Der Schlüssel nach Arvranna - Katja Schnee - E-Book

Der Schlüssel nach Arvranna E-Book

Katja Schnee

4,4
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Um den letzten Wunsch ihrer Großmutter zu erfüllen, muss Holly nach Arvranna reisen. Dort angekommen wird sie jedoch gefangen genommen und an einen Menschenhändler verkauft. Nach Tagen der Qual kann der gut aussehende und verschlossene Krieger Ben sie retten. Holly spürt sofort eine tiefe Verbindung zu ihm, doch Ben entzieht sich ihr immer wieder. Denn Ben hütet ein furchtbares Geheimnis, das ihm verwehrt, jemals glücklich zu sein ... (ca. 300 Seiten)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 587

Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
11
4
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Kapitel 1: Haydan Sol Ben Krain – Mein Leben ist der Tod

Kapitel 2: Kalt und unnahbar

Kapitel 3: Tod und Verbannung

Kapitel 4: Der geerbte Schlüssel

Kapitel 5: Ankunft in Arvranna

Kapitel 6: Osiris, der Händler

Kapitel 7: Absturz ins Nichts

Kapitel 8: Ein Herz beginnt zu tauen

Kapitel 9: Schmerzliche Vergangenheit

Kapitel 10: Syrillen

Kapitel 11: Vertrauen

Kapitel 12: Das wiedergefundene Lächeln

Kapitel 13: Schmetterlinge und andere kleinere Wunder

Kapitel 14: Seelengefährten

Kapitel 15: Geheimnisse

Kapitel 16: Ein unerwarteter Feind

Epilog

Die Autorin

Impressum

KATJA SCHNEE

Der Schlüssel

nach Arvranna

Roman

Zu diesem Buch

Um den letzten Wunsch ihrer Großmutter zu erfüllen, muss Holly nach Arvranna reisen. Dort angekommen wird sie jedoch gefangen genommen und an einen Menschenhändler verkauft. Nach Tagen der Qual kann der gut aussehende und verschlossene Krieger Ben sie retten. Holly spürt sofort eine tiefe Verbindung zu ihm, doch Ben entzieht sich ihr immer wieder. Denn Ben hütet ein furchtbares Geheimnis, das ihm verwehrt, jemals glücklich zu sein …

KAPITEL 1

Haydan Sol Ben Krain – Mein Leben ist der Tod

Dutzende schwarze Krähen überflogen die Ebene. Sie hielten Ausschau nach leichter Beute und kreisten über den Köpfen der Aufräumgruppen.

Die Beendigung der Kämpfe gab den Siegern dieser Schlacht jedoch keine Zeit zum Ausruhen oder Feiern. Die Kämpfer der zwei verfeindeten Heere hatten sich zurückgezogen, um sich neu zu formieren. Viele betrauerten die Gefallenen, andere versorgten kleinere Wunden an ihren unsterblichen Körpern. Es hatte erneut wahre Opfer gegeben in diesem Krieg. Kämpfer, die nie mehr zurückkehren sollten in die Reihen ihrer Kameraden.

Haydan schritt über das Feld und suchte nach seinem Bruder. Dorian war getötet worden, und nun lag es an ihm, ihn nach Hause zu bringen. Sein Herz war schwer von der Trauer und der unstillbaren Wut auf ihre Feinde.

Endlich, nach über einer Stunde kam er zu der Stelle, an welcher Dorian von den Nargs überrannt worden war. Tolan, der beste Freund seines Bruders, war ihm vorausgeeilt und kniete bleich und fassungslos auf der blutgetränkten Erde und ließ seinem Zorn freien Lauf. Haydan starrte stumm auf das Schlachtfeld, sein Kopf war leer gefegt und er verspürte eine Hilflosigkeit, die er so nie wieder erleben wollte. Bald kamen andere zu ihnen, und gemeinsam bargen sie den Toten und trugen ihn zurück zu ihrem Zelt. Niemand wagte es, sie anzusprechen oder auch nur anzusehen. Jeder im Lager wusste um diesen großen Verlust, und alle Krieger trauerten mit dem Clan der Sol Ben Krain.

»Wozu sind wir unsterblich, wenn diese Nargs uns doch so einfach töten können?«

»Ich weiß es nicht, Tolan, jedoch werde ich für Dorian heute Nacht ein Massaker unter den Nargs anrichten. Kein Feind nimmt mir ungestraft meinen Bruder und erblickt das Licht des nächsten Tages!«

»Ich werde an deiner Seite sein, Haydan, auch wenn wir in den letzten Jahren keine guten Freunde mehr waren. Nicht, seitdem …«

Haydan unterbrach den anderen Krieger mit einem eisigen Blick.

»Lass es gut sein, Tolan. Ich werde an deiner Seite kämpfen, allerdings können wir beide nie wieder Freunde sein. Nicht nach deinen Worten vorhin auf dem Schlachtfeld und nicht nach dem, was vor über sechzig Jahren hier geschah.«

»Haydan.«

»Nicht jetzt. Meine Familie trauert. Schließ dich uns an oder geh deiner Wege. Wir sehen uns auf dem Schlachtfeld wieder.«

Sie erreichten das Lager und brachten Dorian ins Zelt der Heiler. Tolan stellte sich stumm in eine Ecke und hielt Totenwache für seinen Freund. Nach und nach trafen andere Mitglieder des Clans Sol Ben Krain ein. Draußen vor dem Zelt versammelten sich die Kämpfer aus Dorians Gefolge und erwiesen ihrem Anführer die letzte Ehre. Ein dunkler Schatten legte sich auf die Herzen der gestandenen Männer und Frauen. Sie alle wussten, wie verlustreich der Kampf gewesen war, obwohl sie das Schlachtfeld als Sieger verließen. Niemand würde heute diesen Sieg bejubeln oder über die Ebene gehen, um die Kriegsbeute einzusammeln.

Viele der Krieger waren des Kämpfens müde und hinterfragten bereits den Sinn ihres täglichen Einsatzes. Gab es nicht noch etwas anderes hinter dem Horizont blutiger Schlachten und zermürbender Wachen an den Grenzen? Die Krain konnten an diesem Abend keine Hoffnung mehr sehen, und so verfielen die Männer in tiefes Schweigen, während sie ihren trüben Gedanken nachhingen.

Sie wussten nicht mehr genau, wann dieser Krieg begonnen oder von welcher Seite er ausgegangen war. Jeder von ihnen handelte auf Befehl des jeweiligen Herrschers, und alle kämpften gemeinsam bis zum bitteren Ende. Auge um Auge.

Für jeden der ihren, den die Dämonen töteten, nahmen sie bittere Rache. Ein endloser Krieg, den niemand gewinnen konnte. Ein Kreislauf aus Kampf und Tod für den König und das Land, bis keiner mehr da sein würde, der sie betrauerte.

Die Nacht brach herein und der letzte Kampflärm verstummte. Es wurde still, selbst die Verletzten unterdrückten die Schmerzensschreie und erstickten ihr Stöhnen, indem sie ihre Hände auf den Mund pressten. Im ganzen Lager hatte man die Flaggen des Königs auf Halbmast gehisst, und vor einem der nun leeren Zelte wehte die schwarze Fahne des Todes. Der tollkühnste Kämpfer der Armee, Dorian Sol Ben Krain, war tot.

Im Zelt stand Haydan wie erstarrt vor dem Aufbahrungsplatz des besten Bruders, den ein Mann nur haben konnte. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Die erste Gefühlsregung, die er sich seit Jahren gestattete, denn heute konnte er nicht aufhalten, was aus ihm herausbrach.

Das Unfassbare war geschehen, sein Zwilling weilte nicht mehr unter ihnen. Die Sense eines Nargs hatte ihn enthauptet. Niemals wieder sollte der lebensfrohe junge Mann nun seine Scherze mit Haydan treiben oder ihn, den Jüngeren, beschützen. Dorian, einst nur wenige Minuten vor ihm geboren, bekam nie wieder die Schönheit eines neuen Tages zu sehen.

Haydan ballte die Hände zu Fäusten, die einzige Reaktion, die er sich erlaubte, um seiner ihm den Verstand raubenden Wut Herr zu werden. Seine jüngste Schwester war an seine Seite getreten. Raja starrte ihn mit leeren Augen an und wartete anscheinend darauf, dass er sie tröstete. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, und doch würde Haydan ihr nicht helfen. Selbst in diesem Augenblick war es ihm unmöglich, Körperkontakt zuzulassen.

Ihr Blick wanderte zwischen ihm und dem Gefallenen hin und her. Er wusste, was sie sah. Den Unterschied zwischen den Zwillingen. Sie mochten gleich aussehen, aber dennoch war Haydan anders. Zu oft schon hatte er das ihm verhasste Abbild erblickt. Er war ein hochgewachsener Mann, sein Körper muskulös, in den Schlachten dieses Krieges gestählt. Das Gesicht männlich, kantig, brutal und finster. Allerdings fanden ihn viele durchaus gut aussehend, wenn sie ihm zum ersten Mal begegneten. Die gefährlich wirkende Aura verursachte ihnen dann allerdings Furcht und Unbehagen.

Wahrscheinlich blickten seine grünen Augen nun wie immer hart und kalt. Haydan betrachtete mit starrem Ausdruck die anderen Geschwister, die hier versammelt waren. Tief einatmend fuhr er sich durch das verschmutzte Haar. Eigentlich war es bronzefarben, doch heute klebten die Strähnen, braun vom Blut der Feinde, zusammen.

