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«Ist lange her, seit hier ein Zug durchgekommen ist», sagte der Fuchs. «Sehr lange», sagte der Dachs und nahm seine Fahrkarte zwischen die Pfoten. «Wo habt ihr gesteckt? Ihr seid reichlich spät dran.» Kate führt ein schönes Leben mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder Tom – wenn nicht alles so fürchterlich langweilig wäre! Als sie zu ihrem elften Geburtstag einen echten Zug geschenkt bekommt, kann sie ihr Glück kaum fassen. Mit dem SILBERPFEIL beginnt für Kate und Tom eine unglaubliche Reise, die durch grüne Dschungelwälder und trockene Wüsten führt, über blaue Meere und schneebedeckte Berge. Und damit nicht genug: Ihre Passagiere sind sprechende Tiere, die schon lange auf den SILBERPFEIL zu warten scheinen ... DER SILBERPFEIL nimmt seine Leser mit auf ein großes Abenteuer, das man niemals vergisst. Zum Wegschmökern und Träumen – und natürlich auch zum Vorlesen. Mit stimmungsvollen Illustrationen von Alina Brost.
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Seitenzahl: 179
Lev Grossman
Die abenteuerliche Reise in einem magischen Zug
Aus dem Englischen von Martina Tichy
Illustriert von Alina Brost
Die elfjährige Kate traut ihren Augen kaum: Mitten in ihrem Garten steht ein magischer Zug! Kaum ist Kate mit ihrem kleinen Bruder Tom eingestiegen, fährt der Silberpfeil auch schon los – und ein unvergessliches Abenteuer beginnt. Ihre Reise führt durch Dschungel und Steppen, über Meere und Berge und sogar zu den Sternen! Doch am abenteuerlichsten sind die Fahrgäste: An allen Bahnhöfen steigen Tiere ein, die offenbar schon lange auf den Silberpfeil gewartet haben. Sie alle sind auf der Flucht, denn ihre Lebensräume sind durch das Verhalten der Menschen bedroht. Kate und Tom müssen viele Aufgaben bewältigen, um die Tiere an ihre neuen Zielorte zu bringen – und um selbst wieder sicher nach Hause zu gelangen.
Lev Grossman (geboren 1969) ist ein US-amerikanischer Schriftsteller und Journalist. Bekannt wurde er mit seiner Fantasy-Trilogie für Erwachsene («The Magicians»).
«The Silver Arrow» ist sein erstes Kinderbuch. Es stieg gleich bei Erscheinen im September 2020 auf die New-York-Times-Bestsellerliste ein.
Alina Brost (geboren 1996) studierte Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Illustration. Sie ist fasziniert von magischen Welten und stets auf der Suche nach neuen Abenteuern in Büchern aller Art. Sie lebt mit ihrem Partner und vier Katzen in Augsburg.
Für Lily, Hally und Baz
Kate wusste nur zwei Dinge über Onkel Herbert: Er war sehr, sehr reich und völlig verantwortungslos.
Das war’s. Man sollte meinen, dass es da noch mehr gäbe – schließlich handelte es sich um ihren Onkel –, aber tatsächlich war sie Onkel Herbert noch nie begegnet, hatte noch nicht mal ein Foto von ihm gesehen. Er war der Bruder ihrer Mutter, und ihre Mutter und Onkel Herbert verstanden sich nicht gut.
Was schon eigenartig war, wenn man es genauer bedenkt. Kate hatte einen jüngeren Bruder namens Tom, und er war ein schreckliches Ekel, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihn nicht wenigstens ab und an mal zu sehen. Doch bei Erwachsenen war das offenbar eine andere Sache.
Onkel Herbert kam nie zu Besuch. Er rief nie an. Wo wohnte er? Was tat er den lieben langen Tag? Seltsame Dinge, wie reiche Leute sie eben machen, dachte Kate – zu fernen Inseln reisen, seltene exotische Haustiere sammeln oder vielleicht ein Lebkuchenhaus kaufen und es ganz allein aufessen. Das hätte sie jedenfalls gemacht.
