Er dach­te nach, und, um Zeit zu ge­win­nen, ließ er sei­nen Be­su­cher ru­hig wei­ter­re­den.

»Das ha­ben Sie fein ge­konnt! Wahr­schein­lich ha­ben Sie einen Teil des Gel­des, das Ih­nen da­mals in die Hän­de fiel, sorg­fäl­tig ver­steckt. Denn um ein sol­ches Ge­schäft an­zu­fan­gen, braucht man doch Geld. Nach­her lie­ßen Sie sich na­tür­lich nichts mehr zu­schul­den kom­men und wur­den dann ganz wohl­ha­ben­de Leu­te. Mr. Mal­la­lieu ist so­gar Bür­ger­meis­ter von High­mar­ket! Zum zwei­ten Mal von der Ge­mein­de ge­wählt! Und Mr. Co­ther­sto­ne ist Stadt­käm­me­rer und ver­sieht die­sen wich­ti­gen Pos­ten schon im sechs­ten Jah­re! Ich muss nur im­mer wie­der­ho­len, dass Ih­nen das au­ßer­or­dent­lich gut ge­glückt ist.«

»Wol­len Sie nicht noch mehr er­zäh­len?« frag­te Co­ther­sto­ne et­was iro­nisch.

Aber Ki­te­ly hat­te an­schei­nend die Ab­sicht, al­les nach sei­nem ei­ge­nen Gut­dün­ken vor­zu­brin­gen, denn er über­hör­te Co­ther­sto­nes Fra­ge voll­kom­men und sprach wei­ter, als ob ihm die Erin­ne­rung an ver­gan­ge­ne Zei­ten Spaß ma­che.

»Ja, Sie müs­sen ein schö­nes An­fangs­ka­pi­tal ge­habt ha­ben. Das war na­tür­lich gut und si­cher ir­gend­wo an­ge­legt, wäh­rend Sie im Kitt­chen sa­ßen. Sie ha­ben doch da­mals eine Bau­ge­nos­sen­schaft be­tro­gen? Mal­la­lieu war der Schatz­meis­ter, und Sie wa­ren der Se­kre­tär, ich weiß es ganz ge­nau. Sie hat­ten zwei­tau­send –«

Co­ther­sto­ne mach­te eine plötz­li­che Be­we­gung, als ob er sich auf den an­de­ren stür­zen wol­le, aber Ki­te­ly hielt ihn zu­rück und sah ihn scharf an.

»Un­ter­las­sen Sie das lie­ber!« sag­te er grin­send und zeig­te sei­ne häss­li­chen, gel­ben Zäh­ne. »Sie kön­nen mich doch nicht gut hier in Ihrem ei­ge­nen Büro tot­schla­gen. Mei­ne Lei­che könn­ten Sie je­den­falls nicht so gut ver­ste­cken wie das Geld, das Sie da­mals un­ter­schla­gen ha­ben. Aber sei­en Sie ru­hig, ich bin ein ver­nünf­ti­ger Mann, der mit sich re­den lässt, und au­ßer­dem bin ich schon alt.«

Co­ther­sto­ne ging im Raum auf und ab, um sei­ner Er­re­gung Herr zu wer­den. »Den­ken Sie ein­mal ru­hig über die Sa­che nach. Au­ßer mir wird wohl nie­mand mehr in Eng­land Ihr und Mal­la­lieus Ge­heim­nis ken­nen. Es war der reins­te Zu­fall, dass ich es über­haupt ent­deckt habe, aber ich weiß es nun ein­mal. Über­le­gen Sie sich ein­mal, was das be­deu­tet, vor al­lem, was Sie ver­lie­ren kön­nen. Mal­la­lieu ge­nießt hier so großes An­se­hen, dass man ihn zum zwei­ten Mal zum Bür­ger­meis­ter ge­wählt hat, und Sie sind nun schon seit sechs Jah­ren Stadt­käm­me­rer. Sie kön­nen es sich nicht leis­ten, dass ich zu den Leu­ten in High­mar­ket gehe und ih­nen sage, man hät­te es bei Ih­nen mit zwei frü­he­ren Ver­bre­chern zu tun. In Ihrem Fall liegt die Sa­che au­ßer­dem noch an­ders, denn Sie ha­ben eine Toch­ter.«

Co­ther­sto­ne stöhn­te. Er konn­te die­se Qual kaum län­ger er­tra­gen, aber Ki­te­ly fuhr er­bar­mungs­los fort.

