Der Schrei der Eule - Patricia Highsmith - E-Book

Der Schrei der Eule E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

Ein Mann beobachtet nach Büroschluß ein junges Mädchen beim Kochen. Er stellt sich ins schützende Dunkel und schaut. Indem er ein einziges Mal zu nah ans Haus herantritt, wird er entdeckt und in dieses scheinbar idyllische Leben, das er nur aus der Entfernung sehen wollte, unentrinnbar hineingesogen. Ein Roman über die Unmöglichkeit der Liebe, vermeintliche und echte Verrücktheit und die Unvermeidbarkeit des Bösen.

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Patricia Highsmith

Der Schrei der Eule

Roman

Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Der Schrei der Eule

Für D.W.

1

Robert arbeitete nach Dienstschluß um fünf noch fast eine Stunde. Es gab für ihn keinen Grund, nach Hause zu eilen, und wenn er noch an seinem Zeichentisch sitzen blieb, ersparte er sich das Autogewühl auf dem Parkplatz zwischen fünf und halb sechs, wenn sich die Angestellten von Langley Aeronautics auf den Heimweg machten. Jack Nielson arbeitete auch länger, wie Robert feststellte, und ebenso der alte Benson, der ohnehin meistens der letzte war. Robert schaltete seine Neonlampe aus.

»Warte auf mich«, sagte Jack. Seine Stimme hallte dumpf durch das leere Zeichenbüro.

Robert holte seinen Mantel aus dem Spind.

Sie verabschiedeten sich von Benson und gingen durch die längliche, verglaste Empfangshalle zu den Aufzügen.

»Na, jetzt hast du ja deine Astronautenschuhe«, sagte Robert.

»Hmm.« Jack blickte auf seine großen Füße hinunter.

»Beim Lunch hattest du sie aber nicht an, oder?«

»Nein, sie waren im Spind. Man soll sie anfangs nur ein paar Stunden am Tag tragen.«

Sie betraten den Lift.

»Sehen gut aus«, meinte Robert.

Jack lachte. »Scheußlich sehen sie aus, aber dafür sind sie unheimlich bequem. Übrigens, ich wollte dich noch was fragen. Kannst du mir bis zum Ersten zehn Dollar borgen? Heute ist zufällig …«

»Aber klar.« Robert zog seine Brieftasche heraus.

»Heute ist unser Hochzeitstag. Betty und ich gehen essen, aber komm doch vorher noch auf einen Drink vorbei. Wir machen eine Flasche Schampus auf.«

Robert gab ihm das Geld. »Euer Hochzeitstag … den solltet ihr lieber alleine feiern.«

»Ach, komm schon. Nur auf ein Glas Sekt. Ich habe Betty versprochen, dich zu überreden, daß du auf einen Sprung mitkommst.«

»Nein, danke, Jack. Bist du sicher, daß du nicht mehr brauchst, wenn ihr ausgehen wollt?«

»Ganz sicher. Ich brauch das nur für die Blumen. Sechs Dollar würden auch reichen, aber zehn kann man sich besser merken. Ich hab dich auch nur angepumpt, weil heute die letzte Rate für die Schuhe fällig ist. Fünfundsiebzig Dollar! Dafür dürfen sie wirklich bequem sein. Jetzt komm schon, Bob.«

Sie standen auf dem Parkplatz. Robert wollte nicht mitkommen, aber es fiel ihm keine gute Ausrede ein. Er betrachtete Jacks längliches, im Grunde häßliches Gesicht unter dem kurzgeschorenen schwarzen Haar, das allmählich grau wurde. »Der wievielte Hochzeitstag ist es denn?«

»Der neunte.«

Robert schüttelte den Kopf. »Ich fahr nach Hause, Jack. Grüß Betty schön von mir, ja?«

»Was hat denn der neunte damit zu tun?« rief Jack ihm nach.

»Nichts! Wir sehen uns morgen!«

Robert stieg in seinen Wagen und fuhr vor Jack los. Jack und Betty hatten ein bescheidenes, unauffälliges Häuschen in Langley und waren ständig in Geldnöten, weil Jacks Mutter und Bettys Vater andauernd krank wurden. Kaum hatten sie ein bißchen Geld für einen Urlaub oder eine Schönheitsreparatur am Haus beisammen, konnte man sich laut Jack darauf verlassen, daß es für einen der beiden draufging. Aber Betty und Jack hatten ein fünfjähriges Töchterchen und waren glücklich.

Die Dunkelheit brach so rasch herein, daß man fast zusehen konnte. Sie wälzte sich heran wie eine schwarze See. Als Robert an den Motels und Hamburger-Buden am Stadtrand von Langley vorbeikam, merkte er, daß ihm davor graute, in die Stadt hinein und nach Hause zu fahren. An einer Tankstelle wendete er und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Es liegt nur an der Dämmerung, dachte er. Er mochte sie nicht einmal im Sommer, wenn sie langsamer hereinbrach und erträglicher war. Im Winter, hier in dieser kahlen Landschaft Pennsylvanias, die er nicht gewohnt war, überfiel sie einen so plötzlich, daß einem angst werden konnte. Wie ein unerwarteter Tod. Am Wochenende, wenn er nicht arbeitete, zog er um vier Uhr nachmittags die Rollos herunter und machte das Licht an, und wenn er gute zwei Stunden später wieder aus dem Fenster sah, war die Dunkelheit einfach da, eine vollendete Tatsache. Robert fuhr nach Humbert Corners, eine kleine Stadt etwa neun Meilen von Langley entfernt, und nahm dann eine schmale Schotterstraße, die aufs Land hinaus führte.

Er wollte das Mädchen wiedersehen. Vielleicht zum letzten Mal, dachte er. Aber das hatte er schon oft gedacht, und bisher war kein Mal das letzte Mal gewesen. Er fragte sich, ob das Mädchen der Grund war, weshalb er heute länger als üblich gearbeitet hatte; ob er so lange dageblieben war, um sicherzugehen, daß es dunkel war, wenn er sich auf den Weg machte.

Robert stellte den Wagen auf einem Waldweg in der Nähe des Hauses ab, in dem das Mädchen wohnte, und ging zu Fuß weiter. An der Einfahrt verlangsamte er seine Schritte, ging bis zu dem umgefallenen Basketballbrett am Ende der Einfahrt und daran vorbei auf die angrenzende Wiese.

Die junge Frau war wieder in der Küche. An der Rückseite des Hauses zeichneten sich die Fenster als zwei erleuchtete Quadrate ab. Hin und wieder durchquerte sie eines davon, doch die meiste Zeit hielt sie sich im linken auf, wo der Tisch stand. Robert empfand das Fenster wie den begrenzten Bildausschnitt im Sucher einer Kamera. Er wagte sich nur selten näher ans Haus heran, weil er befürchtete, von ihr entdeckt und von der Polizei als Herumtreiber oder Spanner verhaftet zu werden. Doch heute abend war es stockdunkel. Langsam pirschte er sich ans Haus heran.

Es war heute das vierte oder fünfte Mal, daß er hierherkam. Das erste Mal hatte er das Mädchen an einem Samstag gesehen, einem strahlenden, sonnendurchfluteten Samstag Ende September, an dem er ziellos durch die Gegend gefahren war. Sie hatte einen kleinen Teppich auf der Veranda ausgeschüttelt, als er hier vorbeikam, und obwohl er sie nur etwa zehn Sekunden lang gesehen hatte, war ihm die Szene sehr vertraut vorgekommen, wie ein Bild oder eine Person, die er von irgendwoher kannte. Aus den Pappkartons auf der Veranda und den fehlenden Gardinen an den Fenstern schloß er, daß sie gerade erst eingezogen war. Es war ein zweistöckiges Haus, weiß mit braunen Fensterläden und Fensterrahmen, und es brauchte dringend einen neuen Anstrich; der Garten war verwildert und der weiße Metallzaun entlang der Einfahrt windschief und teilweise eingefallen. Das Mädchen hatte brünettes Haar und war relativ groß. Das war so ziemlich alles, was sich aus rund zwanzig Meter Entfernung feststellen ließ. Ob sie hübsch war oder nicht, konnte er nicht beurteilen, und darum ging es ihm auch gar nicht. Aber worum dann? Robert hätte es nicht in Worte fassen können. Doch als er das Mädchen zum zweiten und, zwei oder drei Wochen später, zum dritten Mal gesehen hatte, war ihm klargeworden, was ihm an ihr gefiel: ihre ruhige Gelassenheit, ihre offensichtliche Liebe zu dem heruntergekommenen Haus, ihre spürbare Zufriedenheit mit dem Leben, das sie führte. All das konnte er durch das Küchenfenster erkennen.

