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Wilhelm Raabes Roman 'Der Schüdderump' ist ein beeindruckendes Werk, das sowohl historische Fiktion als auch Sozialkritik vereint. In diesem Roman wird das Leben des jungen Handwerkers Fritz Tangermann im 19. Jahrhundert detailliert beschrieben, während er versucht, in einer Gesellschaft zu überleben, die von Armut und Verzweiflung geprägt ist. Raabe gelingt es, die Atmosphäre der Zeit authentisch darzustellen und gleichzeitig eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen seiner Ära zu liefern. Der Schreibstil des Autors ist prägnant und mitreißend, was den Leser unweigerlich in die Welt des Protagonisten zieht. Dieses Meisterwerk gehört zweifellos zu den Höhepunkten der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts.
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Seitenzahl: 586
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Ergötztet ihr Nicht lieber euch am lächerlichen Tand Der Torheit? Oder an dem heitern Glück, Womit am Schluß des drolligen Romans Die Lieb ein leichtgenecktes Paar belohnt? – Vielleicht! –
Ich eröffne dieses Buch recht passend mit einer kleinen Reiseerinnerung und durch dieselbe mit einer Erklärung und Rechtfertigung des Titels, um nicht späterhin, d. h. im Laufe der Erzählung, allzuoft über diesen Titel zu stolpern oder mit Vergleichen, Folgerungen und Nutzanwendungen an demselben hängenzubleiben. Einige Male wird das letztere freilich doch wohl geschehen.
Ich war mit dem Postwagen in einem hellen, lustigen norddeutschen Städtchen, dessen Namen ich deshalb verschweige, um nicht den Neid und die Eifersucht anderer Gemeinwesen zu erregen, angekommen, hatte zu Mittag gegessen und zwei bis drei Stunden zur vollkommen freien Verfügung, ehe der frische Schwager die frischen Gäule zur Weiterfahrt aus dem Stalle zog. In solchen Fällen widmet sich jeder, der nicht ein Geschäftsreisender ist, einer ganz behaglichen innerlichen Beschaulichkeit, die jedoch bald in eine sonderbare Ruhelosigkeit überzugehen pflegt. Man dehnt sich, man gähnt eine Weile auf der Bank unter der Laube vor dem Gasthofe; man erhebt sich, schlendert die nächste Gasse bis zur nächsten Ecke hinauf, guckt träumerisch auf die verstaubten toten Fliegen hinter dem Ladenfenster eines Krämers und kehrt zurück zu seinem Tische und seiner Bank vor der Tür, um von neuem einen muntern Kampf mit den lebendigen Fliegen des Ortes aufzunehmen. Die meisten Reisenden verfallen nunmehr in ein etwas stupides Hindämmern und ermuntern sich erst wieder, wenn die Pferde angeschirrt werden; ich dagegen, der von vielem Gebrauch macht, was andere Leute verachten, ich erkundige mich nach den nächstgelegenen Merkwürdigkeiten des Munizipiums; natürlich reservatis reservandis, d. h. unter Vorbehalt alles dessen, was der verständige Mann sich eben vorbehält, nämlich ob er die Kuriositäten besichtigen will oder nicht. Ich stellte eine ähnliche Erkundigung also auch diesmal an und kann gerade nicht sagen, daß es mich tief bekümmerte, als der Wirt, ein behaglicher Mann, sich hinter den Ohren kratzte und Merkwürdigkeiten, sei es der Natur oder der Kunst, in seiner Umgebung nicht vorzuführen wußte.
Schon lehnte ich mich mit einem unwillkürlichen Seufzer der Befriedigung zurück in den Lindenschatten, als ein kleines schwarzes Männlein, welches auf der Bank an der andern Seite der Tür saß, eine kleine, kurze schwarze Pfeife rauchte und deshalb von den Fliegen mit hohem Widerwillen vermieden wurde, mich melancholisch ansah und leise und scheu sagte: »Wir haben noch einen Schüdderump. Wenn der Herr den sehen will, so ist er willkommen dazu; und die Zeit langt auch, und ich will, mit Respekt zu sagen, den Herrn hinführen.«
»Ein Schüdderump? Was ist ein Schüdderump?« fragte ich, von dem Wort ungemein angezogen.
»Gehe der Herr nur mit mir«, sprach der Melancholische noch schwermütiger als zuvor. »Es kostet nichts, als was dem Herrn zu geben beliebt. Ich bin der Totengräber der Stadt, und da des Herrn Forstschreibers Grab fertig und parat steht und der Herr Forstschreiber erst um vier Uhr bei mir arrivieren wird, so langt, wie gesagt, die Zeit für den Postwagen und item für des Herrn Forstschreibers Leichenkondukt.«
Ich rückte auf der Bank. Dieser kleine Schwarze, der diese beiden Fahr-und Reisegelegenheiten so gleichgültig und mit so trübsinniger Verständigkeit zusammenbrachte, wurde mir ganz unbehaglich; allein der Grundstoff unseres Gespräches gewann dadurch an Interesse. In welcher Verbindung stand der Schüdderump mit dem Herrn Forstschreiber? Stand der Herr Forstschreiber in irgendeiner Verbindung mit dem Schüdderump? Ich brachte eine ganze Reihe ähnlicher Fragen dadurch zum Abschluß, daß ich aufsprang, den Hut ergriff und meine Meinung dahin aussprach: ich sei fertig und parat für den Schüdderump. Da aber sah mich der Melancholische bedenklich von der Seite an, schüttelte das Haupt und flüsterte, während er Feuer für seine Pfeife schlug: solches wolle er nicht verhoffen; aber er sei bereit für mich. – Damit gingen wir quer durch einen Teil des Ortes der Kirche zu.
Hinter der Kirche befand sich der Kirchhof; dicht am Kirchhofe lag meines Begleiters Amtswohnung, und dicht neben meines Begleiters Amtswohnung war ein uraltes steinernes Gewölbe, abgesperrt durch eine rostige, schwarze eiserne Gittertür. Diese Tür schloß der Traurige auf, deutete in den dunkeln Raum und sprach unheimlich hohl:
»Da steht er!«
Und mit unheimlichstem Behagen fügte er hinzu:
»Und jedermann muß sagen, daß er eine große Merkwürdigkeit ist und für jedes Mausoleum eine große Ehre wäre!«
Da stand er wirklich – ein hoher, schwarzer Karren auf zwei Rädern, mit einem halb erloschenen weißen Kreuz auf der Vorderwand und der Jahreszahl 1615 auf der Rückwand. Mein Begleiter legte zärtlich die Hand darauf und sprach:
»Trete der Herr nur näher; man sagt, und es steht auch davon geschrieben, er sei der einzige in der ganzen Welt. Anno 1665 ist er zum letzten Male gebraucht worden – sieht der Herr – so!«
Und der heitere Bursche zog den Karren herum, schlug einen Riegel weg, und die abscheuliche Maschine tat einen Ruck und kippte über und schüttete eine imaginäre Last von Pestleichen in die Grube.
»He, he«, kicherte der Alte. »Was sagt der Herr dazu? Das war bequem und ersparte unsereinem manche Arbeit – was? Ei freilich, vor zwei Jahren in der Cholerazeit, da hätten wir ihn beinahe wieder hervorgeholt und zu Ehren gebracht; aber der löbliche Magistrat und der Kirchenrat und am allermeisten die hochlöbliche Bürgerschaft fürchteten sich allzusehr vor ihm, und so blieb’s, wie’s war, und unsereiner hatte die Plackerei davon. Ein gut Stück Arbeit hätt er uns gespart. Will der Herr vielleicht einmal die Maschinerie selber probieren? Ich versichere den Herrn, es ist bequem für beide Parteien.«
Ich dankte herzlich, aber mit unverhohlenem Schauder für das Vergnügen und gab ein reichliches Trinkgeld, um alle ferneren Anmutungen dadurch abzuschneiden; allein es freute mich doch, daß ich von nun an ganz genau wußte, was ein Schüdderump sei, und ich hielt ihn in der Tat für eine große Merkwürdigkeit. Jetzt sah ich noch einen Augenblick in die Grube des Herrn Forstschreibers, die neben dem Hügel seiner seligen Frau gegraben war; dann blies vor der Posthalterei der Schwager, ich eilte zurück, stieg ein und fuhr ab und weiter durch Wiesengrün und Sonnenschein der Goldenen Au entgegen, aber den Schüdderump behielt ich für immer im Gedächtnis. Ja für immer, und trotzdem daß auch ich in meinem Leben mancherlei sah, hörte und bedachte, was dem uralten Gespenst durch lebendigen Schrecken und Schmerz wohl ein Paroli bot!
In mancherlei Glanz und Licht sah ich seinen Schatten fallen, in allerlei Flöten-und Geigenklang vernahm ich sein dumpfes Gepolter, und manch einen herzerfrischenden braven Wunsch, aber auch verschiedenes andere wurde ich von der Seele los, indem ich wie jener kleine schwarze Mann die Kette aushob, den Karren überkippte und die Last hinabrutschen ließ in die große, schwarze, kalte Grube, in der kein Unterschied der Personen und Sachen mehr gilt. So ist mir der Schüdderump allmählich zum Angelpunkt eines ganzen, tief und weit ausgebildeten philosophischen Systemes geworden, und es würde mich recht freuen, wenn ich im Laufe dieses Buches einige Anhänger, Schüler und Apostel für mein System heranbildete.