»Ihre Toch­ter wird den aus­sichts­reichs­ten jun­gen Mann hier in der Stadt hei­ra­ten, er hat noch eine Kar­rie­re vor sich. Mei­nen Sie, der wür­de sie neh­men, wenn er wüss­te, dass sein zu­künf­ti­ger Schwie­ger­va­ter frü­her ein Zucht­häus­ler war – selbst wenn die Ge­schich­te schon drei­ßig Jah­re zu­rück­liegt.«

»Ich habe jetzt ge­nug«, un­ter­brach ihn Co­ther­sto­ne lei­den­schaft­lich. »Ich sehe ja, wor­auf das al­les hin­aus­läuft. Es ist ganz ge­mei­ne Er­pres­sung! Wie viel wol­len Sie ha­ben? Es hat kei­nen Zweck, noch lan­ge dar­um her­um­zu­re­den.«

»Ich nen­ne durch­aus kei­ne Sum­me, bis Sie mit Mal­la­lieu ge­spro­chen ha­ben. Die Sa­che kann in al­ler Ruhe er­le­digt wer­den. Sie kön­nen nicht und ich wer­de nicht da­von­lau­fen. Ich habe Sie in der Hand, sa­gen Sie das nur dem Bür­ger­meis­ter. Dann be­ra­ten Sie und über­le­gen sich, wie viel Ih­nen die Sa­che wert ist. Set­zen Sie mir ein Jah­res­ge­halt aus, das wäre mir ganz an­ge­nehm.«

»Ha­ben Sie schon mit je­mand dar­über ge­spro­chen?« frag­te Co­ther­sto­ne ängst­lich.

»Glau­ben Sie denn, dass ich so ver­rückt bin? Sie wis­sen jetzt al­les. Mor­gen Nach­mit­tag kom­me ich wie­der, und dann ma­chen Sie mir einen Vor­schlag.«

Er trank sein Glas aus und ging fort, ohne sich zu ver­ab­schie­den.

2. Kapitel

Verbrechen und Erfolg.

Co­ther­sto­ne schau­te rat­los ins Lee­re, nach­dem Ki­te­ly ihn ver­las­sen hat­te. Vor drei Mo­na­ten war die­ser Mann zu ihm ins Büro ge­kom­men und hat­te sich für ein klei­nes Haus in­ter­es­siert, das Co­ther­sto­ne zu ver­mie­ten hat­te. Er hat­te sich da­mals nach der Höhe des Miet­prei­ses er­kun­digt und ne­ben­bei er­wähnt, dass er sich an ei­nem ru­hi­gen Ort nie­der­las­sen woll­te und von sei­ner Tä­tig­keit zu­rück­ge­zo­gen hät­te, um den Rest sei­ner Tage zu ver­brin­gen. Er hat­te dann das klei­ne Haus ge­mie­tet und sei­nem Wirt ge­nü­gend gute Re­fe­ren­zen auf­ge­ge­ben. Co­ther­sto­ne hat­te als viel­be­schäf­tig­ter Mann nicht wei­ter dar­über nach­ge­dacht, und er hät­te es sich nie­mals träu­men las­sen, dass ge­ra­de die­ser Frem­de ihn und Mal­la­lieu schon vor drei­ßig Jah­ren ge­kannt hat­te.

Es war Co­ther­sto­nes eif­rigs­tes Be­mü­hen ge­we­sen, die Vor­gän­ge je­ner Zeit zu ver­ges­sen, und es war ihm auch fast ge­lun­gen, sein Ge­dächt­nis ein­zu­schlä­fern. Aber nun hat­te Ki­te­ly wie­der al­les ge­weckt. Sein Ge­sicht wur­de düs­ter, als er über den einen dunklen Punkt in sei­ner Ver­gan­gen­heit nach­dach­te. Er sah sich selbst und Mal­la­lieu wie­der auf der An­kla­ge­bank. Na­tür­lich hie­ßen sie da­mals an­ders. Sei­nen al­ten Na­men hat­te er seit lan­gen Jah­ren nicht mehr aus­ge­spro­chen. Ihr Fall hat­te da­mals großes Auf­se­hen er­regt und das öf­fent­li­che In­ter­es­se auf sich ge­lenkt. Es war eine böse Ge­schich­te ge­we­sen. Als zwei jun­ge, gut­si­tu­ier­te Leu­te stan­den sie da­mals un­ter der An­kla­ge, die Gel­der ei­ner Bau­ge­nos­sen­schaft ver­un­treut zu ha­ben, bei der sie als Schatz­meis­ter und Se­kre­tär an­ge­stellt wa­ren. Die Ge­schwo­re­nen hat­ten die Sa­che sehr streng ge­nom­men und die bei­den Schul­di­gen zu zwei Jah­ren Zucht­haus ver­ur­teilt. In Co­ther­sto­nes Ge­dächt­nis leb­te die­se Zeit als ein fürch­ter­li­cher Traum wei­ter, und doch war es schreck­li­che Wirk­lich­keit ge­we­sen.