Aber so war das Ganze ein großes Rätsel. Nur an einem ließen Kates Eltern keinen Zweifel: Onkel Herbert war faul, er hatte einfach zu viel Geld und keinen Sinn für Verantwortung. Kate fragte sich, wie so ein fauler, verantwortungsloser Mensch an dermaßen viel Geld gekommen war, aber solche Widersprüche erklärten einem die Erwachsenen nie. Sie wechselten dann immer nur das Thema.
Was nicht heißen soll, dass Kates Eltern schlechte Eltern waren. Nein, ganz und gar nicht. Die Elternrolle zu spielen, stand bloß offenbar nicht ganz oben auf ihrer Liste. Sie gingen früh zur Arbeit und kamen spät nach Hause, und selbst wenn sie zu Hause waren, schauten sie ständig auf ihre Handys und Computerbildschirme und machten ernste Ich-hab-zu-tun-Gesichter. Im Gegensatz zu Onkel Herbert arbeiteten sie bis zum Umfallen und nahmen es mit der Verantwortung überaus ernst, aber irgendwie schien sich das nicht sonderlich auszuzahlen.
Vielleicht war Onkel Herbert deshalb so ein rotes Tuch für sie. Wie dem auch sei, sie hatten jedenfalls nie viel Zeit für Kate.
Kate dagegen hatte jede Menge Zeit für Kate. Manchmal vielleicht sogar zu viel. Sie fuhr auf ihrem Fahrrad durch die Gegend, spielte Videospiele, machte ihre Hausaufgaben, spielte mit ihren Freunden und gelegentlich sogar mit Tom. Manche ihrer Klassenkameraden konnten super zeichnen oder mit vier Bohnensäckchen jonglieren, oder sie konnten seltene Pilze bestimmen und wussten, welche man essen durfte und welche tödlich waren; Kate wünschte sich oft, auch in irgendwas besonders gut zu sein. Sie las viel – beim Abendessen wurde sie immer wieder ermahnt, das Buch zuzuklappen. Ihre Eltern ließen sie Klavier und Tennis lernen. (Tom schickten sie zum Hapkido und zum Cellounterricht.)
Doch es gab Tage, an denen Kate auf dem Mahagoniklavier im Wohnzimmer herumhämmerte oder das Garagentor mit ihren Vor- und Rückhandschlägen misshandelte und sich trotzdem zappelig fühlte. Und ungeduldig wurde. Wozu das Ganze? Ja, sie war noch ein Kind, aber allmählich wollte sie mehr als immer nur Kinderkram machen und so tun, als wären all diese Spiele Wirklichkeit. Sie war bereit für etwas Spannenderes. Etwas Echteres. Etwas, das tatsächlich von Bedeutung war.
Doch da gab es nichts. Nur Spielzeug und Videos und Tennis und Klavier. In Büchern schien das Leben immer so interessant zu sein, aber wenn man es selber leben musste, tat sich nichts, aber auch gar nichts Interessantes. Und anders als bei Büchern konnte man die langweiligen Abschnitte nicht einfach überschlagen.
Vermutlich war das der Grund, weshalb sich Kate am Abend vor ihrem elften Geburtstag hinsetzte und Onkel Herbert einen Brief schrieb:
Lieber Onkel Herbert,
du kennst mich nicht, aber ich bin deine Nichte Kate, und weil ich morgen Geburtstag habe und du doch so superreich bist, könntest du mir nicht bitte etwas schenken?
Herzliche Grüße
Kate
Beim Durchlesen beschlichen sie Zweifel, ob das der tollste Brief aller Zeiten war und ob das Wort bitte da stand, wo es hingehörte. Aber der Brief entsprach ihren ehrlichen Empfindungen, und das, sagte der Lehrer für Sprache und Literatur immer, sei das Wichtigste. Also steckte sie ihn in den Postkasten. Vermutlich würde ihn sowieso nie jemand lesen, weil sie nicht wusste, wo Onkel Herbert wohnte, und nicht mal eine Briefmarke für den Umschlag hatte.
Welche Überraschung, besonders unter diesen Umständen, als gleich am nächsten Morgen ein Geschenk von Onkel Herbert eintraf. Es war eine Lokomotive.