*
Wo das Harzgebirge seine Vorberge gleich lustig grünen Vorwachten hinausschiebt in die norddeutsche Ebene, da spürt man’s in jedem Wasser und Wässerlein, das hervorsprudelt aus den Tannenwäldern und Buchenwäldern und dem Laufe der Täler folgt, wie eine Ahnung in jeder Welle, daß der gewaltige ewige Reigentanz dieses Elementes, das Meer, nicht allzufern und nun kein Fels und Abhang mehr zu überspringen sei, um die Heimat, den lustigen Festplatz, zu erreichen. Mit verhaltenem Jauchzen und einem allerliebsten, lachenden Leichtsinn, wie vierzehnjährige Mädchen aus der Schule, hüpfen die Bäche und kleinen Flüsse hervor: die Ilse und die Bode, die Oker und die Radau, die Selke und die Holzemme, und keine der ausgelassenen Dirnen weiß ihrer Lust genugzutun bis mitten in das flache Land. Hier beginnt dann freilich ein etwas altjüngferliches, fast matronenhaftes Schlurfen und Schleichen, bis die beiden alten Muhmen, die Weser und die Elbe, den gesamten Schwarm einfangen und ihn richtig der wackeren und munteren Großmutter, der Nordsee, abliefern, welche bei Bremerhaven und Kuxhaven ihre Türen weit genug offenhält. –
An einem dieser Wasserläufe, inmitten der letzten Hügelreihen des berühmten Gebirges, liegt das Dorf Krodebeck und dicht daneben das adlige Gut, der Lauenhof, auf welchem die Herren von Lauen sitzen und seit geraumer Zeit saßen. Die Gegend ist angenehm und ziemlich fruchtbar, die Bauern sind fett, wenn auch gerade nicht fromm; an Ackerfeldern, Wiesen und Wald ist kein Mangel, und der alte Brocken sieht sowohl den Bauern wie den Rittern ganz gemütlich über den Zaun und steht als Wetterprophet seit des Götzen Krodos Zeiten in dem größesten Ansehen. Krodo – Krodebeck, Bach des Krodo – etymologisiert ein nicht unbekannter und nicht unrühmlich bekannter antiquarischer Gelehrter der Umgegend, und wir wissen dadurch nunmehr sicher, auf welchem uralten und urheiligen germanischen Kulturboden die Männer des Ortes den Pflug zu Felde führen. Ein Bach plätschert freilich durch das Dorf und ergießt sich in das schon erwähnte Flüßchen, allein das Wässerchen heißt heute nur der »Bach« oder vielmehr die »Beke« an und für sich und trägt auf den ältesten Flurkarten und in dem Gedächtnis der ältesten Leute keine andere Bezeichnung.
Auch von dem Lauenhofe und den Herren von Lauen weiß der antiquarische Gelehrte einiges zu sagen; es hat sich das Geschlecht aber auch in frühern Zeiten von Goslar bis Quedlinburg der Pfaffheit und der Reichsbürgerschaft so bekannt gemacht, daß da – wie man heute in der Reichshauptstadt zu reden pflegt – alles aufhörte. Damals saß das Geschlecht jedoch weiter oben im Gebirge auf einer Burg, deren Trümmer der Liebhaber heute noch findet, wenn er vom Stubenberg bei Gernrode seinen Weg durch das wilde Hasseltal dem Hexentanzplatz zu nimmt. Leider hab ich vergessen, welcher Dynast, Bischof oder welche Stadt sich einst das Verdienst erwarb, mit dem Nest eine ganze Brut bis auf das jüngste Nestküchlein auszuräuchern; was aber dieses jüngste Nestküchlein anbetrifft, so habe ich eine dunkle Ahnung, daß es wie gewöhnlich durch einen treuen Diener gerettet wurde und sich unter den Schutz einer frommen Tante, einer Domina zu Gandersheim, flüchtete. Hier, unter der frommen Obhut und geistlichen Fürsorge wuchs der Knabe zu einem biderben Jüngling heran, sammelte später einen Haufen ihm an Flegelhaftigkeit und Frommheit nichts nachgebenden Gesindels, bemächtigte sich des Dorfes Krodebeck, richtete den Lauenhof auf, schlug sich weidlich herum mit Askaniern und Welfen, mit Stolbergern und Halberstädtischen und verschied seliglich als der Stifter einer neuen Linie, welche auch heute noch den Lauenhof festhält und wohl festhalten wird, obgleich sie auf zwei Augen und zwei Beinen steht, aber auf ganz muntern und soliden.
Von dem Lauenhof aus plagten die Ritter das Land bei weitem weniger als von der Lauenburg. Dagegen erzeugten sie mehr Korn, auch Obst aller Arten und vorzüglich viele Kirschen, die heutzutage in guten Jahren gern von Berliner Händlern auf den Bäumen gekauft werden. Sie brauten und brauen ein nicht zu verachtendes Bier, und ihre Viehzucht erhielt sich stets auf der Höhe der Zeit. Ihre Kinderzucht war weniger zu loben, denn das Geschlecht lernte erst gegen den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts das Lesen und Schreiben; allein jeweilig fand sich ein biederer Junker, der gern und aufmerksam zuhorchte, wenn berufene Leute, Kleriker oder Laien, die Rede auf ästhetische oder wissenschaftliche Dinge brachten. Glaubwürdige Zeugen dafür könnten wir vorführen, wenn es uns gestattet wäre, diesen oder jenen Stein auf den Gräbern der Mönche zu Walkenried, Michaelstein, Schlanstedt und so weiter umzuwenden und die ehrwürdigen Schatten der gelehrten geistlichen Herren heraufzubeschwören.
Sie saßen gern nieder an dem Herd der Lauen, die Mönche, die fahrenden Schüler, und manch einer der letzteren, welchen der harte Winter auf den Lauenhof trieb, blieb auch den lustigen Sommer über drauf hängen, zog mit auf die Falken-und Schweinsjagd und setzte, falls sich Dinte, Pergament und späterhin Papier fand, zum Dank für gut Futter und Losament die Familienchronik fort.
Welcher Art aber diese Aufzeichnungen waren, das will ich zum Lobe des guten Geschlechtes kurz, jedoch nicht unvergnüglich mit einer Probe belegen.
»Anno domini 1578 war Hilmar Juncker zu Krodbke und auf dem Lawenhofe, mit dem hat sich ein Sonderliches zugetragen und hat es eine merkwürdige Ehr und weitruchbar Gloriam auf ihme gebracht. Das lief folgendermaßen: Als in bemeldtem Jahr Herr Friedrich des Namens der Viert von Liegnitz mit Dem von Schweinichen zu Herzogen Julium kamen, daselbsten einen Zehrpfennig zu holen, hat sich die Fama, daß die beiden Herrn im Land seyen, gar balde verbreitert, und ist ein mächtig Aufsehen auf jeglichem festen Haus geworden; sintemalen es kein Kleines war, wann der Herr von Schweinichen mit seinem Liegnitzer Herzogen in ein Thor einritt. Und ist ein Kehlenräuspern und Greifen nach denen Gurgeln gewesen, und wurde manch gut Rößlein aus dem Stalle gezogen zum Ritte nach Wolfenbüttel für des hochlöblichen Kreises Ritterehre und Ruhm.
Und ist der Ruf auch auf den Lawenhof gekommen zum Juncker Hilmar, und nach dreyen verdrießlichen Tagen voll Kopfreibens und unnöthlichen Bedenklichkeiten hat auch er gesattelt zum großen Turney und ist mit denen anderen Herren und seinem Knecht Zwiebrecht Affen gen Mitternacht gezogen zu des Herzogen Julii Hoflager. Nun haben Fürstliche Gnaden wohl zu solchem Zusammenfluß ein wenig scheel gesehen, denn Sie waren ein gar genauer Herr und den Conviviis und Poculationes wenig ergeben, und mit der Ritterschaft hatte es auch sonsten einen Haken, von wegen der verpfändeten Schlösser aus der Erbschaft des Herzogen Erich, so Sie einlösten, und welche die Juncker nicht in Güte räumen wollten. Haben aber doch Schanden halber ein gut Auge zum bösen Spiel und Dem von Schweinichen und der Liegnitzer Liebden sammt der Ritterschaft des niedersächsischen Kreises machen müssen. So ist das Saufen angegangen auf dem Schlosse in dem Saale, so man den burgundischen nennt, und hat zum guten Anfang gewähret drey Tage und drey Nächte in Einem fort. Am vierten und fünften Tag hat man den guten Rausch verschlafen, und am sechsten Tag hat man unter Fürstlicher Gnaden Fürtritt des Ortes Merkwürdigkeiten visitiret, und ist allda des Herrn von Lawn Ehr mit Gottes gnädiger Zulassung auf dem Tisch gehoben. Nämlich nachdem dem Liegnitzer und Dem von Schweinichen Pulver und Geschütz, Bley und Kostbarkeiten aller Art gezeiget worden sind, hat ihnen Herr Julius den Mund zum Beschluß am wässerigsten machen wollen; da sie doch ja nur auf einer Bettelfahrt da waren. Hat man ihnen nämlich im Provianthaus die große gerauchte Bratwurst, so ein viertel Meyl Weges lang gewesen ist, gezeiget! Sind dem Schweinichen freylich die Augen übergegangen, und der Herzog Julius hat sich des baß ergötzet; aber nicht lange; denn auf die Frag, wie viel Zeit ein Mann zu thun hätt mit dem Wunderstück, ist mein Juncker Hilmar von Lawen vorgetreten und hat gesprochen, mit Gott’s gnädigem Beystand verhoff er’s fertig zu bringen in vieren Tägen; allein es müsse der Trunck nicht darzu fehlen.