Mit einem Mal wünschte er sich so zu sein wie der Rest der Familie. Doch dies schien unmöglich, er war und blieb ein gefühlskaltes Monster.

Luca, der Älteste, hatte selbst eine Verletzung davongetragen. Aber auch in seinem Gesicht erschien dieser grimmige Ausdruck, der den Feinden ewige Rache schwor, sobald die Bestattung vollzogen war.

»Die Nargs werden bald wieder aus ihrem Berg herauskriechen, und dann sollten sie uns besser fürchten, denn ich will sie alle vernichten. Jeden einzelnen!«

Die Helfer im Zelt wickelten gerade die letzten Bandagen um den Gefallenen. Sie tränkten den Stoff mit einer brennbaren Flüssigkeit und wagten kaum, den obersten Krain anzusehen. Luca verschaffte sich allein durch sein Erscheinen stets Respekt und Loyalität.

Nachdem die Helfer fertig waren, trat einer von ihnen vor Luca, verneigte sich und bekundete sein Beileid im Namen aller anwesenden Heiler. »Wir haben unsere Arbeit vollendet, Herr. General Dorian ist nun bereit für seine letzte Reise.«

Haydan räusperte sich leise, er wollte nicht, dass sein Bruder für immer fortging. Er hätte sich gewünscht, dass sie für alle Zeiten und über den Tod hinaus gemeinsam, Seite an Seite, kämpften. Er fühlte in seinem Herzen die kalte Wut darüber, dass Dorian ihn einfach im Stich ließ. Es war nicht richtig. Kein Zwilling sollte sich auf die Reise zu den stillen Feldern machen und den anderen allein zurücklassen. Wie konnten die Nargs ihn nur so einfach töten? Dorian war ein Held und einer der größten Kämpfer ihrer Generation. Er hatte in den vergangenen Jahrhunderten schon so viele Nargs getötet. Sein Zwilling hatte ihnen das unsterbliche Leben genommen und diese Dämonen auf ewig in die Hölle zurückgeschickt, aus der sie gekommen waren.

»Herr? Können wir mit der Zeremonie beginnen?«

»Was? Selbstverständlich. Mein Bruder verdient einen würdigen Abschied und kein schnelles Hinüberschicken, weil die Nargs schon wieder vor unseren Toren lärmen.«

Luca, Haydan, Stephen, Elizza, Raja und Artan griffen nach der Bahre und trugen ihren Bruder hinaus.

Tolan schritt bleich hinter ihnen her. Er trug das Schwert und den Schild von Dorian. Haydan wollte den Mann hassen, für alles, was dieser ihm in den letzten Jahrzehnten angetan hatte. Dorian hatte Tolan immer verehrt und sich mit dem Frauenschwarm des Lagers stets wohlgefühlt. Haydan mochte den Kämpfer dagegen nie, weil dieser sich in das besondere Verhältnis der Zwillinge hineindrängte. Tolans Anwesenheit brachte neue Aspekte in die Verbundenheit der Brüder und veränderte alles.

Schweigend erreichten sie den Ort der Zeremonie. Alle Menschen im Lager waren ihnen gefolgt und verteilten sich nun im Kreis um einen riesigen Holzstapel, den die Männer aufgeschichtet hatten.

Die Träger stellten die Bahre ab und neigten zum Gebet das Haupt. Jeder sprach leise für sich die rituellen Worte, dann traten alle zurück. Ein Soldat übergab Luca eine brennende Fackel.

»Du hast deinem Volk großen Ruhm und viel Ehre bereitet, Dorian Sol Ben Krain. Gehe nun hin in das Geisterreich unserer Ahnen und werde eins mit dem Wind der Vergessenen und dem Licht der allmächtigen Sonnen. Halte die Hände schützend über uns Zurückbleibende. Friede sei mit dir, mein Bruder.«

Luca stand mit versteinertem Gesicht vor dem Leichnam seines Bruders und entzündete das trockene Holz darunter. Ein leises Seufzen ging durch die Reihe der Anwesenden. Jeder konnte die Trauer der Familienangehörigen spüren, die wie eine kalte Welle über alle Krieger hinwegschwappte.

Die kleinen Flammen fraßen sich knisternd durch das trockene Laub und die dünnen Zweige. Die sengende Hitze berührte Haydan, und er atmete den Hauch des Todes tief in seine Lunge. Erneut wünschte er sich inständig, er wäre mit seinem Zwilling gestorben.

Elizza, die älteste Schwester in der Familie, begann eine melancholische Melodie. Ihre Stimme fand den Weg in die Herzen und Seelen der Umstehenden, und die Trauer, welche von der Sängerin ausging, legte sich wie eine schwere Last auf ihre Gemüter.

Haydan fiel in den Gesang ein. Er verstärkte die Verzweiflung der Töne mit seinem tiefen Bass. Bald fühlten selbst die Tiere des Waldes und die Reittiere der Soldaten, dass etwas Schreckliches geschehen war.

Das Feuer brannte schließlich meterhoch und lodernd heiß, als sie ihren Höhepunkt erreichten. Dann plötzlich hörten sie alle einen Seufzer, der einem erlösenden Aufschrei gleichkam. In den hell brennenden Flammen erschien ein blaues Licht und stieg in den mit Sternen übersäten Himmel auf. Es schwebte dort noch einen Augenblick über ihren Köpfen und verglühte dann im Nichts. Währenddessen fiel das Feuer in sich zusammen und erlosch wie von magischer Hand ohne die Spur von Rauch.

Dorians Seele war fort. Zurück blieb die Leere und Dunkelheit der endlos erscheinenden Nacht.

Haydan wandte sich ab. Er wollte nicht, dass andere seine Trauer sahen. Nicht einmal den eigenen Geschwistern mochte er diese verborgene Seite von sich zeigen. Er galt im Allgemeinen als der Fels in der Familie. Unerschütterlich und eiskalt. Niemals zeigte er Gefühle, weder Wut, noch Glück. Freude und auch Angst kannte er nicht. Er blickte den Feinden starr in die Augen, bevor er sie ins ewige Feuer der Verdammnis zurückschickte.

Haydans Gedanken wanderten von seinem Verlust zu den Feinden, die er in Kürze vernichten würde. Die Nargs waren eine Kriegerrasse, ebenso wie die Krains. Doch diese grausamen Dämonen aus den Höhlen unter den Silbernen Bergen waren seit jeher verdorben und bösartig. Ihre pechschwarze Haut wurde von pulsierenden roten Symbolen bedeckt. Sie besaßen wolfsähnliche Schnauzen, angefüllt mit Zähnen, schärfer als Dolche. Mit ihren glühenden Augen sahen sie selbst in der finstersten Nacht, und ihr unbehaarter Körper konnte sich rasend schnell bewegen.

Sie waren groß, muskulös und sehnig. Hinzu kam, dass die Nargs gute Waffen besaßen. Diese wurden in den Feuern der Hölle geschmiedet und von ihrem Gott und Anführer gesegnet. Ein todbringendes Volk, welches man nicht unterschätzen sollte. Haydan wusste das, und er ließ sich niemals von ihnen provozieren oder aus der Ruhe bringen.

Noch eine Stunde, dann würden sie wieder hervorkommen. Die Nargs überrannten dann zu Hunderten das Schlachtfeld und versuchten, die Grenze zu überschreiten. Die Krieger der Dämonen versuchten es jede Nacht aufs Neue, und wie immer waren Krains zur Stelle, um sie zu bekämpfen.

Nur noch wenige Minuten. Haydan atmete tief durch, streckte seine Finger, umklammerte den Griff der riesigen Axt. In der anderen Hand lag das Schwert, das ihm seit vielen Jahren gute Dienste leistete.

»Bist du bereit, Bruder?« Luca stand schräg hinter ihm.

»Ich bin zu jeder Zeit einsetzbar, General!«

»Das weiß ich. Ich wollte damit nur sagen, mach keine Dummheiten da draußen, weil du vielleicht eine Wut im Bauch hast wegen Dorian!«

»Ich kenne keine Wut. Ich kämpfe, ich töte, ich siege. Das ist alles.«

Luca drückte die Schulter seines jüngeren Bruders fester, obwohl er wusste, dass Haydan sich nur selten und ungern berühren ließ. Wenn überhaupt, dann lediglich im Notfall oder an sehr guten Tagen. An schlechten konnte es sein, dass er einen Anfall erlitt oder denjenigen einfach tötete, bevor er überhaupt Fragen stellte.

»Das weiß ich auch, aber Dorian stand dir am nächsten. Er war nicht nur dein älterer Bruder, er war dein Zwilling. Die andere Hälfte deines Selbst. Wirst du es schaffen, da rauszugehen und …«

»Ich sagte doch, ich bin bereit!«

Haydan machte einen Schritt zur Seite. Er mochte es wirklich nicht, berührt zu werden. »Schon gut! Dann geh und mache uns Ehre!«

»Genau das, mein Bruder, habe ich vor.«

Weitere Worte wurden von einem dumpfen Beben übertönt. Der Silberne Berg, der an der Grenze zum Land der Krains lag, schien zu erzittern, und kleinere Gesteinsbrocken rollten krachend den Hang hinab. Ein unheilvolles Knirschen kündigte die Nargs an. Ein Spalt öffnete sich, ein Horn erklang und die Bewohner der Unterwelt strömten ins Tal.

