Der Sommer der Blaubeeren - Mary Simses - E-Book
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Der Sommer der Blaubeeren E-Book

Mary Simses

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Beschreibung

Ein Geheimnis aus der Vergangenheit. Ein Weg in die Zukunft…

Kurz vor ihrer Hochzeit fährt die New Yorker Anwältin Ellen Branford in den abgelegenen Küstenort Beacon, um den letzten Wunsch ihrer Großmutter zu erfüllen. Sie soll einen Brief überbringen und hofft, die Angelegenheit schnell erledigen zu können. Doch schon bald ahnt sie, dass sich dahinter viel mehr verbirgt. Denn inmitten von Blaubeerfeldern wartet eine alte Geschichte von Liebe und verlorenen Träumen auf Ellen – die ihr zeigen wird, dass man manchmal all seine Pläne über den Haufen werfen muss, um das wahre Glück zu finden …

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Seitenzahl: 475

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Mary Simses

Der Sommer der Blaubeeren

Roman

Aus dem Amerikanischen von Carolin Müller

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel»The Irresistible Blueberry Bakeshop & Café« bei Little, Brown and Company, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Mary Simses

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Redaktion: Ivana Marinovic

Das Gedicht »Mending Wall« von Robert Frost wird Kapitel 7 und 14 zitiert nach der deutschen Übersetzung »Beim Mauerflicken« von Dieter F. Zimmer, erschienen in einem Band mit Gedichten von Robert Frost, herausgegeben von Eva Hesse, Verlag Langewiesche-Brandt, Ebenhausen, 1963.

ES · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-11237-0www.blanvalet.de

Blaubeer-Muffins

Zutaten:

2 Tassen Weizenmehl

½ Tasse Zucker

2 gestrichene Teelöffel Backpulver

8 Esslöffel geschmolzene Butter

1 Ei

¾ Tasse Vollmilch

1 Vanilleschote

1½ Tassen frische Blaubeeren

1 gehäufter Esslöffel Zucker zum Bestreuen

Zubereitung:

Den Backofen auf 175 Grad vorheizen. Ein Muffinblech mit zwölf Mulden mit Butter oder Margarine fetten oder doppelt mit Papierförmchen auslegen. Mehl, Zucker und Backpulver in einer großen Schüssel gut vermischen. Einen Esslöffel der Mischung über die Blaubeeren geben und vorsichtig vermengen.

Die Vanilleschote mit einem spitzen Messer längs aufschneiden und das Mark herauskratzen. Das Ei in einer zweiten Schüssel mit einem Schneebesen leicht schlagen und anschließend mit der Butter, der Milch und dem ausgekratzten Vanillemark gut verrühren. Die flüssigen Zutaten über die Mehl-Zucker-Mischung geben und alles (am besten mit einem Kochlöffel mit Loch) vermischen, bis der Teig gebunden ist. Den Teig dabei nicht zu stark rühren, da die Muffins sonst zu dicht werden. Kleine Mehlklümpchen dürfen sichtbar sein. Zuletzt die Blaubeeren behutsam unter den Teig heben.

Den Teig gleichmäßig auf die zwölf Muffin-Mulden verteilen und mit dem Zucker bestreuen. Im Ofen auf der mittleren Schiene 20 bis 25 Minuten backen. Die Muffins nach dem Backen 15 Minuten in der Form und danach auf einem Kuchengitter auskühlen lassen.

Für Bob und Morgan,und in Erinnerung an Ann und John

1Eine kalte Begrüßung

»Stehen bleiben, das ist gefährlich!«

Ich hörte jemanden schreien, aber es war zu spät. Die Holzplanken des Piers bogen sich erst unter mir und gaben dann nach. Bretter splitterten, morsches Holz brach, und ich stürzte drei Meter tief in den eisigen Golf von Maine.

