Der Slum-Engel - AnneMarie Brear - E-Book

Der Slum-Engel E-Book

Annemarie Brear

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Beschreibung

Die Waise Victoria Carlton wird von ihrem Onkel, einem Bankier, erzogen, um eine Frau zu sein und eine gute Ehe zu schließen. Sie ist jedoch angezogen, um den armen Familien in den Slums zu helfen, sehr zum Ekel ihrer Familie. Als ihr Onkel plötzlich stirbt, beschuldigen ihre Cousins ​​Victoria und sie wird mit nichts aus dem Haus geworfen.


Victoria flieht auf die arme Seite von York, um in einer Welt voller Gefahren wieder von vorne zu beginnen. Um den Kummer zu bekämpfen, ohne ihre Familie zu sein, freundet sie sich mit den mittellosen Frauen und Kindern in den Slums an, aber solche Freundschaften bergen die Gefahr von Krankheiten und zunehmender Armut, und die Bedrohung durch einen brutalen Mann könnte sie alles kosten.


Kann Victoria die Sicherheit finden, die sie verloren hat? Wird ein bestimmter Arzt der Mann sein, dem sie ihr Herz geben kann? Oder werden die Geister der Vergangenheit zurückkehren, um alles wegzunehmen, wofür sie so hart gearbeitet hat?

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Copyright ©2020 Der Slum-Engel

Der Slum-Engel

Copyright © liegt bei der Autorin AnneMarie Brear

ISBN: 9780648800347

Erstveröffentlichung: 2020 AnneMarie Brear.

Cover-Gestaltung: Carpe Librum Designs

ALLE RECHTE VORBEHALTEN:

Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung darf dieses literarische Werk weder ganz noch teilweise in irgendwelcher Weise oder mit irgendwelchen Mitteln, einschließlich der elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, wieder hergestellt oder übertragen werden.

Alle Figuren und Ereignisse in diesem Buch sind fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig

.

Bisher veröffentlichte Werke:

Historische Romane

Kitty McKenzie

Kitty McKenzie’s Land

Southern Sons

Where Rainbows End

Isabelle’s Choice

Nicola’s Virtue

Aurora’s Pride

Grace’s Courage

Eden’s Conflict

Catrina’s Return

Broken Hero

To Gain What’s Lost

The Promise of Tomorrow

Zeitgenössische Romane

Long Distance Love

Hooked on You

Where Dragonflies Hover

Kurzgeschichten

A New Dawn

Art of Desire

What He Taught Her

Widmung

An meine lieben Leser.

Vielen Dank.

Der Slum-Engel

Kapitel Eins

York, England. 1871

In ihrem Schlafzimmer saß Victoria an das Sitzkissen auf ihrem Fensterbrett gelehnt und beobachtete den vorbeifahrenden Verkehr auf der Blossom Street in Richtung York. Es gab nicht viel zu beobachten, nur hin und wieder eine Droschke, die eine Dame von ihren Einkäufen nach Hause brachte, oder eine Privatkutsche, die vom Land in die Stadt fuhr. Ein Fußgänger ging vorbei, doch das Haus ihres Onkels lag zu weit abseits der Straße, als dass Victoria hätte erkennen können, ob es jemand war, den sie kannte.

Sie blickte zu den weißen Wolken hinauf, die über den Himmel huschten. An den Bäumen am Rande des Gartens sprossen zartrosa Blüten, obwohl das Wetter noch kühl war für April. Sie fühlte sich lustlos und wünschte sich, sie hätte mehr mit ihrer Zeit anzustellen, da sie vor einigen Wochen eine schlimme Lungenentzündung erlitten hatte, waren all ihre Ressourcen der Zeitvergeudung bereits verbraucht.

Kilmore, der alte Gärtner ihres Onkels, lief mit gebeugtem Rücken und einer Hacke in der Hand über den Rasen. In seinem Garten wagte es das Unkraut nicht zu sprießen. Sie beobachtete ihn eine Zeit lang bei der Arbeit, das Kinn auf der Hand ruhend. Sie hoffte, der Sommer würde ihre Stimmung verbessern und ihre Langeweile vertreiben.

Das von ihr gelesene Buch, „Emma” von Jane Austen, glitt von ihrem Schoß auf den Boden. Sie seufzte und bückte sich, um es aufzuheben, als sich die Schlafzimmertür öffnete und ihre Cousine Stella hereinmarschierte.

„Warum bist du in deinem Zimmer, mitten am Tag?”, fragte Stella.

Victoria lächelte in sich hinein. Es war egal wie oft sie Stella sagte, dass sie ihre eigene Gesellschaft genoss, ihre Cousine weigerte sich, es ihr zu glauben. „Ich lese.”

„Warum?”

„Was für eine blöde Frage.” Sie schüttelte den Kopf. „Herr Hubbard gab Jennie und Dora Anweisungen, wie die Fenster des Salons nicht zu putzen seien. Ich wollte meine Ruhe und ging auf mein Zimmer.”

Stella ging zum Schminktisch und tätschelte ihre kurzen braunen Locken im Spiegel. Ihr Aussehen war ihr das Wichtigste. „Heute Morgen war der Besuch wirklich eine trostlose Angelegenheit. Ich habe es satt, Mamas Freunden zuzuhören, wie sie über nichts Wichtiges reden. Ich möchte, dass du mit mir kommst. Du machst es mir immer erträglich. Du stellst ihnen interessante Fragen und erinnerst dich an die Namen ihrer Familienmitglieder. Es ist schon Monate her, dass du mit mir ausgegangen bist. Ich weiß, dass es dir nicht gut ging. Doch jetzt geht es dir besser, nicht wahr?”

„Ja, es geht mir besser und ich werde nächste Woche wieder damit anfangen, Besuche abzustatten.” Als Victoria sie ansah, fragte sie sich, wie es sein konnte, dass sie miteinander verwandt waren. Stella und sie waren in allen Belangen gegensätzlich.

Stella war laut, rechthaberisch, lebhaft, stur, schwierig und ihre Schönheit war zwar hart, doch definiert. Manchmal schien es, als blitzten ihre braunen Augen irritiert oder glimmen mit einem verborgenen Geheimnis. Sie war verwöhnt und von der Familie verhätschelt und sie nutzte diese Macht bei jeder Gelegenheit zu ihrem Vorteil aus. Doch Victoria erkannte ihre Mätzchen. Sie lächelte einfach und ließ sie machen. Stella war leichter zu ertragen, wenn man ihr erlaubte, ihren Willen durchzusetzen.

Gelangweilt davon, sich selbst zu betrachten, drehte sich Stella, und stellte sich Victoria gegenüber. „Papa hat lästige Leute, die heute Abend zum Essen kommen. Ich könnte auf Kopfschmerzen plädieren. Dann müsste ich mir nicht die Mühe machen, mich anzuziehen.”

„Wir beide wissen, dass du das nicht tun wirst.” Victoria erhob sich von der Fensterbank und legte das Buch auf den Tisch. „Die Dinner-Partys deines Vaters sind für gewöhnlich sehr unterhaltsam.”

„Das sagst du. Du findest jeden interessant. Wirst du dich heute Abend dazugesellen?” Stella ging zu ihrem Kleiderschrank aus Nussholz und öffnete beide Türen.

„Ja, mein Husten ist weg, da bin ich mir sicher. Ich kann jetzt eine ganze Mahlzeit durchstehen und mich nicht durch ständigen Husten beschämen.”

„Was wirst du denn anziehen?” Stella zog ein Kleid aus zartem gelben Stoff mit weißem Spitzendetail hervor. „Dieses?”

Victoria setzte sich auf das Bett und betrachtete die schönen Kleider, die sie besaß. „Vielleicht das blaue Seidenkleid!”

„Ich wollte blau tragen.” Stella schmollte. „Wir können nicht den gleichen Farbton tragen, das weißt du.”

„Dann ziehe ich das rosa Kleid an.” Sie seufzte. „Es macht mir wirklich nichts aus.” Mitunter war es besser, sich die Farbe ihres Kleides von Stella vorschreiben zu lassen.

Stella runzelte gedankenverloren die Stirn. „Aber rosa passt besser zu meiner Farbgebung. Sollte ich vielleicht mein rosa gestreiftes Satinkleid tragen?”

„Alles, was du trägt, sieht schön an dir aus”, beruhigte Victoria sie und wünschte sich, sie hätte Stellas üppige Kurven, statt ihrer eigenen knabenhaften Figur.

Ihr Lieblingskleid war ein schulterfreies, zart blaues Seidenkleid mit Silberfäden. Sie würde es jedoch Stella gegenüber nicht erwähnen, denn sonst würde sie sich sofort dafür entscheiden, ihr Silber zu tragen.

Im Verlauf der Jahre hatte sie gelernt, wie sie Stella in ihrem eigenen Spiel schlagen konnte.