Die Krains stürmten den Feinden entgegen, und abermals erbebte die Erde. Diesmal unter den schweren Schritten ihrer ledernen Stiefel. Schwerter trafen aufeinander, Lanzen und Schilde prallten hart zusammen. Stahl auf Stahl.

Die nächste Schlacht hatte begonnen.

Haydan kämpfte stets an vorderster Front. Wie seine Geschwister war er ein General. Ein Anführer, der ein Heer von tausend Soldaten befehligte.

Haydan stand mittendrin im Kampfgetümmel, die Sonne ging gerade auf, aber das störte weder die Horde der Nargs noch die entschlossenen Krieger der Krain. Sie wollten sich gegenseitig vernichten und den Krieg gewinnen. Die einzige Ruhephase, die sie bekamen, war die Zeit von Sonnenuntergang bis Mitternacht. In dieser Zeit gab es jeden Tag eine Kampfpause.

Haydan spürte weder seine schreienden Muskeln, die von der Anstrengung hart waren und brannten, noch den Schweiß, der ihm übers Gesicht strömte. Er hörte nicht die Scharen von Krähen, die über dem Schlachtfeld kreisten, und auch nicht die Todesschreie der Umstehenden. Wenn er kämpfte, dann war er hoch konzentriert und mit jeder Faser seines Seins angespannt.

Wie ein Berserker schwang Haydan die Axt und hielt reiche Ernte unter den Nargs. Seine Waffe fuhr todbringend in ihre schwarzen Leiber. Er schlug ihnen die Köpfe ab und mähte jeden nieder, der sich in seine Nähe wagte. Verstümmelte Leichen türmten sich vor ihm auf und seine Stiefel standen in schwarzem Blut. Ein weiterer Hieb, und der nächste Kopf flog weit über das tosende Schlachtfeld. Haydan trat einen im Weg liegenden Körper zur Seite, starrte verbissen geradeaus und packte seine bluttriefende Axt fester. Es stürmten immer mehr Nargs auf ihn zu. Haydan spürte einen Luftzug im Nacken und drehte sich blitzschnell herum. Ein riesiger schwarzhäutiger Dämon griff ihn mit einem Kriegshammer an und zerschmetterte ihm die rechte Kniescheibe.

Der Schmerz ließ Haydan taumeln, trotzdem schwang er seine Axt. Er trennte dem Angreifer mit einem Hieb den Kopf ab, erst dann ging er selbst zu Boden. Drei Nargs warfen sich auf ihn, und es entstand ein wildes Getümmel.

Ein Messer bohrte sich zwischen seine Rippen und ein Knüppel zertrümmerte seinen Knöchel am rechten Fuß.

»Verdammter Dämon!« Er revanchierte sich dafür, indem er mit seiner Faust in den Brustkorb des einen Narg stieß und dem schreienden Feind das Herz herausriss.

»Das war für meinen Bruder!« Keuchend wandte sich Haydan dem nächsten zu. Mit einem langen Messer tötete er den zweiten Narg. Dieser würde allerdings wieder erwachen, denn Haydan fehlte die Kraft, dem Schwarzen auch noch den Kopf abzuschneiden. Stattdessen warf er sich mit zusammengebissenen Zähnen auf den dritten Dämon. Dieser schnappte nach ihm, wollte ihm offenbar die Kehle zerfetzen. Haydan schlug blindlings auf den schwarzen Feind ein, bis der sich nicht mehr regte.

Um ihn herum tobte der Kampf weiter, aber er konnte nicht mehr länger aushalten. Seine Kraft war verbraucht. Schmerz pulsierte durch seinen Körper, ließ seine Gedanken langsamer kreisen und das Herz wilder schlagen. Er lag unter den Körpern der erschlagenen Feinde, mühsam versuchte er zu atmen. Sein Blut und das der getöteten Nargs klebte an seinem Körper. Die lederne Hose hing in Fetzen, und auch der stählerne Brustpanzer offenbarte ein riesiges Loch an der Stelle, wo seine Rippen saßen. Dort strömte auch der kostbare Lebenssaft heraus.

»Verdammt. Ich habe keine Zeit für solche Hindernisse!«

Ihm war schwindelig, aber er verspürte keine Angst. Selbst wenn er jetzt sterben sollte, würde er zurückkehren in seinen Körper. Ihn ärgerte nur der Zeitpunkt, denn er wollte weiterkämpfen und so viele Dämonen wie möglich vernichten.

Haydan atmete langsam und unter einigen Mühen. Er hob die Hand mit dem Messer und vollendete sein Werk, unter Schmerzen schickte er seine Feinde in den endgültigen Tod.

Lautes Summen in den Ohren und große Hitze erfüllten ihn. Die Gedanken zerfielen zu Splittern, lösten sich auf und stoben im Wind davon. Der Schlachtenlärm wurde immer leiser, dann senkte sich ein schwarzer Schleier über seine Augen, und er tat seinen letzten Atemzug.

KAPITEL 2

Kalt und unnahbar

»Ich hatte ihn gewarnt! Sagte ihm vorher, er soll nicht mehr auf seinen Bruder vertrauen, weil der nicht mehr da ist! Hat der Sturkopf auf mich gehört? Nein! Dieser arrogante Esel stürzt sich in das stärkste Getümmel und versucht die Horde der Nargs ganz allein aufzuhalten!«

»Scht, sei nicht so laut! Er kann dich sicher hören. Haydan ist schon eine ganze Weile wieder am Leben.«

»Von mir aus! Soll er doch! Ich würde ihm am liebsten in den Arsch treten! Wir haben bereits einen Bruder verloren! Er hat sich rücksichtslos verhalten, und wir mussten seinetwegen Ängste und Sorgen ausstehen!«

»Er hat überlebt, alles andere ist Nebensache.« Mit einem ärgerlichen Schnaufen antwortete der Sprecher der weiblichen Stimme, die sich vorher geäußert hatte, und entfernte sich mit energischen Schritten.

»Luca, warte!«

Haydan öffnete die Augen einen winzigen Spalt weit, gerade genug, um zu erkennen, was sich um ihn herum abspielte.

Elizza lief ihrem ältesten Bruder nach. Artan und Stephen sahen sich an und verschwanden ebenfalls. Vor der nächsten Schlacht hatten sie sicherlich noch einiges vor. Raja, die jüngere der beiden Schwestern, blieb noch einen Augenblick neben ihm stehen. Er wusste, sie liebte ihn wie keinen anderen in der Familie. Haydan war immer ihr großes Vorbild gewesen, schon als sie Kinder waren. Wahrscheinlich war sie zu Tode erschrocken, als die Truppe der Totengräber ihn hereinbrachte.

Ihr Gesichtsausdruck wurde von Angst und Entsetzen geprägt, sicher sah er furchtbar aus nach diesem geballten Angriff. Er würde weiterleben, denn man hatte ihm weder seinen Kopf abgeschlagen noch das Herz herausgerissen. Haydan schloss die Augen. Rajas Blick sprach Bände, sie würde ihm gleich gehörig die Meinung sagen.

»Ich weiß, dass du wach bist, Dan. Warum hast du zugelassen, dass sie dich töten? Das hat es seit einem Jahrzehnt nicht gegeben! Was wolltest du damit beweisen?«

»Lass mich in Ruhe, Raja. Ich muss mich ausruhen. Ich will auf jeden Fall gleich wieder hinaus!«

Die Kriegerin, die ihre roten Haare raspelkurz trug, grinste freudlos.

»Das kannst du vergessen, Luca hat dich außer Dienst gestellt, bis deine Wunden verheilt sind. Er ist stinksauer auf dich und er wird dich verprügeln, solltest du ihm widersprechen.«

Haydan winkte ab und zog sich die graue, kratzige Decke übers Gesicht. »Das werden wir ja noch sehen.«

Raja zog die Decke weg und funkelte ihn zornig an. »Wenn er es nicht tut, werde ich es persönlich übernehmen. Du verdammter Idiot! Reicht es nicht, dass wir Dorian verloren haben? Musstest du uns auch noch so erschrecken?«

»Es war nicht geplant, du Nervensäge, und jetzt hau ab.«

»Vorerst, aber ich behalte dich im Auge!«

»Was auch immer! Nur lass mich endlich allein. Ich bin müde.«

Raja verließ das Zelt, und Haydan atmete auf. Endlich waren sie alle fort.

Mühsam versuchte er sich aufzusetzen, um etwas zu trinken, aber seine Rippen schmerzten so sehr, dass er es bald aufgab. Der rechte Fuß pochte beinahe noch mehr als seine Seite, und ihm war schrecklich kalt. Er hatte vergessen, wie entsetzlich es war zu sterben. Die Nachwirkungen zeigten sich quälend, und sein ganzer Körper protestierte so sehr, dass ihm nur eines übrig blieb: ausruhen und schlafen, bis das Gröbste überstanden war.

Luca ließ ihn erst zwei Tage später wieder in die Schlacht ziehen. Haydan zeigte keine Reaktion, weder auf die Strafe noch darauf, dass er zurück aufs Schlachtfeld durfte. Drei Nächte danach starb er erneut, als er sich wieder zu sehr an vorderster Front engagierte.