Vielleicht hätte ich den Mann, der mir die Warnung zurief, auf den Kai laufen sehen können. Wenn ich mich bloß etwas nach rechts gedreht hätte, hätte ich bemerkt, wie er wild mit den Armen winkend über den Strand zum Pier gerannt kam. Aber ich hatte den Sucher meiner Nikon-Kamera ans Auge gepresst und zoomte gerade etwas jenseits des Wassers heran – die Statue einer Frau in einem vom Wind gebauschten Kleid, die einen Korb voller Trauben trug.

Noch während ich mich mit rudernden Armen, pochendem Herzen und vor Kälte klappernden Zähnen wieder nach oben kämpfte, merkte ich, dass ich abtrieb, und zwar ziemlich schnell. Eine starke, mächtige Strömung wirbelte mich herum und zog mich fort vom Kai. Ich kam hustend an die Oberfläche, das Meer um mich herum schäumte aufgewühlt und voller Sand. Ich trieb noch immer ab, bewegte mich weg vom Pier und dem Strand, Wellen schwappten über mir zusammen, füllten meinen Mund und meine Nase mit Salzwasser. Ich spürte, wie meine Arme und Beine allmählich taub wurden, ich konnte nicht aufhören zu zittern. Wie konnte das Meer Ende Juni bloß so kalt sein?

Ich versuchte, gegen die Strömung anzuschwimmen, legte meine besten Kraulkünste an den Tag, trat so fest ich konnte und schob das Wasser weg, bis meine Gliedmaßen schmerzten. Doch ich driftete weiter in tieferes Gewässer ab, die Strömung war noch immer zu stark.

Du warst eine gute Schwimmerin, als du noch in Exeter warst, versuchte ich, mir selbst Mut zuzureden. Du kannst es ans Ufer schaffen. Die kleine Stimme in meinem Kopf wollte zuversichtlich klingen, aber es gelang ihr nicht. Panik durchfuhr mich bis in meine Fingerspitzen und Zehen. Etwas hatte sich in den Jahren, die dazwischen lagen, verändert. Zu viel Zeit, die ich sitzend an einem Schreibtisch verbracht und mich um juristische Schriftstücke und Erwerbsverträge gekümmert hatte, Zeit, in der ich offenbar nicht den Schmetterlingsstil trainiert hatte.

Plötzlich ließ die Strömung, die mich erfasst hatte, abrupt nach. Ich war umgeben von schwarzen Wassermassen mit weißen Schaumkämmen. Vor mir erstreckte sich das offene Meer, dunkel und unendlich. Ich drehte mich um, und zuerst konnte ich nichts anderes als noch mehr Wasserhügel erkennen. Dann schaukelte ich auf einem Wellenkamm hoch, und der Strand mit dem Pier tauchte auf, weit weg und winzig. Ich fing wieder an zu kraulen, nahm Kurs Richtung Ufer – schnaufte, ruderte, schnaufte, ruderte. Es war schrecklich anstrengend und meine Beine fühlten sich so schwer an. Sie wollten nicht mehr weiterstrampeln. Sie waren einfach zu müde.

Ich hörte auf und trieb auf der Stelle, meine Arme waren so erschöpft, ich hätte weinen können. Ich spürte einen brennenden Schmerz am Kinn, und als ich mein Gesicht berührte, hatte ich Blut am Finger. Ich hatte mich an irgendetwas geschnitten, vermutlich beim Sturz.

Der Sturz. Ich wusste nicht einmal, wie es hatte passieren können. Ich wollte bloß die Stadt vom Wasser aus sehen, so wie Gran, meine Großmutter, sie gesehen haben musste, als sie hier in den 40er-Jahren aufgewachsen war. Also war ich über den Strand gelaufen, hatte ein Gatter geöffnet und den alten Bootsanlegesteg betreten. Einige Planken fehlten, und Teile des Geländers waren weggebrochen, aber alles schien in Ordnung, bis ich auf ein Brett trat, das sich etwas zu weich anfühlte. Ich konnte den freien Fall fast noch einmal spüren.