Gut drei Meter vom Haus entfernt blieb er stehen, ein Stück neben dem Lichtfleck, der aus dem Fenster fiel. Er sah sich nach allen Seiten um. Das einzige andere Licht, das er entdecken konnte, befand sich genau hinter ihm, auf der anderen Seite des langen Feldes, vielleicht eine halbe Meile weit weg, ein einsames Licht im Fenster eines Bauernhauses. In der Küche deckte das Mädchen den Tisch für zwei, was wohl bedeutete, daß ihr Freund zum Essen kam, ein großer Bursche mit schwarzem gewelltem Haar. Robert hatte ihn zweimal gesehen. Einmal hatten sie sich geküßt. Vermutlich liebten sie sich und wollten heiraten. Hoffentlich wurde das Mädchen glücklich. Robert schob sich näher an die Hauswand heran, ohne die Füße zu heben, um nicht auf einen Zweig zu treten. Dann blieb er hinter einem kleinen Baum stehen und hielt sich mit einer Hand an einem Ast fest.

Heute abend gab es gebratenes Huhn. Auf dem Tisch stand eine Flasche Weißwein. Das Mädchen trug vorsorglich eine Schürze, doch auf einmal zuckte es zurück und rieb sich das Handgelenk, auf dem ein paar Spritzer heißes Fett gelandet waren. Robert konnte hören, daß aus dem kleinen Radio in der Küche Nachrichten kamen. Beim letzten Mal hatte das Mädchen eine Melodie mitgesungen. Ihre Stimme war weder gut noch schlecht, sondern einfach natürlich und ungekünstelt. Sie war etwa einssiebzig groß, eher kräftig gebaut, mit ziemlich großen Füßen und Händen. Er schätzte sie auf zwanzig bis fünfundzwanzig. Ihr Gesicht war glatt und makellos, anscheinend runzelte sie nie die Stirn, und das sanft gewellte brünette Haar und reichte ihr bis auf die Schultern. Es war in der Mitte gescheitelt und wurde von zwei goldenen Spangen über den Ohren nach hinten gehalten. Ihr Mund, breit und schmallippig, hatte für gewöhnlich denselben kindlich ernsten Ausdruck wie ihre grauen, ziemlich kleinen Augen. Auf Robert wirkte sie wie aus einem Guß, wie eine wohlproportionierte Statue. Und obwohl ihre Augen zu klein waren, paßten sie zum Rest, so daß ein Gesamteindruck entstand, den er wunderschön fand.

Wenn Robert sie nach zwei oder drei Wochen wieder sah, ergriff ihn ihr Anblick jedesmal derart, daß sein Herz einen Schlag aussetzte und dann ein paar Sekunden lang schneller schlug. Eines Abends vor etwa einem Monat war es ihm vorgekommen, als würde sie ihn durchs Fenster direkt ansehen, und in dem Moment schien sein Herz stillzustehen. Er hatte ihrem Blick standgehalten, ohne Angst, ohne zu versuchen, sich durch Reglosigkeit zu tarnen; vielmehr sah er sich in diesen paar Sekunden mit der unangenehmen Erkenntnis konfrontiert, daß er zu Tode erschrocken war und in den nächsten Minuten womöglich schlagartig alles aufflog: Sie würde die Polizei rufen, würde ihn von Kopf bis Fuß mustern, er würde als Herumstreuner festgenommen, und das wäre dann das Ende der absurden Geschichte. Doch zum Glück hatte sie ihn nicht bemerkt; daß sie durchs Fenster genau in seine Richtung sah, war offenbar reiner Zufall gewesen.

Sie hieß Thierolf – der Name stand auf dem Briefkasten vorn an der Straße –, mehr wußte er nicht über sie. Außer daß sie einen hellblauen Volkswagen fuhr. Da das Haus keine Garage hatte, stand er in der Einfahrt. Robert hatte nie versucht, ihr am Morgen zu folgen, um festzustellen, wo sie arbeitete. Denn eines war klargeworden: Es hing mit dem Haus zusammen, daß er ihr so gerne zusah. Er mochte ihre Häuslichkeit, mochte das sichtliche Vergnügen, mit dem sie Vorhänge anbrachte und Bilder aufhängte. Am liebsten beobachtete er sie beim Hantieren in der Küche – ein Glück, daß die Küche drei Fenster hatte, vor denen mehrere Bäume standen, die ihm Deckung gaben. Außerdem stand auf dem Grundstück ein kleiner, zwei Meter hoher Geräteschuppen, dazu das umgefallene Basketballbrett am Ende der Einfahrt, hinter dem er sich einmal versteckt hatte, als ihr Freund mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf das Haus zugefahren war.

Einmal hatte Robert gehört, wie sie ihm »Greg! Greg!« nachrief, als er aus dem Haus ging. »Butter bräuchte ich auch noch! Mein Gott, ich habe ein Gedächtnis wie ein Sieb!« Und Greg war mit seinem Auto losgefahren, um die vergessenen Sachen zu besorgen.

Robert legte den Kopf an seinen Arm und warf einen letzten Blick auf das Mädchen. Sie war mit den Vorbereitungen fertig und lehnte sich mit überkreuzten Füßen an die Anrichte neben dem Herd; dabei blickte sie starr und geistesabwesend auf den Boden, als betrachtete sie etwas in meilenweiter Ferne. In den Händen, die locker, fast schlaff vor ihrem Körper hingen, hielt sie ein weißblaues Geschirrtuch. Dann lächelte sie plötzlich und stieß sich von der Anrichte ab, faltete das Tuch einmal und hängte es über einen der drei ausschwenkbaren Stäbe an der Wand neben der Spüle. Robert hatte sie an dem Abend beobachtet, an dem sie den Handtuchhalter montiert hatte. Jetzt ging sie direkt auf das Fenster zu, vor dem Robert stand; ihm blieb gerade noch Zeit, hinter den kleinen Baum zu treten.

Es war ihm zuwider, sich wie ein Verbrecher zu benehmen – und ausgerechnet jetzt trat er auf so einen verfluchten Zweig! Er hörte ein Klicken am Fenster und wußte sogleich, was es war – eine ihrer Haarspangen hatte die Scheibe berührt. Einen Moment lang schloß er beschämt die Augen. Als er sie wieder aufmachte, hatte das Mädchen den Kopf seitlich an die Fensterscheibe gelegt und spähte in die andere Richtung, zur Einfahrt hin. Robert warf einen Blick auf das Basketballbrett und überlegte, ob er schnell dahinter verschwinden sollte, bevor sie aus dem Haus kam. Dann hörte er, wie das Radio lauter gedreht wurde, und lächelte. Wahrscheinlich hatte sie Angst und stellte das Radio lauter, um Gesellschaft zu haben. Eine unlogische und dennoch sehr verständliche und sympathische Reaktion. Es tat ihm leid, daß er ihr Angst eingejagt hatte. Und nicht zum ersten Mal. Er stellte sich beim Anschleichen recht ungeschickt an. Einmal war er mit dem Fuß an einen alten Zehnliterkanister gestoßen, und das Mädchen, das allein war und sich im Wohnzimmer die Nägel feilte, war aufgesprungen, hatte die Haustür einen Spaltbreit geöffnet und gerufen: »Wer ist da? Ist da jemand?« Dann hatte sie die Tür geschlossen und den Riegel vorgeschoben. Und als beim letzten Mal, an einem windigen Abend, ein Zweig über die Schindeln an der Hauswand schrappte, war sie ans Fenster gegangen, hatte die Ursache des Geräuschs zwar entdeckt, sich aber, ohne etwas zu unternehmen, wieder vor den Fernseher gesetzt. Doch das Kratzen ging weiter, bis Robert schließlich das Ästchen packte und nach unten bog. Dann war er gegangen; zurück blieb das abgeknickte, nicht aber abgebrochene Ästchen. Angenommen, sie hatte es später bemerkt und ihren Freund darauf aufmerksam gemacht?

Robert mochte sich gar nicht vorstellen, wie schändlich es gewesen wäre, beim Herumspionieren ertappt zu werden. Normalerweise beobachteten Spanner Frauen beim Ausziehen. Und angeblich hatten sie noch andere anstößige Gewohnheiten. Doch was er verspürte, war eher eine Art quälender Durst, der gestillt werden mußte. Er mußte sie einfach sehen, mußte sie beobachten. Nachdem er sich das eingestanden hatte, gestand er sich auch ein, daß er notfalls das Risiko auf sich nehmen wollte, eines Abends erwischt zu werden. Er würde seinen Job verlieren. Seine nette Vermieterin, Mrs. Rhoads, würde entsetzt sein und ihn auf der Stelle aus den Camelot Apartments hinauswerfen. Und dann die Kollegen im Büro … Von Jack Nielson einmal abgesehen, konnte Robert sich ohne weiteres vorstellen, wie sie einander zuraunten: »Hab ich’s nicht gleich gesagt, daß dieser Kerl irgendwie komisch ist? Hat ja auch kein einziges Mal mit uns gepokert.« Dieses Risiko mußte er eingehen. Auch wenn kein Mensch jemals verstehen würde, daß der Anblick einer jungen Frau, die ruhig ihre alltägliche Hausarbeit verrichtete, auch ihn ruhiger werden ließ, ihm vor Augen führte, daß das Leben für manche Menschen einen Sinn hatte und Freude machte, und daß ihn dieser Anblick beinahe dazu verleitete zu glauben, er könnte sich diesen Sinn und diese Freude zurückerobern. Dieses Mädchen half ihm dabei.