Abermals bestrafte ihn Luca für seinen Leichtsinn. Haydan nahm es kommentarlos zur Kenntnis, sein Bruder war der Anführer der gesamten Armee. Ihm im Rang weit überlegen.

In der zwölften Nacht war sein Tod besonders grausam, und Haydan brauchte länger, um zu erwachen. Er lag unter einem getöteten Feind, und der prasselnde, eiskalte Regen ließ ihn zittern. Raja fand ihn schließlich und brachte ihn nach Hause.

Luca tobte und sperrte ihn fünf Tage in die Arrestzelle.

Haydan ertrug die Strafe, ging wieder aufs Schlachtfeld und wurde abermals getötet.

Die Rückkehr ins Leben traf ihn jedes Mal hart, und doch ertrug er es mit eiserner Gelassenheit. Geduldig wartete er darauf, dass er wieder zurückdurfte.

Luca ließ ihn gehen, auch als er sich Nacht für Nacht töten ließ.

Raja stand vor dem Lager, das man ihm errichtet hatte. Ihre Fäuste waren geballt, die feinen Lippen fest zusammengepresst.

»Du weißt, dass ich dich mehr liebe als jeden anderen in unserer Familie, oder, Haydan?«

»Was willst du, Schwester?«

»Antworte mir! Wir alle lieben und verehren dich. Warum, im Namen unserer großen Mutter, bist du so versessen darauf zu sterben?«

»Das geht dich nichts an, Kind.«

»Ich bin längst kein kleines Mädchen mehr, Haydan. Ich bin eine Kriegerin, und du warst mein Vorbild. Ich wollte sein wie du. Allerdings bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich es noch immer will.«

»Lass mich allein, Raja.«

Seine Schwester funkelte ihn mit wütendem Blick an. »Das hatten wir schon mal, Bruder. In unzähligen Nächten seit Dorians Tod habe ich dich gebeten, auf dich zu achten. Wirst du mir heute diesen Gefallen erweisen?«

»Ich will nur meine Schlachten schlagen und dann allein sein. Geh bitte.«

Die Nacht brach an und er schleppte sich zum Schlachtfeld. Er musste dabei sein, selbst wenn seine Geschwister es nicht verstanden. Nur so fand er die Ruhe in seinen Gedanken und konnte weiterleben. So vergingen weitere Nächte. Leben und Sterben lagen für ihn dicht beieinander, doch sie verschafften ihm nur selten Frieden.

Nichts war mehr von Bedeutung.

Haydan kämpfte bis zum Tod, und sobald er wieder erwachte, brannte er darauf zurückzukehren auf das Feld des Todes. Sein Leben war ihm nichts mehr wert, seitdem sein Zwilling fort war. Selbst die harten Strafen von Luca schreckten ihn nicht ab.

Luca gab es nach einigen Wochen auf und versuchte nur noch, Haydan davor zu schützen, den Kopf, im wahrsten Sinne des Wortes, zu verlieren. Stets hielten sich seine Geschwister in seiner Nähe auf und bewahrten ihn vor so manch grausigem Ende. Er bedankte sich nie, er wollte sterben. Endgültig und unwiderruflich. Doch das Schicksal schickte ihn nach jedem Tod gnadenlos zurück ins Leben.

Nach einem Jahr war es zur Routine geworden. Luca ließ ihn nunmehr stillschweigend gewähren.

Haydan lag in seinem Zelt und schlief nach einem weiteren Tod seiner Heilung entgegen.

Er wachte auf und hörte, wie Luca und Artan sich über ihn unterhielten.

»Wieso kann er Dorians Tod nicht überwinden? Er wird sich noch ins Unglück stürzen. Eines Tages werden wir nicht da sein können, um ihn zu retten. Was dann, Luca?«

»Dann werden wir einen weiteren Bruder verlieren, Artan.«

»Das haben wir doch längst. Sieh ihn dir doch nur einmal an. Er hat einen wilden Bart, die Haare sind so schmutzig und wirr. Es sieht aus, als habe ein Vogel darin gebrütet. Die Ränder unter seinen Augen sind schwarz, und der Blick ist so leer und kalt, wie ich ihn noch bei keinem anderen Krieger sah. Er hat seit Wochen die Kleidung nicht gewechselt, und er wird immer schweigsamer.«

»Er trauert noch immer um Dorian. Die beiden hatten eine Verbindung zueinander, die ich niemals verstehen werde. Sie mussten nicht reden, der eine wusste stets, was der andere dachte oder fühlte.«

»Zwillinge sind besondere Menschen, Luca.«

»Ja, ich weiß, doch es ist mir trotzdem ein Rätsel. Wieso ist Haydan so verschlossen? Ich erinnere mich, dass er ein fröhliches Kind war, voller Träume und verrückter Ideen. Wo ist diese Person nur geblieben?«

»Ich weiß es nicht, allerdings würde ich sie gerne einmal treffen – wenn Dan so war wie Dorian, dann muss er ein toller Kerl gewesen sein.«

»Das war er, Bruder, und ich vermisse diesen Jungen, der mich so oft zum Lachen gebracht hat.«

»Sollen wir ihn wecken?«

»Nein, lass ihn schlafen. Er wird seine Kraft brauchen, genauso wie wir alle. Der Winter steht bevor, und jedes Mal, kurz bevor er hereinbricht, sind die Nargs immer besonders bösartig. Komm mit, wir trinken einen warmen Wein und planen die Strategie für heute Nacht.«

Haydan starrte an die Decke des Zeltes. Seine Brüder wussten gar nichts. Niemand kannte ihn so gut, wie sein Zwilling ihn gekannt hatte.

Es waren nur noch wenige Stunden bis zur nächsten Schlacht. Haydan stand wie so oft am Rande des Feldes. Die Augen stur geradeaus gerichtet. Er war unendlich müde. Seit der letzten Rückkehr fühlte er noch immer eine innere Kälte, und die Wunde eines Speers in seinem Rücken brannte trotz der Behandlung wie Feuer.

»Wirst du heute vorsichtiger sein, Bruder?« Artan stand neben ihm und hielt ihm einen Krug mit Bier entgegen.

»Ich weiß es nicht. Ich gehe hinaus und werde so viele von denen töten, wie ich kann. Für Dorian. So wie er für mich gekämpft hätte.«

»Bist du dir da sicher? Ich denke, Dor hätte genau das getan, was er immer tat. Kämpfen, saufen und Weibern hinterhersteigen. Er hätte um dich getrauert, aber er wäre nicht mit dir gestorben.«

Die Hand auf Haydans Schulter fühlte sich schwer an, und sie war ihm äußerst unangenehm. Er versteifte sich, und sein Bruder nahm sie zurück.

»Tu uns den Gefallen und lebe wieder, Haydan. Erlaube uns, dir zu helfen. Verdammt! Rede mit uns! Lass deine Trauer raus!«

»Mir geht es sehr gut, Art. Ich brauche niemanden. Ich werde kämpfen, und mehr brauche ich nicht!«

Artan gab es auf, kurz sah es so aus, als wollte er seinem Bruder auf die Schulter klopfen, aber der Gesichtsausdruck des anderen ließ ihn innehalten.

Haydan verabscheute jede Art der Berührung. Er schlief auch nicht mit den Frauen im Lager, dabei war er ein durchaus gut aussehender Krieger. Er hätte freie Auswahl unter ihnen gehabt, aber keine hatte je sein Interesse geweckt. Nach und nach erwarb er sich im Lager den Ruf, ein eiskalter Frauenhasser zu sein.

Haydan starrte weiter auf den Silbernen Berg, der nur knapp zwei Kilometer weit entfernt lag. Er lauerte auf das Rumpeln der Erde und das Knirschen der Felsen, dann würde er wieder losschlagen können. Nur in diesen kurzen Augenblicken fühlte er sich lebendig und frei.

In den Momenten, wenn er kämpfte und starb, merkte er oft, dass sein Bruder dicht an seiner Seite stand. Er spürte ihn im Herzen, und sein letzter Gedanke galt ausschließlich Dorian und dem Verlangen, endgültig zu sterben.

Haydan stand reglos wie eine Statue am Rand des Schlachtfelds. Der Wind, der vom Berg ins Tal wehte, brachte kalte Luft mit sich. Es roch nach Eis und Schnee. Ein neuer Winter stand ihnen bevor, der wahrscheinlich ebenso hart und unerbittlich werden würde wie die letzten. Das Gute daran war nur, dass es in dieser Zeit weniger Angriffe der Nargs gab. Bei extremer Kälte kamen sie nur alle paar Tage aus ihren Verstecken. Die niedrigen Temperaturen lähmten ihre Kräfte, und wenn die Winterstürme übers Land bliesen, war eine Schlacht auch für sie nahezu unmöglich. Früher hatte Haydan diese Zeit genossen. Er und Dorian saßen am Feuer, erzählten sich Geschichten, analysierten ihre Kämpfe und prahlten mit ihren Siegen. Nun ja, eigentlich hatte immer nur Dor erzählt und angegeben. Haydan hörte stattdessen nur zu. Er selbst zählte zu den besten Kriegern des Lagers, aber er empfand es nie als sinnvoll, damit zu prahlen.

