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Nimm dich in Acht, wenn du die Schwelle zur Anderwelt überschreitest! Jane ist in größerer Gefahr denn je. Ihr Vater ist immer noch gefangen. Das Schloss – die Welt zwischen allen Welten – liegt im Sterben und ihr großer Widersacher Roth sucht immer noch nach dem Wiegenmeer. Nur Jane kann ihn stoppen und die Anderwelten retten. Das Problem ist nur: Sie ist in Arakaan gestrandet. Ausgerechnet Roths Heimatwelt! Und die Bewohner haben einige überraschende Geheimnisse parat. Eine Landschaft voller Sandstürme, Skorpione und wandernder Monsterdünen – der zweite Teil dieses modernen Fantasy-Märchens besticht durch Magie, einen Hauch Science Fiction und einen gehörigen Schuss Humor. Und auch im zweiten Teil der Chroniken von Bluehaven kämpft sich Jeremy Lachlans taffe Heldin Jane White mit Magie und Wortwitz durch eine ungewöhnliche und erfrischend andere Fantasywelt.
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Seitenzahl: 430
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INHALT
DIES IST NICHT DER ANFANG
Der letzte Unsterbliche
TEIL EINS
Die Stimmen in ihrem Kopf
Der Junge, den es nie gegeben hat
Die Wunde
Der neue Albtraum
Ein anderer Grund
Elsa
Der Außenposten Orin-kin
Hickorys Buße
In der Grube
Aki
Das entfesselte Meer
Der Wachturm
Kurze Unterbrechung
Die Dahaari-Auslese
Die Waffen aus Knochen
Der Angriff
Rutschen und Reiten
Der Weg nach Asmadin
Die Schlucht der Toten
Wahlfamilie
Der zweite Sturm
ERSTES ZWISCHENSPIEL
Die Davongekommen ist
TEIL ZWEI
Die Säulen von Asmadin
Der zweite Schlüssel
Verrat
Das Verlies
Wertvolle Fracht
Hickorys Entscheidung
Yakus Geschichte
Farrow
Der Pfad zur Wiege
Bruchlandung
Ȇberschreitest du die Schwelle zur Anderwelt,
dann nimm dich in Acht!
Welch Grauen lauert in den Schatten?
Welch Finsternis verbirgt sich darin?«
DER LETZTE UNSTERBLICHE
Er steht auf einem Balkon über einem See aus flüssigem Feuer, verzückt von der wirbelnden Lava, den peitschenden Flammen. Die steinernen Säulen der einst so prächtigen Schlosshalle glühen rot. Die völlig verrußte Decke beginnt zu bröckeln. Aus einer der höhergelegenen Galerien strömt ein Lavafall. Dort oben befindet sich ein geschwächtes Tor in eine Anderwelt. Eine Welt aus Feuer.
Die Lava hat seinen Unterschlupf eingekesselt, schleicht durch die Gänge, brennt sich durch Türen, doch es stört ihn nicht. In seiner Heimat, der sterbenden Wüstenwelt, gibt es ebenfalls Vulkane. Die Lava erinnert ihn daran. Außerdem kann sie ihm nichts anhaben. Nichts kann ihm etwas anhaben.
Dafür hat er vor langer Zeit gesorgt.
Der Balkon ist von einem Flickwerk aus rostigem Metall bedeckt, genau wie die Wände und der Boden dahinter. Ein Schutz für den Stein – nicht vor der Lava, sondern vor seinem ätzenden, verwesendem Atem, der durch die Porzellanlippen seiner Halbmaske dringt. Ein langsames Grollen. In seinen Augen spiegelt sich das Feuer.
Wo ist der dritte Schlüssel?
Seit dem Vorfall im Zug quält ihn diese Frage. Er war seinem Ziel so nah – das Kind hätte beinahe ihm gehört –, doch dank dem Verräter Hickory und dem Mädchen mit dem Messer ist es ihm entkommen.
Aber nicht für lange. Schon bald wird er die Antworten haben, die er braucht.
Hinter ihm marschieren zwei Lederschädel auf den Balkon, die einen geschundenen Mann mit sich schleifen. Seine braunen Augen sind blutunterlaufen und tränen. Manche rufen ihn John White, andere Charlie Grayson, doch Roth weiß, dass der Mann sich am liebsten »Dad« nennen lässt. Die Lederschädel lassen ihn los, stehen stramm und salutieren.
»Schon wieder ein Kaffeekränzchen?« John hustet angestrengt. »Du verlierst wohl die Nerven, alter Mann.«
Die Lederschädel knurren kehlig in ihre Gasmasken, während sie die Gewehre anlegen und auf Johns Kopf richten.
Roth atmet tief und rasselnd ein.
»Weißt du, hin und wieder könnte ein leckerer Pfefferminztee nicht schaden«, sagt John. »Sorgt für besseren Atem.« Wieder hustet er. Spuckt Roth vor die Füße. »Na dann los. Tu, was du nicht lassen kannst.«
Wenn er könnte, würde Roth lächeln. Das tue ich immer.
Er packt John im Nacken, hebt ihn vom Boden hoch und späht in dessen mitleidige Augen, exakt wie im Zug. Und genau wie beim letzten Mal beginnen Johns Füße zu zittern. Er kann nicht mehr atmen. Er erstickt.
Roth liest in ihm, dringt in seinen Geist ein.
Er will alles wissen. Wo sich die Wiege befindet. Wohin Johns geliebte Elsa den zweiten Schlüssel gebracht haben könnte. Die Stärken, Ängste und Schwächen des dritten Schlüssels: einfach alles, was das Mädchen antreibt. Er spürt, wie John sich wehrt, seine Gedanken verstreut, doch Roth wird die Wahrheit früh genug herausfinden.
Am Ende bricht jeder.
Aus Johns Nase läuft frisches Blut. Eine rote Träne rinnt über seine Wange. Solange er den Mann lebend braucht, darf Roth nicht zu weit gehen, also kappt er die Verbindung und tritt zurück. John bricht zusammen, aber egal. Roth hat etwas Neues erfahren.
Das Kind weiß es nicht.
»Stimmt«, presst John hervor. »Ich habe ihr nie gesagt, dass sie der dritte Schlüssel ist. Ich konnte es nicht. Aber früher oder später wird sie es herausfinden, und dann wird sie mächtiger werden, als du dir vorstellen kannst.« Er grinst. »Du kannst nicht gewinnen, Roth. Du wirst nicht gewinnen. Jane ist mutig. Clever. Sie hat Freunde und einen verdammt großen Vorsprung. Mit ein bisschen Glück betritt sie in diesem Moment die Wiege.«
Diesmal gibt es keine Vorwarnung. Roth presst John gegen den Stahlbeschlag des Bodens und erzwingt sich erneut einen Weg in dessen Geist, während er in seine Maske knurrt.
Ich werde das Mädchen finden. Sie kann nicht ewig weglaufen.
DIE STIMMEN IN IHREM KOPF
Noch so eine Sache: Schätze, ich bin alt. Echt alt. Wenn man’s genau nimmt, bin ich älter als jeder, den ich je getroffen habe. Älter als Winifred mit ihren Narben und den ganzen Falten; älter als Hickory, der zweitausend Jahre lang im Schloss eingesperrt war; älter als Roth, der, soweit ich weiß, auf seinen einmillionsten Geburtstag zusteuern könnte. Kacke, wahrscheinlich bin ich genauso alt wie das Schloss – nur, dass ich die ersten Gatrillionen Jahre meines Lebens als Baby verbracht habe, eingesperrt in der Wiege aller Welten, um da auf den Grundstein im Zentrum des fiesen Meers zu sabbern.
Allerdings konnten die Schöpfer doch unmöglich so was im Sinn haben.
Bestimmt war nicht geplant, dass ich vierzehn Jahre lang ohne jeden Schimmer davon, wer oder was ich bin, in Bluehaven festhocke. Sicher sollte Dad nicht verschwinden, sollte meine Reise durchs Schloss – diese gefährdete Welt zwischen den Welten – nicht so gottverdammt schwierig ausfallen. Der Schnee, die Fallen, der fleischfressende Wald und der außer Kontrolle geratene Zug. Hickorys Lügen. Violets schöne Augen. Der tosende Fluss und die scheiß angriffslustigen, übergroßen Kaulquappen. Die Blechköter, die Lederschädel und Roth. Eine Katastrophe nach der anderen.