Stella schloss den Schrank und ging auf die Tür zu. „Komm mit hinunter, es ist Zeit für Tee. Wir können dann darüber reden. Mama sollte bald nach Hause kommen.”

Victoria wusste, dass sie keine Ruhe geben würde. Sie verließ ihr Bett, hielt doch vor dem Spiegel an. Sie starrte ihr Spiegelbild an. Es gab nichts, was sie tun konnte, um größere Brüste oder rundere Hüften zu bekommen, doch glücklicherweise half die neueste Mode, das bisschen Form, das sie besaß, zu definieren. Enttäuscht von ihrem Körper, wie immer, erstickte sie einen Seufzer und ging die Treppe hinunter.

Im Salon wies Stella das Dienstmädchen Jennie an, ein Tee-Tablett zu bringen. Victoria saß auf dem dunkelroten Samt-Sofa und bereitete sich innerlich darauf vor, eine Stunde lang Stellas ununterbrochenem Geschwätz zuzuhören. Zum Glück zog der Frühling langsam ein und sie würde das Haus wieder verlassen und ausgedehnte Spaziergänge genießen können - Spaziergänge, die Stella nicht mitmachen wollte. Wegen der Lungenentzündung, die sie in den Wintermonaten erlitten hatte, war sie mehr an das Haus gefesselt gewesen als es ihr lieb war, doch nun ging es ihr besser, und sie war entschlossen, wieder lange Spaziergänge zu unternehmen, die ihr so viel Freude bereiteten.

„Mir gefällt das Kleid nicht, das du trägst.” Stella verzog die Nase vor Abneigung.

Victoria blickte auf das pfirsichfarbene Tageskleid hinab, das sie trug. Es war ein paar Jahre alt, zugegeben, doch hübsch genug. „Es ist völlig akzeptabel für zu Hause. Ich wusste ja, dass wir heute keine Besucher empfangen würden. Ich werde das Geld meines Onkels nicht unnötig ausgeben.”

Stella blätterte in „The Queen” herum, eine der Zeitschriften ihrer Mutter. „Papa gibt dir ein gutes Taschengeld.”

Victoria wand sich innerlich ob der Erwähnung der Großzügigkeit ihres Onkels Harold, und zwang sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Onkel ist sehr nett, und ich werde seine Gutmütigkeit nicht missbrauchen.”

„Papa hat viel Geld. Er hat in der Vergangenheit immer zugesehen, dass es dir an nichts fehlte, oder? Er behandelt dich genauso wie mich, und ich bin seine Tochter.”

Victoria runzelte die Stirn und merkte wieder, wie Stella sich in letzter Zeit immer wieder auf ihre Positionen in der Familie bezog. Stella war die Tochter des Hauses, niemand musste daran erinnert werden, am wenigsten Victoria. Sie wusste nur zu gut, dass sie als Waisenkind aufgenommen worden war. Stella war noch nie eifersüchtig gewesen, als sie noch Kinder waren, warum sollte sie also jetzt damit anfangen?

Stella warf das Magazin zur Seite, als Jennie das Tee-Tablett hereinbrachte. „Hast du etwas von Frau Normans Biskuitkuchen mitgebracht?”

„Ja, Fräulein Stella und auch das Spritzgebäck. Frau Norman sagte, es müsse aufgegessen werden, da sie morgen einen neuen Schub backen wolle.” Jennie stellte das Tablett auf den kleinen Tisch neben dem Sofa. „Soll ich einschenken, Fräulein Victoria?”

„Nein, ich mache das. Danke, Jennie.” Victoria goss den Tee ein, während Stella ihren Teller mit den leckeren Köstlichkeiten von Frau Norman füllte.

Die Tür öffnete sich wieder und Todd, Stellas älterer Bruder, kam herein.

„Todd! Was machst du zu Hause?”, rief Stella ihm beschuldigend zu ihn, als sei sein Betreten des Hauses seines Vaters etwas Ungewöhnliches.

„Was für eine Begrüßung, Schwester.” Er lachte.

„Wir hatten dich nicht erwartet.”

„Ich dachte mir, ich verbringe die Nacht hier, bevor ich morgen nach Oxford zurückkehre.” Er ließ seinen langen Körper auf den Sitz neben Victoria fallen und schenkte ihr ein freches Grinsen. „Jennie wird einen weiteren Becher bringen. Iss nicht den ganzen Kuchen, Stella.”

Stella starrte ihn an und schluckte einen Mund voll Biskuittorte. „Sei still. Frau Norman hat nicht genug davon gemacht. Nimm nur das Mürbegebäck.”

„Wie war es in Schottland?”, fragte Victoria Todd. Ihr hübscher Cousin war der der Liebling seiner Mutter und hatte noch nie in seinem Leben Ärger bekommen, trotz seiner unregelmäßigen Anwesenheit an der Universität und seiner schrecklichen Prüfungsergebnisse. Victoria fragte sich, was er aus seinem Leben machen würde. Im Moment schien er entschlossen, jeden Tag in eigennützigen Bestrebungen zu vergeuden.

„Schottland war kalt. Edinburgh ist so trostlos.” Todd schüttelte sich dramatisch und eine lange, dunkle Locke fiel ihm in die Stirn, die er mit einer Hand nach hinten schob, während er mit der anderen nach dem Spritzgebäck griff. Er lächelte Jennie an, als sie eine weitere Tasse und Untertasse hereinbrachte. „Ich glaube, ich habe die Tavernen kaum verlassen. Sie sind die wärmsten Orte, an denen man sich aufhalten kann.”

„Es ist sicher nicht nur die Wärme, die dich dort gehalten hat”, höhnte Stella und sah ihn hochmütig an. „Du bist dort, um zu studieren. Papa wird es dir nicht verzeihen, wenn du dieses Semester noch schlechter abschneidest.”

„Bitte hör auf, auf mich einreden. Davon habe ich von Papa schon genug. Dies ist mein letztes Semester und dann bin ich für immer frei von Oxford und Büchern.”

„Was wirst du dann tun?”, fragte Victoria und schenkte ihm Tee ein. „Wirst du zu Onkel Harold und Laurence in die Bank eintreten?”

„Himmel, nein!” Todd stopfte sich mehr Spritzgebäck in den Mund.

„Papa wird ihn sowieso nicht wollen.” Stella lachte.

„Ich glaube, ich werde zur Marine gehen.” Er nippte nonchalant an seinem Tee, als ob die Ankündigung so einfach wäre, wie die Wahl der Socken, die er anziehen wollte.

Victoria starrte ihn schockiert an. „Du hast die Marine noch nie erwähnt.”

„Warum hast du uns nichts davon erzählt?”, rastete Stella aus.

„Nun, jetzt habe ich es. Mama meint, es wäre eine schöne Sache, meine Zeit so zu nutzen. Papa hat Kontakte, die mir helfen werden, einem guten Schiff zugeordnet zu werden. Aber zunächst werde ich im Juli mit ein paar Freunden für einen Monat nach Italien fahren.”

„Ich will auch nach Italien gehen!”, schnaubte Stella wütend. „Warum dürfen du und Laurence aufregende Orte besuchen? Laurence ist seit Monaten in London. Victoria und ich müssen die ganze Zeit hier zu Hause bleiben.”

„Das liegt daran, dass ihr bloß Mädchen seid.” Todd aß das Spritzgebäck auf. „Unser älterer Bruder ist ein Mann von Welt. Papa lässt Laurence im Bankgeschäft nach seiner Pfeife tanzen. Ich werde mich nicht zu seinem Lakaien in der Bank machen lassen, liebes Schwesterchen.”

Victoria runzelte die Stirn. „Man kann sich einen guten Lebensunterhalt verdienen, Todd. Verwirf es nicht so einfach. Dein Vater ist ein wohlhabender und einflussreicher Mann, wegen der Bank, die er gegründet hat.” Obwohl sie bedauerte, dass Laurence nicht den Charme des Onkels geerbt hatte, war sie sehr froh darüber, dass ihr älterer Cousin dauerhaft in London untergebracht war.

„Und doch ist das nichts für mich!” Todd stand abrupt auf.

„Die Marine dagegen schon?”

Er zuckte mit den Achseln. „Wer weiß das schon? Ich werde mich frisch machen und mein Gepäck aussortieren. Ich fühle mich, als sei ich nach dieser Zugfahrt von einer Rußschicht überzogen. Haben wir heute Abend Gäste?”, fragte er von der Tür aus.

„Ja. Papa hat ein paar langweilige Leute eingeladen.” Stella goss unbekümmert mehr Tee ein. „Es ist findet sich immer jemand an unserem Esstisch.”

Victoria knabberte an ihrem Stück Kuchen. Als Todd die Tür geschlossen hatte, schaute sie Stella an. „Wie kann Todd wissen, dass die Marine das Richtige für ihn ist? War er überhaupt schon einmal auf einem Marineschiff, um zu erfahren, wie es ist?”