Dorian hatte dagegen seinen Gefühlen stets freien Lauf gelassen. Stolz, Arroganz, Zorn und Leidenschaft. Jedermann konnte dem Krieger vom Gesicht ablesen, was er gerade fühlte. Haydan brachte stattdessen nicht einmal ein echtes Lächeln zustande, geschweige denn vermochte er Gefühle zu zeigen. Selbst größter Zorn wurde bei ihm durch keine auffälligen Merkmale signalisiert. Wenn er sich über jemanden ärgerte, veränderte sich äußerlich augenscheinlich nichts. Er schlug zu, und bevor sein Gegner noch wusste, wie ihm geschah, lag er entweder verletzt auf dem Boden oder war tot.

Haydan atmete die kühle Luft langsam in seine Lunge ein. Dieser Winter würde ein Albtraum werden. Zum allerersten Mal im Leben verspürte er etwas wie Angst und Einsamkeit.

Er hatte so viel verloren und glaubte, er würde es niemals überwinden.

»Es geht wieder los!«

Raja stand plötzlich neben ihm. Sie sprühte vor Tatendrang und Energie. Ihre behandschuhte Linke legte sich auf Haydans Brust. Kurz zuckte er zusammen, aber er blieb ruhig stehen.

»Verzeih mir Bruder, ich vergaß.« Sie nahm ihre Hand zurück und zwinkerte ihm entschuldigend zu. Sie und jeder andere aus der Familie missachtete stets, dass er es nicht mochte, berührt zu werden. Vielleicht war es ihnen schlicht egal, dass er es hasste, oder sie hielten es für einen Tick. Doch die Wahrheit sah anders aus. Er hasste es nicht einfach nur so, nein, er stand bei jeder einzelnen Berührung Ängste aus, und Bilder der Vergangenheit ließen sein Herz rasen und ihm den Schweiß ausbrechen.

»Wirst du mir versprechen, diesmal etwas achtsamer zu sein?«

Haydan sah zur Seite, neben ihm versammelten sich bereits die Kämpfer seiner Einheit. Alle blickten gebannt auf den Silbernen Berg.

»Nein!«

»Dachte ich mir schon«, brachte Raja frustriert hervor. Trotzdem lächelte sie ihm zu und packte den Griff ihres Schwertes etwas fester.

Eine weitere Frage blieb ihm erspart, denn die Erde erzitterte, der Berg öffnete seine Pforten und das Horn scholl weit durchs Tal. Haydan war einer der Ersten, die das Schlachtfeld erstürmten. Er kämpfte wie ein Berserker, tötete reihenweise seine Gegner und tilgte sie vom Angesicht der Erde. Haydan war überall zugleich. Im Sprung köpfte er einen Feind, der Stephen zu nahe kam, dann rettete er einen seiner Männer, indem er ihn zur Seite stieß. Haydan schlug eine blutige Schneise durch die Reihen der Nargs und wurde selbst oft genug verwundet.

Gerade, als er sich nach einem neuen Gegner umsehen wollte, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung in seinem Rücken. Seine Schwester Elizza war jedoch schneller. Sie stieß ihn zur Seite, und mit einem lauten Kriegsschrei spaltete sie den Narg in zwei Teile. Haydan nickte ihr grimmig zu, bevor er sich erneut in den Kampf warf.

An diesem Abend starb er nicht.

KAPITEL 3

Tod und Verbannung

Kurz nach Sonnenuntergang verschwanden die Angreifer auch diesmal vom Feld, der Berg schloss sich, und es kehrte gespenstische Ruhe ein. Wie so oft halfen einige Krains ihren Verletzten zum Lager, während andere von ihnen die Gefallenen bestatteten.

Haydan betrauerte einen Freund. Tolan, einer seiner oberen Feldwebel, hatte es nicht geschafft. Sein Brustkorb war eine riesige offene Wunde, und es würde für den Krieger keine Rückkehr von den Toten geben. Das Herz fehlte, war spurlos verschwunden.

Tolan würde sich nie wieder mit den Frauen im Lager vergnügen oder Haydan mit seinem finsteren Blick betrachten, während dieser ihn verfluchte, weil er ihn zu etwas Dummem überreden wollte. Seine derben Scherze würden Haydan nie mehr verletzen oder in Verlegenheit bringen können.

Ihn und Dorian hatte eine tiefe Freundschaft verbunden, in welche Haydan zwangsläufig mit einbezogen wurde. Jetzt war auch dieser Krieger fort und würde nie wieder zurückkehren. Er bedauerte den Verlust, doch am Boden zerstört war er nicht. Er übergab den Körper den Totenwächtern und setzte sich zu seiner Schwester Raja ans Feuer.

Mitfühlend drückte die Jüngste in der Familie ihrem Bruder die Hand. Haydan zog sie sofort zurück und versteckte sie unter seinem Umhang.

»Entschuldige. Ich vergesse immer wieder, dass du es nicht leiden kannst, berührt zu werden. Es ist so seltsam, jeder mag es, denn es ist ein schönes Gefühl.«

Er brummte irgendetwas Unverständliches, bevor er sich ein Stück Brot mit Fleisch in den Mund steckte und alles mit einem großen Schluck herben Weins hinunterspülte.

»Tolan war dein Freund, nicht wahr?«

Haydan starrte blicklos ins Feuer. »Nein, schon lange nicht mehr!«

Raja wollte protestieren. Sie streckte ihre Hand aus, um ihrem Bruder das Haar aus dem Gesicht zu streichen, ließ sie jedoch sofort sinken, als sie seinen Blick bemerkte.

»Aber ich sah euch drei doch immer zusammensitzen. Dich, Dorian und Tolan. Ihr verbrachtet zusammen die Stunden am Feuer, wenn wir anderen schliefen. Und im Winter, während der großen Ruhe, spieltet ihr Karten und habt mit den Mädchen gescherzt.«

Haydan lachte trocken auf. »Raja, lass es gut sein. Tolan war schon lange nicht mehr mein Freund. Nicht, seitdem …«

Seine Schwester warf einen trockenen Ast ins Feuer, es gab ein knackendes Geräusch und der Geruch von Tannenharz strömte ihnen entgegen. Sie wirkte nachdenklich, und Haydan ahnte, dass sie seine Antwort noch nicht zufriedenstellte.

»Was hat er getan? Erzähl es mir!«, forderte sie.

Haydan bedachte sie mit einem Blick, der leer und nichtssagend wirken sollte, aber in seinem Herzen loderte ein uralter Schmerz auf. »Nein!«

»Haydan, nun sag schon!« Raja rutschte ein Stück vor und sah ihn bittend an, ihr Mund war zu einer kindlichen Schnute verzogen.

Er schloss die Augen und drückte sich kurz auf die Nasenwurzel. Eine zweite Stimme kam hinzu, und Haydan seufzte innerlich geschlagen auf.

»Er wird es dir nicht erzählen, aber ich denke, ich weiß, was los ist.«

»Niemand hat dich zu unserem Gespräch eingeladen, Stephen!«

»Oh, höre ich etwa Ärger in deiner Stimme, Bruder?«

»Nein. Es ist eine alte Geschichte. Sie ist langweilig, es ist vollkommen unnötig, sie wieder zu erzählen!«

Raja rutschte zur Seite, damit ihr zweiter Bruder sitzen konnte. »Erzähl sie mir trotzdem, Stephen. Ich brauch ein wenig Ablenkung, heute war ein schwerer Tag.«

Nach einem kurzen Blick auf seinen älteren Bruder zuckte Stephen mit den Schultern und setzte sich, zu Haydans Leidwesen, zu ihnen ans Feuer.

»Also, es ist schon etwas her, vielleicht dreißig oder sogar vierzig Perioden. Es war in einer der seltenen Pausen, und viele von uns hatten frei. Eine schreckliche Hitzewelle lähmte alles, niemand blieb von ihr verschont. Das Land verdorrte, die Flüsse trockneten aus. Selbst die Nargs blieben in ihrem Berg, und wir gingen uns alle gegenseitig auf die Nerven. Luca schickte uns fort. Wir waren in dem Dorf unten am Fluss. Haydan und Tolan sollten Nahrungsmittel besorgen. Dorian hatte den Auftrag, Wein und Arznei zu kaufen, und ich durfte sie begleiten. Wir gingen alle ins Gasthaus und dort trafen wir eine Frau. Das Mädchen war fremd bei uns. Der Wirt hielt sie für eine Spionin, also übergab er sie den Truppen. Dorian flirtete heftig mit ihr, aber sie hatte nur Augen für Tolan. Wir behielten sie im Lager, ließen sie in der Küche arbeiten. Sie war keine Spionin, sondern anscheinend nur eine verwirrte junge Frau!«

Haydan hustete und schnaubte unwillig, nur er allein wusste, dass die Geschichte damals etwas anders verlaufen war.

Stephen strich sich über seinen Kinnbart und geriet ins Schwärmen, sodass seine Augen zu leuchten begannen und er mit weicherer Stimme weitersprach.

»Sie war wirklich eine Schönheit. Helle, zarte Haut. Weizenblonde, fast weiße Haare, und ihre Augen waren kristallklar und blau wie ein Sommerhimmel. Sie war nicht wie die Kriegerinnen hier. Nein, sie hatte zierliche Arme und Beine und ein Lachen, das einem direkt ans Herz ging. Das fremde Mädchen und Tolan wurden ein Paar, und ich denke, sie haben sich sehr geliebt.«

»Mpf!« Haydan warf ein Stückchen Brot ins Feuer. »Er hat mit ihr gespielt, hat sich damit gebrüstet, dass sie ihn gewählt hat, aber als es drauf ankam, hat er sie verraten!«

»Wieso?«, wollte Raja sofort wissen, die zuvor wie gebannt an Stephens Lippen gehangen hatte. Sie schien, wie die meisten Frauen, romantisch veranlagt zu sein, und diese Liebesgeschichte gefiel ihr offensichtlich, denn sie hatte nicht ein einziges Mal dazwischengeredet.