Bestimmt war nicht geplant, dass ich jetzt hier bin und in einer sterbenden Anderwelt feststecke. Ausgerechnet in Arakaan.
Roths Heimat.
Nichts ist schlimmer als Wüsten. Die Hitze. Das grelle Licht. Einen geschlagenen Vormittag schon taumle und schwitze ich unter den Zwillingssonnen, ohne was zu essen, ohne was zu trinken, ohne jeden Schimmer, wo ich überhaupt bin – und gesehen habe ich auch nichts. Kein Lager, keinen Brunnen, keine Pferde, keinen Stamm. Nur den versengten Himmel und diese endlose Salzebene. Sogar mein Schatten versucht, sich vor der Hitze zu verkriechen, und kauert unter mir, weil inzwischen Mittag ist.
Wenn das so weitergeht, bin ich bei Sonnenuntergang tot.
Am Horizont wabert eine Fata Morgana. Ein vorgegaukelter See, direkt auf die Wüste geklatscht, der mir verlockend zuzwinkert. Allein der Gedanke, dass ich gestern noch im Schloss war, umgeben von Stromschnellen und Strudeln, und mir das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand … Ich lecke mir über die aufgesprungenen, salzigen Lippen. Die Wüste schwankt und kippelt irgendwie, aber ich muss mich zusammenreißen. Muss zurück zu Violet und außerdem Hickory finden.
Der Vorteil an der ganzen Lauferei ist, dass ich jede Menge Zeit habe, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen. Unterm Strich finde ich, dass ich die Sache letzte Nacht ganz gut gedeichselt habe. Ich habe gekotzt, das schon … und ein kleines, kurzes Erdbeben ausgelöst, bin blind in die Wüste gerannt und habe mir die Seele aus dem Leib gebrüllt, bis ich heiser war. Aber ich bin nicht ohnmächtig geworden und habe auch nicht geheult, und das heißt was. Nicht schlecht für ein Mädchen, das gerade herausgefunden hat, dass ihr ganzes Leben eine Lüge war.
Dann kam der Sandsturm, hat die Wüste verschlungen und die Sterne gefressen. Das verdammte Ding hat mich innerhalb von Sekunden verschluckt und durch die Gegend gewirbelt. Ich wollte zurück zum Lager rennen – hätte schwören können, dass Violet nach mir gerufen hat –, und das war mein schlimmster Fehler. Denn als ich erst mal rannte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich bin gerannt und gerannt, mitten durch die heulende Dunkelheit, zitternd, weinend, kurz vorm Ersticken. Erst als meine Beine nicht mehr konnten, habe ich kapiert, dass ich gar nicht vor dem Sturm weggelaufen bin. Als die Zwillingssonnen aufgingen, war der längst weg und ich mitten im Nirgendwo gestrandet, mit nichts weiter als den Stimmen in meinem Kopf.
Mein Gott. Du weißt es wirklich nicht.
Sie hatten einen kleinen Jungen. Er ist gestorben.
Dort fanden sie dich, Jane. Dich nahmen sie mit aus der Wiege.
Ich bin der dritte Schlüssel. Ich bin der dritte Schlüssel. Ich bin der dritte Schlüssel.
Ich bin der dritte Schlüssel zur Wiege. Wie die Schöpfer mich gemacht haben, ist ein Rätsel. Ich will’s nicht mal wissen. Wichtig ist das Warum. Ich bin der Notfallplan der Schöpfer, die Geheimwaffe, die sie zurückgelassen haben, für den Fall, dass je ein unsterblicher Irrer ins Schloss einfällt, in ihre ach-so-heilige, inzwischen sterbende Schöpfung.
Zwei normale Schlüssel, um die Wiege zu öffnen.
Ein Schlüssel aus Fleisch und Blut, um sie zu kontrollieren.
Ich.
Aber was bedeutet das? Was soll ich da drin tun? Jedes einzelne Tor heilen? Sämtliche Anderwelten beschützen? Wie soll ich das Schloss denn retten, wo ich bisher nur damit geglänzt habe, es auseinanderzunehmen?
Ich fasse es nicht, dass er dir nichts gesagt hat.
Dad. John White. Charlie Grayson. Der Mann-mit-zu-vielen-Namen. Ein Teil von mir will ihn anbrüllen, ihn schubsen, ihm sagen, dass ich ihn hasse, nur um zu sehen, wie er reagiert – das ist das eine. Die andere Sache, die am meisten wehtut, ist: Er ist eigentlich gar nicht mein Dad. Er ist nur ein Mann. Ein Fremder, der ein Baby mit Bernsteinaugen aus der Wiege geklaut und dafür den ultimativen Preis gezahlt hat. Ein Mann, der vierzehn Jahre lang in einem Albtraumreich gefangen war – im Griff eines Phantasmas, eines Hüters der Wiege: unfähig zu sprechen und kaum fähig zu laufen, während aus dem Baby ein Mädchen wurde. Ein Mädchen, das sich Tag für Tag um ihn gekümmert hat, weil sie’s nicht besser wusste.
Weil sie nie die Wahrheit erfahren hat.
»Nein«, sage ich laut.
Ich habe mich um ihn gekümmert, weil ich ihn lieb habe, so einfach ist das. Er ist die einzige Familie, die ich je hatte. Ich kann ihm nicht übel nehmen, dass er mir nicht sofort die Wahrheit gesagt hat. Ich glaube, im Zug wollte er es mir erzählen.
Ja, Jane, du wurdest im Schloss geboren, aber …
Dad hat auf der Spiralstraße seine Freiheit geopfert, damit wir abhauen konnten. Er hat mir gesagt, dass er mich lieb hat. Aber was passiert, wenn das alles hier vorbei ist? Wo gehen wir hin? Was machen wir? Er braucht mich nicht mehr. Er kann sich jetzt selber was zu essen machen, selber ins Bett gehen, selber lesen. Was, wenn er in seine Welt, nach Tallis, zurückwill, ohne mich? Und was ist mit Elsa? Würde sie ihn begleiten?
Letzte Nacht hat sie nicht mal meinen Anblick ertragen. Über ihr Leben hier in Arakaan oder was ihr im Schloss zugestoßen ist, nachdem sie von Dad getrennt wurde, weiß ich nach wie vor nichts. Man sollte meinen, dass sie nach all den Jahren gar nicht mehr aufhören kann, davon zu erzählen – von ihm zu erzählen –, aber nö.
Ich kann das nicht, hat sie gesagt. Ich dachte, ich wäre stark genug, aber … Es tut mir leid.
Sobald ich das Lager finde, muss ich mit ihr reden. Oder wenn sie mich finden. Denn ganz bestimmt sind sie irgendwo da draußen und durchkämmen die Wüste nach mir.
Außerdem will ich meinen Schlüssel wiederhaben – den echten.
»Bescheuerte Langfinger«, grummle ich.
Trotzdem muss ich nett bleiben. Immerhin ist Elsa die Einzige, die uns zur Wiege bringen kann. Die Einzige, die weiß, wo sich der echte zweite Schlüssel befindet.
Wo, meinte sie, ist er versteckt?
In einer uralten Stadt im Westen. Eine Zuflucht in einer Schlucht, in der die Menschen dieser Gegend vor langer Zeit Unterschlupf gefunden haben.
Den falschen Schlüssel, den sie mir gestern gegeben hat, hab ich schon verloren. Soll heißen, ich habe das nutzlose Stück Müll im Sturm so weit weggeschleudert, wie ich konnte! Elsa wird wütend sein, aber das ist im Augenblick meine kleinste Sorge.
Die Luft in dieser Welt hier schmeckt schlecht. Bitter. Riecht wie verbrannte Kohle, obwohl der Himmel klar ist. Es kommt mir vor, als würde ich durch unsichtbares Feuer wandern. Meine nackten Füße, die über die harte Salzkruste knirschen, sind rot und wund.
Notiz an mich selbst: Wenn du nächstes Mal in die Wüste läufst, nimm ordentliches Schuhwerk mit.