Eine Lokomotive stand nicht direkt auf Kates Wunschliste. Sie interessierte sich nicht besonders für Züge, das war mehr Toms Ding. Kate mochte Bücher und Lego und das Videospiel mit diesen niedlichen Tierchen, die Lieferwagen fuhren und auf das alle in ihrer Klasse versessen waren und das ihr auch gefiel, obwohl sie nicht genau hätte sagen können, wieso.
Aber schließlich hatte sie nicht um etwas Spezielles gebeten, und wahrscheinlich kannte sich ihr Onkel mit Kindern nicht allzu gut aus. Also. Kate bemühte sich, die Sache gelassen zu nehmen.
Eine echte Überraschung allerdings war die Größe der Lokomotive. Sie war riesengroß. Viel zu groß, um per Post verschickt zu werden. Sie erreichte Kates Elternhaus auf einem eigens verstärkten, doppeltbreiten Tieflader mit achtundzwanzig Rädern, laut Toms Zählung. Sie war gigantisch und schwarz und ein unfassbarer Mischmasch aus allem und jedem. Im Grunde sah sie überhaupt nicht wie ein Spielzeug aus, sondern wie eine richtige, echte Dampflokomotive in Lebensgröße.
Das lag daran, erläuterte Onkel Herbert, dass sie genau das war.
Onkel Herbert war zur Übergabe persönlich angereist, in einem bananengelben Tesla, der so irrsinnig schnittig und aufgemotzt war wie eins von Toms Spielzeugautos aus der Serie mit den teureren Modellen. Onkel Herbert war dick, hatte schütteres braunes Haar und ein rundes, gutmütiges Gesicht. Er hätte ein Geschichtslehrer sein können oder jemand, der in einem Vergnügungspark die Eintrittskarten kontrolliert. Er trug glänzende blaue Lederschuhe und einen bananengelben Anzug, der haargenau zu seinem Auto passte.
Kate und Tom liefen hinaus, um die Lokomotive näher zu betrachten. Kate hatte kinnlanges, glattes braunes Haar und eine kleine spitze Nase, was sie ein bisschen nach einer Prinzessin aussehen ließ, obwohl sie sonst nicht viel Prinzessliches an sich hatte. Tom war blond, seine kurzen Haare standen büschelig ab wie bei einem Meerschweinchen, das gerade wachgeworden ist, aber er hatte die gleiche Nase, was ihm wiederum etwas Prinzliches verlieh.
Vor lauter Verblüffung wusste Kate nicht, was sie sagen sollte.
«Das ist aber ein großer Zug» – mehr brachte sie nicht zustande. Es musste erst mal reichen.
«Es ist kein ganzer Zug», sagte Onkel Herbert bescheiden. «Nur die Lokomotive. Und ein Tender – das ist der Kohlenwagen dahinter.»
«Wie viel wiegt sie?», wollte Tom wissen.
«Einhundert Tonnen», sagte Onkel Herbert knapp.
«Wie, ganz genau?», fragte Kate. «Sie wiegt genau hundert Tonnen?»
«N-nein», sagte Onkel Herbert. «Sie wiegt einhundertzwei Tonnen. Einhundertzwei Komma drei sechs. Du hast ganz recht, allzu runden Zahlen soll man nicht trauen.»
«Das dachte ich mir», sagte Kate, was auch stimmte.
Man kann sich nicht vorstellen, was für ein Wahnsinnskoloss so eine Dampflokomotive ist, bis ein Exemplar davon praktisch vor der Haustür steht. Dieses hier war ungefähr fünf Meter hoch und sechzehn Meter lang, es hatte einen Scheinwerfer, einen Schornstein, eine Glocke und Unmengen von Rohren, Kolben, Stangen und Ventilen. Allein die Räder waren zweimal so groß wie Kate.
Kates Vater kam ebenfalls aus dem Haus, so wie die meisten Leute aus ihrer Straße, die alle die Lokomotive ansehen wollten. Kates Vater stemmte die Hände in die Hüften.
«Herbert», sagte er. «Was zum Kuckuck ist das denn?»
Statt Kuckuck benutzte er eigentlich ein anderes Wort, aber das gehört nicht in ein Kinderbuch.