»Charlene war jung und naiv, dazu noch verliebt, und hat nicht gesehen, was für eine Art Mann Tolan war. Er konnte nie nur einer Frau treu sein. Keiner einzigen, nicht mal ihr. Er hat sie für sich beansprucht, obwohl er genau gewusst hat, dass er ihrer bald überdrüssig sein würde. Tolan wollte sie, weil er wusste, dass ein anderer Kämpfer wahre Gefühle für sie hegte und ihr alles gegeben hätte. Der zweite Mann wäre den Bund mit ihr eingegangen und hätte sie bis in die Ewigkeit geliebt.«

»Oh Bruder, ich hatte ja keine Ahnung. Ich dachte immer, du machst dir nichts aus Frauen!«

Haydan sah immer noch mit abwesendem Blick ins Feuer und warf winzige Stückchen seines Brotes in die Flammen. »Das stimmt auch. Frauen verstehen mich nicht, und ich sie genauso wenig. Schluss aus!«

»Wie ging es denn nun weiter mit dieser Frau? Hast du ihr deine Gefühle gestanden, Dan?«

Haydan knackte mit den steifen Fingern und zog die Augenbrauen zusammen. »Ich habe nie gesagt, dass ich der andere Mann war.«

Stephen griff nach einer Weinflasche und nahm einen langen Zug daraus. Sich den roten Saft von den Lippen leckend grinste er seinen Bruder an. »War auch nicht nötig, jeder im Lager konnte damals sehen, dass du Charlie angehimmelt hast.«

»Ich habe sie niemals belästigt oder sie berührt.«

»Bruder, deine Blicke waren eindeutig genug. Der Streit und die anschließende Schlägerei mit Tolan sprachen ebenfalls dafür. Nein, Dan. Mach dir nichts vor, wir alle haben gewusst, dass du in die Fremde verliebt warst!«

»Wenn schon. Sie hatte sich entschieden.«

Stephen nahm einen weiteren Schluck Wein. »Als er sie fallen ließ, weil sie schwanger war, hast du sie gefragt, nicht wahr?«

Haydan schloss die Augen, er wollte sich nicht an diesen schrecklichen Tag erinnern. Er hatte ihn erfolgreich tief in seinem Inneren vergraben. Sechzig Winter war es her, nicht vierzig, wie sein Bruder glaubte. Wieder spürte er die Hand von Raja auf seinem Arm. Der leichte Druck ihrer Finger war für ihn kaum zu ertragen, fast hätte er sie brüsk abgeschüttelt, aber er riss sich zusammen. Niemals würde er seine wahren Gefühle zeigen. Selbst jetzt nicht.

»Was ist geschehen, Dan?«

Stephen grinste und leerte die Flasche bis auf den letzten Tropfen. »Sie hat ihn abgewiesen und damit sein Herz gebrochen.«

Haydan atmete aus. Der Stich, der ihn ins Herz traf, war noch genauso schmerzhaft wie vor sechzig Jahren. Ihre Worte taten immer noch weh.

»Du willst mit mir den Bund schließen? Du? Vergiss es! Lieber laufe ich barfuß durch das Eis über der Ebene, Haydan Sol Ben Krain! Du bist nicht besser als der heuchlerische Tolan. Nein! Ich will mit keinem von euch mehr etwas zu schaffen haben! Und erst recht nicht mit dir! Du strahlst so viel Herzenswärme aus wie ein Eisblock. Dein Gesicht ist hart wie Granit. Eher würde ich einen Ochsen in mein Bett lassen, als dass ich mich mit dir vereine! Du bist doch nur ein lausiger Abklatsch deines Bruders!«

Sie hatte ihn mit ihrem Blick durchbohrt und mit dem Finger an seine Brust gestoßen. »Männern wie Tolan oder Dorian wirst du nie das Wasser reichen können! Ich werde ganz sicher von dir keine Almosen oder Mitleid annehmen, nur weil du glaubst, ich wäre eine Frau, die sonst keinen Mann mehr abbekommen könnte, da ein anderer sie geschwängert hat!«

Dann war sie gegangen. Ein Karren brachte sie zurück ins Dorf, und Haydan stand noch lange wie versteinert an der Stelle, während er versuchte, ihre harten Worte zu vergessen. Ja, sie hatte recht. Er mochte nicht so ein charmanter Liebhaber wie Tolan oder so ein redegewandter Verführer wie Dorian sein, allerdings war auch er ein Mann, dessen Brust ein Herz mit Gefühlen innewohnte, welches sie ihm mit ihren Worten herausriss und zertrampelte.

Es dauerte einige Augenblicke, bis er blinzelte und wieder das Feuer des Lagers vor sich sah. »Nein, das hat sie nicht. Sie wollte mich nicht, sie wollte nur zurück nach Hause, und ich habe sie gehen lassen. Es war für alle Beteiligten besser, dass sie fortging.«

Stephen sah seinen Bruder scharf an. »So? Und warum hast du dann noch tagelang nach ihr gesucht?«

Haydan stand auf und wandte sich in Richtung seines Zeltes ab. »Sie war schwanger, und ich musste wissen, ob sie heil angekommen war.«

Raja strich mit dem Finger über ihre Lippe. »Und? Was ist aus ihr geworden?«

Haydan blickte sich noch einmal zu seiner Schwester um und betrachtete sie ohne Gefühlsregung, dann hob er leicht die Schultern an. »Sie verschwand. Der Wirt im Dorf sagte, sie wäre auf der Wiese am Fluss gewesen und dann verschwunden. Spurlos und für immer.«

Mit langen Schritten stapfte er davon. Keinem der anderen würde er verraten, dass es ihn noch genauso aufwühlte und verletzte wie vor sechzig Jahren. Charlene, die erste Frau, in die er sich wirklich verliebt hatte.

Er mochte damals zwar kein grüner Junge mehr gewesen sein, schon seit seinem dreizehnten Geburtstag nicht, aber das geschah nicht auf eigenen Wunsch. Haydan schüttelte sich innerlich, als er an den ersten Kontakt mit einer Frau zurückdachte. Vivian.Ein Kindermädchen aus dem Schloss seines Vaters. Sie hatte Gefallen an ihm gefunden. Er war zu jener Zeit ein hübscher, schüchterner Junge gewesen, immer nett und höflich. Haydan hatte sich von Vivian stets gern in den Arm nehmen lassen, als er noch ein kleiner unbedarfter Junge war. Seine Mutter, die Königin, verbrachte nicht viel Zeit mit ihren Kindern. Oft wirkte sie kühl und abweisend. Vivian dagegen verströmte Wärme und Geborgenheit. Am Ehrentag der Zwillinge gab sie ihm während des Essens und bei der anschließenden Feier Wein zu trinken. Er war stolz darauf, wie ein Mann behandelt zu werden, und lehnte nicht ab. Sie lockte ihn geschickt von seinen Freunden und Geschwistern fort. In seiner kindlichen Naivität dachte Haydan sich nichts dabei, der erwachsene Mann musste bei der Erinnerung daran allerdings konzentrierter atmen, um nicht seinen Mageninhalt zu entleeren. Damals lernte er, was es bedeutete mit einer Frau, das Bett zu teilen.

Vivian war danach noch häufiger in sein Zimmer gekommen, lauerte ihm überall auf, bis er davon krank wurde. Haydan wollte nichts mehr essen, redete nur noch wenig, und bei der kleinsten Berührung fing er an zu schreien oder schlug sogar um sich. Es gipfelte darin, dass er schreckliche Anfälle bekam, sobald jemand ihn anfasste. Völlig in sich zurückgezogen ertrug er die Übergriffe des Kindermädchens. Bis es ein halbes Jahr nach seinem Geburtstag endlich vorbei war. Vivian stürzte bei einem Ausritt und brach sich das Genick.

Der Reitunfall befreite ihn von ihr, aber nicht von den Nachwirkungen ihrer Taten. Haydan wurde nie wieder der Junge, der er vorher gewesen war. Eine lange Zeit lag er schwer krank in seinem Bett, völlig apathisch, und selbst die Heiler des Königs konnten ihm nicht helfen. Albträume plagten ihn, und oft hatte er hohes Fieber. Sein Zwilling war der einzige Eingeweihte in seinem Albtraum. Dorian half ihm in seinen finstersten Stunden und er war es auch der Haydan klarmachte, dass Vivian tot und begraben war. Sein Bruder nickte ihm damals verschwörerisch zu und erklärte mit eindringlicher Stimme: »Ich weiß, aber jetzt ist es vorbei. Dafür habe ich gesorgt!«

Nein, Vivian würde niemals zurückkehren. Sie war keine der Unsterblichen gewesen und somit unwiderruflich tot. Haydan hatte sich darüber gefreut. Diese Frau, die für das Wohl der Kinder verantwortlich sein sollte, nahm ihm damals etwas sehr Wertvolles auf ewig fort. Seine Unschuld, seine Reinheit und auch ein Stückchen seiner Lebensfreude, seiner Energie und seines gesamten Wesens. Seit dieser Zeit von Vivians Herrschaft über ihn, durfte ihn niemand mehr berühren, und er wurde zudem verschlossen und stoisch nach außen hin. Ein Zustand, den er nie abgelegt hatte, bis zum heutigen Tag.