Da hat man laut aufgeschrien vor Wunder, und Jeder hat seine Meinung gehabt und der Herzog Julius die seinige, nämlich er hätt seine Wurst nicht gern an die Probe gesetzet. Allein wiederumb der Schanden halber, und weilen die Ritterschaft mit Heimtücke zugestachelt hat, mußte er den Liebling dranrücken, und am sechsten Tag der Festlichkeit ist dem Juncker von Lawen der Zipfel in den Mund gegeben und haben die Anderen im Kreise das Bacchanalium mit großer Lust aufgenommen. Ist nun freylich des Herzogen Gesicht um so länger geworden, je kürzer die Wurst wurd; aber die Juncker haben mit heimlicher böser Lust dem zugesehen und den Herrn von Lawen mit gutem Trost und Zuspruch ermuntert.
Es war die Wurst um eine Säule gelegt, und vier Tage lang hat sich der Herr Hilmar um gemeldte Säule fort und fort herumgefressen, und am dritten Tag schon ist ein Eilbot an den ehrbaren Rath zu Braunschweig um einen Schilderer abgesendet, daß er den Juncker mit dem letzten Zipfel der Wurst zum ewigen Gedächtnuß abconterfeie. Am vierten Tag mußte der Herzog richtig mit saurer Miene alle Drommeter und Heerpauker dem Herrn Hilmar zu Ehren posaunen und pauken lassen, und die Ritterschaft hat den Juncker mit Triumph auf den Schultern in sein Quartier getragen und ihn auf das Stroh gelegt zum Verdauen. Der Liegnitzer und Der von Schweinichen sind am folgenden Tage abgezogen, nachdem sie den Wirt kahl genug gemacht; allein Der von Lawen lag acht Tage und grunzte im Schlaf, und sein Knecht Zwiebrecht Affen pflegte ihn lieblich. Der Liegnitzer und Der von Schweinichen ritten zu Herzogen Heinz von Dannenberg auf das nämbliche Spiel, aber mein gnädiger Juncker Hilmar kam auf einem bekränzten Leiterwagen mit Geschnarrch und im tiefsten Schlaf auf dem Lawenhofe an, und hätt der getreue Knecht Zwiebrecht der Frauen nicht verzählet, was der Gestrenge ausgeführet und zu ewigem Ruhm des Hauses Lawen ausgefressen, mein gestrenger Juncker selber hätt wenig darvon sagen können.«
Auf einem etwas später geschriebenen Blatte der Chronik des Lauenhofes ist zu lesen, daß der Herzog Julius eine heftige Abneigung gegen das Geschlecht der Lauen bekommen habe und daß er den Namen nie hören konnte, ohne einen argen Verdruß und Widerwillen kundzugeben; wir aber hoffen fest, daß jene große Wurst weder in dem Magen noch in dem Gemüte einer unserer zartsinnigen Leserinnen einen Ekel an dem guten Geschlechte und unserer Geschichte erregte, und verpfänden unser Wort, daß ein ähnlicher Diätfehler im fernern Verlaufe ebendieser Geschichte nicht wieder vorfallen soll. Das silberne Glöcklein erklingt, und auf das etwas schauerliche mittelalterliche Schattenspiel, welches doch ein wenig gegen unsern Willen an der Wand aufdämmerte, folgt das Schattenspiel der süßen Gegenwart, die ihrer Verdauungskraft sicher nicht auf eine Viertelmeile Weges hinaus trauen dürfte, allein dafür in anderer Weise Taten ausübt, auf welche sie ebenso stolz sein darf wie der Junker Hilmar auf die seinige im Provianthause zu Wolfenbüttel.
Auf den Junker Hilmar folgte der Junker Asche, der noch ziemlich weit in den Dreißigjährigen Krieg hineinreichte und welchem es hundeelend darin ging. Auf diesen folgte Jobst und auf diesen wiederum ein Asche, der unter den Brandenburgern vor Turin das Leben verlor, allein glücklicherweise vorher einen Sohn erzeugt hatte, welcher den Alten Fritz noch als blutjungen Burschen zu Küstrin aus dem Fenster gucken sah und von dessen sechs Söhnen fünf im Siebenjährigen Kriege fielen. Der Überlebende tat das Seinige, den Verlust auszugleichen; doch auf dem Lauenhofe regierten nur noch zwei Herren von Lauen bis zu Hennig, der bei Beginn dieser Geschichte Stammhalter des Geschlechtes ist und gewissermaßen eine Rolle darin spielt, zuerst freilich nur eine Rolle unter der Vormundschaft seiner Frau Mutter, die sich selber einführen mag, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Die gnädige Frau ist resolut genug dazu, und wir haben andere Leute, welche einer teilnahmsvollen Einführung eher bedürftig sind als jene.
Da ist zuerst und vor allen Dingen mit dem größten Respekt Herr Karl Eustachius von Glaubigern, ein westfälischer Edelmann und armer Vetter, der nach Abschluß des zweiten Pariser Friedens aus dem Kriege verwundet, mit Rheumatismen behaftet und sehr kahl in Beutel und Hoffnungen auf dem Lauenhofe einrückte und – nebst dem Kinde der schönen Marie – den höchsten Anspruch auf Achtung in dieser Historie hat. Er ist langen Wuchses, hält sich ungemein reinlich und nimmt sowenig als möglich Dienstleistungen an. Er geht und spricht langsam, sammelt Wappen, weiß darüber zu reden und zu schreiben und ist der einzige, welchen die gnädige Frau nach dem Tode ihres Gemahls dann und wann um Rat angeht und welcher diesen Rat auch wirklich zu geben weiß. Die Nachbarschaft gibt ihm den Ehrentitel des Ritters, und das Fräulein Adelaide Klotilde Paula von St-Trouin nennt ihn den Chevalier; er aber verdient die Bezeichnung, und zwar nicht allein deshalb, weil er in einem Kürassierregimente gegen die Franzosen zu Felde zog.
Das Fräulein Adelaide Klotilde Paula de St-Trouin kam einige Jahre früher als er auf dem Lauenhofe an, ist auch einige Jahre älter als er und würde ohne die abscheuliche französische Revolution von 1789 nicht unter den Barbaren des Herzynischen Waldes leben. Sie ist die Tochter des Grafen von Pardiac, der im Anfang dieses neunzehnten Jahrhunderts einer der tüchtigeren Zeichenlehrer zu Berlin war, aber doch in großer Armut starb und seine Tochter dem Großvater des Junker Hennig vermachte. Das Hofgesinde bezeichnet sie kurz als »Frölen« oder höchstens »Frölen Trine«; aber sie selbst nennt und schreibt sich: Très noble et très puissante Dame Comtesse de Pardiac, Dame Haute-Justicière du Comté de Valcroissant, née Chevalière de Malte par privilège accordé par le Pape Honorius III à la très illustre famille de Jehan de Brienne, premier Prince de Tyr et ensuite Empereur de Constantinople. Zu deutsch: Sehr edle und mächtige Frau Gräfin von Pardiac, Frau und Gerichtsherrin der Grafschaft Valcroissant, geborene Ritterin von Malta zufolge des Privilegs des Papstes Honorius des Dritten, verliehen der sehr glorreichen Familie Johanns von Brienne, ersten Fürsten zu Tyrus und späterhin Kaisers von Konstantinopel.
Die Last aller dieser Titel und Würden, welche alle, bis auf die Malteserritterschaft und den Papst Honorius, dem Chevalier ungemein »plausibel« erschienen, hat nicht in der vorteilhaftesten Weise auf den Charakter des Fräuleins eingewirkt. Es fühlt sich selbstverständlich leicht in seiner Würde gekränkt und ist etwas zänkischer Natur. Der Chevalier hat am meisten unter den Launen der Chevalière zu leiden, denn die Gutsfrau hat selten Zeit, darauf zu achten, und weist noch dazu alle Zumutungen mit ihrem Lieblingsworte ab:
»Herze, das ist alles dummes Zeug, und darauf kann ich mich nicht einlassen. Wissen Sie was? Gehen Sie damit zu dem Ritter.«
Das Fräulein folgt fast immer diesem Rate, wenn es sich nicht mit irgendeinem französischen Romane, Memoirenwerk oder, seltsamerweise, mit Hufelands »Kunst, das Leben zu verlängern« in einen Winkel zurückzieht, um das Leben zu verachten. In den sonnigeren Momenten seiner Existenz beschäftigt sich das Fräulein mit allerhand leider meistens vergeblichen Versuchen, von der Höhe des Daseins herabzusteigen und sich dem gemeinen Volke, dem Rest der Menschheit, soweit er durch die Bauern von Krodebeck vertreten wird, zu nähern und von »wohltätigem Einfluß« auf ihn zu sein. Adelaide Klotilde Paula von St-Trouin hat das heftige Bedürfnis, gute Lehren zur unrichtigen Zeit und an dem unrichtigen Orte zu erteilen, wie sie immer noch imstande ist, eine Stunde nach Mitternacht plötzlich die Gitarre am blauen Bande umzuhängen und zum Entsetzen sämtlicher Bewohner des Lauenhofes zu beginnen:
A Toulouse il fut une belle; Clémence Isaure était son nom: Le beau Lautrec brûla pour elle, Et de sa foi reçut le don.«
Für die Stunden der Nacht ist der »schöne Lautrec« zwar sehr angenehm; allein für den langen Tag genügt er doch nicht, und das Fräulein hat einen angemessenen Raum im Busen übrig für sein Hündchen Peccadillo, welches gleich seiner Herrin sehr nervöser Natur ist und mit dem stattlichen ruhigen Kater Mystax, dem Stuben-und Studiengenossen des Ritters, auf einem ähnlichen Fuße lebt wie das Fräulein selber mit dem Chevalier.