Robert schauderte, wenn er daran dachte, in welcher psychischen Verfassung er im vergangenen September nach Pennsylvania gekommen war. Noch nie war er so deprimiert gewesen, und es kam ihm allen Ernstes so vor, als würde das letzte Restchen Optimismus und Willenskraft, das letzte Restchen Verstand, das er noch besaß, aus ihm herausrieseln wie die letzten paar Sandkörnchen in einem Stundenglas. Er zwang sich dazu, alles nach einem genauen Zeitplan zu erledigen: essen, sich einen Job suchen, schlafen, baden und rasieren, dann wieder von vorne nach Plan, sonst wäre er zusammengebrochen. Vermutlich hätte Dr. Krimmler, sein New Yorker Psychotherapeut, dieses Vorgehen gebilligt. Mit ihm hatte er einige Gespräche über dieses Thema geführt. Robert: »Ich habe ganz deutlich das Gefühl, wir würden allesamt durchdrehen, wenn nicht jeder von uns andauernd aufpassen würde, was die anderen machen. Ohne feste Verhaltensregeln wüßte kein Mensch, wie er leben soll.« Dr. Krimmler, ernsthaft und eindringlich: »Diese Reglementierung, von der Sie immer wieder sprechen, ist keine Reglementierung. Vielmehr sind es die Gewohnheiten, die sich die menschliche Spezies über Jahrhunderte hinweg zu eigen gemacht hat. Nachts schlafen wir, und am Tag arbeiten wir. Drei Mahlzeiten sind besser als eine oder sieben. Diese Gewohnheiten sorgen dafür, daß wir geistig gesund bleiben; in der Beziehung haben Sie recht.« Aber ganz befriedigend war diese Erklärung nicht.

Was ist unter dieser Oberfläche? wollte Robert wissen. Das Chaos? Das Nichts? Das Böse? Pessimismus und Depressionen, die vielleicht durchaus gerechtfertigt waren? Oder einfach der Tod, ein Aufhören von allem, eine so erschreckende Leere, daß niemand gerne darüber redete? Er war bei Krimmler nicht sehr gesprächig gewesen, obwohl es ihm vorkam, als hätten sie eigentlich nur geredet und diskutiert und nur sehr selten geschwiegen. Aber schließlich war Krimmler Psychotherapeut und kein Analytiker. Jedenfalls hatten ihm seine Ausführungen weitergeholfen. Robert hatte seine Ratschläge befolgt und sich streng an die Vorschriften gehalten, und er war überzeugt, daß ihm das sogar geholfen hatte, mit den Telefonanrufen von Nickie umzugehen, die ihn irgendwie aufgespürt hatte – entweder über die Telefongesellschaft oder über einen ihrer gemeinsamen Freunde in New York, denen Robert seine Nummer gegeben hatte.

Ohne sich umzusehen, entfernte sich Robert aus dem Schutz des Bäumchens und ging um das Lichtviereck, das aus dem Fenster fiel, in Richtung Einfahrt. In dem Augenblick krochen von rechts zwei Scheinwerfer die Straße entlang. Mit zwei Sätzen war Robert am Basketballbrett und duckte sich dahinter, bevor das Auto in die Einfahrt bog. Das Licht der Scheinwerfer flutete zu beiden Seiten des zwei Meter breiten Schutzschilds an Robert vorbei, der sich bei dem Gedanken an die Ritzen in den alten Holzbrettern so deutlich sichtbar fühlte, als würde sich seine Gestalt als dunkle Silhouette auf dem Brett abzeichnen.

Die Scheinwerfer erloschen, die Autotür ging auf, dann die Haustür.

»Hallo, Greg«, rief das Mädchen.

»Hallo, Schatz. Tut mir leid, daß ich zu spät komme. Dafür habe ich dir einen Blumenstock mitgebracht.«

»Aah, vielen Dank, Greg. Der ist aber schön!«

Ihre Stimmen verloren sich, verstummten, sobald sich die Tür schloß.

Robert seufzte, weil er nicht sofort gehen wollte, obwohl jetzt, solange ihre Aufmerksamkeit dem Blumenstock galt, der günstigste Zeitpunkt gewesen wäre. Er hatte Lust auf eine Zigarette. Und er war völlig durchgefroren. Dann hörte er, wie ein Fenster hochgeschoben wurde.

»Wo? Da draußen?« fragte Greg.

»Genau hier, glaube ich. Aber gesehen hab ich nichts.«

»Na ja, der heutige Abend ist für so was ideal«, sagte Greg vergnügt. »Schön dunkel. Vielleicht tut sich ja was.«

»Nicht wenn du den Betreffenden immer wieder verjagst«, gab die junge Frau lachend zurück; sie sprach genauso laut wie ihr Freund.

Sie wollen gar niemanden entdecken, dachte Robert. Wer wollte das schon? Die Männerschuhe trampelten über die kleine Veranda seitlich am Haus. Greg machte anscheinend einen Rundgang ums Haus. Erleichtert stellte Robert fest, daß er keine Taschenlampe dabeihatte. Aber vielleicht ging er doch noch um das Basketballbrett herum. Das Mädchen schaute aus dem Fenster, das etwa drei Handbreit offenstand. Greg kehrte von seiner Runde ums Haus zurück und trat durch die Hintertür in die Küche. Das Fenster wurde heruntergelassen, dann schob Greg es wieder hoch, nicht ganz so weit wie zuvor, und wandte sich ab. Robert kam hinter dem Basketballbrett hervor und ging betont selbstbewußt auf das offene Fenster zu – als wollte er sich beweisen, daß er keineswegs eingeschüchtert war, nur weil er ein paar Minuten in Deckung hatte gehen müssen. Er stand genau an derselben Stelle wie zuvor, auf der anderen Seite des Baumes etwa einen Meter vom Fenster entfernt. Das ist purer Leichtsinn, dachte er. Leichtsinn und Angeberei.

»… die Polizei«, sagte Greg in gelangweiltem Ton. »Aber erst seh ich mich noch mal um. Ich werde unten im Wohnzimmer schlafen, Schatz, dann bin ich schneller draußen, wenn es sein muß. Hose und Schuhe behalte ich an, und wenn ich jemanden erwische …« Er schnitt eine wilde Grimasse und hob beide Fäuste vors Gesicht.

»Möchtest du vielleicht ein dickes Holzscheit zum Zuschlagen?« fragte das Mädchen lächelnd und mit sanfter Stimme, als hätte sie seine gewaltsame Drohung gar nicht wahrgenommen. Dennoch hatte Robert den Eindruck, daß sie zu den jungen Frauen gehörte, die auch dann noch lächeln und gelassen wirken, wenn sie sich Sorgen machen – und das gefiel ihm. Sie erschien ihm nie nervös. Das mochte er so an ihr. Sie sagte etwas, was er nicht verstehen konnte, aber bestimmt ging sie ins Wohnzimmer, um Greg das Holzscheit zu zeigen, von dem sie gesprochen hatte. Dort stand neben dem Kamin ein mit Holz und Spänen gefüllter schwarzer Kohleneimer.

Gregs Lachen tönte jetzt laut und selbstbewußt aus dem Wohnzimmer.

Robert zuckte die Achseln und lächelte. Dann knöpfte er seinen Regenmantel auf, schob die Hände in die Hosentaschen und entfernte sich mit erhobenem Kopf.