Stella fügte ihrer Tasse Zucker hinzu und rührte langsam darin um. „Oh, du kennst doch Todd. Wenn er aus Italien zurückkommt, wird er sich entschieden haben, etwas anderes zu machen. Er wird tun, was er will, bis Papa droht, ihm sein Taschengeld zu streichen.”

„Männer haben es so leicht.” Victoria stellte ihre Teetasse wieder auf das Tablett. „Sie haben so viel Freiheit. Ich beneide sie.”

„Wir werden mehr Freiheit haben, sobald wir heiraten. Ich bin dazu bestimmt, einen Ehemann auszuwählen, der mich in Ruhe lässt. Aber zunächst werde ich dafür sorgen, dass unsere Hochzeitsreise an einen exotischen Ort geht!” Stella aß das letzte Stückchen ihres Kuchens. „Und ich werde zusehen, eine so gute Köchin, wie Frau Norman zu haben.”

Die Standuhr im Foyer in der Nähe der Eingangstür läutete drei Uhr.

Victoria blickte aus dem Fenster, als sie auf der kurzen Einfahrt von der Straße Kutschenräder hörte. „Tante Esther ist zu Hause.”

„Ich hoffe, Mama hat mir die Seidenmuster aus Fräulein Thatchers Salon mitgebracht. Ich möchte einige neue Sommerkleider bestellen. Das musst du auch, keine Widerrede. Du bringst mich nicht in Verlegenheit, mit deinen Modelle aus der letzten Saison. Mehr und mehr Einladungen für den Sommer kommen mittlerweile täglich an, und ich weigere mich, in deiner Gesellschaft zu sein, wenn du die Kleider vom letzten Jahr trägst.”

Einige Augenblicke später betrat Esther Dobson den Salon und runzelte die Stirn, als sie ihre Handschuhe auszog. „Jennie erzählte mir, dass Todd nach Hause gekommen ist? Ich dachte, er würde direkt nach Oxford fahren?”

„Er hat seine Pläne geändert, Mama”, sagte Stella mit Nachdruck. „Wo hast du die Stoffproben?”

„Jennie hat sie Dora gegeben, um sie in dein Zimmer zu bringen.”

„Aber ich wollte sie mir jetzt anschauen.”

Tante Esther hob ihr Kinn an, und ihre Augen verengten sich. Sie sah aus wie eine ältere Version ihrer Tochter. „Dann geh halt nach oben und schau sie dir an. Ich will nicht, dass sie hier im Raum herumliegen, wenn wir in ein paar Stunden Besuch bekommen.”

„Oh, Mama!” Stella stolzierte aus dem Raum und murmelte im Gehen verärgert.

Tante Esther lächelte Victoria besorgt an, als sie ihren kleinen schwarzen Hut abnahm. „Geht es deinem Husten besser, Liebes?”

„Ja, danke, Tante.”

„Dein Onkel hat heute Abend einen Arzt zu uns zum Essen eingeladen. Es ziemt sich zwar nicht, sich einem Gast aufzudrängen, doch vielleicht sollten wir ihn bitten, dich zu untersuchen, um sicherzugehen, dass du vollständig gesund bist?”

„Das ist wirklich nicht nötig. Mir geht es jetzt wirklich gut, davon bin ich überzeugt. Ich habe heute überhaupt nicht gehustet.” Victoria stand auf und fühlte sich schuldig ob all der Aufmerksamkeit. „Darf ich Dora bitten, mir ein Bad vorzubereiten? Ich möchte meine Haare waschen und sie rechtzeitig trocknen.”

„Ja, Liebes, doch lass sie zuerst ein Feuer in deinem Zimmer anzünden, damit die Kälte aus der Luft verschwindet. Wir dürfen kein Risiko mit deiner Lunge eingehen.”

„Das werde ich tun. Soll ich Jennie bitten, dir frischen Tee zu bringen?”

Tante Esther rieb sich müde die Augen, als sie auf das Sofa niederließ. „Ich habe sie darum gebeten, als ich hereinkam.”

Victoria blieb im Türrahmen stehen. „War dein Tag sehr anstrengend?”

„Du weißt, wie es ist. Zu viele Ausschüsse. Alle wollen Hilfe bei der Spendensammlung und obwohl ich gerne würde, kann ich einfach nicht allen helfen. Es ist sehr anspruchsvoll. Ich muss Besuche bei Damen leisten, deren Gespräche sich wiederholen und mache mir dabei Sorgen über all die Dinge, ich noch zu erledigen habe.”

„Stella hat etwas Ähnliches über die Besuche erwähnt.” Victoria lächelte.

„Deine Cousine hat einfach keine Geduld. Ja, es kann ermüdend sein, doch ich muss trotzdem meine Pflicht als angesehene Ehefrau eines Bankiers erfüllen und denen zuhören, die unsere Hilfe brauchen.”

„Der Einfluss von dir und Onkel wird von den Menschen in York sehr respektiert”, sagte Victoria stolz. „Ihr beide tut so viel für andere. Jetzt, da es mir wieder gut geht, kann ich mich euren Bemühungen wieder anschließen.”

„Ich begrüße das, meine Liebe, denn du kannst das viel besser als Stella, doch nur, wenn du dir sicher bist, dass du dazu in der Lage bist.” Tante Esther ließ ihre Knöchel langsam kreisen. „Ich brauche neue Stiefel. Diese tun meinen Füßen weh.”

Victoria öffnete die Tür weiter, damit Jennie mit einem zweiten Tee-Tablett hineinkommen konnte. „Ruhe dich aus, Tante.”

„Victoria?”

„Ja?”

„Denk während deines Bades darüber nach, was du an deinem Geburtstag im nächsten Monat machen möchtest. Möchtest du vielleicht eine Party? Du wirst immerhin einundzwanzig Jahre alt.”

„Ja, ich werde darüber nachdenken.”

Beim Baden wirbelten die Worte ihrer Tante ihr im Kopf herum. Dora hatte das Zinn-Bad ins Schlafzimmer gebracht und es mit heißem Wasser aus der Küche befüllt. Es war mit Rosenöl parfümiert. Ein kleines fröhliches Feuer knisterte im Kamin. Onkel wollte unbedingt eines dieser neuen Badezimmer installieren, die gerade in Mode waren, doch Victoria mochte es, in der Privatsphäre ihres eigenen Schlafzimmers zu baden.

Langsam wusch Victoria sich mit einem seifigen Lappen, entspannte sich und genoss das Wasser auf ihrer Haut. Doch ihr Geist kehrte immer wieder zu dem Gedanken an ihren Geburtstag zurück.

Seit sie mit zwölf Jahren in den Haushalt der Dobsons gekommen war, war sie sie immer wie ein weiteres Dobson-Kind behandelt worden. Trotzdem hatte sie das Gefühl, am Rande der Familie zu stehen, ein Teil von ihr, aber auch kein Teil von ihr.

Als ihre Mutter und ihr jüngerer Bruder innerhalb von zwei Tagen beide an Lungenentzündung gestorben waren, hatte ihr Vater sie hierher gebracht, weit weg vom Haus des Todes. Seitdem war sie hier. Onkel Harold war der Bruder ihrer Mutter, und er hatte seine Schwester sehr geliebt. Er hatte diese Liebe auf Victoria übertragen, und Tante Esther hatte sie an ihre Brust gedrückt, wie eine Henne ihr Küken. Victoria hatte es an nichts gefehlt. Dennoch gab es Zeiten, wie ihren Geburtstag, an denen sie ihre Mutter sehr vermisste.

Sie blickte auf den Kaminsims und das kleine Porträt ihrer Mutter, das darauf stand. Sie hatte kein Bild von ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder. Sie waren aus ihrer Erinnerung verschwunden. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht an ihre Gesichter erinnern. Die Schönheit ihrer Mutter jedoch strahlte, eingefangen durch von einem begabten Künstler, und sie sah sie jeden Tag an.

Ihr Vater war sechs Monaten nach der Beerdigung seiner Frau und seines Sohnes zu Grabe gegangen worden. Sein Herz sei gebrochen gewesen, hatte man ihr gesagt, er habe den Lebenswillen verloren. Victoria war ihm nicht genug gewesen, um für sich selbst sorgen zu wollen und nach nur einem Besuch war er nie wiedergekehrt. Wenn er sie weiterhin besucht hätte, hätte sie ihm vielleicht den Willen geben können, weiterzumachen. Es ergab keinen Sinn für sie, warum er so schnell aufgeben hatte. Mit der Zeit wäre sie seine Gefährtin geworden und hätte ihm das Haus geführt. Sie hätten zusammen überleben können.

Sie bewegte ihre Beine im Wasser und spürte, wie es seine Wärme verlor. Sie wollte aufstehen, doch die Apathie, die sie heute befallen hatte, blieb bestehen.