Ich bleibe stehen. Forme die Hände zu einem Fernglas und durchforste damit die leere Ödnis. Keine Vögel. Keine Fliegen. Kein Windhauch. Die Stille der Wüste rückt mir auf die Pelle. Komisch. Im Schloss war ich von Mauern umgeben und hier draußen ist rundherum gar nichts, trotzdem fühlt es sich gleich an. Voller schwerer, erdrückender Stille.
Wie kann man sich an einem so endlos weiten Ort so eingesperrt vorkommen?
»Lauf weiter«, sage ich mir. »Es gibt kein Zurück mehr.«
Ich kann hier nicht sterben. Es steht zu viel auf dem Spiel.
Ich bin der dritte Schlüssel. Ich bin der dritte Schlüssel. Ich bin der dritte Schlüssel.
Das erklärt alles, hat Violet gesagt. Die Beben. Deine Träume. Deine Verbindung mit dem Schloss.
Warum Roth es auf mich abgesehen hat.
Alles ergibt auf einmal Sinn. Roth will das Schloss beherrschen. Glaubt, wenn er in meinen Kopf kriecht, mich kontrolliert, mich in Besitz nimmt, schafft er es. Klar, im Zug habe ich ihm die Suppe ordentlich versalzen, aber wie oft klappt das noch? Was, wenn er mich foltert? Was, wenn er Leute foltert, die mir wichtig sind? Roth hätte mich innerhalb von Sekunden geknackt. Meine Gedanken gestürmt. Mich wie sein persönliches kleines Spielzeug über den Grundstein gehängt. Durch mich könnte er jedes beliebige Tor öffnen und das Wiegenmeer entfesseln.
Durch mich könnte er jede x-beliebige Welt erobern.
Ich schwöre, ich kann seinen Griff um mein Genick spüren. Seinen verrotteten Atem auf meiner Haut. Ich kann hören, wie er mich durch seine Porzellan-Halbmaske auslacht, genau wie im Zug.
Ich wette, Roth wusste die ganze Zeit, dass ich der dritte Schlüssel bin.
Bestimmt hat er Dad und Elsa damals ziemlich schnell eingeholt, nachdem sie mich aus der Wiege mitgenommen hatten. Er muss mich in ihren Armen gesehen haben. Hundertprozentig hat der Typ geschäumt vor Wut, weil sie ihm seinen Schatz vor der Nase weggeschnappt haben – und noch mehr, als sie ihm wenig später schon wieder durch die Lappen gegangen sind. Aber eins wusste er wenigstens: Die Wiege war entdeckt. Der dritte Schlüssel war geborgen und er würde vor nichts haltmachen, um mich zu finden. Kacke, er hat die nächsten hundert Jahre damit verbracht, das Schloss auf der Suche nach uns auf den Kopf zu stellen. Wovon er nämlich so gar nichts wusste, war, dass Dad und Elsa getrennt wurden, dass Dad und ich es nach draußen geschafft haben. Und während für Roth im Schloss ein Jahrhundert verging, waren es für uns in Bluehaven nur vierzehn Jahre.
So viele Jahre voller Kummer und Qualen.
Und alles nur Roths Schuld.
Ich balle die Fäuste und beiße die Zähne zusammen, als in meinen linken Arm ein stechender Schmerz schießt. Der Schlitz in meiner Handfläche ist inzwischen von einer ziemlich ekeligen Kruste bedeckt. Mehr als verständlich, immerhin ist er inzwischen dreimal aufgeschlitzt worden innerhalb von – was? – weniger als einer Woche? Von Bürgermeister Atlas in Bluehaven am Fuß der Heiligen Stiege. Von Violet in dem außer Kontrolle geratenen Zug. Von mir selbst im Gang mit den Glibbereiern, nahe am Fluss, wo ich uns alle um ein Haar getötet hätte. Ich hätte den Verband gestern Abend echt nicht abreißen sollen.
»Noch hundert Schritte«, beschließe ich. »Zweihundert. Dann kannst du dich ausruhen.«
Meine Haut wird von den Sonnen bereits dunkler. Nicht ganz so braun wie die von Violet, aber ein tieferes Dunkeloliv als die blasse, kellergebleichte Farbe, die ich bei den Hollows hatte. Der Sand leuchtet so grell, dass es wehtut. Ich laufe mit halb geschlossenen Augen. Meine Wimpern brechen das Licht.
Moment. »Was zum …?!«
Da draußen ist was. Im Hitzeschleier über der Ebene wabert unscharf ein Umriss.
Das Lager? Ein Haus? Die nächste Fata Morgana?
Ich laufe ein bisschen schneller und der Schatten auf der Ebene wird größer, viel zu groß für ein Haus. Es ist ein Hügel, denke ich. Oder ein Berg. Ich fange an zu joggen, strauchle und stolpere ein Stück. Bleibe stehen und reiße die Augen auf.
Es ist weder ein Haus noch ein Hügel oder ein Berg.
Es ist ein Schiffswrack.
DER JUNGE, DEN ES NIE GEGEBEN HAT
Das Wrack sieht aus wie der von innen heraus verrottete Kadaver von irgendeinem uralten Tier. Es ist ungefähr zehn Stockwerke hoch. Das rostige Metall ist von langen Zickzackrissen durchfurcht. An einer Seite hat sich eine rote Sanddüne aufgetürmt.
So ein riesiges Schiff habe ich noch nie gesehen. Ist es gestrandet, bevor der Ozean austrocknen konnte? In einer Schlacht oder einem Sturm gesunken? Die leeren Bullaugen glotzen mich wie gierige Spinnenaugen an. Beobachten. Lauern.
»Gruselig«, murmele ich.
Ich umrunde das Heck und gehe in den Schatten. Unten im Rumpf ist eine Spalte. Eine notdürftige Tür. Drinnen könnte es Vorräte geben. Wasserfässer. Und wenn ich es bis ganz nach oben schaffe, kann ich bestimmt kilometerweit sehen.
»Hallo?«, rufe ich. »Jemand zu Hause?« Die Stille der Wüste wird laut. »Ich komm jetzt rein«, sage ich und schiebe flüsternd hinterher: »Bitte nicht schießen.«
Im Innern ist es düster wie in einer Höhle. Wahrscheinlich eine Art Frachtraum. Die Luft ist kaum kühler als draußen – ein Backofen, kein lodernder Schmelztiegel mehr, trotzdem freue ich mich über die Abwechslung. Durch Rostlöcher im Rumpf fallen schmale Lichtstrahlen. Am Boden hat sich ein Teppich aus Sand gebildet. Überall liegen halb davon begrabene Kisten und Fässer, allesamt kaputt. Links von mir ragt eine enorme Wand auf, übersät mit Stegen, Luken und einer Zickzacktreppe aus Metall. Ich gehe die Stufen hoch, bewaffnet mit einem Holzbrett, für den Fall, dass sich jemand oder etwas in den Schatten versteckt.
Die Luke auf dem ersten Absatz steht offen. Ich gehe durch, bereit, meine Planke zu schwingen, aber da ist keiner.
»He«, rufe ich. »Hallooooooo?«
Am Ende des Gangs stoße ich auf einen Lagerraum. Mitten im Boden gähnt ein mächtiges Loch, genau wie in der Decke darüber. Korrigiere: ein Dutzend Löcher, in einem Boden nach dem anderen. Es ist ein Schacht bis zum oberen Ende des Wracks, an dessen Ende man ein Fleckchen Himmel sehen kann. Fast, als hätte vor langer Zeit irgendwas in das Schiff eingeschlagen. Drähte gibt es auch – gespannt wie die Saiten einer Harfe. Sie ziehen sich durch den gesamten Schacht und verzweigen sich auf jedem Deck zu einem riesigen Netz aus Metall. Ihr Ursprung liegt im Raum unter mir, in dem es so finster ist, dass ich kaum was erkennen kann. Als ich an einem Draht ziehe, klappert das ganze Netz.
Ich sinke auf die Knie und spähe in das Loch. »Ich glaub’s nicht …«
Der Raum ist voller Sprengstoff. Alte Dynamitstangen. Offene Tonnen mit Schießpulver. Jede Menge verrostete Mini-Ananas-Dinger, die man wohl Granaten nennt. Das Schiffswrack ist ein einziges großes Pulverfass.