Haydan legte sich im Zelt auf seine Pritsche und versuchte, noch ein wenig Schlaf zu finden. Er fühlte sich so leer wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Gedanken schweiften zu seinem Bruder. Erneut wünschte er sich, dass nicht Dorian, sondern er selbst gestorben wäre. Haydans Leben war in seinen eigenen Augen nichts wert, ganz im Gegensatz zu dem seines optimistischen Zwillings.

Ohne seinen Bruder fühlte er sich wahrhaftig nur noch wie ein halber Mensch. In Dorians Nähe hatte er wenigstens miterleben dürfen, wie schön das Leben sein konnte. Haydan sah, wie Dorian mit Freude daran teilnahm, lachte, feierte und auch, wie die Mädchen ihm scharenweise folgten. Dorian musste nie auch nur einmal allein in seinem Zelt schlafen. Auch Tolan hatte er beneidet, obwohl sie nach der Geschichte mit Charlie nie wieder so gute Freunde waren wie davor. Noch heute verstand Haydan nicht, wie der Krieger diese wundervolle Frau hatte fortschicken können. Schwanger mit einem Kind von ihm. Er kniff die Augen fest zusammen und versuchte, die Geister der Vergangenheit abzuwehren, die ihn unaufhörlich verfolgten.

Ihr leises Lachen hallte noch immer in seinen Gedanken wider.

Tolan hatte ihm selbst vorgeschlagen, er sollte sich mit Charlene vereinen, nachdem er ihrer überdrüssig geworden war. »Sie hat Spaß gemacht, aber was soll ich mit einer Frau anfangen, mit der ich nicht ins Bett gehen kann? Sie wird fett werden und rumnörgeln! Nein, wenn du sie willst, sie gehört dir!«

Haydan hatte ihm dafür einen Kinnhaken verpasst und war gegangen. Das Lachen des anderen hatte ihn verfolgt und verspottet. Zudem hatten alle gewusst, das Haydan in die Frau seines Freundes verliebt war. Auch Tolan, der sich einen derben Scherz mit seinem Freund erlaubte, denn der gut aussehende Krieger wusste genau, dass Charlene niemals Haydan erwählen würde. Sie hatte Angst vor ihm, wie sie selbst sagte. Vor ihm und dem ausdruckslosen Blick. Furcht vor den grünen Augen, die sich wie eisige Nadeln in einen Menschen hineinbrennen konnten, und seiner Abneigung gegen Berührungen. Charlie hatte oft über den Kämpfer gelacht und ihn bloßgestellt. Ja, Tolan hatte genau gewusst, dass Haydan sich zum Narren machen würde!

Unruhig drehte Haydan sich auf die andere Seite seines schmalen Lagers. Draußen konnte er die Rufe des Wachwechsels, die Geräusche der Pferde und das Lachen der Männer und Frauen, die noch an den Lagerfeuern saßen, hören. Da waren auch zwei Soldaten hinter dem Zelt, die die kurze Pause für ein wenig Zweisamkeit nutzten. Der Krieger verfluchte sein gutes Gehör und legte sich das Kissen auf den Kopf. Trotzdem nahm Haydan die Stimmen des normalen Lebens außerhalb seines Zeltes wahr und fand einfach keine Ruhe.

Die Nächte davor war er, durch seinen vorangegangenen Tod, meistens zu schwach gewesen, um den Lärm des Lagers zu bemerken, aber jetzt lag er wach, und alles stürzte erbarmungslos auf ihn ein. Der Verlust seines Bruders, die Zurückweisung der Frau, die er einst geliebt hatte, der Missbrauch durch Vivian. Alles, aber auch wirklich alles spukte durch seinen Kopf. Am liebsten hätte er laut geschrien, sie mögen Ruhe geben, diese Stimmen und Geräusche. Aber er fühlte nur sein Herz gegen die Rippen hämmern und einen enervierenden Druck im Magen.

Haydan stand auf und verließ das Zelt. Er setzte sich auf einen Felsen am Schlachtfeld und sah hinaus in die Dunkelheit. Über ihm blinkten Milliarden Sterne, aber er hatte kein Auge übrig für die atemberaubende Schönheit. Selbst der riesige Vollmond, der am Horizont den Himmel dominierte, entging seiner Aufmerksamkeit. Er starrte nur auf den Silbernen Berg und wartete darauf, das vertraute Rumpeln in der Erde zu fühlen. Er würde erst wieder Ruhe finden, wenn er seine Feinde vernichten konnte und anschließend selbst für einige wenige Augenblicke diesen süßen Frieden spürte, der ihn immer dann überkam, wenn er ein weiteres Mal starb. Er sehnte den Tod herbei, obgleich er wusste, dass er anderen damit Leid zufügte.

»Haydan?«

Eine Hand berührte seine Schulter, und er zuckte zusammen. Sie würden es nie lernen. Die Hand wurde entfernt, und eine weibliche Stimme murmelte einige beruhigende Worte. Es dauerte einen Moment, aber dann erkannte er seine Schwester Elizza.

»Es ist bald wieder so weit! Geht es dir gut?«

Nein, es ging ihm nicht gut, aber er nickte ihr dennoch zu.

»Bin wohl eingeschlafen. Hier draußen ist es angenehmer als in meinem Zelt!«

»Raja sagte, …«

Haydan stand auf, streckte sich und winkte ab. »Mir geht es gut! Das waren nur alte Geschichten. Ich habe Charlie längst vergessen. Tolan und ich, wir waren schon lange wieder Kameraden, und ich trug ihm nichts nach. Dorian zuliebe. Er und Tolan waren mehr als Freunde, sie standen sich fast so nahe wie wir. Ich hätte niemals gegen ihn sein können, ohne Dorian zu verlieren. Keine Frau wäre das je wert gewesen. Und wenn ich jetzt so zurückdenke, ist es gut so. Ich könnte nie mit einer Frau zusammenleben.«

Elizza, die eigentlich eine sehr romantische Ader besaß, auch wenn sie eine der besten Kriegerinnen im Lager war, lächelte traurig. »Du wärst ein guter Ehemann und Vater gewesen. Ich habe diese Fremde nie verstanden, dass sie Tolan gewählt hat. Dein Freund war ein arroganter, aufgeblasener Weiberheld!«

Haydan nickte ihr ernst zu. »Du warst verliebt in ihn!«

»Verdammt, ja. Ich liebte ihn, schenkte ihm meine Unschuld, und er hat mich gegen zwei andere ausgetauscht! Doch selbst dann war ich ihm noch verfallen. Alle Frauen hier sind verliebt in ihn gewesen, aber er hat nur mit uns gespielt. Charlie wollte ihn halten, indem sie sich von ihm ein Kind machen ließ, aber er hat sie trotzdem verlassen. Er war ein Schuft!«

»Sprich nicht so von ihm. Er ist gefallen für unser Land und unsere Freiheit!«

»Er war ein Idiot, und ich habe den beiden nie verziehen, wie sie dich behandelt haben! Du hattest wahre Gefühle für sie.«

»Vergiss es, Elizza, unser unsterbliches Leben besteht nur aus Kampf und Tod. Unsere Mutter hat uns geboren, damit wir in den Krieg ziehen, es sei denn, wir gehören zu den Auserwählten, dann werden wir in diesem Kloster von den Frauen verehrt und als Samenspender benutzt. Wir sorgen für den ewigen Nachschub an Kriegern, und sollten wir fallen, kommt die neue Generation, um uns zu ersetzen. Nur im Winter, wenn die Nargs ruhen, dürfen auch wir uns erholen. Das ist alles, Schwester, wir leben, um zu töten. Ein ewiger Kreislauf.«

»Du hast dich für das Leben an der Front entschieden, nicht wahr? Warum? Du hättest in diesem Kloster ein umsorgter Herr sein können.«

Ihm blieb eine Antwort erspart, denn im selben Moment ertönte das Horn, und die Erde erzitterte. Die Soldaten griffen nach ihren Waffen und rannten im Licht des Vollmonds auf die Ebene, ihren Gegnern entgegen.

Diese Schlacht war an Grausamkeit kaum zu überbieten. Überall, wo Haydan hinsah, wurde erbittert gekämpft, und er konnte kaum einen Schritt machen, ohne dass er von Gegnern überrannt wurde. Die Nargs kämpften heute besonders verbissen und heimtückisch. Bald wurde klar, diese Krieger waren nur auf eins aus: Töten ohne Gnade. An ihren Klauen glänzten silberne, messerscharfe Krallen, und die Schreie der Gefallenen waren kaum zu ertragen. Stundenlang versuchten die Krain, alles zu geben, doch diese Schlacht würden die Nargs für sich entscheiden.

Am Ende der Nacht bekam Haydan, was er wollte. Ein eiserner Schild wurde ihm so hart gegen den Kopf geschlagen, dass er in die Knie ging. Mit mehreren Speeren im Körper und einer Axt im Rücken fiel er auf die bereits blutdurchtränkte Erde. Mit letzter Kraft schlug er, noch kniend, seinem Gegner erst die Beine unterm Körper fort, dann trennte er dem Narg den Kopf von den Schultern. Er hörte Raja entsetzt seinen Namen rufen, als er zu Boden sank.