Im kommenden Monat würde sie 21 Jahre alt werden. Eine Erwachsene in den Augen des Gesetzes. Eine Erwachsene, die im Haus ihres Onkels lebt, mit wenig Sinn oder Ziel. Wie viele Geburtstage würde sie noch hier verbringen, mit diesem Gefühl der Ziellosigkeit in der Brust?

Sich über sich selbst ärgernd stand sie in der Badewanne auf und griff nach dem Handtuch. Sie hasste Selbstmitleid. Es frustrierte sie, dass sie es heute nicht abschütteln konnte.

Sie trocknete ihren Oberkörper schnell ab, trat aus der Wanne und trocknete ihre Beine und Füße ab.

Was stimmte nicht mit ihr? Sie hatte ein schönes Zuhause und eine nette Familie. Sie sollte dankbar sein. Sie war dankbar!

Jetzt war sie verärgert. Sie ihr Unterkleid über und begann, ihre Haare vor dem Feuer zu trocknen. Diese langen Tage der Untätigkeit mussten ein Ende finden. Da es ihr gesundheitlich besser ging, musste sie sich in die Beschäftigung stürzen. Tante Esther tat so viel, und sie würde ihrem Vorbild folgen.

Ein scharfes Klopfen ertönte an der Tür, bevor sie sich öffnete. Stella kam in den Raum geschritten. „Ich werde den rosafarbenen Satin mit weißen Blumen darauf tragen. Ich werde keines meiner schöneren Kleider für muffige alte Bankleute verschwenden.”

Victoria, mit ihrem Kopf vornüber gebeugt, so dass ihre Haare zum Trocknen frei vor das Feuer fallen konnten, blickte sie an. „Du siehst sehr schön darin aus. Gefallen dir die Stoffproben von Frau Thatcher gut?”

„Sie sind passabel.” Stella ließ sich auf das Bett fallen. „Da gibt es eine rosa Seide, die mir sehr gefällt und ich dachte, dass dir die weißen und lavendelfarbenen Streifen gefallen könnten. Wir können auch neue Hüte kaufen, was meinst du?”

„Klingt interessant.”

Stella griff hinüber, hob das Handtuch auf und begann, Victorias Haare trocken zu reiben. „Ich wünschte, mein Haar hätte diese Farbe. Sieh, wie das rötliche Gold des Feuerlichts sich daran wiederspiegelt. Es ist, als sei es lebendig, wie die Flammen.”

Erstaunt, dass Stella etwas so Nettes, Poetisches gesagt hatte, war Victoria einen Moment lang unsicher, wie sie antworten sollte. „Du hast wunderschönes Haar, Stella. All diese Locken. Meines ist glatt und viel zu dick, als dass je modisch aussehen könnte.”

„Meine Locken sind ziemlich prächtig, das stimmt. Ich mag nur die braune Farbe nicht. Ich hätte viel lieber deine tiefe kupferne Farbe, auch wenn sie wohl ein bisschen zu gewöhnlich ist. York ist überfüllt mit den Armen aus Irland, die eine ähnliche Haarfarbe wie deine haben.”

Victoria konnte sich ein spitzes Lachen nicht verkneifen. Nur Stella konnte mit der einen Hand ein Kompliment machen und es mit der anderen sofort wieder wegnehmen.

Kapitel Zwei

Sanftes Gelächter hallte aus dem Salon, als Victoria nach unten ging, um sich zu der Gruppe zu gesellen. Sie hatte Stella in ihrem Zimmer zurückgelassen, damit diese sich fertig machen und die arme Dora in den Wahnsinn brachte, mit ihrem Verlangen, dass ihre Locken genau richtig sitzen sollten. Die Gäste waren eine halbe Stunde zuvor eingetroffen, und Victoria war sich bewusst, dass es unhöflich war, ihre Tante und ihren Onkel so lange warten zu lassen. Stella konnte damit durchkommen, doch sie wollte nicht vermessen wirken.

An der Tür hielt sie kurz inne und fuhr mit den Händen über ihr weiches graues Satinkleid - das Stella ausgewählt hatte. Sie hatte im Winter abgenommen, und das Kleid passte gut über das Korsett, das Dora zur Betonung ihrer schmalen Taille eng angezogen hatte. Der schulterfreie Stil war mit weißer Spitze in einer Breite von vier Zoll eingefasst, und mehr weiße Spitze floss wie eine Kaskade über den kleinen Cul de Paris am Rücken. Dora hatte ihr Haar in dicken, langen Schleifen hochgesteckt, die mit silbernen Bändern umwickelt waren. Stella sagte, sie sehe hübsch aus, also war sie damit zufrieden. Sie hatte sich längst damit abgefunden, dass sie Stella nie in den Schatten stellen durfte - nicht dass sie es konnte.

Mit einem tiefen Atemzug hob sie das Kinn an und betrat den Raum mit einem Lächeln.

Das sanfte Licht der matten Gaslampen an den Wänden und der goldene Schein eines tosenden Feuers gaben dem Raum eine einladende Atmosphäre. Die Gläser klirrten und höfliches Geplapper floss durch den Raum. Tante Esther unterhielt sich mit ihrer Freundin, Frau Hewitt, einer sehr übergewichtigen Frau, die der Stadt einen Teil des Grundstücks ihres verstorbenen Mannes für den Bau eines Armenhauses überschrieben hatte. Neben dem Kamin sprach Onkel Harold mit zwei Männern, von denen sie den einen als Herrn Belton erkannte, der wie ihr Onkel Stadtrat war. Der andere stand mit dem Rücken zu ihr.

Einer hübsche junge Frau namens Alice Thorpe hatten den Kopf mit Todd zusammengesteckt und lachte. Neben ihnen stand ihr kleiner, käsig aussehenden Ehemann Percy. Victoria und die Familie waren im letzten Sommer bei der Hochzeit der Thorpes dabei gewesen. Die Beziehung der Thorpes war keine Liebesheirat. Alle wussten, dass Alice Percy nur wegen seines Geldes und des Lebens, das er ihr schenken konnte, geheiratet hatte. Victoria hoffte, dass sie diesen Kompromiss nie eingehen musse, doch sie wollte nicht über andere urteilen.

„Ach herrje, ich wusste nicht, dass die kommen würden”, tuschelte Stella, die hinter Victoria in der Tür zum Salon aufgetaucht war. „Wehe ich sitze neben Percy. Die Thorpes langweilen mich.”

„Mir ist er lieber als Frau Hewitt”, flüsterte Victoria zurück. „Sie ist nett, doch sie nimmt das meiste Essen für sich.”

Sie lächelten sich heimlich an, Stella hakte sich bei Victoria unter und zusammen schritten sie mit breiten Lächeln durch den Raum.

Nachdem sie die Thorpes und Frau Hewitt begrüßt hatte, stellte sich Victoria neben ihren Onkel und nickte höflich Herrn Belton zu, bevor sie sich umdrehte, um sich dem Neuankömmling vorzustellen.

„Victoria, meine Liebe, das ist Dr. Joseph Ashton”, sagte Onkel Harold jovial. „Und das ist meine Nichte Victoria Carlton.” Er lächelte stolz.

„Guten Abend, wie geht es Ihnen?” Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und sah sich den Mann vor ihr an. Abgesehen von Todd war er mit seinen etwa zwei Metern der größte Mann im Raum, doch es waren seine Augen, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie waren strahlend blau und von dicken schwarzen Wimpern umrandet, die dieselbe Farbe wie sein Haar hatten.

„Fräulein Carlton, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.” Dr. Ashton hielt ihre Hand fest und doch sachte und sein warmes Lächeln reichte bis hinauf zu seinen beeindruckenden Augen.

„Sie auch, Herr Doktor.” Sie erwiderte sein Lächeln und bewunderte sein attraktives Gesicht.

Eine Bewegung an der Tür ließ sie aufblicken, gerade als Herr Hubbard Tante Esther zunickte, die ankündigte, dass das Abendessen serviert wurde.

Sie machten sich alle auf den Weg durch die Halle zum gegenüberliegenden Esszimmer und nahmen ihre Plätze ein. Victoria saß zur Linken ihres Onkels, Stella zu seiner Rechten, während Tante Esther ihm gegenüber am andere Ende des Tisches saß, mit allen anderen dazwischen.

Zwar lächelte sie, doch war sie enttäuscht, dass Percy Thorpe neben ihr saß, und Victoria fühlte einen kleinen Stich von Eifersucht, dass Doktor Ashton neben Stella saß.

Es war jedoch erfreulich, dass er ihr gegenüber saß, so dass sie ihn über den Tisch hinweg ansehen konnte. Ihr Blick war, wie magisch, zu ihm hingezogen. Er hatte eine stille Anziehungskraft, die sie zwang, ihn anzusehen.

Noch bevor der erste Kurs begann, hatte Stella ein angeregtes Gespräch mit Dr. Ashton begonnen, und Percy hatte das Bedürfnis, die Eröffnung der Royal Albert Hall in London mit Victoria zu besprechen.