Das Mädchen wohnte an der Conarack Road, auf der man – schnurgerade, aber über mehrere Hügel – nach sechs Meilen nach Humbert Corners gelangte, wo sie vermutlich arbeitete. Robert durchquerte den kleinen Ort auf der Rückfahrt nach Langley, wo er selbst wohnte. Langley, am Delaware River gelegen und sehr viel größer als Humbert Corners, war bekannt, weil es dort ein Einkaufszentrum und den größten Gebrauchtwagenhändler im Umkreis gab – und auch wegen der Firma Langley Aeronautics, die Bauteile für Sportflugzeuge und Hubschrauber herstellte. Robert arbeitete dort seit Ende September als Ingenieur. Es war kein besonders interessanter Job, aber recht gut bezahlt, und bei Langley Aeronautics war man froh gewesen, Robert dafür zu gewinnen, weil er aus der oberen Etage einer renommierten New Yorker Firma kam, die neue Designs für Toaster, elektrische Bügeleisen, Radios, Kassettenrecorder und so gut wie alle in amerikanischen Haushalten vorhandenen Apparate und Geräte entwickelte. Robert hatte noch einen anderen Auftrag aus New York mitgebracht – die Fertigstellung einer Serie von rund zweihundertfünfzig detaillierten Zeichnungen von Insekten und Spinnen, mit denen ein junger Franzose für einen gewissen Professor Gumbolowski begonnen hatte. Peter und Edna Campbell, Freunde von Robert, hatten ihn mit dem New Yorker Professor bekannt gemacht und darauf bestanden, daß er gleich zum ersten Treffen seine Schwertlilienbilder mitbrachte. Der Professor hatte einige Zeichnungen für sein Buch dabei, das bereits bei einem amerikanischen Verleger unter Vertrag war. Der junge Franzose, der mit den Zeichnungen angefangen und mehr als die Hälfte fertiggestellt hatte, war ganz plötzlich gestorben. Für Robert war das an sich schon Grund genug, den Auftrag abzulehnen – nicht daß er abergläubisch gewesen wäre, aber die Situation war irgendwie deprimierend, und von deprimierenden Dingen hatte er die Nase voll. Außerdem fand er Insekten und Spinnen nicht sonderlich reizvoll. Aber der Professor war entzückt von den Irisblüten, die Robert, angeregt durch einen Blumenstrauß in seiner alten Wohnung, irgendwann zum Spaß gezeichnet hatte, und vertraute darauf, daß er die Zeichnungen ganz im Stil des Franzosen würde fertigstellen können. Noch ehe der Abend um war, hatte Robert den Auftrag angenommen. Er unterschied sich grundlegend von allem, was er bisher gemacht hatte, aber schließlich versuchte er ohnehin, sich ein »neues« Leben aufzubauen. Er hatte sich von Nickie getrennt und wohnte vorerst in einem Hotel in New York, er hatte vor, demnächst bei seiner Firma zu kündigen, und er war auf der Suche nach einer anderen Stadt, einem neuen Wohnsitz. Das Insektenbuch zog womöglich weitere Aufträge dieser Art nach sich. Wer weiß, vielleicht sagte ihm die Arbeit ja zu, vielleicht fand er sie auch schrecklich – man würde sehen. Auf diese Weise war er zunächst nach Rittersville in Pennsylvania gekommen, wo er sich zehn Tage umsah, ohne jedoch eine geeignete Arbeit zu finden; danach war er nach Langley weitergezogen, um die Möglichkeiten bei Langley Aeronautics zu erkunden. Die Stadt war kleiner als Rittersville und langweilig, aber er bereute es nicht, New York den Rücken gekehrt zu haben. Obwohl man sein altes Ich überall mit hinnehmen muß, bedeutete eine Ortsveränderung immerhin eine Veränderung, und die tat ihm gut. Er sollte für die Zeichnungen achthundert Dollar bekommen und hatte dafür bis Ende Februar Zeit. Robert nahm sich ein Pensum von vier Zeichnungen pro Woche vor. Er zeichnete anhand detaillierter, aber grober Skizzen des Professors und vergrößerter Fotos. Robert stellte fest, daß ihm die Arbeit Spaß machte und ihm zudem half, die langen Wochenenden zu überstehen.

Als Robert von Osten nach Langley hineinfuhr, kam er an »Red Redding’s Used Car Riots«, dem größten Gebrauchtwagenhändler der Gegend, vorbei. Hier standen Hardtops und Cabrios dicht gedrängt in quadratischen Blöcken beisammen, gespenstisch erleuchtet von ein paar Straßenlaternen auf den gepflasterten Wegen, die das Gelände durchzogen. Die Autos sahen aus wie eine riesige Armee gefallener Krieger in Rüstungen. Und konnte nicht jedes dieser Fahrzeuge von einer Schlacht berichten? Von einem Unfall, bei dem der Fahrer ums Leben gekommen war? Von einem Familienvater, der bankrott gemacht hatte, so daß der Wagen verkauft werden mußte?

Robert wohnte in den Camelot Apartments, einem viergeschossigen Gebäude am Westrand von Langley, nur eine Meile von seinem neuen Arbeitsplatz entfernt. Die Empfangshalle wurde von zwei Tischlampen erleuchtet, deren Licht durch Philodendronkübel sickerte. Das Telefonschaltbrett in der Ecke war längst außer Betrieb, aber nie entfernt worden. Mrs. Rhoads hatte Robert erklärt, ihrer Meinung nach zögen »ihre Leute« ohnehin einen eigenen Telefonanschluß vor, selbst wenn das den Nachteil hatte, daß niemand Nachrichten für sie entgegennehmen konnte. Mrs. Rhoads wohnte im Erdgeschoß rechts und hielt sich normalerweise im Eingangsbereich oder in ihrem Wohnzimmer auf, dessen Tür stets offenstand, so daß sie sehen konnte, wer kam und ging. Sie war in der Halle, als Robert hereinkam, und goß die Philodendren mit Wasser aus einer Messinggießkanne.

»Guten Abend, Mr. Forester. Wie geht’s denn so?« fragte sie.

»Sehr gut, danke«, sagte Robert lächelnd. »Und Ihnen?«

»Kann nicht klagen. Lange gearbeitet?«

»Nein, nur herumgefahren. Ich wollte mir die Umgebung ein bißchen ansehen.«

Sodann erkundigte sie sich, ob ein bestimmter Heizkörper auch richtig warm wurde, und Robert bejahte die Frage, obwohl er überhaupt nicht darauf geachtet hatte. Dann ging er die Treppe hinauf. Es gab sechs oder acht Wohnungen in dem Gebäude, aber keinen Lift. Roberts Wohnung lag im obersten Stockwerk. Er hatte sich nicht bemüht, die anderen Bewohner näher kennenzulernen – ein paar junge unverheiratete Männer, eine junge Frau Mitte Zwanzig, eine Witwe mittleren Alters, die sehr früh zur Arbeit ging –, aber er grüßte immer alle freundlich, wenn er ihnen begegnete. Einer der jungen Männer, ein gewisser Tom Shive, hatte ihn einmal zum Kegeln eingeladen, und Robert war mitgegangen. Mrs. Rhoads war eine Concierge, wie sie im Buche steht, stets auf dem laufenden, wer im Haus ein und aus ging, aber ansonsten eine treue Seele; und eigentlich war es Robert ganz lieb, daß es einen Menschen im Haus gab, den es interessierte oder der zumindest Notiz davon nahm, ob er allein oder in Begleitung war und ob er um fünf, um halb acht oder erst am frühen Morgen nach Hause kam. Für die neunzig Dollar, die er Mrs. Rhoads im Monat bezahlte, hätte Robert wahrscheinlich auch ein mittelgroßes Haus irgendwo in der Umgebung von Langley mieten können, aber er wollte nicht allein sein. Selbst das zweitklassige Mobiliar in seinen beiden Zimmern empfand er als irgendwie tröstlich. Andere Menschen hatten vor ihm hier gewohnt – und zwar ohne das Sofa in Brand zu stecken –, hatten nicht mehr Schaden angerichtet als Brandspuren von einer Zigarette auf der Schreibtischplatte, waren über denselben dunkelgrünen Teppich gegangen und hatten, mittwochs und samstags, vielleicht sogar bemerkt, daß er gesaugt worden war. Andere Menschen hatten vor ihm hier gewohnt und waren woanders hingezogen, um ein ganz normales und vielleicht sogar glücklicheres Leben zu führen.

Mit Mrs. Rhoads hatte er eine Mietvereinbarung auf monatlicher Basis. Voraussichtlich würde er höchstens noch ein oder zwei Monate hierbleiben und dann entweder ein Haus auf dem Land mieten oder nach Philadelphia ziehen, wo sich die Hauptniederlassung von Langley Aeronautics und das Montagewerk befanden. Robert hatte sechstausend Dollar auf der Bank und brauchte zum Leben hier weniger als in New York. Die Rechnung für die Scheidung stand noch aus, aber Nickie regelte das alles über ihre New Yorker Anwälte. Sie wollte wieder heiraten und hatte auf Unterhaltszahlungen von ihm verzichtet.

Robert schaltete das Backrohr des Elektroherds in der Kochnische an, überflog die Kochanweisungen auf mehreren Päckchen Tiefkühlkost, riß die Verpackung auf und schob die Sachen ins Rohr, ohne erst vorzuheizen. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und machte es sich dann mit einem Taschenbuch über amerikanische Bäume in einem Sessel bequem. Er las einen Abschnitt über ›Die Flatterulme und die Weißulme‹. Die schlichte, sachliche Prosa war wohltuend.

Die frische innere Rinde junger Ulmenzweige wurde früher zur Linderung von Halsschmerzen gekaut. Die Zweige sind pelzig, aber nicht korkig … Das Holz, rauh, hart und schwer, eignet sich gut für Zaunpfähle.

Er blätterte interessiert um und las weiter, bis ihn der Geruch von verbranntem Essen aus seinem Sessel aufspringen ließ.