»Haydan! Nein! Helft ihm!«

Er erkannte mit verschwommenem Blick einen Schatten auf der Erde. Ein riesiger Narg stand direkt hinter ihm und holte mit einer enormen Streitaxt aus, um ihm den Kopf von den Schultern zu trennen.

»Das ist das Ende«, dachte er erleichtert, bevor es langsam dunkler wurde. Er starb und war dabei sogar beinahe glücklich. Sein letzter Gedanke galt wie immer seinem Bruder Dorian, der ihm fehlte wie nichts anderes auf der Welt. Endlich würden sie wieder vereint werden und den Rest der Ewigkeit miteinander teilen.

Aber Haydan hatte nicht mit der Entschlossenheit seiner Geschwister gerechnet. Stephen hatte den Schrei seiner Zwillingsschwester gehört. Er ritt mit seinem gepanzerten Schlachtross durch die Reihen der kämpfenden Krieger. Geschickt sprang er noch während des Ritts von seinem Pferd und stieß den Narg mit der Axt hart zu Boden. Seine Hand, die mit einem speziellen klauenbesetzten Handschuh bedeckt war, stieß durch den schwarzen Brustkorb und riss dem Feind das Herz heraus. Zornig warf er es weit von sich in den beginnenden Morgen.

Sein Fluch erscholl weit über das Tal, als er Haydan vom Boden aufhob und ihn über sein Pferd legte. Dem Tier die Sporen gebend ritt er mit donnernden Hufen zurück ins Lager.

Haydan schwebte über seinem aufgebahrten Selbst. Er sah und hörte alles, was geschah. Der Wunsch, Dorian zu sehen, wurde immer größer, doch er konnte nicht von seinem Körper fort. Etwas hielt ihn fest, er sah um sich herum Licht und nahm verschwommen Gestalten wahr. Sie riefen nach ihm, doch er verstand nicht, was sie sagten. Eine Nebelgestalt jagte die anderen fort, und auch das Licht wurde schwächer.

»Deine Zeit ist noch nicht gekommen, Haydan Sol Ben Krain. Zurück mit dir zu den Lebenden!«

Artan, der an diesem Tag nicht an den Kämpfen teilnahm, nahm seinen Bruder in Empfang und brachte ihn in sein Zelt. Er deckte den bereits erkalteten Körper zu und fuhr sich mit beiden Händen über sein Gesicht. Nach einer Weile hatten sich sein Ärger und seine Frustration über den lebensmüden Krieger gelegt. Er fing an, die Rüstung zu entfernen und den Körper zu reinigen. Er setzte sich an das Lager seines Bruders und wartete. Nach vier Stunden sah er, wie die Decke sich langsam hob und senkte. Nach einer weiteren halben Stunde vernahm er einen tiefen, enttäuschten Seufzer.

»So geht es einfach nicht weiter, Haydan! Du zerstörst nicht nur dich, sondern auch uns. Die Mädchen fürchten sich in den Kampf zu ziehen, weil sie nicht mehr mit ansehen wollen, wie du an jedem verdammten Tag dein Leben verlierst! Tu uns das nicht immer wieder an! Komm endlich zu dir! Werde vernünftig. Lebe!«

»Wofür?«

Artan ging dichter an die Pritsche heran. Er hatte die heisere, ziemlich leise Stimme seines Bruders gehört und konnte kaum glauben, was er da vernommen hatte. »Wofür? Für dich, für uns, für das Leben selbst! Es gibt so viel Schönes zu entdecken! Du musst es nur sehen wollen!«

Haydan öffnete die Augen, verschwommen und noch schwach von seiner Rückkehr blinzelte er ein paar Mal. »Du verstehst es nicht, Art, da ist nichts für mich! Früher hatte mein Leben noch einen gewissen Sinn, aber heute bin ich leer, und ich will nur noch dort sein, wo Dorian hingegangen ist!«

Artan hob die Hand, um seinen Bruder zu berühren, hielt aber im letzten Moment inne. »Du verletzt andere mit deinem Handeln! Sieh mich nicht so an! Ich weiß, dass es dir nicht egal ist, was die beiden denken. Du liebst deine Schwestern, auch wenn du es ihnen noch nie gesagt, geschweige denn jemals gezeigt hast.«

»Ich habe keine Zeit für diese Gefühlsduselei.«

Artan reichte ihm einen Weinschlauch. »Früher warst du vollkommen anders. Du warst immer still, aber du hast oft gelächelt, wenn die Mädchen dir Blumen geschenkt haben. Du hast sogar gelacht, wenn wir als Kinder mit den Hunden des Stallmeisters herumgetobt haben. Wo ist dieser Junge geblieben, Dan?«

Haydan ballte die Hände zu Fäusten, er zog die Decke wieder höher und senkte den Kopf. »Er starb, als er dreizehn wurde!«

Artan gab nicht auf, er verband in aller Ruhe Haydans Arm und lächelte ihn mitfühlend an. »Was ist damals geschehen, bevor du so krank wurdest, Dan?«

Die Stimme seines Bruders wurde weicher, Sorge und Neugier sprachen aus seinem Blick.

Haydan schloss kurz die Augen, ein Schauer schüttelte ihn und er atmete heftig aus. »Nichts. Der Haydan Sol Ben Krain, der ich war, ging verloren und ließ mich zurück.«

»Wenn du ihn wiederfindest, dann findest du auch wieder den Sinn in deinem Leben!«

Haydan richtete sich leicht zitternd auf, er wickelte sich die Decke um den bloßen Oberkörper und sah seinen Bruder ausdruckslos an. »Wozu denn? Für diesen endlosen Krieg? Wir kämpfen, wir schlafen, wir ziehen wieder hinaus auf dieses verdammte Feld des Todes. Wir leben in einer Endlosschleife. Mit Dorian war es mir erträglich, doch jetzt ist er fort, und ich weiß nicht mehr, wofür ich existiere und kämpfe.«

Artan reichte seinem Bruder einen Heiltrank und legte eine weitere Decke über den zitternden Körper des Verletzten. »Doch das weißt du. Es ist unsere heilige Aufgabe, das Land und die Menschen, die hier leben, vor den Nargs zu beschützen. Schon die ersten Kinder unserer Mutter haben diese Pflicht erfüllt. Du wolltest an die Front, es war deine eigene Wahl, Bruder. Soweit ich weiß, gab es für dich immer eine Alternative!«

Haydan wischte sich übers Gesicht, die Erinnerungen drohten an die Oberfläche zu drängen, doch er wollte sie nicht sehen. Nicht heute. Nicht nach dieser Enttäuschung. »Es gab nur den Krieg für mich, immer. Und nun ist es der endgültige Tod, den ich ersehne.«

»Verdammt Haydan!« Artan warf zornig den leeren Weinschlauch in die Ecke. »Kämpfe endlich wieder. Wir brauchen dich. Erfülle deine Pflicht und bereite uns nicht noch mehr Probleme! Kämpfe für unsere Mutter. Für unser schönes Land.«

»Für unser Land? Ich sehe nichts von unserem Land, außer dem Feld der Toten.«

Haydan starrte seinen Bruder an und wünschte sich, Artan würde verschwinden. Er verstand ihn einfach nicht.

»Bitte Dan, unsere Welt ist schön. Eines Tages ist der Krieg vorüber, und du wirst eine liebende Frau finden und dich mit ihr zur Ruhe setzen.«

»Eine Frau? Du hast es immer noch nicht verstanden, Artan. Es gibt für mich keine Frau sie existiert nicht. Wer würde auch mit einem seelischen Krüppel den Bund eingehen?«

»Du bist ein solcher Dummkopf, Haydan! Ich kann dir sagen, wofür du leben sollst, du gleichgültiger Klotz. Für uns. Für deine Familie, weil du uns nicht egal bist. Diesmal hast du das Fass zum Überlaufen gebracht. Raja hatte schreckliche Angst um dich und hat deswegen beinahe ihren Kampf verloren. Elizza steht unter Schock, und Stephen tobt vor Zorn, weil er es fast nicht rechtzeitig geschafft hätte, dich zu erreichen! Von Luca wage ich kaum zu sprechen.«

Haydan sah auf, seine Miene war noch immer reglos und leer. Warum konnten seine Geschwister ihn nicht gehen lassen? Er war doch ein gefühlskaltes Monster, das niemandem nutzte.

Ein Schatten fiel auf sein Lager, und er schaute zur Tür. Luca stand breitbeinig im Eingang des Zeltes. Die hart blickenden Augen sprühten in einem grünen Feuer, und jede Faser seines Körpers war angespannt.

»Warum du leben sollst, du sturer Idiot? Ich sage es dir! Du sollst leben, weil es deine verdammte Pflicht ist weiterzuleben, während Dorian gehen musste. Du musst jetzt für ihn mitleben! Ansonsten ist er umsonst gestorben, denn so, wie ich ihn kannte, würde er nicht wollen, dass du dich gehen lässt.«

»Luca, ich …« Haydan drückte die Schultern durch.

»Sei still, ich bin noch nicht fertig!« Der etwas größere Krieger, der im Rang und Alter über seinem Bruder stand, funkelte böse zu ihm hinüber.