Das ist ein Schattenspiel, aber ein etwas chinesisches, und der junge Herr Hennig von Lauen hat ausnehmenden Nutzen davon! Das trippelt und tänzelt und ziert sich wie die Figuren auf einem Rokokodamenfächer. Wie auf alten Punschschalen und Teetassen lächelt und verbeugt sich das und führt unter den sehr abnormen Bäumen und Büschen der Phantasie sehr abnorme Tierlein spazieren, während erstaunlich merkwürdige Vögel die Luft durchschwirren und bedenkliche Nester in dem Flachskopfe des Junkers Hennig bauen würden, wenn die gnädige Frau Mutter nicht manchmal mit einem verständigen Holla! und Halt da! dazwischenführe.
Es arbeitet mancher und manche an der Erziehung des kleinen Hennig; denn viel Leute: Bergleute, Schäfer, Jäger, Bauern und Bettler, kommen und gehen auf dem Lauenhofe, und der Vagabund, der euch einst – vor langen, langen Jahren vielleicht – am Weidenbach die erste Pfeife schneiden und blasen lehrte, war oft von größerem Einflusse auf eure Erziehung und euer Leben als der sehr gelehrte und ernste Mann, welcher zuerst die lateinische und griechische Grammatik euch vor der Nase aufschlug und behauptete: nur in ihr sei das wahre Arkanum des Wandels im Fleisch zu finden und ohne sie kein Heil und Vergnügen auf Erden weder in den Tagen der Jugend noch in denen des Alters.
Bergleute, Fuhrleute, Schäfer, Jäger, Bauern und Bettler hielten sich gern auf dem Lauenhofe auf, denn es war von jeher ein nahrhafter Hof und die Geschichte weiß nur von einem einzigen Herrn von Lauen, der ein geiziger Hund war und deshalb in größter Mißachtung bei seinen Stammesgenossen steht. Menschen und Tiere haben es gut auf dem Lauenhofe, so wie auch die Geistlichkeit stets das Ihrige bekam, sowohl früher in katholischer wie jetzt in lutherischer Zeit. Freilich, was der Pastor von Krodebeck ein »inniges, gottgefälliges Verhältnis« nennt, findet nicht statt. Die gnädige Frau geht so resolut an ihre Erbauung wie an ihre Arbeit, bringt einen merkwürdig scharfen und geraden Blick sonntags in die Kirche mit und hat häufig nach der Predigt ihrerseits ihrem frommen Seelenhirten den Text gelesen. Der Chevalier und das Fräulein sind katholischen Bekenntnisses, wovon jedoch der Chevalier nie Gebrauch macht, während das Fräulein sich häufig eines etwas enzyklopädistischen Anhauches nicht erwehren kann, was nicht immer vollständig zu ihren Verpflichtungen gegen den Papst Honorius den Dritten paßt. Der Pastor von Krodebeck speist nicht selten mit seiner Gattin auf dem Lauenhofe zu Mittag, aber der Ritter von Glaubigern spricht immer das Tischgebet.
Die Landstraße führt durch das Dorf Krodebeck, und jenseits des Dorfes, dem Norden zu, liegt ein wenig abseits der Straße ein kleines ärmliches Haus oder vielmehr eine niederträchtige verwahrloste Hütte neben einem Wassertümpel und dem Kirchhofe: das Armen-und Siechenhaus der Gemeinde. Unmalerisch ist das Ding nicht. Die Eschen-und Holunderbäume des Kirchhofs bilden einen ganz freundlichen Hintergrund für das graue Strohdach; allein ein Vergnügen ist es keineswegs, in dem Siechenhaus von Krodebeck leben und dem Dorfe zur Last liegen zu müssen.
Die Hütte enthielt zwei Gemächer, das eine rechts, das andere links von der morschen Eingangstür, dazu eine sehr primitive Zigeunerküche und unter dem Dache einen engen Bodenraum, in welchen Wind, Regen und Sonnenschein nach Belieben eindringen konnten. Manch liebes langes Jahr hatte an den schwarzen klebrigen Pfosten gerüttelt, und niemand zählte die schleichenden Schritte der Verlorenen, welche diese unglückselige Schwelle ausgetreten hatten. Von den kahlen Wänden hatte sich der Kalküberwurf längst abgelöst. Die Scheiben in den niedrigen Fenstern schillerten in jenen ironischen Regenbogenfarben, welche ein so arger Hohn auf jenes lieblichste Himmelszeichen sind, das einst der liebe Gott als den Bogen des Friedens über die ertränkten Geschlechter ausspannte; und gerade weil das alles so war, so hatte das Haus seine Geschichte wie das stolzeste Königsschloß, so gut wie das Heidelberger Schloß, die Alhambra und was es sonst für Ruinen in der Welt gibt.
Aber niemand hatte diese Geschichte aufgezeichnet, und so müssen wir uns an der melancholischen Moral genügen lassen, welche aus allen Ruinen aufwächst, einerlei ob sie einen Historienschreiber fanden oder nicht.
In dunkeln windvollen Herbst-und Winternächten tastete etwas wie mit unsichern Händen an den Wänden hin, klopfte an die Fenster und ächzte und stöhnte in den Winkeln oder gab sich mit einem dumpfen Fall und schnellem Laufen und Trappeln auf dem Dachboden kund. Dann kam es auch wohl häufig mit dem Ruß im Schornstein wie ein Schnarchen und Schnauben herunter, wie ein Fluch auf die harte, böse Welt, die solche Zufluchtsorte für ihre Armen, Kranken und Beladenen bauen kann; dann – ja dann war es Nacht und Winter und nicht heller Tag und Sommer wie damals, als das alte Weib, in jener Zeit die einzige Bewohnerin des Siechenhauses, am offenen Fenster in der Sonne saß und auf der Landstraße jenen Karren, der eine so große Ähnlichkeit mit dem Schüdderump hatte, vorbeikommen sah.
Das wäre die rechte Historiographin für die Hütte gewesen, diese alte Frau, welche an jenem Tage das Reich allein hatte im Siechenhaus zu Krodebeck und welche schon so manche Generation in dem armseligen, häßlichen Asyl hatte kommen und schwinden sehen! Es ist die Eigenart solcher Häuser, daß sie manchmal voll bis zum Überlaufen und manchmal leer sind wie das Gehirn eines Narren oder wie das Herz eines Klugen. Es hatte Zeiten gegeben, wo der Raum für die Bewohner des Hauses durch Kreidestriche auf dem Fußboden nach Zollen abgemessen war, wo das Alter in jedem Winkel hockte und mummelte, wo die Krankheit bis unter das Strohdach sich wand und wimmerte und wild hinausschrie, wo unter den Lagerstätten der mit dem Nervenfieber Behafteten die Kinder krochen, kreischten und zappelten, bis der Tod und der Gemeinderat aufräumten. Der letztere pflegte nämlich in den Nervenfieberzeiten Erd-und Strohhütten auf dem Anger vor dem Dorf zu errichten.
Der Säuferwahnsinn, der Blödsinn und die gemeine verkommene Brutalität des aus dem Zuchthause entlassenen Verbrechers waren in dem Siechenhause zusammengehäuft worden, und das alte Weib hatte damit hausen müssen und hätte darüber reden und schreiben können. Sie tat aber selbst das erstere nicht gern; denn sie hatte sich leider diesen Dingen und Zuständen gegenüber nicht die gehörige Objektivität bewahrt, sondern ganz jämmerlich und subjektiv darunter gelitten und schauderte sprachlos, wenn sie daran dachte. Es war lächerlich, allein dessenungeachtet doch wahr: die alberne alte Person hatte unter dem Geschrei und Gestöhn, den Zoten und Flüchen an ihren Nerven gelitten wie die vornehmste Dame, die nicht zwanzig lange Jahre hindurch dergleichen ertragen und anhören mußte. Man konnte nicht verlangen, daß, als endlich der Alte da oben ein Einsehen tat, gesunde und nahrhafte Jahre schickte und die Bevölkerung des Siechenhauses zu Krodebeck auf die eine oder die andere Art lichtete, daß, sage ich, die Alte hier unten sich hinsetze, ihr Elend beschreibe und den Schüdderump als das einzig echte und wahrhaft philosophische Vehikel für alle Dinge und Vorkommnisse auf Erden hinstelle!
Sie versuchte höchstens, die Stille und Einsamkeit zuguterletzt noch einmal zu einem kurzen Nachdenken über ihr eigenes Leben und ihren eigenen Tod zu benutzen; allein auch das ging schlecht genug, und das war kein Wunder in Anbetracht der übermäßigen Betäubung.