Noch einmal schaue ich auf das Netz aus Drähten.
Stolperdraht. Das ganze Ding hat man so zusammengebastelt, dass es in die Luft geht.
»Heilige Scheiße. Also besser schön langsam …« Vorsichtig weiche ich zurück und gehe die Treppe weiter nach oben.
Als ich ins Freie trete, trifft mich die Hitze wie eine Wand. Ich bin so weit oben, dass einem schwindlig werden kann. Der Gipfel der Düne, die sich neben dem Wrack gebildet hat, liegt jetzt mehrere Etagen unter mir. Die Salzebene erstreckt sich vor mir, so weit mein Blick reicht. Kein Lager. Kein Stamm. Weit rechts von mir liegt am Horizont eine Erhöhung. Eine Gebirgskette. Da drin muss die Schluchtstadt liegen, irgendwo.
Hier auf dem Oberdeck sieht es genauso übel aus wie im Frachtraum. Ich gehe zur Vorderseite des Schiffs und stoße auf das, was mal die Brücke gewesen sein muss. Jetzt ist alles total runtergekommen. Auf dem Boden liegt ein riesiges Steuerrad, in der Mitte durchgebrochen. Die Steuerkonsole ist übersät mit kaputten Hebeln und Sprungfedern, die in die Luft ragen. Soweit ich weiß, gab es in Bluehaven nie solche Maschinen, ich kenne sie nur aus Büchern. Verrückte Anderweltgeräte. Fremde Apparate. Wer waren diese uralten Seeleute? Was waren sie? Menschen, Lederschädel oder etwas ganz anderes? Was sagte Dad noch gleich über Roths Leute?
Ich glaube, er entstammt einem Volk schöner Wesen. Stark und stolz, aber inzwischen ausgerottet.
Könnten sie das hier gebaut haben? Zurückgelassen haben? Kacke, womöglich hat Roth persönlich mal hier gestanden, vor langer, langer Zeit. Bei dem Gedanken bekomme ich Gänsehaut und spähe lieber die Salzebene auf der anderen Seite des Schiffs aus. Immer noch nichts.
»Keine Panik«, murmele ich. »Dir geht’s gut. Denk nach.«
Späne. Holz. Signalfeuer.
Mit dem alten Steuer könnte es funktionieren, allerdings würde es allein nicht lange genug brennen. Ich sehe mich nach anderen Dingen um, finde dabei aber nur das obere Ende des Sprengfallenschachts am Ende eines angrenzenden Ganges. Gerade will ich durch das Loch nach unten spucken, als ich draußen in der Wüste etwas zu hören glaube. Ruft da jemand nach mir? Ich wirble herum, während in meiner Brust heiße Hoffnung aufflackert. Sie haben mich gefunden. Endlich gerettet!
Doch dann halte ich inne.
Überall an den Wänden sind Markierungen, eingekratzt ins rostige Metall. Eine Strichliste. Zittrige Linien und Kreise. Hunderte unsinniger Kritzeleien. Der Boden ist voller Glasscherben und Fetzen von altem zerknitterten Pergament, auf dem Symbole stehen, die ich nicht entziffern kann, Wörter, die ich nicht verstehe. Drüben in der Ecke gibt es drei verstaubte Flaschen Alkohol, noch verkorkt.
Elsa.
Sie hat mir erzählt, dass sie tagelang durch die Wüste irrte, nachdem sie erneut in Arakaan gelandet war. Vielleicht hat sie hier eine Weile Unterschlupf gesucht. Doch was ist mit den Pergamentstücken und dem Fusel? Nein, es kann noch nicht so lange her sein, dass sie zuletzt hier war.
Ich habe so großen Durst, dass ich den Korken aus einer Flasche ziehe und ernsthaft überlege, einen Schluck zu nehmen. Doch allein der Geruch verbrennt mir den Hals. Als ich die Flasche zurückstellen will, fällt mir an der Wand ein Bild auf. Eine Zeichnung, für die sie sich eindeutig Zeit genommen hat, so sorgfältig ist sie gearbeitet.
Ein Baby – ihr Baby –, eingewickelt in eine Decke.
Ich gehe in die Hocke, fahre mit den Fingern das Gesicht des Jungen nach und plötzlich kapiere ich. Es macht Klick. Das hier ist Elsas Reich. Ihr Geheimversteck. Ein Ort, an den sie kommt, um sich an den Jungen zu erinnern, den sie verloren hat. Den Roth ihr genommen hat. Jetzt fällt mir auf, dass er überall ist: auf den anderen Wänden, am Boden, über der Lukentür, durch die ich vor wenigen Augenblicken gekommen bin. Schätze, inzwischen wäre der Junge ein erwachsener Mann, hätte er überlebt und Elsa hierher begleitet, nach Arakaan. Wäre er mit Dad und mir in Bluehaven gelandet, wäre er wahrscheinlich vierzehn. Ich frage mich, ob sie ihm einen Namen gegeben haben.
Dann wird mir noch etwas klar: Das muss der Albtraum sein, von dem Dads Phantasma sich ernährt hat. Während ich im Keller vor mich hin dümpelte, rumnörgelte und ihm bescheuerte Lieder vorsang, musste er zusehen, wie sein kleiner Junge stirbt, immer und immer wieder.
»Tut mir leid«, flüstere ich – zu Dad, zu Elsa, zu dem Jungen, der nie eine Chance bekam.
Ich schwöre mir, dass ich niemandem jemals erzählen werde, dass ich hier war. Nicht Violet, nicht Hickory und ganz bestimmt nicht Elsa. Das hier ist ihr Geheimnis und so soll es bleiben. Scheiße, das Wrack ist so groß, ich hätte ganz leicht an diesem Raum vorbeispazieren können, ohne was zu merken. Keiner wird je wiss–
»A-uuu!« Wieder höre ich was. Eine Stimme, diesmal lauter. »A-wuuuuh!«
Momentchen. Keine Stimme. Nicht mal menschlich.
Das Heulen von einem Tier.
Jetzt höre ich auch die anderen, schrecklicheren Geräusche, die durch das Wrack hallen. Heulen. Fiepen. Hysterisches Bellen. Man hat mich gefunden, keine Frage. Allerdings ist es nicht der Stamm.
»Blechköter!«
Ich flitze nach draußen und lehne mich über die Reling. Zähle sechs von ihnen unten auf Salz und Sand, die den Riss im Rumpf anbellen und dann ins Innere preschen. Wilde Blechköter. Ungezähmt. Sie sehen genauso groß aus wie diejenigen, die wir im Schloss getroffen haben, nur dass sie Augen und Ohren haben. Sie sind nicht aus Blech, dafür haben sie Fell und Borsten, wie ein Rudel Wildschwein-Wolf-Mischlinge.
Und, kein Zweifel, sie haben mich gewittert.
Ich schicke einen Fluch zum Himmel und stolpere zurück zum Schacht, um einen Blick hinein zu werfen. Schon kann ich hören, wie das Rudel durchs Wrack wütet, wie ihre Krallen Stahl zerkratzen. Mir schwirrt der Kopf. Vor meinen Augen verschwimmt alles.
Ganz ruhig, Jane. Denk nach.
Sie werden nicht lange brauchen, bis sie mich gefunden haben. Sollte ich mich in einer Kabine verschanzen? Über den Bug hechten und mein Glück auf der Düne versuchen? Was würde Violet tun? Oder Hickory? Ich bin zu müde. Kann nicht mehr denken. Dafür sehe ich durch einen Hitzeschleier, wie die Schatten der Blechköter den Schacht hochflitzen. Sie könnten jeden Augenblick einen der Drähte auslösen, was echt, echt schlecht wäre.
Oder echt gut, sage ich mir und muss fast lachen. Wenigstens wären die verfluchten Viecher dann tot. Ein hübsches Signalfeuer würde es auch abgeben. Ein wirklich hübsches Signalfeuer, kilometerweit sichtbar.
»Ach Scheiße.«
Ich muss das Schiff in die Luft jagen.