2

Zehn Tage später, etwa Mitte Dezember, saßen Jennifer Thierolf und Gregory Wyncoop in Jennys Wohnzimmer beim Kaffee und sahen fern. Es war Sonntag abend. Sie saßen auf dem viktorianischen Sofa, das Jenny bei einer Auktion erstanden und mit Leinöl und Polsterreiniger aufgemöbelt hatte, und hielten Händchen. Sie schauten sich einen Serienkrimi an, der jedoch nicht so spannend war wie die meisten bisherigen Episoden.

Jenny starrte auf die Mattscheibe, ohne etwas zu sehen. Sie dachte über das Buch nach, das sie gerade las, Die Dämonen von Dostojewskij. Sie verstand Kirilov nicht, zumindest seine letzte, lange Rede nicht, aber es hätte keinen Sinn gehabt, Greg darauf anzusprechen. Zwar hatte er das Buch angeblich gelesen, aber die Frage, die sie ihm gern gestellt hätte und die ihr vor dem Essen klar gewesen war, kam ihr jetzt vage und verschwommen vor. Doch sie zweifelte nicht daran, daß ihr nach Ende der Lektüre – vielleicht auch ein paar Tage später – irgendwann abends in der Badewanne oder beim Geschirrspülen alles klar und einleuchtend erscheinen würde.

»Worüber denkst du nach?« fragte Greg.

Jenny lehnte sich verlegen zurück und lächelte. »Das fragst du mich andauernd. Muß ich immer über was nachdenken?«

»Hauptsache, du machst dir nicht wieder Sorgen um dieses gottverdammte Haus …«

»Das ist kein ›gottverdammtes Haus‹.«

»Schon gut.« Greg lehnte sich bei ihr an, schloß die Augen und drückte seine Nase an ihren Hals. Ein dröhnender Akkord ließ ihn auffahren und wieder auf den Bildschirm schauen, doch da passierte nichts. »Schließlich ist es ein altes Haus, und alle alten Häuser haben ihre komischen Geräusche. Meiner Ansicht nach knarzt der Dachboden, weil sich bei Wind die ganze obere Haushälfte bewegt.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Du machst dir viel mehr Sorgen um das Haus als ich«, sagte Jenny plötzlich voller Abwehr.

»Wegen der Geräusche? Der von draußen, klar. Ich glaube nämlich, daß sich da einer herumtreibt. Ich hab dir doch gesagt, daß du Susie fragen sollst, ob sie jemanden gesehen hat. Hast du sie gefragt?«

Susie Escham war eine junge Frau, die mit ihren Eltern ein Haus weiter wohnte.

»Nein, hab ich vergessen«, sagte Jenny.

»Also, dann frag sie. Überhaupt bringt nur eine Romantikerin wie du es fertig, in ein so einsam gelegenes Haus zu ziehen. Wart’s nur ab, bis wir den ersten richtigen Schnee kriegen und sämtliche Leitungen runterkommen und was weiß ich, dann wirst du es schon noch bereuen.«

»Glaubst du, ich hätte in Scranton keine strengen Winter erlebt?«

»Aber in Scranton hast du nicht in einem solchen Haus gewohnt. Das weiß ich, weil ich es gesehen habe.«

Jenny seufzte und dachte an das behagliche, gut gepflegte zweistöckige Haus ihrer Eltern in Scranton – ein solider Ziegelbau, eine Festung bei Wind und Wetter. Sie war jetzt dreiundzwanzig. Sie hatte das College im dritten Jahr an den Nagel gehängt und bis Ende letzten Sommers als Buchhalterin und Sekretärin in einem Büro in Scranton gearbeitet und zu Hause gewohnt. Danach wollte sie unbedingt etwas auf eigene Faust unternehmen und hatte erwogen, entweder von ihrem Ersparten eine Europareise zu machen oder sich in San Francisco niederzulassen, dann aber beschlossen, in eine Kleinstadt zu ziehen, und sich schließlich für Humbert Corners entschieden. Sie hatte sich ein Haus ganz für sich allein gewünscht, ein besonderes, nicht alltägliches Haus, das sie selbst einrichten konnte und das nicht wie das ihrer Eltern zwanzig Meter vom Nachbarn entfernt war. Und dieses Haus hier gefiel ihr, trotz seiner komischen Geräusche, die sie nachts manchmal aufschreckten und ihr Angst einjagten.

»An dieses Haus muß man sich eben gewöhnen«, sagte Jenny feierlich. »Sonst ist alles in Ordnung damit.«

»Na gut, Jenny, aber glaub ja nicht, daß ich hier oder in einem ähnlichen Haus wohnen werde, wenn wir erst verheiratet sind. Und das ist hoffentlich vor Juni der Fall.«

»Einverstanden, das habe ich ja auch gar nicht von dir verlangt, aber bis dahin will ich mein Haus noch genießen.«

»Das weiß ich, Schatz.« Er küßte sie auf die Wange. »Mein Gott, was für ein Kind du bist.«

Das hörte sie gar nicht gern. Schließlich war er nur fünf Jahre älter. »Jetzt kommen die Nachrichten«, sagte sie.

Mitten in der Nachrichtensendung ertönte draußen plötzlich ein Geräusch, als würde jemand husten. Jenny schreckte hoch, und Greg war sofort auf den Beinen, eine hochaufgeschossene Gestalt, die in die Küche rannte, um die Taschenlampe zu holen, die auf dem Tisch lag. Er lief durchs Wohnzimmer und riß die Haustür auf.

»Wer ist da?« rief er laut und leuchtete über die kahle Forsythie zu der zwei Meter hohen Rottanne, die Einfahrt entlang und die Straße hinunter. Dann lenkte er den Lichtstrahl in die andere Richtung, ohne dort mehr zu entdecken als den eingesunkenen weißen Zaun und einen trostlosen Holzpfosten mit einer windschiefen Laterne obendrauf, deren Scheiben zerbrochen waren.

»Kannst du was sehen?« fragte Jenny, die dicht hinter ihm stand.

»Nein, aber ich schau mich mal um.« Er sprang die Stufen hinunter und ging bis zur Hausecke, leuchtete an der Rückwand entlang, ging dann langsam weiter, sorgsam darauf bedacht, auch hinter den hohen, dichten Büschen nachzusehen, hinter denen sich ein Mann ohne weiteres verstecken konnte. Dann vergewisserte er sich, daß sich niemand hinter dem Basketballbrett verbarg. Er ließ den Lichtkegel über den Geräteschuppen streifen, ging einmal um ihn herum und warf sogar einen Blick hinein. Dann leuchtete er plötzlich die Einfahrt entlang und nach rechts und links.

»Nichts. Absolut nichts«, sagte Greg, als er wieder ins Haus kam. Der Fernseher war jetzt ausgeschaltet. Eine schwarze Haarlocke hing ihm in die Stirn. »Hat sich doch wie Husten angehört, oder?«

»Ja«, sagte sie entschieden, aber gelassen.

Er lächelte über ihre Ernsthaftigkeit und Unbekümmertheit und spielte mit dem Gedanken, wieder einmal hier zu übernachten. Wenn sie nur im Schlafanzug nebeneinander auf dem Sofa liegen könnten – aber er würde nicht einschlafen können, wenn er nicht zuvor mit ihr geschlafen hatte; aber das hatten sie schon durchgekaut. Sie hatten es zweimal probiert und sich darauf geeinigt, mit dem nächsten Mal zu warten, bis sie verheiratet waren. Eine für Jenny typische zwanglose Vereinbarung, die er unter Umständen umgehen konnte. Aber nicht heute. Nicht während ihnen womöglich jemand durch die Wohnzimmervorhänge zuschaute. »Ich habe eine Idee!« sagte er plötzlich. »Schaff dir doch einen Hund an. Ich besorge dir einen Hund. Am besten wäre ein Dobermann. Ein richtiger Wachhund.«

Sie lehnte sich in die Sofakissen zurück. »Dafür bin ich zuviel weg. Ich könnte es nicht ertragen, ein Tier acht Stunden am Tag hier allein zu lassen.«

Er wußte, daß es hoffnungslos war. Man konnte sie zu fast allem überreden, aber bestimmt nicht zu einem Tier, das womöglich ihretwegen leiden mußte. »Im Tierheim gibt es vielleicht einen Hund, der heilfroh wäre, überhaupt ein Zuhause zu haben – nur um nicht eingeschläfert zu werden.«

»Ach, reden wir nicht mehr darüber.« Sie stand auf und ging in die Küche.

Er sah ihr nach, etwas ratlos, weil er nicht wußte, ob sie jetzt verstimmt war. Ihr jüngerer Bruder war vor drei Jahren an Hirnhautentzündung gestorben. Jenny hatte viel Zeit bei ihm im Krankenhaus verbracht, und die ganze Geschichte hatte sie sehr mitgenommen, zu sehr. Er durfte in ihrer Gegenwart nicht vom Tod reden.

»Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?« rief sie aus der Küche. »Heiße Schokolade. Magst du auch eine?«

Er lächelte, und alle Besorgnis verschwand aus seinem Gesicht. »Klar, wenn du eine magst.« Er hörte die Milch in eine Stielpfanne plätschern, hörte das Klicken des Elektroherds – des einzig modernen Gegenstands im Haus. Er zündete sich eine Zigarette an, stellte sich in die Küchentür und sah ihr zu.

Bedächtig rührte sie die Milch um. »Weißt du, was das schlimmste Verbrechen ist, das ein Mensch begehen kann? Jedenfalls für mich?«

Mord, dachte er unwillkürlich, aber er lächelte und fragte: »Was denn?«

»Wenn man jemandem eine Vergewaltigung in die Schuhe schiebt.«

»Ha!« Er lachte und schlug sich an die Stirn. »Wie kommst du denn darauf?«

»Ich habe da so was in der Zeitung gelesen. Ein Mädchen hat einen Mann beschuldigt. Aber bewiesen ist es noch nicht.«

Er sah ihr zu, wie sie aufmerksam die Milch umrührte, und sein Blick wanderte ihren jungen, kräftigen Körper hinab bis zu den flachen schwarzen Wildlederschuhen, die an Jenny weder richtig kindlich noch richtig elegant wirkten. Wenn sie jemals vergewaltigt wird, bringe ich den Kerl um, dachte er. Ich drehe ihm mit meinen eigenen Händen den Hals um. »Sag mal, Jenny, du hast doch nicht etwa jemand gesehen? Das würdest du mir doch sagen, oder?«

»Natürlich würde ich es dir sagen. Sei nicht albern.«

»Ich bin nicht albern. Du hast so viele Geheimnisse, meine Kleine. Deshalb bist du ja auch eine so aufregende Frau.« Er legte von hinten die Arme um sie und küßte sie auf den Hinterkopf.

Sie lachte, ein leises schüchternes Lachen, drehte sich rasch um, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn.

Sie tranken ihre Schokolade in der Küche und aßen dazu am Rand leicht angebrannte Plätzchen aus einer Blechdose. Greg sah auf seine Uhr und stellte fest, daß es schon fast Mitternacht war. Wenn er um neun in Philadelphia sein wollte, mußte er um halb sieben aufstehen. Er war Arzneimittelvertreter und Tag für Tag auf Achse. Sein neuer Plymouth hatte bereits einundzwanzigtausend Meilen auf dem Buckel. Greg hatte eine Wohnung über einer Garage auf dem Grundstück einer gewissen Mrs. Van Vleet in Humbert Corners, nur fünf Meilen von Jennys Haus entfernt. Und wenn er Jenny abends noch besuchte, kamen ihm diese fünf Meilen wie ein Katzensprung vor – nach einem Tag, an dem er zwischen hundertfünfzig und zweihundert Meilen zurückgelegt hatte, das reinste Vergnügen. Und Jenny empfand er ebenfalls als Wohltat. Welch eigenartigen Kontrast sie doch darstellte zu dem Zeug, das er den ganzen Tag verkaufte – Schlaftabletten, Aufputschmittel, Pillen, um sich das Trinken, das Rauchen oder übermäßiges Essen abzugewöhnen, Pillen, die bestimmte Nerven ausschalteten und andere stimulierten. Man hätte meinen sollen, daß die Welt voll war mit kranken Leuten, aber ohne die wäre er ja auch arbeitslos. »Gütiger Gott!« hatte Jenny ausgerufen, als er zum ersten Mal seinen Koffer aufgemacht und ihr das Zeug gezeigt hatte, mit dem er hausieren ging. Hunderterlei Fläschchen mit Pillen in allen Farben und Formen und mit Phantasienamen und Aufzählungen unaussprechlicher Bestandteile auf den Etiketten. Das einzige Medikament in Jennys Medizinschränkchen waren Aspirintabletten, und auch zu denen griff sie höchstens zweimal im Jahr, wenn sie spürte, daß eine Erkältung im Anzug war. Das mochte Greg so an ihr – freilich nicht nur das –: daß sie so gesund war. Mag sein, daß es unromantisch war, eine junge Frau zu lieben, weil sie gesund war, aber deshalb sah Jenny auch so schön und strahlend aus und war damit allen anderen Mädchen überlegen, in die er verliebt gewesen war. Es waren ohnehin nur zwei gewesen, beide aus Philadelphia, und beide hatten seinen Heiratsantrag zögernd abgelehnt. Verglichen mit Jenny erschienen ihm die beiden richtig ungesund. Jenny wollte Kinder. Sie wollten eine Familie gründen, sobald sie verheiratet waren. Die Mutter meiner Kinder, dachte Greg oft, wenn er sie ansah. Er sah sie im Geist mit einem zwei- oder drei- oder vierjährigen Kind, stellte sich vor, wie sie mit ihm redete, es behandelte wie eine eigenständige Person, mit ihm lachte, auch wenn es eine Dummheit machte, vor allem aber geduldig und gutmütig war und nie zornig wurde. Sie würde die beste Mutter sein, die man sich vorstellen konnte.

Etwas mißmutig hörte er sich an, was sie von ihrer Kollegin Rita aus der Bank erzählte. Rita war Kassiererin und kam immer zu spät aus der Mittagspause zurück, was bedeutete, daß Jenny sie vertreten mußte und folglich einen Teil ihrer eigenen Mittagspause einbüßte, die sich an Ritas anschloß. Aber Jenny beschwerte sich nie. Im Gegenteil, sie lachte jedesmal darüber, und jetzt lachte sie, weil ihr Chef, Mr. Stoddard, sie gestern zum Lunch eingeladen hatte und sie erst wegkonnte, als Rita zurückkam, worüber Mr. Stoddard sich geärgert hatte. Als Rita endlich mit Einkaufstüten beladen ankam, knöpfte er sie sich vor, weil sie über eine Stunde lang Mittagspause gemacht hatte.

Greg verschränkte die Arme. Jenny würde ihren blöden Job ohnehin nicht mehr lange behalten. Vielleicht bis Februar, vielleicht auch bis März, eben bis sie heirateten. »Wieso hat Mr. Stoddard dich eigentlich zum Essen eingeladen? Das gefällt mir aber gar nicht.«

»Ach, komm schon. Er ist zweiundvierzig!«

»Verheiratet?«

»Weiß ich nicht.«

»Das weißt du nicht?«

»Ich weiß es nicht, weil es mich nicht interessiert.«

»War es das erste Mal, daß er dich eingeladen hat?«

»Ja.«

Da Greg nicht wußte, was er noch dazu sagen sollte, hielt er den Mund. Wenig später stand er auf und verabschiedete sich. An der Tür, die aus der Küche in den Garten hinausführte, küßte er sie zärtlich. »Vergiß nicht, auch hier abzuschließen. Vorne hab ich schon zugesperrt.«

»Ich denk schon dran.«

»Jetzt ist es nicht mehr lange bis Weihnachten.« Heiligabend würden sie bei seinen Eltern in Philadelphia verbringen, den ersten Weihnachtstag bei ihrer Familie in Scranton.

»Wieder ein Weihnachten«, sagte sie, lächelnd und seufzend, in einem Ton, der alles bedeuten konnte.

»Du bist müde. Schlaf gut. Nacht, Schatz.« Er lief hinaus und wäre auf den unbeleuchteten Stufen beinahe gestolpert; tastend suchte er nach dem Griff der Autotür.

Jenny blieb noch eine knappe Stunde auf. Langsam und bedächtig räumte sie die Küche auf, wusch das Geschirr ab und stellte es an seinen Platz zurück. Sie dachte an gar nichts. Manchmal stellten sich höchst interessante und angenehme Gedanken ein, wenn sie versuchte, an gar nichts zu denken. Heute abend war sie müde und sehr zufrieden. Der einzig wohltuende Gedanke, der ihr kam, war eine Art Vision oder ein Bild: Fische in leuchtenden Farben, Goldfischen ähnlich, nur größer und von kräftigerem Rot, schwammen durch einen wunderschönen Unterwasserwald aus kräuterähnlichen Pflanzen. Der Sand war goldgelb, als würde die Sonne durch das Wasser bis auf den tiefsten Meeresgrund dringen. Es war ein friedliches, stilles Bild, mit dem sie einschlafen wollte. Als sie im Bett lag und die Augen schloß, sah sie es wieder vor sich.