Die Landstraße lag in der vollen Glut der Julisonne da, und man übersah sie von dem Fenster des Armenhauses aus eine ziemliche Strecke, bis sie in einem Buchengehölz und Tannenwalde verschwand. Aus diesem Gehölz und Wald hervor kroch in einer Staubwolke der Karren, von dem wir eben redeten, und der uniformierte und mit einem großen Säbel bewaffnete Reiter, der ihn geleitete, ließ sein Pferd neben ihm im Schritt gehen. Es war ein grau angestrichener Karren mit einem grauen Leinwanddach, und er wurde von einem magern Gaule gezogen, dessen Lenker in einem blauen Leinwandkittel verdrießlich nebenherschritt. Er kroch langsam heran, aber die alte Frau im Siechenhaus hatte Zeit, ihn zu erwarten, und tat es in stumpfsinnigem Hinbrüten, indem sie die Hand über die blöden Augen hielt und mit schläfrigem Nicken ihm entgegensah, bis er dicht vor ihrem Fenster angelangt war und der Landreiter ironisch grüßend die Hand an die Pickelhaube legte.
Da blieb der zahnlose Mund offenstehen vor Schrecken, die alten, hagern, braunen Hände fingen mehr als gewöhnlich an zu zittern, und die Herrin des Siechenhauses zu Krodebeck hinkte mit leisem Ächzen vom Fenster weg, verkroch sich wieder einmal im dunkelsten Winkel und seufzte:
»O liebster Herrgott im Himmel, hol mich doch endlich ab aus der Welt, wenn du mir absolut keine Ruhe lassen willst!«
Der Karren fuhr dem Dorfe zu; die Grillen zirpten ruhig weiter in den Gräben, die Schwalben fuhren über den Weg, die Spatzen zankten sich in den Apfelbäumen; die Uhr auf dem Kirchturm schlug fünf, und es kam nicht das geringste darauf an, ob die Alte im Siechenhaus Ruhe haben sollte oder nicht.
An diesem nämlichen Nachmittag hatte die Familie auf dem Lauenhofe ihre Siesta ohne Störung gehalten, dann den Kaffee in einer der schattigen Lauben des Gartens eingenommen, und darauf war jeder seinen eigenen Wegen und Geschäften nachgegangen, ohne von dem andern gehindert zu werden, – alles nach gewohnter Sitte und Weise.
Es war ein ziemlich heißer Tag; aber es war ein schöner und, sozusagen, nahrhafter Tag. Die Harzberge erhoben sich lachend im blaugrünen Glanz, über den Feldern und Wiesen lag jenes Flimmern und Zittern, welches auch über den Werken der großen Dichter liegt und überall die Sonne zur Mutter hat.
Jeder Bauer verspürte den Tag wie einen Handschlag auf das Versprechen einer guten Ernte; jede Bäuerin schwitzte mit Behagen in den Abend hinein. Selbst aus den Ställen erklang das Gegrunz der Schweine wie ein mit Mühe unterdrückter behaglicher Jubel über die schönen Würste und fetten Schinken, welche die lieben Tiere für den Winterkohl des Jahres mit Selbstgefühl in der Stille heranbildeten. Gutmütig heiter sprudelten die Dorfbrunnen trotz der Wärme hervor, in den Baumgärten wälzten sich die Kinder im hohen Grase; die Hühner und Gänse gackerten und schnatterten im Schatten der Ackerwagen und der Hecken, und auf der Terrasse des Gutsgartens las Fräulein Adelaide von Saint-Trouin die Korrespondenz der Marquise de Pompadour, durch deren Erdichtung sich der jüngere Crébillon ein so großes Verdienst um die gebildete europäische Welt am Ende des vorigen Jahrhunderts erwarb.
Es stand ein chinesischer Pavillon auf dieser Terrasse, von welcher aus man die Dorfstraße und den Platz vor dem Hause des Schulzen überblickte. Schläfrig-träumerisch sahen Peccadillo und Mystax von der Mauerbrüstung auf das Dorf hernieder, und mit höhnischem Behagen sah von Zeit zu Zeit das Fräulein über seinen Crébillon weg auf den Band des Télémaque, welchen es dem Chevalier zur eigenen nützlichen Nachmittagslektüre und zur Bildung des jungen Hennig in die Hand gegeben hatte und welchen er sowohl wie der junge Hennig mit höflichem Mißbehagen in Empfang genommen hatten.
Da ein jeder der im Pavillon Versammelten die Aussicht kannte, so bekümmerte man sich durchaus nicht um sie, und das Gepolter eines vorbeifahrenden Karrens konnte die Aufmerksamkeit auch nicht erregen; aber der junge Hennig hatte, auf dem Knie des Chevaliers sitzend, soeben eine ziemlich anzügliche Bemerkung über den ehrenwerten Herrn Mentor gemacht, als ein von der Gasse herauftönendes Lärmen, ein verwirrtes Geschrei und Johlen sowohl den Fenelon als auch den Crébillon für den heutigen Tag vollständig zu den Akten legte.
Jener Karren, welcher dem alten Weibe im Siechenhaus einen so argen Schrecken eingejagt hatte, hielt jetzt vor dem Hause des Gemeindevorstehers, und ein guter Teil der Dorfbewohner war bereits um ihn versammelt und machte seinen Gefühlen durch das eben erwähnte Getöse Luft. Der Dorfschneider, welcher noch in dem süßen Kreise gefehlt hatte, kam eben eilig, um die Lücke auszufüllen, und rief im Vorüberlaufen dem Ritter eine Neuigkeit zu, welche auch das Malteserfräulein über die Marquise von Pompadour hinaus merkwürdig interessierte. »Mon Dieu, das ist das Widerlichste, welches mir heute begegnen konnte!« rief das Fräulein, die Pompadour in den Pompadour schiebend. »Mais, Chevalier, ich glaube, es ist unsere Pflicht hinabzusteigen, um – um –«
»Um unnötige Aufregung und Roheiten der Menge zu verhüten!« schloß der Ritter höflich und bot der Dame den Arm, um sie samt dem jungen Hennig die Treppe hinabzuführen, welche von der Terrasse in die Dorfgasse hinunterlief.
Sie gingen auf den Haufen zu, welcher sich vor der Tür des Schulzen angesammelt hatte, und selbstverständlich machten die Leute ihnen gern Platz. Auf der Vortreppe des Hauses stand der Landreiter, der das Fuhrwerk geleitet hatte, mit einer braunroten Feldwebelbrieftasche in der Hand, und neben ihm stand Klodenberg, der Ortsvorsteher, und sah aus – sah aus wie ein Bauer, der Ja zu einer Sache sagen muß, ohne vorher einen jahrelangen Prozeß darum führen zu dürfen.
»Das hilft Euch nun weiter nichts, Klodenberg; also nehmt Vernunft an«, sprach der Reiter. »Raus mit der Bescheinigung für richtige Ablieferung, und nachher wünsche ich recht viel Pläsier und die wenigsten Unkosten mit der Bagage. Ziert Euch nicht, Vadder, und macht’s kurz und propre. ‘s ist ein durstiger Dienst, und ich hab so kaum Zeit für eine Pfeif Tobak im Krug. Aufgesessen! Marsch!«
»Das sagen Sie wohl, Wachtmeister; auf der Zierlichkeit kommt’s mich freilich nicht an, und ein Präsedenzfall ist’s auch nicht, denn es ist schon zu oft dagewesen; aber eine Schande ist’s und bleibt’s mit und ohne die Kosten«, brummte der Schulze, der wohl wußte, daß die halbe Gemeinde und der ganze Gemeinderat ihn auf eine derartige Gemütsäußerung ansehe.
»So ist es, Klodenberg; und in den Schein könnt Ihr’s auch setzen, daß es so ist!« brummte der Kreis nach.
Lang und dünn hob sich jetzt das maltesische Fräulein auf den Zehen und guckte mit der Lorgnette unter die Leinwanddecke des Wagens; über die Schulter des Fräuleins sah der Chevalier, und der junge Hennig wurde von einem Knecht des Gutes in die Höhe gehoben, damit er ebenfalls von dem Wunder und Vergnügen zu genießen bekomme.
»Ei mein Himmel, sie ist’s«, murmelte das Fräulein giftig und erbarmungslos; der Chevalier nahm eine Prise und zog die Achseln in die Höhe und schüttelte den Kopf mit einem bedenklichen: »Hm, hm!« Der junge Hennig aber sperrte den Mund weit auf und griff mit beiden Händen seinem Träger in das Halstuch.
Das Schauspiel konnte nicht erfreulich genannt werden, und die Bemerkungen Klodenbergs waren, von einem gewissen Standpunkt aus, gar so unbegründet nicht. Ein Weib lag, in sich zusammengezogen, unter dem Tuch auf einem Bündel Stroh und vergrub das Gesicht in dieses Stroh, als könne es nichts mehr von der Welt brauchen und wolle nichts mehr von ihr sehen. Und von der Brust oder aus den Armen des Weibes war ein Kind, ein kleines Mädchen, gegen das Fußende des Wagens hinabgerutscht, hatte sich an dem Wagenrand emporgehoben, klammerte sich mit beiden Kinderpfötchen krampfhaft da fest und sah mit großen, schwarzen und merkwürdig ruhigen Augen unter dem Verdeck hervor auf die höhnische erboste Menge, als könne es nie genug von dieser Welt bekommen, von der die Mutter genug, übergenug, viel zuviel bekommen zu haben schien.