Ich schmeiße mein Holzbrett weg, schnappe mir eine Hälfte des Steuerrads und zerre sie den Gang entlang. Das scheiß Teil wiegt eine gottverdammte Tonne! Jeder einzelne Muskel in mir beschwert sich lautstark, aber für eine Pause ist keine Zeit.
»Falls sich hier drin sonst noch jemand versteckt«, rufe ich, »sollte er jetzt besser abhauen!«
Ich hieve das Steuerrad direkt zum Schacht, kippe es über die Kante und sprinte zur Tür. Dann halte ich den Atem an und warte.
Kein Kanäng von Drähten. Kein großer Knall. Alles, was ich höre, sind das Pochen meines Herzens und die Blechköter, die näher kommen, um mich zu fressen.
»Echt jetzt?« Ich stolpere zurück zum Schacht. Das halbe Ruder war nicht schwer genug. Es wippt nur auf den Drähten. »Ach, komm!«
Noch mehr Blechköterschatten, die durch den Schacht flitzen.
Weiter oben. Viel zu nah.
Dann also zwei. Schnaufend und stöhnend schleppe ich die zweite Hälfte des Ruders zum Schacht, während mir die Panik im Nacken sitzt. Das Teil ist größer als das erste. Und schwerer. Ich schiebe es. Ziehe es. Hieve das verdammte Ding mit weiß vorstehenden Knöcheln hoch, lasse mich schließlich auf den Hintern plumpsen und verpasse ihm einen Tritt. »Mach … schon … du bescheuertes Stück –!«
Ein Grollen von draußen verrät mir, dass die Blechköter das Oberdeck auf irgendeinem Weg sicher erreicht haben. Einer springt auf ein Bullauge zu und schiebt mit gefletschten Zähnen seinen großen hässlichen Kopf in den Raum.
Ich verpasse dem Steuer einen zweiten Tritt. Endlich kippt es über die Kante. Taumelnd kämpfe ich mich auf die Beine und mache mich auf zur Brücke, sprinte, hoffe entgegen aller Hoffnung, dass es klappt.
RUMMS! KANÄNG! KANÄNG! KANÄNG!
»Ja!«
Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass die Drähte die Bombe tatsächlich zum –
KA-WUMM!
Die Explosion ist so laut, dass mir fast die Trommelfelle platzen, und so gewaltig, dass es mich durch ein dreckiges, gottverfluchtes Fenster schleudert. In einem Scherbenregen knalle ich aufs Deck. Direkt neben mir lässt ein Blechköter das Maul zuschnappen – verdammt knapp –, doch gerade rechtzeitig erschüttert eine weitere Explosion das Wrack. Das Deck gerät in Bewegung, kippt brutal zur Seite, weg von der Düne. Der Blechköter scharrt mit den Krallen nach Halt, rutscht davon. Ich schaffe es, den immer steiler werdenden Hang hochzukrabbeln und werfe mich über die Seite. Zwei Sekunden später schlage ich auf der Düne auf, rolle und purzle, überschlage mich und rutschte, schreie. »Ah … Scheiße … Verflucht … Aah!«
Um mich herum regnet es Trümmer. Metallbrocken. Zerfetzte Kisten. Ein fliegendes Klo.
Voller Schnitte und Prellungen schlittere ich bis nach unten, huste Sand und fange an zu rennen. Hinter mir knallt das Wrack ächzend auf den Wüstenboden. Eine dritte und letzte Explosion vernichtet, was noch übrig war, und ein gewaltiger Feuerball schießt in den Himmel. Eine schwarze Pilzwolke.
Sobald ich in sicherer Entfernung bin, falle ich auf die Knie, bin absolut am Ende. Muss zu Luft kommen.
Mann, also zum Thema Signalfeuer … Wenn der Stamm das hier nicht sieht, dann –
Knurren links von mir.
Offenbar bin ich nicht die Einzige, die es aus dem Wrack geschafft hat. Zehn Meter weiter kauert ein Blechköter im Salz, leckt sich die Seite und knurrt mich an.
Ich bin verflucht noch mal zu müde für so was.
»Denk nicht mal dran!«, sage ich.
Und wer hätte es gedacht? Die Promenadenmischung blinzelt mich an. Legt den pelzigen Kopf schräg. Macht sogar Sitz und starrt eine Weile das brennende Wrack an, bevor das Viech in die Wüste trottet. Wahrscheinlich auf der Suche nach einem neuen Rudel.
Lange dauert es nicht, da höre ich das Donnern von Hufen auf Salz. Das Signalfeuer hat gewirkt.
Endlich hat mich der Stamm gefunden.
DIE WUNDE
Violet lässt mich nicht aus den Augen. Ehrlich gesagt nervt es allmählich. Ich weiß, sie will nur sichergehen, dass ich okay bin. Aber seit der Explosion haben mich so viele Leute angestarrt, dass es schon fast wie zu Hause in Bluehaven ist. Dabei ist das Starren hier nicht mal unfreundlich. Keiner schüttelt dabei den Kopf oder murmelt Erlösungsgebete. Kacke, ich ernte sogar hin und wieder ein nervöses Lächeln. Trotzdem fühlt es sich komisch an, als wäre ich irgendein seltener Edelstein. Sollte mich wahrscheinlich nicht wundern. Schließlich warten die hier draußen schon lange auf mich. Vielleicht bin ich nicht die Heldin, mit der sie gerechnet haben, trotzdem bin ich das Mädchen mit den Bernsteinaugen. Jane White, früher auch bekannt als »Die Verfluchte«. Und auf einmal etwas ganz anderes.
»Hier.« Violet reicht mir ihren Wasserschlauch. Meiner ist schon leer. »Trink weiter.«
Ich nehme einen Schluck. »Danke.« Trotz des Wassers ist meine Kehle noch immer rau. Seit wir uns gesetzt haben, habe ich kaum ein Wort gesagt. Schaffe es nicht, Violet in die Augen zu sehen, und erst recht nicht, ihr zu sagen, was mir durch den Kopf geht.
»Ich würde dir ja was zu essen bringen, aber alles ist krass rationiert«, sagt sie. »Ich glaube, in dem Wrack hatten sie einen versteckten Speicher für Essen, Wasser und Vorräte, der fest eingeplant war, aber …«
»Ich hab ihn in die Luft gejagt.«
»Jepp.« Violet mustert ungläubig das rauchende Etwas, das von dem Wrack übrig geblieben ist. Wir haben das Lager ein sicheres Stück davon entfernt aufgeschlagen. »Ich fasse es nicht, dass du ohne mich was hast explodieren lassen.« Sie wirft mir ein knappes Lächeln zu. »Aber schon okay. Du lebst. Nur darauf kommt es an.«
»Ich glaube fast, dass sehen nicht alle so«, sage ich und lasse den Blick durchs Lager schweifen.
Elsa schimpft ohne Ende: mit den Pferden, weil sie zu laut ihr Heu mampfen, mit ihrem Wasserschlauch, weil er leer ist, mit dem armen Kerl, der beim Einfüllen einen Tropfen Alkohol verschüttet, und mit den Sonnen, weil sie zu lange zum Untergehen brauchen. Als sie mich gefunden haben, hat sie kein Wort gesagt. Ich stand vor dem Stamm und sie hat mich mit ihren wässrigen Augen nur von oben bis unten begutachtet. Mit ihrem vom Wetter gezeichneten Gesicht. Undurchschaubar. Haut wie raues, gegerbtes Leder, von den Sonnen geräuchert. Dann sprang sie von ihrem Pferd und fing an, Befehle zu blaffen. Irgendwie verständlich – immerhin hatte ich gerade ihren geheimen Rückzugsort hochgejagt. All die eingeritzten Zeichnungen von ihrem Baby sind jetzt weg, vergraben unter einem Berg aus Metall.
»Sie hasst mich«, sage ich.