Er sah auf sei­ne zit­tern­den Hän­de, nahm rein me­cha­nisch die Whis­kyfla­sche vom Tisch und goss sich ein. Vi­el­leicht be­ru­hig­ten sich sei­ne Ner­ven, wenn er et­was zu sich nahm. Has­tig trank er zwei Glä­ser leer und grü­bel­te dann wei­ter.

Die­ser alte Ki­te­ly war ein schlau­er Fuchs. Er wies so­fort auf den einen Punkt hin, auf den die Leu­te vor drei­ßig Jah­ren nicht ge­kom­men wa­ren. Da­mals sag­te man, die bei­den hät­ten das Geld der Ge­nos­sen­schaft im Spiel und durch Spe­ku­la­tio­nen ver­lo­ren. Aber das stimm­te nicht; der größ­te Teil des Gel­des war gut und sorg­fäl­tig un­ter­ge­bracht, und sie konn­ten so­fort dar­über ver­fü­gen. Nach ih­rer Ent­las­sung aus dem Ge­fäng­nis brauch­ten sie nur das Geld wie­der an sich zu neh­men, um es für ihre ei­ge­nen Zwe­cke ver­wen­den zu kön­nen. Sie hat­ten die Sa­che sehr klug an­ge­fan­gen. Ru­hig und ohne Auf­se­hen zu er­re­gen, wa­ren sie vom Schau­platz ih­rer frü­he­ren Tä­tig­keit in Sü­deng­land ver­schwun­den. Sie hat­ten da­mals das Gerücht ver­brei­tet, dass sie in die Ko­lo­ni­en ge­hen woll­ten, um eine neu­es Le­ben zu be­gin­nen. Sie fuh­ren auch nach Li­ver­pool, um von dort an­geb­lich zu Schiff nach Ame­ri­ka aus­zu­wan­dern. Aber in Li­ver­pool führ­ten sie einen an­de­ren Plan durch. Sie bra­chen mit der Ver­gan­gen­heit, nah­men an­de­re Na­men an, trenn­ten sich und tra­fen sich dann im fer­nen Nor­den Eng­lands in ei­ner wil­den, ein­sa­men Ge­gend wie­der. In Li­ver­pool hat­ten sie zu­fäl­lig in ei­ner Lo­kal­zei­tung ge­le­sen, dass in High­mar­ket ein al­tes, gu­tein­ge­führ­tes Bau­ge­schäft zu ver­kau­fen war. Sie er­war­ben es, und von die­sem Au­gen­blick an wa­ren sie Anthony Mal­la­lieu und Mil­ford Co­ther­sto­ne.