»Wer ist das? Ist das wirklich Marie Häußler?« wendete sich der Chevalier an die Autoritäten des Ortes, welchen natürlich das böse Weib des Dorfes das Wort abschnitt, ehe sie den Mund zum Antworten öffneten, indem es kreischte:
»Die Marie, die schöne Marie ist’s, wirklich und wahrhaftig, obgleich man’s ihr nicht mehr ansieht, Herr von Glaubigern. Marie Häußler mit ihrem Balg ist’s, und nun ist’s gekommen, wie wir’s lange verhofft und wie das gnädge Frölen es lange vorausgesagt haben, und sie kommt in der Kutschen und mit zweien Bedienten ins Dorf zurück, wie sie es selbst vorausgesagt hat, Herr von Glaubigern, und hier sind wir alle miteinander, um sie nach Gebühr mit Vivat und Musik wie ‘n neuen Pastor zu empfangen.«
Das Volk von Krodebeck pfiff und schrie selbstverständlich nach diesen anregenden Worten, aber der Wachtmeister rief wütend von der Treppe herab:
»Haltet das Maul, ihr Rüpel und Lümmel, und der Hexe da schlage ich auf das Maul, wenn sie es nicht halten kann! Noch steht die Fracht und Fuhre unter meinem Kommando, und da duld ich keine Anzüglichkeiten. Wann ich die Quittung hab, mögt ihr Bauern sagen und tun, was ihr wollt; mich geht’s weiter nichts an.«
Ein für die arme Heimkehrende viel Übel bedeutendes Murren und stilles Schimpfen lief durch den Haufen. Die Kranke verkroch sich darob tiefer in ihr Stroh, nachdem sie einen matten Versuch gemacht hatte, das Kind zu sich hinzuziehen. Das Kind sah sich auf das Rascheln des Strohes um nach seiner Mutter und lachte dann, als ob es meine, die Mutter wolle nur Verstecken mit ihm spielen; es ließ von seinem Halt ab, purzelte zurück und kroch mit glückseligem Kreischen zu ihr hinauf.
»Ich verbitte mir gleichfalls alle Anzüglichkeiten, denn was ich in betreff dieses Weibes gesagt habe und sagen werde, werde ich selber bemerken«, sprach plötzlich mit sehr schnarrendem Ton Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin auf der Höhe ihres Standpunktes als Haute-Justicière der Grafschaft Pardiac und klopfte, um ihren Worten mehr Nachdruck zu geben, mit dem jüngern Crébillon, den sie wieder hervorgezogen hatte, auf den Rand des Karrens. »Herr Wachtmeister, ich bitte –«
»Zu Befehl, gnädiges Frölen«, sagte der Landdragoner, ordonnanzmäßig die Hand an die Pickelhaube legend.
»Herr Wachtmeister, ist dieses Frauenzimmer wirklich die Marie Häußler hier aus dem Ort? Ist dieses in der Tat das Kind der Marie Häußler?«
»Zu Befehl, gnädiges Frölen. Die Papiere sind in schönster Ordnung, und Klodenberg weiß, daß er nichts dargegen machen kann. Aberst er tut’s und versucht’s doch, und das ist (mit einem verächtlichen Blick im Kreise umher) einmal ihre Art so. Wissen Sie, gnädges Frölen – Marie Häußler – Krodebeck – Heimatsberechtigung – schleichendes Zehrfieber – ärztliches Attestat – und kurzum – alles in schönster Ordnung.«
»So mache man dem Skandal endlich ein Ende und bringe die Person und das Kind unter Dach«, befahl das Fräulein, während der Chevalier wiederum ein kopfschüttelndes Hm, Hm hören ließ.
»Jaja«, brummte der Schulze, »schon recht! Alles in Ordnung; und wenn der Mensche alles gesagt und getan hat, was sein muß, so gibt er sich, weil er freilich nicht anders kann. Kommt herein, Wachtmeister, Ihr sollt die Bescheinigung haben und einen Nordhäuser dazu. Holla, ihr andern da, schiebt den Karren nur nach dem Siechenhaus; es ist nicht das geringste dagegen zu machen. Die Herrlichkeit ist da, die Kosten sind nicht wegzudisputieren; also – macht euch ein Verdienst aus dem Verdruß und macht dem Volk das Ding so bequem, als es eben angeht.«
Er trat mit dem Reiter in das Haus, und von neuem erhob sich das Geschrei, das Pfeifen und Grunzen von Krodebeck. Ein Dutzend Hände griff in die Speichen der Wagenräder, und ein Dutzend Hände griff dem Fuhrknecht in die Zügel seines hagern Gauls. Daß dieses doch nicht ohne Unbequemlichkeiten für die schöne Marie und ihr Kind abgegangen wäre, ist sicher; allein der Chevalier und die Nachkommin des tapfern Johann von Brienne legten sich mit ihrem ganzen Ansehen ins Mittel, und der junge Herr von Lauen half durch ein helles Gezeter.
So wurde der Karren vor das Siechenhaus von Krodebeck gezogen und geschoben, ohne daß – wenigstens auf diesem Wege – Mutter und Kind weiter zu Schaden kamen.
Adelaide von Saint-Trouin, welche eine zarte, eine zierliche Antipathie gegen jeden nahen Verkehr mit den untern Klassen der Gesellschaft hatte und aus gewissen Gründen eine unaussprechliche Abneigung gegen die schöne Marie zu hegen berechtigt war, ging nicht mit in das Siechenhaus, hielt auch den jungen Hennig fest an der Hand zurück, sowohl während der Karren abgeladen wurde, wie auch nachdem mit Hülfe einiger gutherziger Männer – nicht Weiber – die Kranke und ihr Kind in die Hütte geschafft worden waren. Der Ritter von Glaubigern, weniger zart organisiert, steuerte nach Kräften den noch immer sich wiederholenden Roheiten des Volks von Krodebeck, und es gelang ihm auch, den jetzt nachkommenden Vorsteher zu bestimmen, sein Ansehen in dieser Richtung walten zu lassen. Es zeigte sich, daß die alte Praktik des Gellertschen Amtmanns noch immer Geltung hatte. Der Dorfgewaltige wußte überzeugend zu sprechen. Vor seinen Ochsen, Eseln und Flegeln zerstreute sich der Haufen, bis auf das Malteserfräulein, welches sich keinen der mannigfachen Ehrentitel zurechnete und mit dem jungen Herrn von Lauen seinen Standpunkt auf der Landstraße behauptete, während der Chevalier jetzt hinter der Tür das alte Weib zu beruhigen suchte, welches, bis zum Zittern bestürzt über die neuen Ankömmlinge, die Hände rang und dumpfe Angsttöne hören ließ.
»Es wäre vielleicht angemessener, wenn wir nach Hause gingen, Hennig«, sagte das Fräulein. »Solche Szenen haben etwas Widerliches und Unschickliches, und diese vor allen kann mir nur peinlich sein. Auch sehe ich eigentlich nicht, welche Moral für dich, mein Kind, in diesem häßlichen Fall liegen könnte.«
»Ich gehe nicht nach Haus ohne den Herrn von Glaubigern«, sagte Hennig fest.
»Mon Dieu, der Chevalier! Ich begreife den Chevalier wirklich nicht. Er weiß doch, daß er hier auch einige Rücksicht auf mich zu nehmen hat.«
»Er wird der kranken Frau Geld geben, und ich will dem kleinen Mädchen meinen neuen Ball geben. Sagen Sie, Frölen Trine, weshalb schrieen und schimpften die Leute so sehr über die kranke Frau und das kleine Mädchen?«
»Hennig«, sprach die Abkömmlingin der Kaiser von Konstantinopel mit Würde und Entrüstung, »Hennig, wie oft habe ich mir schon diese pöbelhafte und zugleich alberne Bezeichnung meiner Persönlichkeit verbeten? Das ist unaussteh– nun, Vorsteher, sind Sie endlich mit Ihrem Arrangement da drinnen fertig?«
»Frölen Trine«, sagte der Vorsteher, sich den Schweiß von der Stirn wischend, »das sind kuriöse Sachen da innenwendig. Wer offiziell nichts drmit zu tun hat, der ist wohl dran, und wenn ich, mit Permission zu sagen, der Herr von Glaubigern wäre, so tät ich was Besseres, als mir darmit zu vermengelieren. Der Herr Ritter sind aber zu gütig, und so habe ich jetzo die Angelegenheit in seine Hände refüsiert, und er muß nun zusehen, wie er die Alte zur Ruhe und die Junge mit ihrer Krabbe in ein angenehmliches Verhältnis zu ihr bringt! ‘pfehle mich, Frölen Trine.«
»Er hat auch Frölen Trine gesagt!« schrie Hennig, dem abmarschierenden Schulzen nachdeutend. »Alle im Dorfe sagen es, und ich bin auch aus dem Dorfe, und es ist ganz die Geschichte vom kleinen Töffel, sagt der Herr Ritter!«
Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin erwiderte nichts. Sie schritt mit dem Crébillon im Pompadour und mit den Händen auf dem Rücken auf und ab vor dem Siechenhause, um das Wiedererscheinen des Chevaliers zu erwarten und von ihm ohne weiteres über den kleinen Töffel und das Verhältnis desselben zu ihr bedingungslosen Aufschluß zu fordern. Hätte sie eine Ahnung davon gehabt, daß der Schulze, im Weitereilen über die Schulter zurückblickend, tief geschichtsphilosophisch bemerkte: »Ein Frauensmensch ist genug, um sämtliche Nationen des Erdbodens in einen Knäuel drum aufzuwickeln!«, so würde sie sich auch zu dieser Unverschämtheit jedenfalls eine Erläuterung ausgebeten haben.