3

Robert hatte gehofft, am Samstag einen Brief von Nickie oder ihrem Rechtsanwalt zu bekommen, aber es kam überhaupt keine Post. Er brachte seine Hemden und die Bettwäsche in die Wäscherei, holte einen Anzug aus der Reinigung ab, schmökerte dann etwa eine Stunde in der altmodischen Bücherei von Langley herum und kehrte schließlich mit einem Roman von John O’Hara und einer Biographie über Franz Schubert, an den er heute morgen aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte denken müssen, nach Hause zurück. Von zwei bis kurz nach vier zeichnete er ein paar Collembolae, die zur Familie der Springschwänze gehören. Eine von Gumbolowskis Skizzen der Collembola protura war dem Professor recht erheiternd geraten. Das Insekt hatte beide Vorderbeine erhoben wie ein tänzelnder Stierkämpfer, der dem Stier im nächsten Moment seine Banderillas ins Fleisch bohrt. Robert zeichnete auf eine leere Postkarte zum Spaß eine Collembola protura mit Torero-Kniehosen an den stämmigen Beinen, einem Dreispitz auf dem Kopf und buntbebänderten Wurfpfeilen in der Hand. Er schickte sie an Edna und Peter Campbell mit der Nachricht: »Komme gut voran! Liebe Grüße an Euch beide, Bob.«

Er wollte unbedingt noch einmal an dem Haus des Mädchens vorbeifahren. Seit sechs Tagen war er nicht mehr dort gewesen, und als er am vergangenen Mittwoch dem spontanen Wunsch widerstanden hatte hinzufahren, hatte er sich geschworen, es auch in Zukunft bleibenzulassen. Es war zu gefährlich. Mein Gott, wenn Nickie das je herausbekam! Sie würde sich schieflachen! Eigentlich sollte er dem Schicksal danken, daß er bis jetzt nicht erwischt worden war, und damit aufhören. Aber dieses Mädchen zu beobachten hatte auf ihn dieselbe Wirkung wie Schnaps auf Alkoholiker. Auch sie schworen dem Zeug ab und griffen dann doch wieder zur Flasche. Vielleicht lag es daran, daß sein Leben unausgefüllt war, daß es nichts Reizvolles um ihn herum gab außer diesem Mädchen mit Namen Thierolf. Genau das sagte man ja auch von Alkoholikern: daß ihr Leben schal und unausgefüllt war und sie deshalb sie zur Flasche griffen. Während Robert um zehn nach sechs am Samstag abend in seinem Zimmer auf und ab ging, spürte er deutlich die Versuchung. Er redete sich ein, daß er ihr durchaus widerstehen könne. Geh in einen miesen Film, wenn es sein muß. Oder sei stärker, geh irgendwo essen und lies anschließend zu Hause ein Buch. Schreib den Campbells einen Brief und schlag ihnen vor, sie sollen dich an einem Wochenende besuchen. Er konnte sie nicht bei sich unterbringen, aber das Putnam Inn war ein recht passables kleines Hotel. Schlag dir das Mädchen aus dem Kopf. Dummheiten, wie heimlich eine Frau in ihrem Haus zu beobachten, waren einem geregelten Lebenswandel wohl kaum zuträglich. Und der psychischen Stabilität auch nicht. Robert lachte leise. Das war eindeutig ein Verstoß gegen die ärztlichen Vorschriften.

Inzwischen war es dunkel. Achtzehn Minuten nach sechs. Er schaltete das Radio ein, um Nachrichten zu hören.

Er saß auf der Couch, folgte mit halbem Ohr dem Nachrichtenüberblick und kämpfte mit sich, ob er heute abend wieder hinfahren sollte oder nicht. Zum letzten Mal. Vielleicht war sie gar nicht zu Hause; es war schließlich Samstag abend. Robert registrierte, daß ein Teil seines Hirns argumentierte wie ein gewandter Redner, der nach einer langen Pause plötzlich das Wort ergreift. »Was ist denn schon dabei, noch einmal hinzufahren? Bis jetzt bist du doch auch nicht erwischt worden. Was ist so schlimm daran, wenn sie dich sieht? Du siehst nicht aus wie ein Psychopath.« (Zweite Stimme: »Sehen Psychopathen denn unbedingt wie Psychopathen aus? Sicher nicht.«) »Ist dir doch sowieso egal, ob du erwischt wirst. Was hast du schon zu verlieren? Genau das sagst du doch immer.« Der Redner setzte sich. Nein, das sagte er durchaus nicht immer, und natürlich würde es ihm etwas ausmachen, gesehen zu werden. Dennoch empfand er die Vorstellung, an diesem Abend zu Hause zu bleiben, wie den Tod, einen leisen, langsamen Tod. Und das Mädchen wiederzusehen bedeutete Leben. Auf welcher Seite stehst du eigentlich, Robert Forester? Und warum ist es so schwer zu leben?

Hinter Langley bog er von der Landstraße auf eine zweispurige schlechte Asphaltstraße ab, die eine Abkürzung nach Humbert Corners darstellte. Auf der ganzen Strecke gab es keine einzige Straßenlaterne, und da die wenigen Wohnhäuser, an denen er vorbeikam, weit abseits von der Straße lagen, hatte er den Eindruck, durch undurchdringliche Nacht zu fahren. Er fuhr nicht schneller als fünfunddreißig Meilen pro Stunde, weil er immer wieder Schlaglöchern ausweichen mußte. In Humbert Corners bog er an dem Bankgebäude mit dem rotblauen Briefkasten scharf nach rechts ab und fuhr eine Anhöhe hinauf, die so steil war, daß er in den zweiten Gang herunterschalten mußte. Endlich kam links das dunkle Haus mit den weißen Fensterläden, was bedeutete, daß hundertfünfzig Meter weiter der Feldweg abzweigte, auf dem er den Wagen immer abstellte. Er drosselte das Tempo, schaltete das Abblendlicht aus und fuhr mit Standlicht weiter. Er rollte etwa zehn Meter in den Feldweg hinein und hielt an, stieg aus und holte die Taschenlampe aus dem Türfach. Auf der Straße knipste er sie in regelmäßigen Abständen an, hauptsächlich um zu sehen, wo er hintrat, wenn er einem vorbeifahrenden Auto ausweichen mußte, obwohl hier immer nur wenige Fahrzeuge vorbeikamen.

Ein Licht brannte im vorderen Fenster, das zum Wohnzimmer gehörte, und die Küchenfenster auf der Rückseite waren ebenfalls erleuchtet. Langsam ging Robert weiter, überlegte selbst jetzt noch, daß er jederzeit umkehren könnte, und wußte gleichzeitig, daß er weitergehen würde. Ganz leise drang klassische Musik aus dem Haus – nicht Schubert, wie er zuerst geglaubt hatte, sondern wahrscheinlich eine Schumann-Symphonie. Rasch ging er an dem erleuchteten Wohnzimmerfenster vorbei, um das Basketballbrett herum und auf die Bäumchen hinter dem Haus zu. Kaum hatte er sie erreicht, ging die Küchentür auf, und auf der hölzernen Veranda waren Schritte zu hören. Die Schritte des Mädchens, kein Zweifel. Sie trug einen großen Korb und steuerte auf das Basketballbrett zu. Hinter ihr wehte der Wind ihren dicken weißen Schal in die Höhe. Als sie den Korb absetzte, wurde Robert klar, daß sie in dem Drahtgestell, das ein paar Meter links hinter der Einfahrt stand, Abfälle verbrennen wollte. Bei dem Wind dauerte es etwa eine Minute, bis das Papier Feuer fing. Dann schlug eine Flamme hoch und erleuchtete ihr Gesicht. Sie hatte ihm das Gesicht zugewandt und schaute ins Feuer. Sie waren höchstens zehn Meter voneinander entfernt. Als sie den Korb nahm und den restlichen Inhalt ins Feuer kippte, loderten die Flammen so hoch auf, daß sie zurücktreten mußte. Aber sie blickte weiter mit jener geistesabwesenden Faszination ins Feuer, die er schon viele Male an ihr beobachtet hatte, wenn sie bei ihren Verrichtungen in der Küche innehielt.

Dann schaute sie plötzlich auf und sah ihm direkt ins Gesicht. Ihr Mund öffnete sich, und sie ließ den Korb fallen. Wie angewurzelt stand sie da.

Unwillkürlich breitete Robert die Arme aus, eine Geste, die Bedauern und Kapitulation ausdrückte. »Guten Abend«, sagte er.

Das Mädchen schnappte nach Luft und schien weglaufen zu wollen, rührte sich aber nicht vom Fleck.

Robert trat einen Schritt auf sie zu. »Ich heiße Robert Forester«, sagte er mechanisch, aber deutlich.

»Was tun Sie hier?«

Robert schwieg, ebenfalls ohne sich zu rühren, einen Fuß vorgestellt zu einem Schritt, den er nicht wagte.

»Sind Sie ein Nachbar?«

»Das nicht gerade. Ich wohne in Langley.« Robert hatte das Gefühl, daß er sich ihr auf Gedeih und Verderb ausliefern mußte, und wenn er Pech hatte, war er eben erledigt. »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er, die Arme noch immer leicht vom Körper abgewinkelt. »Möchten Sie wieder hineingehen?«

Aber das Mädchen bewegte sich nicht. Sie schien sich sein Gesicht einprägen zu wollen, aber inzwischen war das Feuer heruntergebrannt. Die Dunkelheit zwischen ihnen verdichtete sich. Robert stand nicht mehr im Lichtschein, der aus dem Küchenfenster fiel.