«Eine Lokomotive», sagte Onkel Herbert. «Eine Dampflokomotive.»
«Das sehe ich selbst, aber was hat die hier zu suchen? Auf einem Tieflader? Direkt vor meinem Haus?»
«Es ist ein Geschenk für Kate. Und auch für Tom, denke ich mal, wenn sie es mit ihm teilen will.» Er sah zu Kate und Tom. «Teilen ist wichtig.»
Onkel Herbert hatte ganz entschieden wenig Erfahrung mit Kindern.
«Tja, es ist eine nette Geste», sagte Kates Vater und rieb sich das Kinn. «Aber hättest du ihr nicht einfach ein Spielzeug schicken können?»
«Das ist ein Spielzeug!»
«Nein, Herbert, das ist kein Spielzeug. Das ist eine echte Lokomotive.»
«Kann sein», sagte Onkel Herbert. «Aber überleg mal – wenn sie damit spielt, ist es letztlich auch ein Spielzeug.»
Kates Vater hielt inne und überlegte – was ein taktischer Fehler war. Stattdessen, dachte Kate, hätte er besser einen Wutausbruch bekommen und die Polizei rufen sollen.
Ihre Mutter hatte damit kein Problem. Sie kam brüllend aus dem Haus gestürmt.
«Herbert, du schwachköpfiger Knallkopf, was zum Kuckuck bildest du dir ein? Schaff das Ding da weg! Kinder, runter von dem Zug!»
Kate und Tom hatten sich unterdessen nämlich auf den Tieflader hochgehangelt und wollten nun weiter hinauf zu der Lokomotive. Sie konnten nicht widerstehen. So viele Rohre und Griffe und Speichen und wer weiß was noch, es war wie Felsklettern.
Widerwillig stiegen sie herunter und verzogen sich in sichere Entfernung, doch immer noch sah Kate wie gebannt zu der Lokomotive – diesem schwarzen, komplizierten Riesentrumm mit seinen vielen kniffeligen kleinen Teilen, die bestimmt interessante Sachen machten, und mit dem netten kleinen Führerhaus, in dem man sitzen konnte. Die Lokomotive wirkte ein bisschen bedrohlich und faszinierend zugleich, wie ein schlafender Dinosaurier. Je länger man sie betrachtete, desto mehr wollte man darüber wissen.
Und die Lokomotive war echt. Fast kam es Kate vor, als hätte sie darauf gewartet, ohne es zu wissen. Irgendwie gefiel sie ihr sehr.
An dem Kohlenwagen sah man eine Schablonenbeschriftung in zierlichen weißen Großbuchstaben:
So hieß er also, der Zug. Die Buchstaben durchbohrte ein langer, dünner Pfeil.
«Er ist nicht mal silbern», sagte Kates Vater. «Er ist schwarz. Und überhaupt, was fängt man denn mit einem Silberpfeil an?»
«Werwölfe jagen», sagte Kate. «Was sonst?»
«Und wo, bitteschön, sollen wir ihn hinstellen?», fragte ihre Mutter.
«Ach, da habe ich mir schon was ausgedacht», sagte Onkel Herbert. «Auf ein paar Gleise, hinten im Garten.»
«Auf ein paar –! Hinten im –!» Vor lauter Wut brachte Kates Mutter nicht mal mehr ihre Sätze zu Ende. «Herbert, du bist so ein Knallkopf!»
«Wir verlegen keine Gleise in unserem Garten», sagte Kates Vater. «Da will ich Schattenbeete pflanzen.»
«Ach, bemüht euch nicht», sagte Onkel Herbert stolz. «Das ist schon erledigt! Ich habe gestern Nacht ein paar Arbeiter darangesetzt, mit umwickelten Hämmern, damit ihr nicht wach werdet.»
Kates Eltern starrten Onkel Herbert an. Insgeheim fand Kate, dass er sich, bananengelber Anzug hin oder her, als ziemlich pfiffig entpuppte. Er schien, so dachte sie, nach der Devise zu leben, dass es manchmal besser ist, nachher um Verzeihung zu bitten als vorher um Erlaubnis.