Die verscheuchten Dorfkinder lauschten verstohlen hinter und an den Hecken und suchten auf alle Weise die Aufmerksamkeit des Stammhalters der Herren von Lauen auf sich zu ziehen. Allein Hennig konnte sich jetzt nicht mit den Spielgenossen beschäftigen. All dieser Aufwand von Unruhe, Lärm, Ärger, geheimnisvollem Kopfschütteln und Ohrenkratzen beunruhigte sein junges Herz immer mehr, so daß er endlich in fast atemloser Spannung mit Auge und Ohr an den erblindeten Fenstern des Siechenhauses hing. Er fuhr ordentlich zusammen, als jetzt das eine dieser Fenster aufgerissen wurde und das gelbe traurige Gesicht des Ritters sich vorbeugte nach einem Atemzug frischer Luft.
»Ich bitte, Herr von Glaubigern«, rief das Fräulein, »die Atmosphäre hier ist drückend; – werden wir bald die Ehre haben –?«
»Sogleich, Gnädigste!« erwiderte der Chevalier mit artigstem Gruß und verschwand in demselben Augenblicke von neuem.
»Unausstehlich!« rief das Fräulein und zog den kleinen Hennig fast zornig über den Weg zu dem geöffneten Fenster hin. »Man scheint nicht die mindeste Zeit und Höflichkeit für uns überzuhaben«, murmelte Adelaide, während sie sich niederbückte und während Hennig sich auf den Zehen hob, um feurig neugierig in das Fenster gucken zu können.
»Also hier hängt der Schwarm am Zweig?« rief jetzt aber eine helle, sehr metallreiche Stimme hinter den beiden Lauschern. Mit aufgerichteter Nase, aufgestecktem Schurz und trotz der Hitze mit ungemein elastischem Schritt, welcher am ganzen nördlichen Abhang des Harzes seinesgleichen suchte, kam eine Dame über den Weg vom Dorfe her, der man es schon auf vierzig Schritt ansah, daß sie sich zur Herrin der Situation machen würde. Frau Adelheid von Lauen, die Herrin des Lauenhofes, war vor zehn Minuten auf dem Hofe von einem Ackerwagen niedergestiegen, hatte vernommen, was sich begeben hatte während ihrer Abwesenheit, hatte ihre Haube mit einem Ruck zurechtgeschoben und stand nun vor dem Siechenhause, um auch hier Ordnung zu stiften.
Zuerst bekam Hennig ihre wackere Hand zu kosten; im Vorbeimarsch fuhr sie ihm durch die Haare, zog ihm die Jacke zurecht und gab ihm durch einen wohlgemeinten Klaps zu verstehen, daß seine Erscheinung wie gewöhnlich mancherlei zu wünschen übriglasse. Sodann nahm Fräulein Adelaide einige geflügelte Worte in Empfang.
»Nichts für ungut, Base, aber ich wäre dem Dinge doch etwas näher gegangen und ließe mich jedenfalls nicht unnötig hier in der Sonne braten. Also die Marie ist wieder da? Das hat Sie wohl recht gefreut, Beste? Na, den Tag, an welchem sie kommen würde, konnte ich nicht vorauswissen; aber gewartet hab ich seit Jahren drauf. Jawohl, es ist auch für Sie eine recht nachdenkliche Geschichte, Fräulein Adelaide. Munter!«
Mit dem letzten Wort, welches sie nicht selten sowohl an ihre Reden vor dem Volk wie an ihre Selbstgespräche hing, nahm die Frau Adelheid das Siechenhaus mit Sturm, und zwar mit dem besten Willen, Ordnung, Friede und Sicherheit mit oder gegen den Willen der Leute darin aufzurichten.
Fräulein Adelaide dagegen faßte das Handgelenk des jungen Hennig fester, drehte ihn mit einem ärgerlichen Ruck um und führte ihn zurück auf die Gartenterrasse des Lauenhofes unter den chinesischen Pavillon. Hier angekommen, ließ sie den kleinen Junker nach einem zweiten Ruck frei, sank sodann auf den nächsten Sessel und befand sich bereits im nächsten Augenblicke in der Gesellschaft des jüngeren Crébillon tief in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit Peccadillo auf dem Schoße und Mystax in angemessener Entfernung zu ihren Füßen; – ach ja, Frau Gräfin von Baschi, ma vie est une mort continuelle. Je devrois, sans doute, me retirer de la cour: mais je suis foible, et je ne puis ni la souffrir ni la quitter. Es zeugte freilich von einer großen Mäßigung und Duldsamkeit, von einer höchst anerkennenswerten Milde im Charakter des Fräuleins, daß es so großes Elend so sanft ertrug und nicht längst den Hof, nämlich den Lauenhof, verlassen hatte, um in die orientalische Frage einzugreifen und als Prätendentin für den Thron von Byzanz aufzutreten.
Der junge Hennig, dessen Leben noch nicht ein ununterbrochenes Sterben war, vergaß bald die Ereignisse des Nachmittags, den Karren, den Wachtmeister, die kranke Frau mit dem kleinen Mädchen über wichtigeren Angelegenheiten. Die Verwalter ritten von den Feldern heim, und in ihrer Begleitung begann er die gewohnten Inspektionswege durch Kuh-und Pferdeställe. Dann war die Klappermühle im Bach, welche er am Morgen aufgerichtet hatte, im Gange zu halten; der Hühnerhof verlangte sein Recht, und mit der Dämmerung meldete sich das nicht ungerechtfertigte Verlangen nach dem Abendessen. Der Tag war hingegangen, ohne daß er sowohl für das Fräulein von Saint-Trouin wie für den Knaben etwas absonderlich Merkwürdiges mitgebracht hatte. Eiligen Schrittes kam die Gutsfrau vom Siechenhause zurück und stürzte sich von neuem in die gewohnteren Sorgen. Einige Zeit später kam der Chevalier langsam, melancholisch nachdenklich heim, stand einige Minuten wortkarg in dem Getümmel, der Unruhe, die auf dem Lande dem Feierabend voranzugehen pflegen, und schloß sich dann bis zum Klange der Tischglocke in seinem Zimmer ein. Nachdem diese Glocke er-und verklungen war und der sonst so pünktliche Ritter noch immer nicht erschien, stieg Mystax die Treppe hinauf, um ihn zu holen, und kratzte leise an seiner Zimmertür. Ihm gelang es, den Ritter aus seiner trüben Mutlosigkeit emporzuziehen, und unter seiner Führung erschien der Herr von Glaubigern in dem Gartensaale, in welchem der Tisch gedeckt stand.
Es war ein schöner Abend. Die Fenster und Flügeltüren des Saales waren weit geöffnet. Unter ihren hellen Glasglocken flackerten die Lampenflammen nur ganz wenig im kühlern Abendwinde, und vergeblich versuchten die verirrten Nachtschmetterlinge im taumelnden Flug gegen das Licht zu ihrem Verderben zu gelangen. Draußen rauschte und lispelte der Garten, die Frösche ließen sich bald näher, bald ferner vernehmen, und die Leute vom Lauenhofe hatten alle einen guten Appetit – alle, bis auf den Ritter von Glaubigern, welcher durchaus gar keinen Appetit bewies und gegenüber den freundlichsten Ermutigungen der Gutsherrin nur die Hand auf den Magen legte und mit stummem Achselzucken um Entschuldigung bat.
Nach dem Essen kam die Stunde, in welcher die Zeit, vorzüglich nach einem solchen heißen Tage, stillzustehen scheint, die Stunde, in der selbst der gefürchtetste und gehaßteste Anekdotenerzähler es wagen darf, sich noch einmal ungestraft seinem Laster hinzugeben, weil jedermann, geschaukelt zwischen dem Bewußtsein, daß es heute sehr heiß war und jetzt so angenehm kühl sei, manches ruhig hinnimmt, wogegen er sich in muntereren Minuten auf das hartnäckigste wehren würde.
Zwischen Schlafen und Wachen, mit der Stirn auf dem Knie des Chevaliers liegend, vernahm Hennig von Lauen die Geschichte der schönen Marie Häußler, verstand jedoch wenig mehr davon, als daß sie für die meisten Leute sehr traurig und unbehaglich war, aber dem Fräulein Adelaide von Saint-Trouin zu vielen ausgesuchten und treffenden Bemerkungen Anlaß gab.
Plötzlich fühlte er eine Hand in seinen Haaren und vernahm blinzelnd auftaumelnd die Worte der Mutter:
»Der Junge schnarcht doch zu greulich! Marsch zu Bett! Munter!«
Am folgenden Morgen wußte er weder von der Geschichte noch von den Bemerkungen das geringste mehr, und das war in mehrfacher Beziehung recht gut.