„Werden Sie hinfahren, um sie zu sehen, Fräulein Carlton?”, fragte Percy.

„Die Royal Albert Hall?”

„Ja, ich glaube, es wird ganz großartig. Es müsste doch nach dem verstorbenen Prinzen benannt sein, oder? Die Königin hätte es nicht anders gewollt.”

„In der Tat. Ich kann mir vorstellen, dass es für die Königin von großem Interesse sein könnte.” Sie fing an, ihre Lauch-Kartoffel-Suppe zu essen. „Ich bezweifle jedoch, dass ich sie in nächster Zeit besuchen können werde. Werden Sie hinfahren?”

„Ohne Zweifel, ja. Alice und ich fahren vielleicht im Sommer hin und besuchen ein Konzert.”

Während Percy weiterhin über Dinge sprach, die er in London zu tun gedachte, einschließlich des Kaufs eines neuen Hutes, schenkte sie ihm nur ihre halbe Aufmerksamkeit, da Dr. Ashton nun mit Onkel Harold über die Spendensammlung für das Armenhaus der Gewerkschaft sprach. Erst letzte Woche war ihr Onkel einer der Förderer dieses Armenhauses geworden.

„Arbeiten Sie für die Gewerkschaft, Dr. Ashton?”, fragte Victoria und war sich bewusst, dass Percy abrupt aufgehört hatte zu sprechen, als sie ihre Stimme erhob. Sie errötete, denn sie war nicht gern unhöflich, doch sie hatte für den Moment genug von Percy.

Ashton senkte den Löffel. „Wenn ich darum gebeten werde, stelle ich meine Zeit und mein Wissen zur Verfügung, Fräulein Carlton”, antwortete er. „Das ist nur einer der Orte, an dem ich Gutes tun möchte.”

Der Onkel nippte an seiner Suppe. „Bei der Gewerkschaft traf ich Dr. Ashton zum ersten Mal. Er ist erst vor Kurzem nach York gekommen, meine Liebe”, wandte sich der Onkel an sie. „Er ist erst seit weniger als einem Monat hier und ist bereits sehr gefragt. Der Vorstand möchte, dass er dort als medizinischer Mitarbeiter eingesetzt wird, doch Dr. Ashton hat unser Angebot abgelehnt.” Der Onkel lächelte, um zu zeigen, dass er es ihm nicht übel nahm.

Ashton schürzte seine Lippen. „Sie kennen meine Gründe, Harold. Ich habe das Gefühl, dass es besser ist, meine Aufmerksamkeit zu verteilen und mich nicht nur auf einen Ort zu konzentrieren.”

Victoria wischte sich den Mund mit der Serviette ab. „Es gibt zweifellos viele Orte in York, die von Ihren Diensten profitieren würden.”

„Ich hoffe es. Manchmal habe ich das Gefühl, dass der Tag nicht genügend Stunden hat, um alles zu tun, was ich mir wünsche. Ich bin sehr daran interessiert, Frauen und Kindern zu helfen, die in Not geraten sind.” Seine Augen hielten die ihren fest, bis Stella hüstelte.

Dr. Ashton wandte seine Konzentration wieder seiner Suppe zu, während Stella Victoria einen strengen Blick zuwarf.

„Wo kommen Sie ursprünglich her, Dr. Ashton?”, fragte Victoria ihn und ignorierte Stellas scharfen Blick.

„Lincolnshire. Lincoln, um genau zu sein.” Dr. Ashton nippte an seiner Suppe. „Meine Familie väterlicherseits waren seit Generationen im Weinhandel tätig und im Landbesitz auf Seiten meiner Mutter.”

Stella neigte ihren Kopf. „Ich war noch nie in Lincoln. Ich würde es doch gern besuchen.”

„Es gibt dort eine prächtige Kathedrale auf dem Hügel, und auch ein Schloss.”

„Papa, wir müssen eines Tages das Haus von Doktor Ashton besuchen. Im Sommer vielleicht.”

Der Onkel lachte tief. „Ich werde versuchen, einen Moment Zeit zu finden, Liebste, um dich dorthin mitzunehmen.”

„Sie müssen meine Familie besuchen, wenn Sie sich dorthin begeben. Meine Eltern würden sich freuen, Sie willkommen zu heißen.”

„Wie charmant!” Stella strahlte. „Wir werden jetzt auf jeden Fall dorthin fahren, nicht wahr, Papa?”

„Was hat Sie dazu bewogen, Arzt zu werden?”, fragte Victoria, die ihre Suppe kalt werden ließ. Der Arzt war der interessanteste Mann.

Er schenkte ihr seine Aufmerksamkeit mit einem kleinen Lächeln. „Das Bedürfnis, anderen helfen zu wollen, einen kleinen Unterschied zu machen.”

„Das ist wunderbar.”

„Mein Bruder hat das Familienunternehmen übernommen, und es hat mich nie wirklich interessiert, mich ihm anzuschließen, obwohl ich Teilhaber bin. Ich wollte reisen und die Welt sehen. Doch stattdessen ging ich auf Drängen meiner Mutter an die Universität, denn sie hatte Angst, dass ich mein Leben vergeude, wenn ich mich nicht für etwas einsetze.” Er grinste schüchtern mit einem amüsierten Glitzern in seinen Augen, als er Victoria ansah.

Stella hob ihr Weinglas an. „Oh, mein Glas ist leer, Dr. Ashton. Darf ich darum bitten, dass Sie mir nachschenken?” Sie schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln und lenkte seine Aufmerksamkeit von Victoria ab.

„Sicherlich, Fräulein Dobson.” Ashton hob die Karaffe an.

Onkel Harold wies auf Todd, der sich in einem angeregten Gespräch mit Alice Thorpe befand. „Das ist derzeit auch ein Problem, mit dem wir in diesem Haus konfrontiert sind, Herr Doktor. Ihre Mutter hat recht, dass sie Sie zu lohnenden Bemühungen geführt hat. Junge Männer müssen von klügeren Köpfen geleitet werden, sonst verlieren sie die Motivation, ein lohnendes Leben zu führen.”

Tante Esthers Lachen drang zu ihnen hinüber, im Gespräch mit Herrn Belton am anderen Ende des Tisches. Victoria blickte nicht wirklich hungrig auf ihre Schüssel hinunter, da ihr Magen verknotet zu sein schien. Percy begann erneut ein Gespräch mit ihr über den Zustand der Straßen in York.

Während des gesamten Essens gab Victoria ihr Bestes, den Gesprächen am Tisch zuzuhören, doch ihr Fokus richtete sich immer wieder zurück auf Dr. Ashton, wenn dieser sprach. Sie vermutete, dass er etwa dreißig Jahre alt war, er sah jedenfalls nicht älter als dreißig aus.

Sie sah zu, wie sich Stella langweilte, wenn der Onkel mit dem Arzt über die Bedürfnisse der Gemeinden und Hilfe für die Armen sprach. Sie hatte der Unterhaltung nichts hinzuzufügen, da ihre Tante den Mädchen nicht erlaubt hatte, die Armenviertel zu besuchen, doch Victoria war fasziniert von Dr. Ashtons Begeisterung für die notwendigen Verbesserungen.

„Es ist eine Geldverschwendung”, sagte Percy unerwartet und unterbrach Onkel Harold, als dieser über die erforderlichen Spenden für ein neues Armenhaus in der Nähe des Flusses Foss sprach.

„Eine Geldverschwendung?”, fragte Ashton, die Stirn in Falten gelegt. „Wie das, Herr Thorpe?”

Percy lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Es hat sich im Laufe der Jahre gezeigt, wie wenig diese Menschen die Hilfe, die ihnen gegeben wird, respektieren.”

Dr. Ashton starrte den Mann an. „Ich bin anderer Meinung, Herr Thorpe. Viele Leben wurden gerettet, weil ihnen Almosen und Armenhäuser zur Verfügung standen. Diese Einrichtungen funktionieren weitgehend durch Spenden. Die Armen sind in der Tat dankbar und wissen, dass sie ohne die wohltätigen Spenden verhungern würden.”

„Sie sterben sowieso, meist durch zu viel Alkohol oder bei der Geburt.” Percy rümpfte die Nase vor Abneigung. „Sie haben keine Moral und keine Selbstachtung.”

„Das sind böse Verallgemeinerungen, Herr Thorpe. Es ist gefährlich, zu verallgemeinern.” Dr. Ashtons Mund hatte sich zu einer engen Linie verdünnt. „Wenn Sie noch nie in einer solchen Position waren, auf Hilfe aufgewiesen zu sein, wie können Sie dann eine solche Aussage machen?”

„Die Beweislage ist ganz klar, Herr Doktor. Ein Besuch in diesen Slums zeigt, wie diese Leute leben wollen. Sie haben zu viele Kinder und sind untätig. Was man an Geld verdient, wird mit Alkohol, Glücksspiel und einem lockeren Lebenswandel vergeudet.”