Dieser Spruch stammte von Grace Hopper, die Kate sehr verehrte. Zur Zeit ihrer Geburt vor mehr als hundert Jahren herrschten in der Welt so viele Vorurteile, dass Frauen unmöglich Computerprogrammierer werden konnten – außerdem waren Computer damals noch gar nicht erfunden –, aber trotz alledem wurde Grace Hopper Computerprogrammiererin und schrieb den ersten Software-Compiler der Welt. Als sie mit fünfundachtzig Jahren starb, hatte sie den Rang eines Marinekonteradmirals inne.
Man taufte einen Flugzeugträger auf ihren Namen. Grace Hopper war so etwas wie ein Vorbild für Kate.
Zwei Stunden später standen sie alle fünf – Kate, Tom, ihre Eltern und Onkel Herbert – hinten im Garten mit seinem spärlichen, verdorrten gelben Rasen und starrten die Dampflok an. Mit ihr, dem Kohlenwagen und den Schienen war der Garten so gut wie voll.
Selbst Kates Eltern mussten zugeben, dass es ein ziemlich eindrucksvoller Anblick war.
«Wir könnten Geld dafür verlangen, wenn sich jemand reinsetzen will», sagte Tom.
«Kommt nicht in die Tüte», sagte Kate. «In MEINEM Zug machen sich keine Fremden mit ihren Hintern breit.»
«Sag nicht Hintern», mahnte ihr Vater.
«Und was sagt ihr?», fragte Kate. «Setz dich auf deinen hm-hm. Ich könnte mir in den hm-hm beißen.»
«Lass es einfach.»
«Wie alt ist die Lokomotive?», fragte Tom.
«Weiß ich nicht», sagte Onkel Herbert.
«Und wie schnell fährt sie?»
«Weiß ich nicht.»
«Könnte der stärkste Mann der Welt sie hochheben?»
«Weiß ich ni… – Halt, nein, ich kenne den stärksten Mann der Welt, und der würde das mit Sicherheit nicht schaffen. Wollt ihr rein?»
Das wollten sie allerdings. Es brauchte ein bisschen Gekraxel – wie schon erwähnt, war die Lokomotive das reinste Monstrum und definitiv nicht für Kinder gebaut –, aber Kate und Tom waren erfahrene Kraxler, außerdem waren seitlich ein paar Eisensprossen sowie eine Stange angeschweißt, an der man sich festhalten konnte.
Was nun folgte, war eine klitzekleine Enttäuschung, wenn Kate ganz ehrlich sein wollte. Das Führerhaus einer Dampflok lässt sich nicht mit dem Fahrersitz in einem Auto oder einem Lastwagen und auch nicht mit einem Flugzeugsitz vergleichen. Zum einen gibt es keine Windschutzscheibe, zum anderen versperrt der riesige Dampfkessel die Sicht nach vorn. Die zwei kleinen Bullaugen zu beiden Seiten sind auch keine große Hilfe. Das Ganze ähnelt mehr einem engen Gehäuse – dem Maschinenraum eines Schiffs vielleicht, aber eines uralten Schiffs ohne irgendwelche Computer oder Radar oder sonst was.
Röhren aus Messing und Stahl rankten überall wie wildgewordene Kletterpflanzen, aus denen Ventilregler und Drehschalter, Kurbeln und Zifferblätter hinter Glas sowie noch mehr Röhren sprossen. Nichts davon war beschriftet. Es roch nach Altöl, wie in einer Autowerkstatt. Das Ganze war durch und durch echt, aber zugleich auch vollkommen rätselhaft.
Es gab zwei Klappsitze. Kate und Tom klappten sie herunter und nahmen Platz.
«Jetzt kapiere ich, wieso Lokführer sich immer aus dem Fenster lehnen», sagte Tom. «Sonst sieht man nicht, wo man hinfährt.»
«Stimmt. Bloß schade, dass wir nirgends hinfahren.»
Kate schaute aus dem Fenster.
«Hey, Onkel Herbert, es ist irgendwie komisch hier drin!»
«Was sollen wir anfangen?», fragte Tom. «Es gibt ja nicht mal ein Lenkrad!»