Eine Welle schwappte mir ins Gesicht und ich bekam den Mund voll Wasser. Ich spürte, wie sich die Nikon verdrehte und gegen meine Brust stieß, und mir wurde bewusst, dass sie noch immer an meinem Hals hing, wie ein Stein, der mich hinunterzog. Die Kamera würde nie mehr funktionieren. Das wusste ich. Mit zitternden Händen zog ich mir den Riemen des Fotoapparats über den Kopf.

Ich musste an meinen letzten Geburtstag denken – Abendessen im May Fair Hotel in London, mein Verlobter, Hayden, wie er mir eine in Silberpapier verpackte Schachtel und eine Karte reicht. »Glückwunsch zum fünfunddreißigsten, Ellen – ich hoffe, das wird deinem Wahnsinnstalent gerecht.« In der Schachtel befand sich die Nikon.

Ich öffnete die Hand und ließ den Riemen durch meine Finger gleiten. Ich sah zu, wie die Kamera in die Finsternis hinabsank, und spürte, wie es mir das Herz brach, wenn ich mir nur vorstellte, wie sie am Meeresgrund lag.

Und dann kam mir der Gedanke, dass ich es nicht zurück schaffen würde. Dass es einfach zu kalt und ich zu müde war. Ich schloss die Augen und ließ mich von der Dunkelheit einhüllen. Um mich herum hörte ich nichts als das Rauschen des Meeres. Ich dachte an meine Mutter und wie schrecklich es wäre, sie nie wiederzusehen. Wie würde sie zwei Todesfälle in knapp einer Woche verkraften – erst meine Großmutter und dann ich?

Ich dachte an Hayden und wie ich ihm noch heute Morgen, bevor ich aufbrach, versichert hatte, dass ich bloß eine, höchstens zwei Nächte in Beacon bleiben würde. Und wie er mich gebeten hatte, eine Woche zu warten, damit er mich begleiten könne. Ich hatte Nein gesagt, es sei bloß ein Kurztrip. Keine große Sache. Heute ist Dienstag, rief ich mir meine Worte in Erinnerung, ich bin morgen wieder in Manhattan. Und jetzt, nur drei Monate vor unserer Hochzeit, würde er erfahren, dass ich nicht mehr zurückkomme.

Ich spürte, wie ich mich aufgab, ich überließ mich dem Wasser, und es fühlte sich ruhig an, so friedlich. Ein Bild meiner Großmutter in ihrem Rosengarten huschte mir durch den Kopf. Sie lächelte mich an.

Erschrocken öffnete ich die Augen. Durch die dunklen Berge des sich auftürmenden Wassers konnte ich den Pier sehen und an dessen Ende war etwas – nein, jemand. Ich sah zu, wie ein Mann ins Wasser sprang. Er tauchte wieder auf und fing in beachtlichem Tempo an, in meine Richtung zu kraulen. Ich konnte seine Arme aus dem Wasser schnellen sehen.

Er kommt, um mich zu holen, dachte ich. Gott sei Dank, er kommt mich holen. Noch jemand ist hier draußen, und er wird mir helfen. In meiner Brust fühlte ich plötzlich eine Wärme aufsteigen. Ich zwang meine Beine, stärker zu strampeln, und es kam wieder Leben in meine Muskeln. Ich streckte den Arm hoch und versuchte, meinem Retter ein Zeichen zu geben, damit er mich besser sehen konnte.

Ich sah zu, wie er näher kam, und meine Zähne klapperten so heftig, dass ich kaum noch atmen konnte. Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor so einen starken Schwimmer gesehen hatte. Die Wellen schienen ihm eher lästig. Endlich war er nah genug, damit ich ihn hören konnte. »Halt durch!«, schrie er, sein Atem ging heftig, sein Gesicht war gerötet, seine dunklen Haare klebten ihm nass am Kopf. Als er mich erreichte, hatten meine Beine bereits versagt, und ich trieb auf dem Rücken.