Wäh­rend der letz­ten drei­ßig Jah­re hat­te sie nie­mand und nichts an ihre Ver­gan­gen­heit er­in­nert. Co­ther­sto­ne hat­te zwar oft von an­de­ren die Be­mer­kung ge­hört, dass die­se Welt doch sehr klein sei. Heim­lich hat­te er im­mer dar­über la­chen müs­sen. Für ihn und sei­nen Part­ner war die Welt weit und groß ge­nug ge­we­sen. Sie wohn­ten nun sie­ben­hun­dert Ki­lo­me­ter von dem Schau­platz ih­res frü­he­ren Ver­ge­hens ent­fernt. Wie soll­te ein Mann aus Wil­che­s­ter in die­se nörd­li­che Ge­gend ver­schla­gen wer­den? Und Leu­te von High­mar­ket ka­men nie­mals nach dem Sü­den. We­der er noch Mal­la­lieu mach­ten große Rei­sen; be­son­ders ver­mie­den sie Lon­don, um dort nicht alte Be­kann­te zu tref­fen. Sie wa­ren im­mer hier ge­blie­ben und hat­ten sich jahrein, jahraus um ihr Ge­schäft ge­küm­mert. Man kann­te sie zu­nächst als streb­sa­me, hart ar­bei­ten­de jun­ge Leu­te, dann als er­folg­rei­che Bau­un­ter­neh­mer, und schließ­lich stieg ihr An­se­hen in der Stadt so sehr, dass sie zu ih­ren jet­zi­gen Ehrenäm­tern ka­men. Das Städt­chen war al­ler­dings klein und hat­te kaum mehr als acht­tau­send Ein­woh­ner. Aber auch bei der Ver­wal­tung der öf­fent­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten hat­ten sie Um­sicht und Tat­kraft ge­zeigt, und Mal­la­lieu trug nun zum zwei­ten Mal die große, gol­de­ne Amts­ket­te als Bür­ger­meis­ter, wäh­rend er selbst als Stadt­käm­me­rer seit meh­re­ren Jah­ren die Finan­zen re­gel­te. Co­ther­sto­ne starr­te in die glü­hen­de Asche des Feu­ers und dach­te dar­über nach, dass es wohl kaum zwei Leu­te in der gan­zen Stadt gab, de­nen man mehr trau­te und mehr Ach­tung ent­ge­gen­brach­te als sei­nem Part­ner und ihm.

Aber das war noch nicht al­les. Bei­de hat­ten ein paar Jah­re nach ih­rer Nie­der­las­sung in High­mar­ket ge­hei­ra­tet; ihre Frau­en stamm­ten aus gu­ten Fa­mi­li­en der Nach­bar­schaft. Gut, dass sie schon tot wa­ren, dach­te Co­ther­sto­ne, und dass Mal­la­lieu kei­ne Kin­der hat­te. Aber Co­ther­sto­ne be­saß eine Toch­ter, die er lieb­te und auf die er stolz war; er hat­te sich ab­ge­müht und ab­ge­ar­bei­tet, um sie zu ei­ner rei­chen Frau zu ma­chen. Sie hat­te die bes­te Er­zie­hung ge­nos­sen, und er hat­te so­gar zwei Jah­re auf ihre Ge­sell­schaft ver­zich­tet, da­mit sie sich auf ei­ner aus­wär­ti­gen teu­ren Schu­le wei­ter­bil­den konn­te. Seit sie er­wach­sen war, hat­te er sie mit al­lem Kom­fort um­ge­ben, und nun war sie mit Wind­le Bent ver­lobt, dem aus­sichts­reichs­ten jun­gen Mann in High­mar­ket. Er war ein rei­cher Fa­brik­be­sit­zer, hat­te eine große Fir­ma ge­erbt, saß be­reits im Stadt­rat und hat­te die Ab­sicht, sich spä­ter ins Par­la­ment wäh­len zu las­sen. Je­der­mann wuss­te, dass er eine große Kar­rie­re vor sich hat­te, denn er be­saß die nö­ti­ge Be­ga­bung und Ver­an­la­gung. Es moch­te sein, dass er spä­ter so­gar zur Wür­de ei­nes Barons oder ei­nes Lords ge­lang­te. Das war die rich­ti­ge Par­tie, die Co­ther­sto­ne für Let­tie ge­wünscht hat­te. Es wäre für ihn ein zu großes Glück ge­we­sen, wenn sie spä­ter ge­adelt wor­den wäre, und nun kam die­ser Schlag!

Co­ther­sto­ne über­leg­te und über­leg­te. Die Dun­kel­heit war her­ein­ge­bro­chen, aber er dreh­te den Licht­schal­ter nicht an. Die­se Sa­che muss­te aus der Welt kom­men, moch­te es kos­ten, was es wol­le. Ki­te­lys Schwei­gen muss­te er­kauft wer­den, und wenn er und Mal­la­lieu die Hälf­te ih­res Ver­mö­gens da­für ge­ben soll­ten. Er muss­te so­fort mit Mal­la­lieu spre­chen.

Ein Klop­fen schreck­te ihn auf. Er mach­te Licht, als er »He­rein« rief. Sto­ner, ein An­ge­stell­ter, brach­te eine An­zahl von Brie­fen zur Un­ter­schrift.