«Einen Zug lenkt man nicht», sagte Onkel Herbert und spähte mit zusammengekniffenen Augen zu ihnen hinauf. «Man folgt einfach den Gleisen.»
«Aha. Okay.»
Soweit Kate das feststellen konnte, waren auch weder eine Bremse noch ein Gaspedal vorhanden.
«Gibt es eine Pfeife?», fragte sie.
«Ja», sagte Onkel Herbert. «Aber sie funktioniert nur mit Dampf.»
«Oh.»
Kate und Tom tapsten herum, drehten an Rädern, zogen an Hebeln und versuchten es mit allem sonst, das sich bewegen ließ. Aber es tat sich nichts. Es sah cool aus, doch sie wussten nicht, wie sie damit spielen sollten. Sie öffneten die Tür zu einer Art Ofen, der in die Wand eingelassen und voll mit kalter Asche und Ruß war.
Tom tat, als wäre die Lokomotive ein Panzer, stellte sich auf den Klappsitz und eröffnete durch das Fenster das Maschinengewehrfeuer auf eine Armee unsichtbarer Feinde, aber man merkte, dass er nicht mit ganzem Herzen dabei war.
Dann kletterten sie wieder hinunter. Wie gesagt, es war alles ein bisschen enttäuschend.
«Weißt du, was wir machen?», sagte Kate, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. «Wir schließen die Gleise hier an die im Wald an.»
Im Wald gab es einen Abschnitt rostiger alter Gleise, halb unter Laub begraben und in den Boden eingesunken – die hatten sie und Tom einmal bei einer ihrer Erkundungstouren gefunden.
«Die ollen Dinger?», fragte ihr Vater. «Da ist doch seit Ewigkeiten kein Zug mehr drübergefahren.»
«Okay, alle mal herhören!» Ihre Mutter klatschte in die Hände. «Heute hat Kate Geburtstag! Weiß jemand, wann ich Geburtstag habe?»
«Nächste Woche», sagte Kate.
«Richtig. Heute in einer Woche. So lange könnt ihr die Lok behalten. Und dann, Herbert, lässt du sie verschwinden, als Geburtstagsgeschenk für mich.»
«Was?!», rief Kate.
«Und wenn ich schon was anderes für dich habe?» Onkel Herbert klang bedrückt.
«Einen Tieflader, der eine dämliche Riesendampflok abtransportiert?» Kates Mutter stemmte die Hände in die Hüften. «Ist das mein Geburtstagsgeschenk?»
«Nein.»
«Was immer es sonst ist, schick es zurück. Zu meinem Geburtstag schaffst du das Ding von hier weg.»
«Nein!», schrie Kate, ohne zu wissen, wie ihr geschah. «Das darfst du nicht! Die Lokomotive gehört mir!»
Kate sagte zu ihren Eltern, dass sie sie hasse und sie die gemeinsten und schlimmsten Menschen der Welt seien. Nie bekäme sie irgendwas Besonderes oder Tolles, und wenn doch, würden ihre Eltern es ihr immer vermiesen. Sie hätten Kate gar nicht lieb und interessierten sich nur für ihre blöden Handys.
Man hätte sich gewünscht, dass sie all das in ruhigem, vernünftigem Ton vorbrachte, aber dem war nicht so. Sie schrie es heraus, so laut sie nur konnte.
Dann sagte sie noch, das sei der schrecklichste Geburtstag ihres Lebens, worauf ihre Mutter ihr befahl, in ihr Zimmer zu gehen, worauf Kate sagte, Schön, mach ich, und die Tür zuknallte, genau in dem Moment, als ihre Mutter ihr hinterherrief, sie solle ja nicht die Tür zuknallen. Den restlichen Nachmittag verbrachte Kate in ihrem Zimmer.
Von dem, was Kate gesagt hatte, stimmte nichts so richtig, außer vielleicht das mit dem schrecklichsten Geburtstag überhaupt; allerdings hatte sie mit vier plötzlich Fieber bekommen und sich ihren ganzen Geburtstag lang übergeben müssen, das kam diesem neuen Flop schon ziemlich nahe.