Die Alten und die Jungen, die Patrizier und die Plebejer, die Klugen und die Narren, die ehrbaren Frauen und jene muntern Frauen in roter Haube oder gelbem Mantel zogen sie hervor aus den Häusern oder huben sie auf in den Gassen und luden sie auf jenen schrecklichen schwarzen Karren, den Schüdderump. Das ist lange her. Der schwarze Wagen ist zu einer unvergleichlichen Merkwürdigkeit geworden und wird dem durchreisenden Fremden als die einzige Kuriosität des Städtchens, welches das Glück hat, ihn zu besitzen, gezeigt! Es ist lange, lange her, seit er zum letztenmal in Gebrauch war, seit zum letztenmal die Lebendigen vor dem dumpfen Geknarr seiner Räder vom Fenster wegstürzten und scheu einander ansahen und sich die Ohren verstopften! Wir haben eine sich selbst nicht wenig lobende Gesundheitspolizei, die Sitten sind andere und bessere geworden, selbst der Ungebildete weiß, daß grüne Pflaumen und Gurkensalat zur Zeit der Brechruhr nicht zu den gesunden Nahrungsmitteln gehören. Gesundheitsflanell, wollene Leibbinden und Korksohlen werden täglich in den Intelligenzblättern angeboten und von den verständigen Leuten gekauft. Selbst der Ungebildete vermag, wenigstens in Deutschland, die Intelligenzblätter zu lesen, für die Gebildeten haben Lessing, Herder, Schiller, Goethe und Jean Paul gelebt, und – um so erstaunlicher ist es, wie nahe wir trotz alledem doch noch dem Schüdderump stehen! Wer sich eingehender damit beschäftigt, dem vermischen sich endlich die Vorstellungen derartig, daß er kaum noch die Vergangenheit von der Gegenwart zu unterscheiden vermag.
Es war ein schönes, halbnacktes Mädchen, dem nicht einmal der Schwarze Tod alle Reize hatte nehmen können, und selbst auf dem Schüdderump wehrte es sich noch gegen die scheußliche Grube, gegen die Verwesung mit und in dem Haufen der andern Leichen. Ich habe sie im Traume gesehen; – die im letzten Krampf starr und steif gewordenen Arme klemmten sich zwischen den Leisten der Seitenwände des schwarzen Wagens, ein Nagel hatte ihr Gewand gefaßt und es ihr von den Schultern gezogen. Als die wilden, rohen Knechte den Karren umstülpten, schien diese Tote allein den andern Leichnamen nicht folgen zu wollen. Die Knechte mußten sie mit ihren eisernen Haken losreißen und sie den übrigen nachschieben, und sie lachten dabei und wiesen die Zähne und die Zungen; denn es war ein sehr schönes Mädchen und war noch schön auf dem Schüdderump – und so ist auch Marie Häußler, die Tochter des Dorfbarbiers zu Krodebeck, ein sehr schönes Mädchen gewesen.
Zieht den Hut; der eigentliche Held und Triumphator dieser Geschichte erscheint für einen Augenblick im Hintergrund und schleicht leise über die Bühne!
Dietrich Häußler wurde zu Anfang des Jahrhunderts in Krodebeck geboren. Er verheiratete sich im Anfange der zwanziger Jahre und zeugte die schöne Marie. Im Jahre achtzehnhundertneununddreißig starb seine Frau, nachdem er im Jahre vorher mit seiner Tochter aus dem Dorfe verschwunden war. Die schöne Marie kam im Jahre fünfzig mit ihrer kleinen Antonie zurück nach Krodebeck; der Stammherr des Geschlechtes Häußler von Haußenbleib, dem freilich Schild und Schwert sogleich mit in die Grube gegeben werden muß, wird im Jahre einundsechzig zurückkommen, wenn Antonie Häußler eine schöne Jungfrau geworden ist, und dann – dann wird der Titel des Buches seine volle Lösung finden.
Dietrich Häußler hatte mit dem Kollegen von Sevilla nur die leichte Hand, doch nicht den leichten Sinn gemein. Er rasierte eigentlich vortrefflich; allein da er den Gott in seinem Busen kannte und eine Ahnung davon hatte, zu welch großen Dingen er berufen sei, so rächte er sich für jetzt dadurch an seiner niedrigen Lebensstellung und an der Menschheit, daß er so schlecht als möglich rasierte. Blutgierig zog er an jedem Sonnabend den Bauern von Krodebeck die Haut ab, machte in dieser Hinsicht sein Handwerk wirklich zur Kunst und konnte so mit ganzer Seele sich seinem Geschäft hingeben, grad wie in früheren Jahrhunderten ein schwärmerisch entflammter Folterknecht dem seinigen. Er war gewiß nicht dumm, sondern ein hinterlistiger, heimtückischer Gesell, welcher seine Lehrzeit und drei Jahre drüber in Berlin zugebracht hatte und einen großen Teil seiner Lebensanschauungen und Grundsätze auf diese fromme und vergnügte Zeit begründete. Sein Weib und seine Kinder führten ein gar elendes Leben unter seinem Regimente. Sein Weib, von dem weiter nichts zu sagen ist, starb, und seine Kinder verdarben bis auf diese Marie, welche man in Krodebeck die schöne nannte und welche ebenfalls starb und verdarb, aber auf eine andere Art als die übrigen, denn die übrigen versanken nach einem kurzen Taumeln und Quälen in Krodebeck selbst; Marie aber kam in die weite Welt hinaus und erlebte viele Dinge, ehe sie nach Krodebeck zurückgebracht wurde, um ebenfalls daselbst unterzugehen.
Wie gesagt, hatte Dietrich die Verhältnisse der großen Stadt, da seine eigenen Neigungen schlecht waren, von der schlechtesten, erbärmlichsten Seite angesehen, und noch dazu von der erbärmlichsten Seite in der geringen Sphäre, in welche ihn sein Schicksal hingestellt hatte. Aber er war dazu mit einer gewissen Phantasie begabt, welche ihm die Dinge oft in einem absonderlichen Lichte erscheinen ließ. Er konnte so gut wie ein anderer träumen und die Wirklichkeit idealisieren und die Welt vollständig auf sich als den Mittelpunkt der Welt beziehen und in seinen einsamen Stunden gradeso glücklich sein wie ein anderer. Das ist das erfreuliche am Leben, daß der Mensch für seine Natur kaum verantwortlich zu machen ist, und so werden wir gewiß nicht auf den Meister Dietrich Häußler um das, was er war, und um das, was er wurde, mit zu finsterm Auge und zu tiefem Stirnrunzeln blicken. Nun hat ein Barbier in einer großen Stadt, der sich auch ein wenig aufs Frisieren versteht, Gelegenheit, allerlei zu sehen und zu hören, worüber sich nachdenkliche Betrachtungen anstellen lassen. Das Ideal tritt in erstaunlichen Formen auf, und schon in Berlin lag das Ideal für Dietrich in der Vorstellung, eine schöne Tochter zu haben und beliebig über dieselbe verfügen zu dürfen. Da er ein ganz stattlicher Bursche war, gelang es ihm, in der preußischen Hauptstadt in ein Geschäft hineinzuheiraten und dasselbe in zwei Jahren zu ruinieren. Er kam nach Krodebeck zurück, imponierte den Bauern mächtig in der ersten Zeit, log fürchterlich und wurde allmählich zu einer Persönlichkeit, welcher das Dorf alles in der Welt zutraute, jedoch nicht das Allergeringste anvertraute. Man lachte über ihn und fürchtete ihn ausnehmend, man glaubte seiner Versicherung, daß er morgen vierspännig fahren könne, wenn er wolle; allein man glaubte nicht, daß er morgen die fünf Silbergroschen, die er heute borgte, zurückzahlen werde. Man schenkte ihm heute die vollste Bewunderung und warf ihn morgen aus der Kneipe, und der, welcher ihm dabei den grimmigsten Fußtritt gab, schlich übermorgen zu ihm und schob die Schuld auf einen andern. Daß er seine Gelegenheit in allen Dingen abzuwarten wußte und nach Jahren noch jede Beeinträchtigung und Beleidigung heimzahlte, war jedermann bekannt, und da jedermann bekanntlich dem andern gern von Zeit zu Zeit einen tüchtigen Schabernack spielen läßt, so behauptete der Meister Dietrich Häußler seine Stellung in Krodebeck, bis er selbst es für angezeigt hielt, sie aufzugeben.
Er zeugte drei Söhne, die, wie gesagt, in früher Jugend verkamen, da er nichts mit ihnen anzufangen wußte. Nachher wurde Marie geboren und wuchs auf in Schmutz und Lumpen und hatte schon in ihrer Kindheit ein übel Leben; denn es wiederholte sich mit ihr eine alte, alte Geschichte, nämlich die von der Schönheit, welche in die Welt hineingeboren wird und natürlich von denen, die sich am heftigsten nach ihr sehnten, anfangs auf das stumpfsinnigste verkannt werden muß. Es haben viel größere und edlere Leute als der Barbier von Krodebeck ihr Ideal verkannt, ja blieben sogar noch hinter dem Barbier zurück; denn als diesem die Augen geöffnet worden waren, da glaubte er an sein Ideal und begrüßte es mit Jauchzen, was sehr hohe Geister und herrliche Charaktere sehr häufig nicht über sich gewinnen konnten.