Violet schneidet eine Grimasse. »Ich glaube, sie hasst jeden. Außer vielleicht ihn.« Sie nickt Richtung Schielauge, dem Kerl, der mich gestern am Tor gepackt hat. Kahler Schädel. Dunkle Haut. Dauerstirnrunzler. Er hockt nahe bei Elsa auf einer Matte und beobachtet uns. »Er heißt Yaku und ist Elsas rechte Hand. Redet nicht viel, dafür kann er uns verstehen. Ich glaube, sie hat es ihm beigebracht.«
Ich schaue mir die anderen aus dem Stamm an: gut zwanzig Männer, Frauen und Kinder. Einige haben schwarze Haut, andere eher braune, wieder andere sind so weiß wie das Salz der Ebene und tragen Kapuzenumhänge, um sich vor den sengenden Sonnen zu schützen. Einige sind kahl wie Yaku. Andere haben noch vereinzelte dünne Haarbüschel oder schick geflochtene Zöpfe.
»Und die da?«
Violet zuckt mit den Schultern. »Sammler. Krieger. Überlebenskünstler.«
Also irgendwie ganz ähnlich wie die Leute in Bluehaven. Menschen aus allen Ecken und Enden einer kaputten Welt.
Einige stellen gerade behelfsmäßige Zelte aus zerrissenem Stoff auf. Andere ruhen sich mit dem Sattel als Kissen unterm Kopf auf dem blanken Salz aus und genießen diese hübsche Spanne zwischen Tag und Nacht, taub für Elsas Gezeter. Sie wirken einigermaßen friedlich, aber können wir ihnen trauen?
»Meinst du, sie sagen über Hickory die Wahrheit? Sie werden ihn am Ende doch nicht … du weißt schon. Gekillt haben?«
Violet zieht die Knie an die Brust. Schaut Yaku nachdenklich an. »Er war’s, der ihn gefoltert hat. Hat ihm fast beide Arme gebrochen. Und Elsa saß nur da, stellte Fragen über dich und den Schlüssel. Es war schlimm, aber … Na ja, wahrscheinlich konnten sie kein Risiko eingehen.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich mag sie nicht besonders, aber wir sind trotzdem auf derselben Seite, richtig? Elsa hat mir gesagt, dass Hickory lebt. Hat es versprochen. Sie meinte, sie hätten ihn vorausgeschickt zu so einer Art Außenposten am Rand der Berge, wo sich irgendwelche Heiler um seine Wunden kümmern sollen. Morgen machen wir dort halt, auf dem Weg zur Stadt in der Schlucht.«
Ich blicke Richtung Westen. Im Schloss habe ich zu Hickory gesagt, dass ich ihn aus der Gruppe schmeißen würde, sobald wir Elsa gefunden hätten, aber jetzt? Jetzt, wo wir hier sind? Wo wir wissen, dass sie nicht meine Mum ist? Wo wir gesehen haben, was aus ihr geworden ist? Wenn sie so weitermacht, hat sie sich totgesoffen, bevor wir das Schloss erreicht haben.
»Ich glaube nicht, dass wir es ohne ihn schaffen, Violet.«
»Ich weiß«, sagt sie leise. »Wir holen ihn zurück.«
Der Salzofen pulsiert leuchtend rosa, während die untergehenden Sonnen über dem Horizont schweben, nicht im Westen, sondern im Süden. Andere Welten, andere Regeln.
»Tut mir leid, dass du das mitmachen musstest«, sage ich. »Gestern Nacht, meine ich. Und es tut mir auch leid, dass ich weggelaufen bin.«
»Elsa meinte, die Stürme hier draußen werden manchmal so heftig, dass sie einem das Fleisch von den Knochen reißen«, sagt Violet. »Ich wollte sofort raus und nach dir suchen, aber sie hat mich nicht gelassen. Musste mich wieder fesseln, damit ich auch wirklich dableibe.« Sie betrachtet ihre Knie. »Ich dachte, ich sehe dich nie wieder, Jane.«
Ich schaue sie an, während das Herz in meiner Brust laut pocht.
Sie erwidert meinen Blick.
Dann boxt sie mir gegen die Schulter. Fest.
»Au! Mann, Violet, was soll der Scheiß?!«
»Mach das bloß nie wieder! Das hier ist ’ne große alte Welt und sie ist genauso gefährlich wie das Schloss. Wer weiß, was sich da draußen alles rumtreibt?«
»Ich sagte doch, es tut mir leid.«
»Das reicht nicht.« Sie zeigt mit dem Finger auf mich. Schiebt ihn mir fast in die Nase. »Ab sofort wird nicht mehr weggerannt. Es sei denn, man jagt uns oder so. Dann darfst du rennen. Aber nur, wenn ich dabei bin! Ohne Ausnahme. Abgemacht?«
Obwohl meine Schulter echt wehtut, lächle ich. »Abgemacht. Kein Weglaufen mehr.«
»Bei Elsa solltest du dich wahrscheinlich auch entschuldigen.«
»Ja«, sage ich. »Ich weiß.« Auf der anderen Seite des Lagers brüllt Elsa ein letztes Mal ihr Pferd an und fällt dann in Ohnmacht. »Wenn sie wieder halbwegs nüchtern ist, vielleicht.«
Ich gähne. Brauche dringend eine Mütze voll Schlaf, doch mein Kopf dröhnt und der Schnitt in meiner Hand ist von meinem Purzelbaumschlagen die Düne runter voller Dreck. Ich kratze an der Haut ringsherum und verziehe das Gesicht.
»Lass mich mal sehen«, sagt Violet.
»Ist schon gut.«
Violet schnalzt missbilligend mit der Zunge und schnappt sich meine Hand. »Wir sollten das zumindest sauber machen.«
Ihr Griff ist fest, aber behutsam. Sie konzentriert sich so sehr, dass sie auf ihrer Zunge kaut – und für den Bruchteil einer Sekunde verschwindet die Wüste. Wir könnten irgendwo sein, Seite an Seite in unserer ganz eigenen, perfekten kleinen Anderwelt sitzen. Ohne Salz, ohne Stamm, ohne gefährliche Mission. Es ist schön.
Violet pustet vorsichtig auf meine Hand und wischt ein paar Sandkörner fort. »Sieht entzündet aus. So leid es mir tut, da haben wir keine Wahl.« Sie reckt den Daumen in die Richtung des nächsten Mannes aus dem Stamm, der sich gerade Dreck aus den blassen, verschwitzten Zehen pult. »Er muss draufpinkeln.«
Ich reiße meine Hand zurück. »Was?«
Violet lacht. »Nur ein Witz, Jane.« Dann wird sie wieder ernst. »Aber ehrlich, es sieht übel aus, und wenn wir das nicht bald desinfizieren, müssen wir vielleicht amputieren.«
Ich kichere und warte darauf, dass sie sagt: Ha! Schon wieder drangekriegt! Aber das passiert nicht.
»Oh.« Ich räuspere mich. »Verstehe.«
»Keine Sorge, ich wette, hier gibt es so was wie einen speziellen Kaktus, der Wunden heilen kann oder so. Soweit ich gelesen habe, kennen Wüstenvölker sich mit solchen Sachen richtig gut aus. Wir können morgen Hickorys Heiler fragen.«
Vorausgesetzt, die gibt es tatsächlich.
Violet schnappt sich ihren Wasserschlauch und begießt meine Hand. Als sie den Schmutz etwas wegwischt, berührt ihre Haut meine. Diesmal schießt ein elektrisierendes Prickelknistern durch meinen Arm und meine Brust mitten in meine Eingeweide. Es ist komisch und aufregend, und es sorgt dafür, dass ich mich sicher fühle – beschützt –, zum ersten Mal seit keiner Ahnung wann.