»Ich bring dich zurück!«, rief er. Er holte ein paarmal Luft. »Tu einfach, was ich dir sage, und klammer dich nicht an mich, sonst gehen wir beide unter.«

Ich war nicht so dumm, mich an ihn zu hängen, obwohl mir nie bewusst gewesen war, wie leicht ein ertrinkender Mensch diesen Fehler machen konnte. Ich nickte, um ihn wissen zu lassen, dass ich verstanden hatte, und wir blickten einander, auf der Stelle treibend, an. Alles, was ich sah, waren seine Augen. Er hatte unglaublich blaue Augen – hellblau, fast eisblau wie Aquamarine.

Und dann war mir das alles trotz meiner Erschöpfung ganz plötzlich unangenehm. Ich war noch nie gut darin gewesen, Hilfe von anderen anzunehmen, und einer seltsamen Regel der umgekehrten Proportionalität folgend, war es für mich umso unangenehmer, Hilfe anzunehmen, je extremer die Situation war. Meine Mutter würde sagen, es liege an unserer guten alten Yankee-Abstammung. Hayden würde sagen, es sei bloß törichter Stolz.

Alles, was ich wusste, war, dass ich mich in diesem Moment wie eine Idiotin fühlte. Eine Jungfrau in Nöten, die auf einem Steg einbricht, abtreibt und es nicht mehr ans Ufer schafft, nicht in der Lage ist, auf sich selbst aufzupassen.

»Ich kann selber … zurückschwimmen!«, rief ich mit zitternden Lippen. »Neben dir schwimmen«, fügte ich hinzu, meine Beine fühlten sich an wie Betonklötze.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Keine gute Idee. Brandungsrückströme.«

»Ich war … im Schwimmteam«, bekam ich heraus, während wir von einer Woge angehoben wurden. Meine Stimme klang krächzend. »Privatschule.« Ich hustete. »Exeter. Wir haben es … bis zu den Landesmeisterschaften geschafft.«

Er war jetzt so nah, dass sein Arm meine Beine streifte. »Ich übernehm jetzt das Schwimmen.« Er atmete tief durch. »Du machst, was ich sage. Mein Name ist Roy.«

»Ich bin Ellen«, stieß ich atemlos hervor.

»Ellen, du legst deine Hände an meine Schultern.«

Er hatte breite Schultern. Die Art von Schultern, die aussahen, als kämen sie von echter Arbeit, nicht vom Fitnesstraining. Er blinzelte, als er mich ansah.

Nein, das mache ich nicht, dachte ich, als ich mit meinen tauben Händen weiter durchs Wasser pflügte. Ich schwimme selbst an Land. Jetzt, wo ich weiß, dass jemand bei mir ist, kann ich es schaffen. »Danke, aber ich komm klar, wenn ich nur …«

»Hände auf meine Schultern«, sagte er mit erhobener Stimme. Diesmal war es keine Option.

Ich griff nach seinen Schultern.

»Jetzt leg dich zurück. Halt die Arme gestreckt. Breite die Beine aus und bleib so. Ich übernehme das Schwimmen.«

Ich kannte dieses Manöver, Ziehen eines erschöpften Schwimmers, aber ich war noch nie selbst der erschöpfte Schwimmer gewesen. Ich lehnte mich zurück, meine Haare breiteten sich wie ein Fächer um meinen Kopf herum aus. Ich spürte einen lauwarmen Fleck Sonne auf meinem Gesicht. Wir schaukelten mit den Wellen, unsere Körper trieben schwebend über die Wellenkämme hinweg.

Roy schob sich im Wasser über mich, und ich schlang seinen Anweisungen folgend meine Beine um seine Hüften. Er schwamm in Brustlage mit dem Kopf über Wasser los, und ich entspannte mich langsam, während ich mich tragen ließ. Ich schloss die Augen und spürte, wie sich unter seinem Hemd die Muskeln bei jedem Zug anspannten. Seine Beine waren lang und muskulös und schlugen kraftvoll zwischen meinen Beinen. Seine Haut roch nach Salz und Seetang.