»Ich bin doch wahr­haf­tig in der Wär­me hier ein­ge­schla­fen. Was brin­gen Sie denn da? Die Brie­fe?«

»Ja, sie müss­ten un­ter­zeich­net wer­den, auch die­se drei Ver­trä­ge. Au­ßer­dem müss­ten Sie noch die Kos­ten­vor­an­schlä­ge prü­fen.«

»Mr. Mal­la­lieu muss die Ver­trä­ge vor­her noch se­hen«, er­wi­der­te Co­ther­sto­ne. Er stell­te die Whis­kyfla­sche und die Glä­ser bei­sei­te und nahm dann die Un­ter­schrif­ten­map­pe.

»Die Brie­fe wer­de ich un­ter­schrei­ben. Sie kön­nen sie dann auf Ihrem Heim­we­ge zur Post brin­gen. Die an­de­ren Schrift­stücke müs­sen bis mor­gen war­ten.«

Sto­ner stand hin­ter Co­ther­sto­ne, der einen Brief nach dem an­de­ren zeich­ne­te, nach­dem er ihn schnell über­flo­gen hat­te. Er war ein jun­ger Mann mit schnel­ler Beo­b­ach­tungs­ga­be, und er be­trach­te­te sei­nen Chef über­rascht. Vor­her hat­te er schon ent­deckt, dass Co­ther­sto­ne sehr nach­denk­lich war, und als er nun die Whis­kyfla­sche sah, wuss­te er, dass die Be­mer­kung über das Ein­schla­fen eine Not­lü­ge war. Die sechs Pfund­no­ten und die Sil­ber­stücke la­gen noch auf dem Schreib­tisch, und er wun­der­te sich, warum sein Chef wohl so zer­streut war, dass er ver­ges­sen hat­te, die­ses Geld weg­zu­neh­men. Co­ther­sto­ne war sonst in Geld­sa­chen sehr ge­wis­sen­haft und ließ auch nicht die kleins­te Mün­ze her­um­lie­gen.

»So, das wäre er­le­digt«, sag­te Co­ther­sto­ne und reich­te die Map­pe zu­rück. »Sie kön­nen jetzt ge­hen, den­ken Sie aber dar­an, die Brie­fe zur Post zu brin­gen. Ich blei­be noch hier und schlie­ße spä­ter das Büro ab. Las­sen Sie die äu­ße­re Tür of­fen, Mr. Mal­la­lieu kommt noch ein­mal.«

Er ließ die Vor­hän­ge her­un­ter, als Sto­ner ge­gan­gen war, und ging dann im Zim­mer auf und ab, um sei­nen Part­ner zu er­war­ten. Mal­la­lieu kam auch bald in bes­ter Lau­ne zu­rück.

»Ach, du bist noch da?« frag­te er, als er ein­trat. »Aber was ist denn los?«

Er blieb ste­hen und starr­te in das Ge­sicht sei­nes Kom­pa­gnons. Co­ther­sto­ne sah über Mal­la­lieus Schul­ter in den Spie­gel und ent­deck­te sein blei­ches, ein­ge­fal­le­nes Ge­sicht. Er sah um zehn Jah­re äl­ter aus als am Mor­gen.

»Fühlst du dich nicht wohl?« frag­te Mal­la­lieu. »Was fehlt dir denn?«

Co­ther­sto­ne ant­wor­te­te nicht, ging an Mal­la­lieu vor­über und sah in den äu­ße­ren Bü­roraum. Sto­ner war ge­gan­gen, und es brann­te nur noch eine Lam­pe, aber Co­ther­sto­ne schloss die Tür sorg­fäl­tig und sprach ganz lei­se, als er zu Mal­la­lieu zu­rück­kam.

»Schlech­te Neu­ig­kei­ten – eine böse Sa­che!«

»Wo­von sprichst du denn? Ist es pri­vat oder ge­schäft­lich?«

»Die­ser Ki­te­ly, mein neu­er Mie­ter, kennt uns von frü­her!«

Mal­la­lieu wur­de plötz­lich blass und wand­te sich scharf an Co­ther­sto­ne.

»Er kennt uns! Wann – wo –«

»Wil­che­s­ter, vor drei­ßig Jah­ren. Er weiß al­les!«

Mal­la­lieu sank in den nächs­ten Stuhl, als ob er einen Schlag er­hal­ten hät­te. Eben war er noch frisch und mun­ter her­ein­ge­kom­men, aber jetzt sah er eben­so blass aus wie sein Part­ner. Ein ge­quäl­ter Zug lag auf sei­nem Ge­sicht.