Ohne dass ich etwas dagegen tun könnte, sprudelt es aus mir heraus. »Wie soll ich das schaffen, Violet? Das alles ist so … groß.«
»Schritt für Schritt«, antwortet sie. »Zerteil deinen Elefanten in kleine Häppchen.«
Ich schaue mich entsetzt im Lager um. »Was, es gibt Elefant zum Abendessen? Das geht doch nicht – ich wusste gar nicht, dass es hier Elefanten gibt. Ich hab nirgends welche geseh–«
»Ist eine Redewendung, Dumpfbacke. Bedeutet, man soll nicht aufs riesengroße Ganze schauen, sondern sich einen Teil nach dem nächsten vornehmen. Ein Problem nach dem anderen. Zuerst gehen wir zu diesem Außenposten und holen Hickory.«
»Und dann?«
»Dann geht’s weiter zur geheimen Stadt in der Schlucht, wie das Ding auch heißen mag. Dort besorgen wir den zweiten Schlüssel.«
»Und dann?«
»Ziehen wir durchs Dünenmeer bis zu Roths Tor und gehen zurück ins Schloss –«
»Nachdem wir uns irgendwie an einer ganzen gottverdammten Armee vorbeigeschummelt haben, die uns den Weg verstellt.«
»… und dann«, lässt Violet sich nicht aus der Ruhe bringen, »finden wir die Wiege, was mit Elsas Hilfe viel leichter fallen dürfte. Immerhin hat sie das schon einmal geschafft.«
Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle runter. »Und dann muss ich mich nur noch auf den Grundstein im Zentrum des Wiegenmeers stellen, irgendwie das komplette Schloss heilen, bevor Roth es total demoliert, Roth besiegen und meinen Dad retten.« Ich schüttle den Kopf. »Was, wenn wir in die Wiege kommen und ich nicht weiß, was ich machen soll? Oder was, wenn wir das zwar rausfinden, aber ich es vermassle und alle umbringe?«
Violet tupft meine Hand mit dem Zipfel ihres Umhangs trocken. »Du wirst nicht alle umbringen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil du clever, kompetent und definitiv nicht böse bist, egal, was die Leute sagen.«
»Gestern hab ich die Kontrolle verloren, Violet. Im Schloss …« Ich beiße mir auf die Lippe. Bisher habe ich ihr nicht von dem Phantasma erzählt. Wie es mich im Wasser gefunden und seine Fühler um meine Hand gewickelt hat. Wie ich es um Hilfe gebeten habe und es meine Bitte prompt erfüllt hat. Glaube ich zumindest. Jedenfalls hat es mich nicht gepackt und in den Griff genommen. Nur warum? Weil die Schöpfer die Phantasmen zurückgelassen haben, damit sie mich beschützen? Weil sie mir verpflichtet sind, genau wie der Wiege? Wahrscheinlich denkt Violet, ich bin dem Ding einfach entkommen, was mir nur recht sein kann. Die Phantasmen sind Monster. Wenn ich mit ihnen eine Verbindung habe – was macht das aus mir?
»Ich habe den Gang zerstört«, sage ich. »Wäre das Tor nicht da gewesen, wären wir ertrunken.«
»Aber es war da«, sagt Violet. »Und du hast es geöffnet. Du hast uns das Leben gerettet, Jane.«
Die Erinnerung ist so deutlich! Daran, fast zu ertrinken, nachdem das Phantasma geflohen war. Daran, aufzuwachen und Violets Gesicht über mir zu sehen. Ich habe ihr Messer gepackt, mir in die Hand geschnitten und die blutende Innenfläche auf den Stein gepresst. In dem Moment ist die Kraft mit mir durchgegangen. Ist alles schiefgelaufen. Ich kann es noch immer fühlen: jeden Riss, jedes Beben. Es war schrecklich und es hat wehgetan, doch – so komisch das klingt – eine Sekunde lang hat es sich unglaublich angefühlt. Ein Teil von mir fand es toll, ein Teil von mir wollte mehr davon. Und das ist es, was daran am gruseligsten ist. Ich schüttle den Kopf. »Wir hatten Glück. Ich sag’s dir, ich bin für diese Sache noch nicht bereit.«
Violet reißt einen Streifen von ihrem Umhang ab und wickelt ihn um meine Hand. »Dann lass es uns mal so probieren: Was wissen wir über die Schöpfer? Wer sind sie? Wie haben sie das Schloss erschaffen?«
»Ich bin müde, Violet. Mir ist gerade nicht danach, runterzubeten, was –«
»Vertrau mir«, sagt sie. »Es hilft, versprochen. Mach schon. Sag’s mir.«
»Von mir aus.« Ich rattere also die Geschichte herunter, wie ich sie mir gemerkt habe. »Vor langer, langer Zeit waren die Anderwelten brutale, chaotische Orte. Dann haben sich Po, Aris und Nabu-kai getroffen. Torwächterin, Erbauer und Schreiber. Die Schöpfer. Po konnte zwischen den Welten reisen. Aris Stein erschaffen und formen. Und Nabu-kai in die Zukunft schauen. Er war so was wie der große Architekt, könnte man sagen. Er hat alles vorhergesehen. Die Hallen und Fallen im Schloss. Die Gänge und Tore, und die Pfade von jedem, der einmal durch sie hindurchlaufen würde. Gemeinsam erweckten sie seine Vision zum Leben – sie erschufen das Schloss. Und das hat dann die Anderwelten miteinander verbunden und stabilisiert.«
Violet nickt und befestigt den Verband mit einem Knoten. »Aber damit das Leben auch wirklich beginnen konnte …?«
»Mussten sie die alten Götter des Chaos aus den Anderwelten rausschmeißen. Also haben sie sie ausgetrickst. Haben ihnen vom Schloss erzählt, jedes Tor geöffnet und sie in die Wiege geführt, die enorme Kammer im Zentrum aller Dinge.«
»Und sobald alle drin waren, prallten ihre Kräfte aufeinander, formten einen Strudel und bildeten das Wiegenmeer, eine Quelle von schrecklicher, nie da gewesener Macht, die ganze Welten auslöschen könnte, sollte sie je entfesselt werden!«
»Das hilft jetzt nicht gerade, um runterzukommen, Violet.«
»Tut mir leid«, sagt sie. »Aber so ist es. Und was passierte dann?«
»Na ja, die Schöpfer wussten, dass sie sich den Göttern des Chaos anschließen müssen. Nur wurden sie nicht Teil des Meeres, sondern ließen ihre Kraft, ihre Lebensenergie in den Grundstein fließen – den ersten Stein, den Aris gesetzt hat und der im Zentrum der Wiege liegt. So haben sie das Meer gebändigt und gesichert.«
Violet nickt. »Aber davor haben sie noch etwas anderes getan …«
»Tja also … Sie haben im Schloss zwei Schlüssel gelassen, mit denen man die Wiege öffnen kann –«
»Und einen dritten, nämlich dich, direkt in der Wiege, um sie zu bewahren«, sagt Violet sanft. Dann lächelt sie aufmunternd. »Siehst du? So schräg, beängstigend und gruselig es klingt: Du bist ein Teil vom Schloss, Jane. Du wurdest buchstäblich für diese Sache hier geschaffen. Vertrau darauf – vertraue ihnen.«
Ich schnaube. »Vertraue den Schöpfern.«
»Sie haben dir aus gutem Grund diese Verbindung zum Schloss gegeben. Hast du selbst gesagt: Die Schöpfer gossen ihre Lebensenergie in den Grundstein.« Sie deutet mit dem Kinn zu meiner verletzten Hand. »Wenn du es bis zum Stein schaffst und die Verbindung herstellst, wird er deine Kräfte vielleicht verstärken. Sie bündeln. Einen direkten Draht zwischen dir und dem Schloss herstellen. Zwischen dir und den Schöpfern persönlich.«
Ich fahre mit dem Daumen über die Bandage. »Meinst du, ich kann … mit ihnen reden?«
»Na ja, es wird wohl kein gemütlicher Plausch bei einem Tässchen Tee sein, aber vielleicht werden sie für dich da sein. Mit ihrer Seele, ihrem Geist, wie man’s auch nennen will. Vielleicht werden sie dich führen.«
»Das sind eine Menge Vielleicht.«
»Ich weiß, das alles wirkt wahnsinnig überwältigend, Jane. Und es ist nicht fair. Wir sind in der Unterzahl. Haben viel weniger Gewehre. Wir sind nicht mal drin. Das Schicksal aller Welten sollte nicht auf den Schultern eines vierzehnjährigen Mädchens ruhen. Aber es ist, wie es ist.« Violet macht eine Pause. »Na ja, wenn man’s genau nimmt, bist du ja auch nicht erst vierzehn.«
»Wenn man’s genau nimmt, bin ich nicht mal ein Mädchen. Ich bin ein Schlüssel.«
»Jedenfalls wirst du einen Weg finden. Wir werden einen Weg finden. Wo ist die Wiege? Wie retten wir das Schloss? Wie holen wir deinen Dad zurück? Die Antworten finden wir noch früh genug raus, und dann?« Sie lächelt mich an. »Dann bist du unaufhaltsam.«
Da ist es. Das eine Wort, das mir mehr Angst macht als alles andere. Unaufhaltsam.