„Und wann haben Sie die Slums zum letzten Mal besucht, Herr Thorpe?” Frau Hewitt dröhnte vom Ende des Tisches herab, ihre Augen leuchteten in ihren geröteten runden Gesicht.

„Ich muss nicht zu diesem Volk gehören, um von den Höhlen der Sittenlosigkeit und Trunkenheit zu wissen”, verteidigte Percy seine Position.

„Niemand sucht sich ein solches Leben aus. Es geht darum, wie das Leben sie behandelt hat.” Dr. Ashton sprach mit einem Unterton der Frustration in seiner Stimme. „Glauben Sie ehrlich, irgendwer würde es sich aussuchen, so zu leben, wie diese Menschen es tun? Wenn es genug Arbeit gäbe, wenn genug Geld vorhanden wäre, um ihre Familien zu versorgen, würde eine Mutter ihr Baby vor Hunger weinen oder an einer Krankheit sterben sehen wollen?”

„Können Sie, Dr. Ashton, ehrlich sagen, dass jeder dieser Menschen seine schlampige Art aufgeben würde, um hart zu arbeiten und für seine Familie zu sorgen, wenn es die Möglichkeit dazu gäbe? Sie sind ein Narr, wenn Sie das denken!”

„Ich bin ein Narr?” In Ashtons Stimme drang ein gefährlicher Tonfall ein.

Onkel Harold hielt seine Hand hoch. „Percy, sehen Sie her…”

Percy lehnte sich nach vorn und weigerte sich, still zu sein. „Herr Doktor, Sie müssen doch den wahren Charakter dieser Menschen erkennen. Es wird immer diejenigen geben, die sich dafür entscheiden, faul zu sein und keine Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen wollen. Sie haben keine Selbstachtung oder Selbstkontrolle. Warum sonst haben sie so viele Kinder, wenn sie genau wissen, dass sie sie nicht ernähren können? Wo ist die Enthaltsamkeit? Alles im Übermaß, auch wenn sie nicht die finanziellen Mittel haben, dies zu unterstützen. Sie strömen aus den Landkreisen in die Städte, in der Erwartung, Arbeit und Häuser zu bekommen, und wenn das nicht geschieht, wenden sie sich dem Laster zu. So sieht es aus. Niemand kann das ändern.”

„Ich werde es versuchen”, presste Ashton hervor. „Ich bin der Meinung, dass diejenigen unter uns, denen ein besseres Leben beschert wurde, die Pflicht haben, zu helfen, die weniger Glück gehabt haben.”

Percy schlug auf den Tisch. „Warum sollten wir das tun? Ist es unsere Schuld, dass wir Vorväter hatten, die hart dafür gearbeitet haben, dass ihre Nachkommen nicht leiden müssen? Dass wir den Armen ständig unser Geld geben, scheint die Situation überhaupt nicht zu ändern. Wir wären viel besser dran, wenn wir in Gelegenheiten investieren würden, um die Klassen, die das zu schätzen wissen, zu fördern.”

„Wie, zum Beispiel?”, fragte Victoria, die sich von Percys Meinungen zutiefst gedemütigt fühlte.

„Ich spende gern Geld an Universitäten und Schulen für Familien, die hart dafür arbeiten, damit sie ihre Kinder richtig erziehen können. Ich spende auch an die Stadt für den Bau von Parkanlagen, die wir besuchen können. Das sind alles gute Zwecke.”

Victoria hatte ihre Serviette gefaltet. „Ja, das sind sie, doch was ist mit den Unterprivilegierten, die es sich nicht leisten können, ihre Kinder in diese Schulen zu schicken?”

Percy lächelte sie herablassend an. „Meine Liebe, was Sie nicht verstehen ist, dass die Armen sowieso zu dumm sind, um zur Schule zu gehen. Körperliche Arbeit ist alles, wofür sie gut sind.”

Ein kollektives Keuchen ertönte um den Tisch, und Dr. Ashton zuckte zusammen, entweder vor Schock oder aus Wut, Victoria war sich nicht sicher.

Bevor ihm jemand antworten konnte, erhob sich Tante Esther von ihrem Stuhl. „Meine Damen, wir werden uns zurückziehen und die Männer ihrem Portwein überlassen.”

Widerwillig verließ Victoria den Raum mit den Frauen und betrat den Salon. Dora servierte in der gedämpften Atmosphäre Tee.

Tante Esther, mit eisigen Augen, tat so, als hätte sich die Unhöflichkeit von Herrn Thorpe nie zugetragen, und erkundigte sich bei Frau Hewitt, woher sie die Edelsteinbrosche hatte, die in Form einer Stummelfliege gestaltet war.

Alice Thorpe lehnte sich vor, gespannt auf die Antwort von Frau Hewitt. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Blick huschte durch den Raum, als suchte sie nach einem Fluchtweg.

„Ich habe Percy Thorpe noch nie so wortreich gesehen”, sagte Stella, wobei die Überraschung sie lauter flüstern ließ, als sie es wollte.

„Oder so sinnentbehrt!”, murmelte Victoria rau. „Er hat alle am Tisch mit seinen unbegründeten Meinungen in Verlegenheit gebracht. Der arme Dr. Ashton, so beleidigt zu werden. Er muss uns für sehr provinziell und geizig halten.”

„In der Tat. Dr. Ashton muss die Yorker Gesellschaft für sehr kleinlich halten, wenn Percy Thorpe ein Beispiel für sie ist.” Stella nippte an ihrem Tee. „Papa wird ihn anderweitig informieren.”

„Ich hoffe, Onkel wird darauf bestehen, dass Percy sich entschuldigt.”

„Das wird nicht geschehen. Die Thorpes meinen, sie wären Ärzten überlegen. Percy würde eher seine eigene Krawatte verspeisen, als sich bei Dr. Ashton zu entschuldigen.”

„Nun, ich werde mich weigern, mit dem Mann noch ein Wort zu wechseln, bis er es tut.” Victoria rührte kräftig in ihrer Teetasse.

„Das kannst du nicht tun.” Stella starrte sie an. „Du würdest Mama wütend auf dich machen.”

„Ich glaube, dass Tante Esther das Gleiche fühlt wie ich.”

Stella kicherte. „Mama ist extrem aufgebracht. Schau, wie steif ihre Schultern sind.”

Victoria verzichtete auf einen Kommentar, da die Männer schneller als üblich zu ihnen stießen. Sie sah den Arzt an. Sein Gesichtsausdruck war neutral, doch die scharfen Bewegungen ihres Onkels zeigten, dass er verärgert war. Percy sah aus, als könne er jeden Moment platzen. Nur Todd schien jovial, während er mit Dr. Ashton sprach.

Tante Esther setzte sich sofort in Bewegung, ganz die perfekte Gastgeberin. Sie lächelte den Arzt strahlend an, nahm ihm beim Arm und lenkte ihn weit weg vom Ehepaar Thorpe. „Dr. Ashton, werden Sie jetzt dauerhaft hier in York bleiben?”

„Ja, ich glaube schon, Frau Dobson. Ich habe das Gefühl, dass ich hier viel Gutes tun kann. Ich habe viel über die Situation der Armen in London und Manchester gelesen, und als mir die Möglichkeit geboten wurde, in York zu arbeiten, habe ich sie zugegriffen.” Er lächelte dankbar, als Victoria ihm eine Tasse Tee reichte.

„Und wo wohnen Sie? Haben Sie Familie oder Freunde in der Stadt?”

„Ich kenne nur wenige Leute hier und würde mich ihnen nicht aufdrängen wollen. Ich wohne derzeit im Hotel am Bahnhof.” Ashton schenkte Tante Esther seine volle Aufmerksamkeit. „Ich werde mir natürlich langfristig etwas Substanzielleres suchen müssen.”

„Ich bestehe darauf, Ihnen bei diesem Dilemma zu helfen, Herr Doktor, denn ich kenne jeden in der Stadt.” Die Tante lachte fröhlich, wenn auch ein eher eindringlich. „Sie müssen mir diese Nachsicht gestatten.”

Ashton verbeugte sich. Er schaute Onkel Harold hilflos an. „Wenn Sie sich sicher sind.”

Onkel kicherte und legte die Hände auf seinen großen Bauch. „Lass Sie ihr ihren Willen, Dr. Ashton, ich bitte Sie, oder sie wird mir keine Ruhe geben.”

Der Arzt lächelte herzlich. „Es wäre mir eine Ehre, Ihre Hilfe anzunehmen, werte Dame.”

„Ausgezeichnet.” Tante Esther strahlte.

Innerhalb der nächsten Stunde verabschiedeten sich die Gäste, und Ruhe kehrte im Haus ein. Als Victoria und Stella zu Bett gingen, gähnte Todd auf der Treppe hinter ihnen.

„Was für ein Langweiler dieser Thorpe ist.” Er riss an seiner Krawatte. „Ich dachte, der gute Arzt würde ihn noch erwürgen.”