»Aber das ist doch nicht wahr!« sag­te er hei­ser.

»Doch. Es ist eine Tat­sa­che. Er weiß al­les. Er war frü­her Po­li­zei­de­tek­tiv und hat wohl amt­lich mit un­se­rem Fall zu tun ge­habt.«

»Hat der Spür­hund uns bis hier­her ver­folgt?«

»Nein, es ist rei­ner Zu­fall. Er hat uns er­kannt, nach­dem er hier­her­kam. Nach all die­sen vie­len Jah­ren!«

Mal­la­lieus Blick fiel auf die Whis­kyfla­sche, und er schenk­te sich ein Glas ein. Co­ther­sto­ne be­ob­ach­te­te, dass sei­ne Hand zit­ter­te.

»Das ist eine har­te Pil­le. Was will er denn? Hat er sich dar­über ge­äu­ßert?«

»Er will uns na­tür­lich er­pres­sen«, ent­geg­ne­te Co­ther­sto­ne mit ei­nem ver­zwei­fel­ten La­chen. »Was soll­te ein sol­cher Kerl sonst wol­len? Den­ke dir, wenn er den Leu­ten in High­mar­ket er­zähl­te –«

»Ja, ja«, un­ter­brach ihn Mal­la­lieu. »Aber neh­men wir ein­mal an, wir stop­fen ihm den Mund, kann man dem Men­schen denn trau­en? Das wird ja eine Schrau­be ohne Ende, er wird im­mer mehr ha­ben wol­len.«

»Er sprach von ei­ner jähr­li­chen Ren­te und sag­te, dass er ein al­ter Mann ge­wor­den sei.«

»Wie alt ist er denn?«

»Zwi­schen sech­zig und sieb­zig. Ich habe den Ein­druck, dass man sein Schwei­gen kau­fen könn­te. Auf je­den Fall müs­sen wir das tun, denn wir dür­fen nicht ris­kie­ren, dass er uns rui­niert. Ich muss an mei­ne Toch­ter den­ken.«

»Glaubst du, dass ich es dazu kom­men las­sen wür­de? Ich über­le­ge nur, ob wir ihn wirk­lich zum Schwei­gen brin­gen kön­nen. Ich habe schon ge­hört, dass Leu­te jah­re­lang Er­pres­sern große Sum­men zahl­ten und schließ­lich doch nichts da­von hat­ten.«

»Er kommt mor­gen Nach­mit­tag wie­der hier­her. Dann wol­len wir zu­sam­men mit ihm spre­chen. Wenn wir ihm meh­re­re hun­dert Pfund jähr­lich an­bie­ten, schweigt er wahr­schein­lich.«

Mal­la­lieu trank sein Glas aus und stieß es bei­sei­te.

»Ich will mir die Sa­che über­le­gen. Jetzt muss ich ge­hen, ich habe noch eine Verab­re­dung. Kommst du mit?«

»Noch nicht, ich muss die­se Schrift­stücke noch durch­se­hen. Wir wol­len es gut be­den­ken – ich glau­be nicht, dass mit dem Mann zu spa­ßen ist.«

Mal­la­lieu ging ohne Gruß fort, und Co­ther­sto­ne war wie­der al­lein.

3. Kapitel

Mord.

Co­ther­sto­ne setz­te sich an den Schreib­tisch und ver­such­te, die Pa­pie­re zu prü­fen, die Sto­ner ge­bracht hat­te. Aber es ge­lang ihm nicht. Er hat­te ge­hofft, durch die Auss­pra­che mit sei­nem Teil­ha­ber Er­leich­te­rung und Be­ru­hi­gung zu lin­den, aber es quäl­te ihn im­mer noch eine un­sag­ba­re Angst. So­lan­ge Ki­te­ly leb­te, wa­ren sie nicht si­cher. Selbst wenn sich der frü­he­re De­tek­tiv an einen Ver­trag hal­ten soll­te, wa­ren sie doch stets von ihm ab­hän­gig. Und die­ser Ge­dan­ke war ent­setz­lich für Co­ther­sto­ne, der seit acht­und­zwan­zig Jah­ren nie­mand über sich ge­habt hat­te. Er wünsch­te, dass Ki­te­ly tot und be­gra­ben sein möch­te, und sein Ge­heim­nis mit ihm. Wa­rum konn­te man ein gif­ti­ges In­sekt oder eine Schlan­ge tö­ten, wenn es ei­nem be­lieb­te, aber nicht einen mensch­li­chen Blut­sau­ger?