»Elefant«, erinnere ich sie. »Kleine Häppchen.«
DER NEUE ALBTRAUM
Ich bin wieder im Schloss, wirble mit brennender Lunge durch schwarzes Wasser.
Mein guter alter Albtraum. Alles beim Alten. Wieder sehe ich Dad und Elsa in der Dunkelheit schweben. Wieder höre ich das unheimliche Unterwasserstöhnen und die leise Flüsterstimme.
Lass los.
Ich dachte immer, es sei Elsas Stimme, aber jetzt weiß ich, dass das falsch ist.
Das Wasser zieht sich zurück und ich klebe an einer Wand. Die Strömung lässt nach. Vor mir ragt das Phantasma auf, blendend grell – ein Hauch von Hörnern und Augen wie weißglühende Flammen. Fühler aus Licht strömen aus seinen Seiten, ringeln sich im hin und her schwappenden Wasser.
Ich nehme den Wiegenschlüssel aus der Tasche. Wenn du das Schloss retten willst, denke ich, dann hilf uns. Lass mich gehen.
Doch diesmal hilft es uns nicht. Diesmal wendet sich das Phantasma gegen mich. Brüllt so laut, dass mir jeder Knochen im Leib wehtut und meine Zähne sich anfühlen, als würden sie bersten. Die Lichtfühler greifen nach mir – nehmen mich in ihren Griff. Zerren mich ins Reich der erwachenden Albträume, während ich zapple und schreie.
Im letzten Moment zieht mich jemand aus dem Wasser.
»Nein!«
Die Halbmaske aus Porzellan. Die von Adern durchfurchte, gefleckte Haut. Roths fauler Gestank pustet meinen Hals trocken. Er beugt sich über mich und knurrt, sodass die Luft zwischen uns dank seines ranzigen Atems wabert. Meine Haut fängt an zu jucken und spannt. Er starrt mir in die Augen, will mich von innen nach außen stülpen, mich lesen.
Ich weiß genau, was er denkt. Du gehörst mir.
Ich schreie, trete nach ihm, winde mich aus seinem Griff und rapple mich hoch.
Als ich mich umdrehe, ist das Wasser verschwunden. Ich liege ausgestreckt in einem Gang. Der Boden ist voll schwarzem Sand, umgeben von blassblau und rosa glitzernden Kristallen. Ich kann Roth noch immer riechen, ihn irgendwo im Gang atmen hören, also mache ich kehrt und renne los. Die Kristalle knacken, zittern und wachsen, sprießen wie Lanzen aus den Wänden. Ich sprinte auf eine offene Tür zu, hechte durch die schrumpfende Lücke und lande in einer Lache aus blutrotem Schlick.
Jetzt bin ich wieder im Wald, umzingelt von Bäumen mit roten Blättern, Schlingpflanzen und diesen leuchtenden Sporen, die wie Miniaturmonde durch die Luft schweben. Mir wird schwindelig und ich fühle mich duselig, als könnte ich mich sofort hinlegen und für alle Ewigkeit schlafen. Doch noch immer höre ich Roth, fühle ihn. Er kommt mich holen! Also stemme ich mich aus dem Matsch und laufe weiter. Die roten Blätter flattern. Die peitschenden Schlingpflanzen wollen mich packen. Aus dem Dreck aus Blättern und Knochen platzen Baumwurzeln, die mich stolpern lassen wollen. Doch als ich schließlich auf den Boden falle, lande ich nicht im Schlamm.
»Was zum …?«
Diesmal bin ich in Kerzenlicht gebadet und liege in einem Berg aus Schnee. Hier war ich schon mal. Es ist die erste Halle, in die ich gekommen bin, nachdem ich Bluehaven verlassen habe. Roth ist verschwunden. Ich schaue zu den eisbedeckten Balkonen. Den Eiszapfen. Den Säulen mit den in Stein gemeißelten Gesichtern. Die Türen hier im untersten Stockwerk sind fast völlig unter Schnee begraben.
Da ist das Loch, das ich bei meiner Ankunft gebuddelt und durch das ich mich gezwängt habe, als ich noch so ahnungslos war, so verloren.
Da ist meine Spur im Schnee.
Da bin ich – mein Vergangenheits-Ich, Jane von vor was-weiß-ich-wie-vielen Tagen. Ich schleppe mich durch den Schnee.
»Dad!« Halb flüstert, halb ruft sie, während sie sich an ihre Laterne klammert. »Bist du da?«
Ich muss sie aufhalten. Muss sie retten.
»Warte! Das ist die falsche Richtung!«
Sie hört mich nicht. Sieht mich nicht. Schon tritt sie durch den schwarzen Durchgang am anderen Ende der Halle und wird von der Finsternis verschluckt. So schnell ich kann, laufe ich durch den Schnee, doch als ich endlich die Schwelle überquere, ist mein Vergangenheits-Ich schon fort. Dafür sind die Phantasmen da. Die beiden, die vor so vielen Jahren aus der Wiege entkommen sind, ragen vor mir auf und greifen mit ihren Lichttentakeln nach mir.
»B…bitte«, stammle ich. »Ihr müsst mir helfen. W…wir sind auf derselben Seite.«
Sie schütteln den Kopf, langsam und bedrohlich. Sie haben auf mich gewartet. Ich spüre es. Auf diesen Moment haben sie gewartet, seit ich Arakaan betreten habe. Seit ich herausgefunden habe, dass ich der dritte Schlüssel bin. Ihre Fühler dringen mir in Augen, Nase, Hals, infizieren mich mit ihrem weißfeurigen Licht. Nehmen mich in ihren Griff. Und dann …
Puff! Sie sind weg, genau wie der Schnee.
Jetzt knie ich im Zentrum des Wiegenmeers auf dem Grundstein. Ich habe es geschafft. Irgendwie habe ich Roth besiegt und meine blutende Hand liegt auf dem bebenden Stein. Ich spüre, wie die Macht der Schöpfer in mir fließt, stärker als je zuvor.
Aber etwas stimmt nicht. Tief im Innern habe ich ein böses Gefühl. Eine dunkle und endlose Leere. Es tut weh. Es schmerzt so sehr, dass ich weine, brülle und nicht weiß, was ich machen soll, weil Dad und Violet tot sind. Wie sie gestorben sind, weiß ich nicht. Ich weiß nur: Sie sind weg, für immer verloren, und ich bin daran schuld.
Jemand, irgendwo, ruft immer wieder meinen Namen.
Elsa, glaube ich. Sie fleht mich an, will, dass ich aufhöre. Aber ich kann die Schöpfer nicht länger fühlen, nur diese klaffende Leere in meiner Brust.
»Nein«, presse ich durch zusammengebissene Zähne. »Bitte nicht …«
Ich kann es nicht aufhalten. Das ist das Ende. Der Grenzstein springt. Das Wiegenmeer wallt auf und leuchtet, weiß und blendend hell wie die Phantasmen.
Kehre zurück, wispert die Stimme, die nicht Elsa gehört –
Erschrocken wache ich auf, ringe keuchend nach Luft, völlig verheddert in meine Decke, mitten unter den Sternen.
Ich schaudere vor Erleichterung. Violet schnarcht leise neben mir. Der gesamte Stamm ist wie weggetreten, wie’s aussieht.
Doch ich bin nicht die Einzige mit Albträumen. Auf der anderen Seite des Lagers wirft Elsa sich unruhig hin und her. »Nein«, ruft sie. »Bitte.«
Ich wickle mich fest in meine Decke und schleiche so leise wie möglich zu ihr, vorbei an Sätteln und rauchenden Lagerfeuern, über ausgebreitete Beine und Speere. Erleuchtet von dem Anderwelt-Nachthimmel sieht die Salzwüste aus wie ein Meer aus Silber, das totenstill daliegt. Der Mond ist eine schmale Sichel, die wie eins von Roths Messern über unseren Köpfen schwebt.
»Charlie«, flüstert Elsa. »Charlie?«