„Mama wird sie nicht so schnell wieder einladen.” Auch Stella gähnte.

„Schade, denn seine Frau ist sehr charmant.”

Kapitel Drei

Eine Woche später saß Victoria im Salon und nähte ein neues Stück Spitzenband an einen ihrer Sommerhüte. Es war zwar bei weitem nicht einer ihrer Lieblingshüte, doch sie erinnerte sich an den Tag, an dem ein Windstoß ihn ihr vom Kopf gerissen hatte. Spitze war dabei beschädigt worden, und sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie sie ersetzen oder ganz entfernen solle. Danach hatte sie ihn einfach in den Schrank gesteckt und ihn dann vollkommen vergessen, bis sie heute Morgen ihre Hutschachteln durchsuchte und wieder auf ihn stieß.

Es klingelte an der Haustür, und sie fragte sich, wer sie wohl besuchen kam. Sie hörte, wie Herr Hubbard antwortete. Zu ihrem Erstaunen wurde der Name von Dr. Ashton in den Raum gerufen.

Sie stand auf und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Dr. Ashton, welch angenehme Überraschung.” Innerlich hoffte sie, dass sie präsentabel aussah. Ihr Tageskleid mit schmalen zitronengelben und weißen Streifen war aus der letzte Saison, nicht dass der Arzt das wissen würde.

„Ich störe Sie auch nicht, Fräulein Carlton?”, er hob fragend die Augenbrauen.

„Ganz und gar nicht.” Sie zeigte auf den Hut und die Bänder. „Das läuft mir ja nicht weg.” Sie warf einen Blick auf Herrn Hubbard. „Tee, bitte.”

Er verbeugte sich und ließ sie allein.

Plötzlich setzte sich Victoria nervös hin und deutete an, dass der Arzt dasselbe tun solle.

„Es tut mir leid, dass ich unangekündigt vorbeigekommen bin. Ich war im St. Thomas-Krankenhaus und dachte, da ich in der Nähe war, würde ich vorbeikommen und die Liste der Häuser abholen, die Ihre Tante mir freundlicherweise zur Ansicht zusammengestellt hat.”

„Oh, ich bin mir nicht sicher, wo sie die Liste hinterlassen hat. Wahrscheinlich ist sie in ihrem Sekretär.” Sie begann aufstehen, doch er hob die Hand, um zu signalisieren, dass sie sitzen bleiben sollte.

„Es besteht keine Eile. Ich kann ein anderes Mal wiederkommen.” Er lächelte warm und es bildeten sich Falten um seine schönen blauen Augen. Ihr Magen begann bei dem Anblick zu flattern.

Jennie brachte das Tee-Tablett herein und ließ Victoria einschenken.

„Milch? Zucker?” Ihre Hände zitterten und brachten sie in Verlegenheit. Warum verhielt sie sich so?

„Nur ein wenig Milch, bitte.”

„In St. Thomas sind nur ältere Frauen untergebracht, ist das richtig?” Sie reichte ihm die Tasse mit der Untertasse. „Ich glaube, meine Tante stattet dort manchmal Besuche ab.”

„Ja, ich wollte sehen, wie es geführt wird und den Zustand der Patienten beobachten. Mein alter Tutor von der Universität ist an meinen Ergebnissen interessiert. Er möchte, dass ich eine Bericht schreibe.”

„Einen Bericht? Ist das eine Art Reportage?” Sie reichte ihm einen Teller mit Kokos-Plätzchen und Dattel-Teilchen.

„Ja, solche Berichte werden in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht.” Er nahm ein Kokos-Plätzchen. Er biss hinein und seine Gesichtsmuskeln entglitten ihm. „Herr, ist das köstlich!”

„Wir haben ohne Zweifel die besten Köche in York. Mein Onkel würde den Lohn von Frau Norman verdoppeln, wenn sie sich jemals damit drohen würde uns zu verlassen.” Victoria kicherte. „Ich bin überrascht, dass sie das noch nicht versucht hat, um zu sehen, was sie aus ihm herausholen kann.”

Er lachte mit ihr. „Ich mag Kokosnuss gern. Ich habe es zum ersten Mal in Frankreich gegessen. Ich habe in Paris solch köstliches Essen probiert, sie haben eine solche Fantasie dort.”

„Wann waren Sie in Frankreich?” Sie nahm sich auch ein Kokos-Plätzchen. „Ich habe das Land noch nicht besucht.”

„Ich bin schon oft dort gewesen. Mein Vater hat viele französische Geschäftskontakte in der Weinindustrie. Ich glaube, ich war seit meiner Kindheit mindestens einmal im Jahr dort. Mein Bruder ist mit einer Französin verheiratet, Mariette. Sie ist entzückend.”

„Vermissen Sie Ihr Zuhause, Ihre Familie?”

„Ich setze mich für meine Arbeit ein, doch ich vermisse meine Familie, vor allem abends, wenn ich allein in meinem Zimmer bin. Unser Haus war immer ein glückliches Haus. Meine Eltern sind auch nach all den Jahren noch sehr ineinander verliebt, und es schafft ein behagliches Zuhause, in dem man sich wohlfühlt. Das ist es, was ich vermisse.” Er lächelte verlegen. „Aber meine Arbeit ist mir wichtig. Ich kann mich nicht beklagen.”

„Können Sie nicht beides haben, Ihre Arbeit und eine eigene Familie?”

„Ich würde gern glauben, dass ich das könnte, ja.” Sein Blick hielt dem ihren stand.

Die Hitze stieg ihr in die Wangen. Sie musste anerkennen, dass dieser gut aussehende Mann jemand war, den sie gern heiraten würde. Sie wusste nicht, was sie als Nächstes sagen sollte.

„Wovon träumen Sie, Fräulein Carlton?”

„Oje, ich denke nicht, dass ich Träume von großer Bedeutung habe. Aber ich möchte gerne weit reisen.”

„Zu reisen ist ein schöner Traum.” Er nippte an seinem Tee. „Welche exotischen Ziele möchten Sie unbedingt erkunden?”, fragte er mit einem Murmeln.

Sie zitterte ob der Intimität seiner Stimme, obwohl die Worte an sich unschuldig waren. „Ich bin nicht sicher...”

„Vielleicht könnten wir bei warmem Wetter einen Spaziergang machen, Fräulein Carlton. Sie können mir Teile von York zeigen, die ich noch nicht gesehen habe.”

Ein Gefühl des Glücks durchströmte sie. Sie fühlte, wie ihre Wangen bei dem Gedanken, nur zu zweit auszugehen, warm wurden. „Das würde mir sehr gefallen, Dr. Ashton. Es gibt einige schöne Wanderwege aufs Land hinaus, auf die ich Sie begleiten könnte.”

Er lächelte und trank seinen Tee. „Ich freue mich darauf.”

Lärm im Flur unterbrach sie und Sekunden später betrat Stella den Raum. Victoria stöhnte innerlich auf und sie ärgerte sich, dass ihre Zeit allein mit Dr. Ashton zu Ende war.

Stella starrte Victoria und den Doktor mit zusammengekniffenen Augen an. „Das sieht wirklich sehr gemütlich aus. Aber jetzt bin ich ja da. Also Victoria, du darfst den Doktor keine weitere Minute lang monopolisieren. Wie langweilig es muss für ihn sein, nur mit dir zu reden.”

Victoria schluckte eine scharfe Erwiderung auf ihre Unhöflichkeit herunter. Sie lächelte lediglich und nippte an ihrem Tee.

„Fräulein Carlton hat angeboten, einige Spaziergänge auf dem Land zu unternehmen, wenn sich das Wetter erwärmt.” Ashton stellte seine Tasse und Untertasse auf das Tablett.

„Spaziergänge?” Stella lachte spitz auf. „Die liebe Victoria mag Spaziergänge tatsächlich gern. Nein, Dr. Ashton, ich werde Sie vor dieser Tristesse bewahren.”

Victoria warf ihr einen scharfen Blick zu.

„Wir werden mit dem Zug nach Scarborough fahren und die Freuden des Meeres genießen! Mama und Papa könnten Ihnen einige ihrer Freunde vorstellen. Papa hat einen guten Freund namens Dr. Fisher.”

Als Tante Esther den Raum betrat, drehte sich Stella zu ihr um. „Mama, sollen wir Dr. Ashton nicht zu Dr. Fisher nach Scarborough bringen? Ich glaube, sie würden die Gesellschaft des anderen sehr genießen.”

„Oh ja! Charles Fisher ist ein Mann mit einer Vision.” Tante Esther nickte begeistert.

Ashton lächelte. „Ich habe von Dr. Fisher gehört und ein Buch über Naturheilkunde gelesen, welches er geschrieben hat. Ich würde ihn gern kennenlernen.”

„Wunderbar. Ich werde die Vorkehrungen treffen.” Stella strahlte.

Über die Spaziergänge im Land wurde nichts weiter gesagt.