Schließ­lich gab er den Ver­such auf, noch zu ar­bei­ten. Die Zah­len tanz­ten vor sei­nen Au­gen, und er konn­te die tech­ni­schen Ein­zel­hei­ten nicht mehr aus­ein­an­der­hal­ten. Im­mer wie­der wan­der­ten sei­ne Ge­dan­ken zu dem einen Punkt zu­rück. Er trom­mel­te auf sei­ne Schreib­un­ter­la­ge und starr­te auf die tie­fen Schat­ten im Zim­mer.

Plötz­lich klin­gel­te das Te­le­fon im äu­ße­ren Büro. Co­ther­sto­ne zuck­te er­schro­cken zu­sam­men und er­hob sich zit­ternd. Schweiß­trop­fen stan­den auf sei­ner Stirn, als er hin­aus­ging.

»Wer ist dort?« frag­te er.

Er hör­te die er­staun­te Stim­me sei­ner Toch­ter.

»Va­ter, was tust du denn noch im Büro? Hast du nicht dar­an ge­dacht, dass wir Wind­le und sei­nen Freund, Mr. Bre­re­ton, um acht Uhr zum Abend­brot ein­ge­la­den ha­ben? Es ist Vier­tel vor acht, komm doch nach Hau­se!«

»Das habe ich wirk­lich ver­ges­sen, ich war so be­schäf­tigt. Ich kom­me gleich, Let­tie!«

Aber als er den Hö­rer wie­der hin­ge­legt hat­te, be­eil­te er sich nicht im min­des­ten. Es dau­er­te noch ei­ni­ge Zeit, bis er das Licht aus­schal­te­te und dann um­ständ­lich das Büro ab­schloss. Es war ihm nichts un­an­ge­neh­mer, als an die­sem Abend Gäs­te un­ter­hal­ten zu müs­sen. Er ging lang­sam über den Markt zu den äu­ße­ren Stadt­vier­teln.

Vor vie­len Jah­ren hat­ten er und Mal­la­lieu sich ei­ge­ne schö­ne Häu­ser an der west­li­chen Gren­ze der Stadt ge­baut. Dort er­hob sich ein lang­ge­streck­ter, nied­ri­ger Hü­gel­zug, den man High­mar­ket-Shawl nann­te. Er be­herrsch­te die gan­ze Stadt und war dicht mit Fich­ten und Tan­nen be­stan­den, zwi­schen de­nen hier und dort große Kalk­fel­sen auf­rag­ten. Am Fuß die­ser Hü­gel hat­ten sie Bau­land ge­kauft, hat­ten dort mas­si­ve Stein­ge­bäu­de er­rich­tet und sie mit al­lem mo­der­nen Lu­xus und Kom­fort aus­ge­stat­tet. Co­ther­sto­ne war im­mer stolz auf sein Heim ge­we­sen, aber heu­te war es ihm zum ers­ten Mal ver­hasst, sei­ne ei­ge­ne Schwel­le zu über­schrei­ten. Die er­leuch­te­ten Fens­ter, die ihm schon von wei­tem zu­wink­ten, und der Duft gu­ter Spei­sen er­freu­ten ihn nicht im min­des­ten. Er muss­te sich über­win­den, um über­haupt hin­ein­zu­ge­hen und die bei­den Gäs­te zu be­grü­ßen, die be­reits auf ihn war­te­ten.

»Ich konn­te lei­der nicht frü­her kom­men«, sag­te er, als Let­tie ihn halb ängst­lich, halb scher­zend schalt. »Wir hat­ten heu­te Nach­mit­tag eine recht un­an­ge­neh­me Sa­che, und ich muss auch nach Tisch noch eine Stun­de fort­ge­hen. Es tut mir leid, dass ich es nicht an­ders ein­rich­ten konn­te. Nun, wie geht es Ih­nen?« wand­te er sich an Bents Freund. »Ich fürch­te nur, es kommt Ih­nen hier sehr kalt vor, nach­dem Sie sich im­mer in Lon­don auf­ge­hal­ten ha­ben.«