»Bleiben Sie da stehen«, sagte sie.

»Gut.«

Sie ging langsam, ohne den Korb mitzunehmen und ohne Robert aus den Augen zu lassen. Robert folgte ihr so langsam, daß sie ihn im Auge behalten konnte, bis er die Hausecke erreicht hatte. Jetzt stand sie auf der kleinen Veranda, die Hand auf dem Türknauf.

»Wie heißen Sie noch mal?«

»Robert Forester. Sicher wollen Sie jetzt die Polizei rufen.«

Sie biß sich auf die Unterlippe, dann sagte sie: »Sie sind schon öfter hier gewesen, nicht wahr?«

»Ja.«

Der Türknauf quietschte in ihrer Hand, doch sie machte die Tür nicht auf.

»Sicher wollen Sie jetzt die Polizei rufen. Gehen Sie schon hinein und rufen Sie an. Ich warte solange.« Er stellte sich so hin, daß der schwache Lichtschein aus dem Küchenfenster auf ihn fiel, und sah die junge Frau gelassen an. So etwas kann auch nur mir passieren, dachte er – sich an einem Abend erwischen zu lassen, an dem er sich geschworen hatte, nicht herzukommen, im Feuerschein stehenzubleiben, obwohl er ohne weiteres in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Hauses hätte untertauchen können, und dann noch zu versprechen, er würde warten, bis die Polizei käme.

»Ich habe nicht vor, die Polizei zu rufen«, sagte sie leise und ernst, auf jene Art, die er an ihr beobachtet hatte, auch wenn er sie nie so hatte reden hören. »Aber ich will auch nicht, daß jemand um mein Haus schleicht. Wenn ich sicher sein könnte, daß Sie mich nie wieder belästigen …«

Robert lächelte zaghaft. »Sie können sicher sein.« Er war froh, ihr etwas versprechen zu können. »Es tut mir sehr leid, daß ich Sie zuvor erschreckt habe. Sehr leid. Ich …« Da er sich seine Worte nicht vorher überlegt hatte, geriet er ins Stocken.

Das Mädchen zitterte vor Kälte. Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, aber jetzt wirkte sie nicht mehr verängstigt, sondern nur noch angespannt und verwirrt. »Was wollten Sie sagen?«

»Ich möchte mich entschuldigen. Ich fand es schön … Ich fand es schön, Sie in der Küche zu beobachten. Beim Kochen. Beim Aufhängen der Vorhänge. Ich will gar nicht versuchen, es zu erklären. Das kann ich nicht. Aber ich möchte nicht, daß Sie Angst haben. Ich bin kein Verbrecher. Ich war einsam und deprimiert und habe eine junge Frau in ihrer Küche beobachtet. Verstehen Sie das?« Ihr Schweigen verriet ihm, daß sie es nicht verstand, nicht verstehen konnte. Wie denn auch? Seine Zähne begannen zu klappern, und er fröstelte vor Schweiß. »Ich erwarte nicht, daß Sie das begreifen. Ich erwarte nicht, daß Sie mir verzeihen. Ich möchte bloß versuchen, es zu erklären, und das kann ich nicht. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil ich den wahren Grund selbst nicht kenne. Den eigentlichen Grund.« Er befeuchtete seine kalten Lippen. Jetzt würde ihn das Mädchen verachten. Nie wieder würde er an sie denken können, ohne gleichzeitig daran zu denken, daß sie ihn kannte und verachtete. »Sie sollten lieber ins Haus gehen. Es ist arg kalt.«

»Es schneit«, sagte das Mädchen erstaunt.

Robert drehte den Kopf rasch zur Einfahrt hin, und als er die feinen Flocken herabfallen sah, zuckte ein Lächeln in seinen Mundwinkeln. Daß es schneite, war absurd, und das jetzt zu erwähnen war noch absurder. »Gute Nacht, Miss Thierolf. Auf Wiedersehen.«

»Warten Sie.«

Er drehte sich um.

Sie stand vor ihm. Ihre Hand lag nicht mehr auf dem Türknauf. »Wenn Sie deprimiert sind … Ich meine, es sollte Sie nicht noch mehr deprimieren, daß … daß ich …«

Er verstand. »Vielen Dank.«

»Depressionen können schrecklich sein. Sie sind wie eine Krankheit. Sie können Leute in den Wahnsinn treiben.«

Er wußte nicht, was er darauf sagen sollte.

»Ich hoffe, daß Ihre Depressionen nicht allzu schlimm werden«, fügte sie hinzu.

»Und ich hoffe, daß Sie nie erleben, was Depressionen sind«, sagte er, als würde er einen Wunsch aussprechen. Einen überflüssigen Wunsch, dachte er.

»Ach, das habe ich schon. Vor drei Jahren. Aber in letzter Zeit nicht mehr, Gott sei Dank!«

Die langsame, einfühlsame Art, in der sie die letzten Worte aussprach, nahm ihm etwas von seiner Beklemmung. Sie hatte mit ihm gesprochen, als würde sie ihn schon lange kennen. Er wollte jetzt nicht gehen.

»Möchten Sie hereinkommen?« fragte sie. Sie machte die Tür auf, ging ins Haus und hielt sie ihm auf.

Er kam näher, zu verblüfft, um anders zu reagieren. Er betrat die Küche.

Sie zog ihren Mantel aus, legte den weißen dicken Schal ab und hängte beides in einen schmalen Schrank neben der Tür, wobei sie ihn über die Schulter ansah, als hätte sie noch immer ein bißchen Angst.

Er war mitten im Raum stehengeblieben.

»Ich dachte nur, wenn wir schon reden, ist es unsinnig, draußen in der Kälte stehenzubleiben«, sagte sie.

Er nickte. »Vielen Dank.«

»Wollen Sie Ihren Mantel ausziehen? Möchten Sie Kaffee? Ich habe gerade welchen gemacht.«

Er zog seinen Regenmantel aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. »Vielen Dank, aber ich habe mir das Kaffeetrinken abgewöhnt. Auf Kaffee kann ich meistens nicht einschlafen.« Er sah sie ungläubig an: ihr weiches Haar, das jetzt so nahe war, keine zwei Meter entfernt, ihre grauen Augen – grau mit blauen Sprenkeln. Da, zum Greifen nahe, waren die weißen Vorhänge, die er sie hatte aufhängen sehen, die Tür des Backofens, zu dem sie sich oft hinuntergebückt hatte. Und noch etwas fiel ihm auf. Seine Freude oder Zufriedenheit darüber, sie jetzt aus der Nähe betrachten zu können, war nicht größer als zuvor, als er sie durchs Fenster beobachtet hatte, und er ahnte, daß sie selbst und das, was sie für ihn verkörperte – Glück, ruhige Gelassenheit und innere Gelöstheit – für ihn an Wert verlieren würde, sobald er sie auch nur etwas besser kennenlernte.

Sie erhitzte den gläsernen Perkolator mit dem Kaffee. Während sie darauf aufpaßte, wandte sie zwei- oder dreimal den Kopf, um Robert anzusehen. »Vermutlich halten Sie mich für verrückt, weil ich Sie hereingebeten habe«, sagte sie. »Aber nach ein paar Minuten hatte ich gar keine Angst mehr vor Ihnen. Kommen Sie hier aus der Gegend?«

»Ich bin aus New York.«

»Wirklich? Ich komme aus Scranton. Ich bin erst seit vier Monaten hier.« Sie schenkte eine Tasse Kaffee ein.

Und was hat Sie hierhergeführt? lag es ihm auf der Zunge. Aber er wollte es gar nicht wissen. Er zog ein Päckchen Zigaretten heraus. »Darf ich?«

»Aber natü-ürlich.« Als er ihr eine Zigarette anbot, schüttelte sie den Kopf. »Arbeiten Sie in Langley?«

»Ja. Bei Langley Aeronautics. Seit drei Monaten. Und ich wohne in den Camelot Apartments.«

»Und warum sind Sie von New York weggegangen? Ich dachte immer …«

»Ich brauchte einen Tapetenwechsel. Mußte mal was anderes sehen.«

»Das war auch für mich der Grund. Verdient habe ich in Scranton mehr. Alle hielten mich für verrückt, weil ich meinen Job aufgegeben habe, aber ich habe bei meinen Eltern gewohnt und fand, daß ich allmählich zu a-alt dafür bin«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln.

Er war erstaunt über ihre Naivität, so erstaunt, daß es ihm die Sprache verschlug. Wenn sie einzelne Wörter so gedehnt sprach, dann nicht um des Effektes willen, sondern eher wie ein Kind, das unbewußt oder aus Gewohnheit Wörter in die Länge zieht. Sie mußte Anfang Zwanzig sein, wirkte aber sehr viel jünger, wie ein Teenager.