~ ~ ~ ~

Nachdem sie wochenlang im Haus eingesperrt gewesen war, war es für Victoria eine angenehme Abwechslung, im schwachen Sonnenschein einkaufen zu gehen. Die April-Schauer hatten den Schmutz und den Kohlenruß von den Tausenden von Bränden weggespült, und die Blumen begannen nun zu blühen, während ein blaue Himmel den ewig grauen ersetzte.

In der Coney Street wartete Victoria geduldig vor einem Süßwarengeschäft, in welchem Stella eine Schachtel Terrys kandierter Orangenschale erstand. Sie hatten einen anstrengenden Morgen damit verbracht, Schleifen und neue Handschuhe für einen Ball auszusuchen, der in der nächsten Woche in den Versammlungsräumen stattfinden sollte.

„Fräulein Carlton?”

Victoria drehte sich um und lächelte Dr. Ashton an. „Wie schön, Sie zu sehen.”

„Wie geht es Ihnen?”, fragte er und blieb neben ihr stehen.

„Gut, danke. Und Ihnen?”

„Sehr sogar. Vor allem, weil Ihre Tante mir ein kleines Häuschen in Bootham gefunden hat, das meinen Bedürfnissen perfekt entspricht.”

„Oh, sie hat gar nicht erwähnt, dass Sie sich für ein Haus entschieden haben. Das ist eine wundervolle Nachricht.” Victoria wünschte sich, Tante Esther hätte davon erzählt. Der Arzt war ihren Gedanken nie fern. Sie konnte an nichts anderes denken als ihn.

„Es ist erst vor einigen Tagen passiert.” Er lächelte freundlich. „Ihre Hilfe war von unschätzbarem Wert. Ich war zu beschäftigt, um mich selbst um etwas zu kümmern, und Ihre Tante hat alles geregelt. Ich habe es gestern angemietet.”

„Das ist wahrscheinlich ihre Art, sich für unsere unhöflichen Gäste zu entschuldigen!”, platze es aus Victoria heraus, bevor sie wusste, was sie gesagt hatte. Sie klatschte sich mit ihrer behandschuhten Hand über den Mund. „Das habe ich nicht so gemeint! Es tut mir so leid! Ich meinte nicht, dass sie es nur aus diesem Grund tat. Sie würde Ihnen helfen wollen, wirklich.”

Sein Gelächter stoppte ihren Redefluss. „Ich verstehe, was Sie meinen, Fräulein Carlton. Ihre Tante ist nicht daran schuld, dass einer ihrer Gäste ein wenig unwissend ist.”

„Sie sind zu freundlich, Herr Doktor. Percy ist jedoch sehr unwissend.” Sie grinste.

Er lehnte sich näher an sie heran. „Ich vermute, er steht nicht auf der nächsten Gästeliste?”

Sie lachte. „Nicht für eine Weile, würde ich sagen!”

Die Ladentür öffnete sich, und Stella kam mit einem großen Lächeln auf den Arzt zu gesegelt. „Was geht hier vor, Dr. Ashton? Spielt meine Cousine den Witzbold? Ich konnte Sie aus dem Laden heraus lachen hören.”

„Ihre Cousine ist sehr charmant, Fräulein Dobson, und kein Witzbold.” Dr. Ashton blickte Victoria aufmerksam an und spürte, wie etwas in ihr aufstieg und ihr Kribbeln am ganzen Körper bescherte.

Stella starrte Victoria überrascht an, und hob das Kinn an. „Was um Himmels Willen hat sie gesagt?”

„Wir sprachen lediglich über Dr. Ashtons neue Unterkunft, die Tante Esther für ihn gefunden hat.”

„Ich verstehe. Stella schaute sie weiter kalt an.

„Ich bin sehr dankbar für ihre Hilfe, denn ich bin zu beschäftigt mit meiner Arbeit, um an solche Dinge zu denken.”

„Mama macht sich immer für die stark, die ihrer Meinung nach in weniger glücklichen Situationen sind, nicht wahr, Victoria?”

Aus irgendeinem Grund hatte Victoria das Gefühl, dass diese Aussage mehr auf sie als auf den Arzt bezogen war. „Tante ist die beste aller Frauen.”

„Ja, Mama genießt es, kleine Küken unter ihre Fittiche zu nehmen, genau wie sie es getan hat, als Victoria zum Waisenkind geworden ist.”

Nun wusste sie mit Sicherheit, dass der Kommentar sich auf sie bezog. Manchmal schien es Stella Freude zu bereiten, sie daran zu erinnern, unter welch schlimmen Umständen sie Teil der Familie geworden ist. Sie runzelte die Stirn ob Stellas Kommentar und zwang sich, dem Arzt ein strahlendes Lächeln zu schenken. „Wie geht es mit dem Studium voran?

Sein Blick wanderte von Stella zu Victoria. „Ich bin sehr beschäftigt, was ich willkommen heiße. Der Tag ist niemals lang genug.” Sie erlaubte sich, einen Moment sein attraktives Gesicht anzustarren, um sich seine Gesichtszüge einzuprägen, um sie sich später genau in Gedanken zu rufen. „Ich würde auch gern irgendwie helfen, wenn ich darf?”, platzte sie plötzlich hervor.

Stella erstarrte neben ihr. „Wir helfen bereits, Victoria. Wir verbringen viele Stunden damit, Spenden für Mamas Wohltätigkeitsorganisationen zu sammeln.”

Victoria blickte sie an und spürte die Irritation in sich aufsteigen. „Das ist mir nicht genug. Ich würde gerne mehr tun.”

„Sie könnten ehrenamtlich in einem der Krankenhäuser oder Armenhäuser arbeiten, Fräulein Carlton. Morgen bin ich im Wilson House, einem Armenhaus für Frauen. Ich könnte Ihnen eine Führung durch eines der Krankenhäuser anbieten, damit Sie selbst sehen, wo Sie sich nützlich machen können?”

„Nein, das könnte sie nicht!”, rastete Stella aus. „Mama würde es nicht zulassen. Du könntest alles Mögliche einfangen und zu uns ins Haus einschleppen.” Stella hakte sich bei Victoria unter, ihr Ton und Körperhaltung steif. „Guten Tag, Herr Doktor. Wir müssen jetzt gehen, es gibt viel zu tun.”

Er zögerte. „Es war nur ein Gedanke, Fräulein Carlton.”

„Danke, Dr. Ashton.” Sie war wütend über Stellas Respektlosigkeit, und Victoria wollte noch mehr sagen, doch Stella schleppte sie weg.

„Oh, Dr. Ashton.” Stella drehte sich flüchtig um. „Wir werden nächsten Samstag nach Scarborough fahren. Notieren Sie es in Ihrem Kalender. Ich habe mir große Mühe gegeben, es zu organisieren. Sehen Sie zu, dass Sie mich nicht im Stich lassen.”

„Ich würde es nicht wagen, Fräulein Dobson. Wir sehen uns dann, die Damen.” Dr. Ashton senkte zum Abschied den Kopf und überquerte die Straße.

Verärgert über Stella zog Victoria ihren Arm zurück. „Ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen, Stella! Ich will dort zu helfen, wo ich am meisten gebraucht werde, genau wie Tante Esther.” Sie stampfte davon, wütend wie nie zuvor.

„Aber du bist nicht Mama! Du bist unverheiratet.” Stella beeilte sich, sie einzuholen. „Man kann nicht einfach allein durch Krankenhäuser laufen. Es schickt sich nicht!”

Victoria blieb abrupt stehen und baute sich vor Stella auf. „Ich werde mich nicht davon anhalten lassen. Ich werde helfen, denn ich kann nicht den ganzen Tag untätig herumsitzen.”

„Mama und Papa werden es nicht erlauben.”

„Du vergisst, Stella, dass ich nächsten Monat volljährig werde. Dann kann ich tun, was ich will!”

„Du lebst von der Großzügigkeit meiner Familie! Du kannst nicht einfach tun, was du willst.”

„Warum bringst du diese Tatsache immer wieder zur Sprache?”

„Weil du es zu vergessen haben scheinst.” Stella verlor ihre Beherrschung.

„Wie könnte ich das?” Von der Verachtung in Stellas Tonfall erschüttert trat Victoria verwundet zurück. „Du bist nicht besser als ich.”

„Glaubst du das wirklich? Glaubst du wirklich, dass du die Aufmerksamkeit von Dr. Ashton gewinnen kannst? Du machst dir etwas vor. Er würde dich nie auch nur ansehen, eine Waise ohne Mitgift, die ihrem Onkel auf der Tasche lebt. Was kannst du ihm schon bieten?”

Fassungslos über das Gift in ihren Worten überquerte Victoria ohne ein weiteres Wort die Coney Street, wo die Pferdebahn hielt.

„Wo willst du hin?”, verlangte Stella. „Komm zurück.”

„Nach Hause.”

„Aber wir sind noch nicht mit unseren Einkäufen fertig.”