Tief in ihrem Inneren wusste Kate auch, dass sie mit ihren Vorwürfen nicht ganz richtig lag. Sie wusste, dass sie keine ernsthaften Probleme hatte, zumindest verglichen mit dem, was Kinder in manchen Geschichten durchmachen mussten. Sie wurde nicht geschlagen oder musste hungern, man verbot ihr nicht, zu einem königlichen Ball zu gehen, und keine böse Stiefmutter schickte sie in den Wald, damit die Wölfe sie fraßen. Sie war nicht mal ein Waisenkind! Seltsamerweise erwischte Kate sich manchmal bei dem Wunsch, sie hätte solche Probleme – ein uralter Fluch, ein Kampf gegen Zombies oder Außerirdische, egal was –, denn dann könnte sie sich als Heldin erweisen und überleben, alle Widerstände überwinden und die Menschheit retten.
Was natürlich verkehrt war, das wusste sie auch. Sie wollte einfach etwas Besonderes sein, wollte von jemandem gebraucht werden. Und eine Dampflok, soviel war klar, machte sie nicht zu etwas Besonderem. Sonnenklar. Aber sie hatte sich damit doch ein bisschen besonders gefühlt. Und jetzt wollte ihre Mutter die Lok dahin zurückschicken, woher auch immer Dampfloks kamen.
Und das Schlimmste an der ganzen Sache, dachte Kate, als sie auf ihrem Bett lag, die Augen von Tränen verklebt, und finster aus dem Fenster starrte und der Nachmittag sich zog wie Kaugummi – das Schlimmste war, dass sie ihrer Mutter irgendwie recht geben musste. Sie gab es höchst ungern zu, sogar vor sich selbst: Ja, die Lok war echt und beeindruckend, aber sie war auch abartig groß und irgendwie albern und, das Entscheidende: Sie machte eigentlich nichts. Wenn man bedachte, welche Unmassen von Geld Onkel Herbert dafür ausgegeben haben musste – dafür hätte er vermutlich ein Mini-U-Boot oder eine Rakete kaufen können, oder einen Supercomputer.
Oder auch einen gepanzerten Roboter. Ganz gleich was – nur keine blöde Dampflok. Vielleicht konnte er sie ja zurückgeben, und dann dürften sie stattdessen das Geld behalten.
Jemand klopfte an die Tür – Tom, das hörte sie am Klopfen. Sie sagte nichts. Er ging weg, versuchte es noch einmal, ging wieder weg und kam schließlich einfach herein, ohne anzuklopfen, und ließ sich auf das untere Stockbett fallen. Mittlerweile hatten sie beide ihr eigenes Zimmer, aber das Stockbett stand noch und erinnerte an die Zeiten, als sie hier zusammen geschlafen hatten.
Tom lag ein Weilchen da, doch allzu lange konnte er sich nicht stillhalten. Es schien, als hätte er ständig zu viel Energie, die irgendwie aus ihm rausmusste. Erst sang er leise vor sich hin. Dann trommelte er dazu. Dann trat er von unten gegen Kates Bett. Schließlich tat er, als hätte man auf ihn geschossen, und ließ sich aus dem Bett fallen, um sie zum Lachen zu bringen.
Kate lachte nicht.
«Geh weg», sagte sie.
«Immerhin können wir eine Woche lang damit spielen. Das ist doch besser als nichts.»
Irgendwer musste Tom mal empfohlen haben, in solchen Situationen stets die gute Seite zu sehen. Wenn es nach Kate ging, konnte er das gern bleiben lassen. Es nervte. Ihrem Bruder nahm nie jemand seine Geschenke weg. Er wurde nie auf sein Zimmer geschickt. Jedenfalls kam es ihr so vor.
Wieder Schweigen. Tom war immer noch da.
«Ich glaube, sie brennt», sagte Tom.
«Gut.»
«Warum bist du so fies zu der Lok?»
«Weil ich sie hasse.»
«Wieso?»
«Weil ich alles hasse! Dich auch!»
«Das ist aber nicht sehr nett.»
«Ich will auch gar nicht nett sein!»
Tom sah aus dem Fenster.
«Tja, das ist wohl dein Glückstag heute – die Lok brennt wirklich. Ganz im Ernst. Schau’s dir an.»