Bei Tisch be­trach­te­te er den jun­gen Rechts­an­walt ge­nau­er, der einen sehr ge­wand­ten Ein­druck mach­te. Noch be­gab­ter als Bent, dach­te Co­ther­sto­ne für sich, und das woll­te viel hei­ßen. Bent war ein fä­hi­ger Mensch und ein tüch­ti­ger, ener­gi­scher Ge­schäfts­mann, der un­ge­wöhn­lich klu­ge Ide­en und Plä­ne hat­te. Er dach­te nicht ru­hig und be­son­nen über eine Fra­ge nach, son­dern han­del­te kurz und ent­schlos­sen. Co­ther­sto­ne sah von ei­nem zum an­de­ren und ver­glich sie mit­ein­an­der. Bent war ein großer, schö­ner Mann mit blau­en Au­gen, der ger­ne einen Witz hör­te und lach­te. Bre­re­ton da­ge­gen war von mitt­ler­er Grö­ße, hat­te dunkle Haa­re und Au­gen und auch dunkle Ge­sichts­far­be, so­dass man ihn fast für einen Aus­län­der hät­te hal­ten kön­nen. Er ge­hör­te an­schei­nend zu den Men­schen, die viel dach­ten und we­nig spra­chen.

Co­ther­sto­ne zwang sich zu ei­ner Un­ter­hal­tung; auch woll­te er se­hen, ob Bre­re­ton Let­tie be­wun­der­te. Es war sei­ne größ­te Freu­de, zu be­ob­ach­ten, dass sei­ne schö­ne Toch­ter auf an­de­re Leu­te Ein­druck mach­te. Und auch die­ser jun­ge Mann aus Lon­don schi­en ganz in ih­rem Bann zu ste­hen und die Wahl sei­nes Freun­des zu bil­li­gen.

»Was ha­ben Sie denn mit Ihrem Freun­de an­ge­fan­gen?« sag­te Co­ther­sto­ne zu Bent. »Er ist doch schon seit ges­tern hier. Ha­ben Sie ihm die Stadt ge­zeigt?«

»Ach, ich habe ihn haupt­säch­lich mit Fa­mi­li­en­ge­schich­ten ge­quält«, ent­geg­ne­te der jun­ge Mann und sah la­chend zu sei­ner Braut hin­über. »Sie wis­sen al­ler­dings noch nicht, Mr. Co­ther­sto­ne, dass ich in letz­ter Zeit ver­sucht habe, mög­lichst viel über mei­ne Vor­fah­ren her­aus­zu­brin­gen. Den gan­zen letz­ten Mo­nat habe ich mich schon da­mit be­schäf­tigt. Der alte Ki­te­ly hat mich auf die­se Idee ge­bracht.«

Co­ther­sto­ne be­herrsch­te sich mit Mühe, um nicht zu­sam­men­zu­zu­cken.

»Sie mei­nen doch nicht etwa mei­nen Mie­ter? Was weiß denn der von Fa­mi­li­en­ge­schich­ten? Er ist doch hier in der Ge­gend ganz fremd!«

»O, er weiß viel mehr als ich«, er­wi­der­te Bent. »Er hat nichts zu tun, wie Sie wis­sen, und seit­dem er sich hier nie­der­ge­las­sen hat, bringt er sei­ne gan­ze Zeit da­mit zu, alle mög­li­chen Ak­ten aus­zu­gra­ben und durch­zu­stu­die­ren, die sich auf un­se­re Stadt be­zie­hen. Es ist eine Lieb­ha­be­rei von ihm. Der Stadt­se­kre­tär er­zähl­te mir, dass Ki­te­ly fast das gan­ze alte Stadt­ar­chiv durch­stö­bert hat. Und Ki­te­ly sag­te mir ei­nes Ta­ges, dass er mei­nen Stamm­baum auf­stel­len könn­te, und da ich mich da­für in­ter­es­sier­te, gab ich ihm den Auf­trag, mit der Ar­beit zu be­gin­nen. Er hat schon viel In­ter­essan­tes her­aus­ge­bracht, und zwar ge­ra­de aus dem Stadt­ar­chiv, von dem ich bis­her noch nie et­was ge­hört hat­te.«

Co­ther­sto­ne schau­te nicht auf.

»Dann wa­ren Sie wohl in letz­ter Zeit viel mit Ki­te­ly zu­sam­men?« frag­te er mög­lichst gleich­gül­tig.

»Er war ab und zu bei mir und hat mir sei­ne Re­sul­ta­te ge­bracht. Meis­tens wa­ren es Ab­schrif­ten aus dem al­ten Stadt­re­gis­ter.«