Ich hörte seine Bewegungen, die durchs Wasser schnitten, und spürte die Wärme seines Körpers. Ich öffnete die Augen und sah, dass wir uns parallel zum Ufer bewegten. Ich verstand, was passiert war. Ich war tatsächlich von einem Brandungsrückstrom erfasst worden und hatte das in meiner Panik nicht begriffen. Und deshalb hatte ich auch nicht die wichtigste Regel im Falle von derartigen Strömungen beachtet – nicht dagegen anzukämpfen, sondern parallel zum Ufer zu schwimmen, bis man aus der Strömung ist, und dann erst zurückzuschwimmen.

Bald darauf drehten wir Richtung Strand. Flüchtig sah ich ein paar Menschen am Ufer stehen. Wir haben’s gleich geschafft, dachte ich, überwältigt vor Erleichterung. Ich konnte es nicht erwarten, wieder Boden unter den Füßen zu spüren, zu wissen, dass ich nicht mehr alleine in der Dunkelheit trieb.

Als das Wasser flach genug war, dass Roy stehen konnte, zog er mich hoch und stützte mich, indem er seine Arme um meinen Rücken legte. Er atmete schwer. Angesichts der Höhe, in der mein Kopf an seiner Brust lehnte, konnte ich schätzen, dass er mindestens eins fünfundachtzig war, gut zwanzig Zentimeter größer als ich.

»Hier kannst du stehen«, sagte er, und Wasser tropfte aus seinem Haar.

Ich löste mich sanft von ihm und nahm seine Hände, als er sie mir hinhielt. Ich setzte meine Füße ab und stand in dem brusthohen Wasser. Ich fühlte mich wie im Himmel, als ich den Sand unter mir spürte und wieder auf festem Boden verankert war. Hinter mir wogte noch immer das Meer und wälzte dunkel heran, aber nur ein paar Schritte vor mir leuchtete der Strand wie ein neues Versprechen in der Spätnachmittagssonne. Ich spürte, wie sich meine Muskeln entspannten, und einen Moment lang war mir nicht einmal mehr kalt. Ich spürte bloß den Kitzel der Verbindung mit der Welt um mich herum. Ich bin noch da, dachte ich. Ich bin in Sicherheit. Ich lebe.

Ein Schwindel erfasste mich, und ich musste lachen. Ich ließ Roys Hand los und fing an, mich im Kreis zu drehen, eine benommene Ballerina im Wasser. Ich lachte und wirbelte herum und schwenkte die Arme. Roy sah mir verdutzt zu. Ich fragte mich, ob er wohl dachte, ich hätte den Verstand verloren. Und wenn schon, es war mir gleich. Ich war aus dem Abgrund des offenen Meeres wieder auf festen Boden zurückgekehrt, und es gab nichts auf der Welt, was sich so gut anfühlte wie dieser eine Moment.

Ich trat näher an Roy heran und blickte ihm in die Augen. Dann schlang ich meine Arme um seinen Hals und küsste ihn. Ein Kuss dafür, dass er mir das Leben gerettet hatte – ein Kuss, der von einem Ort in mir kam, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass er existierte. Und er erwiderte meinen Kuss. Seine warmen Lippen schmeckten wie das Meer, seine Arme, stark und verlässlich, hielten mich fest, als drohten wir beide zu ertrinken. Ich wollte nichts mehr, als mich in diese Umarmung zu stürzen. Und dann wurde mir bewusst, was ich da tat, und ich wich schnell zurück.

»Tut mir leid«, sagte ich atemlos. Plötzlich wurden mir auch all die Leute bewusst, die uns beobachteten. »Ich … ich muss los.« Ich drehte mich um und watete so schnell ich konnte durch das Wasser zum Strand. Ich zitterte, meine Klamotten waren pitschnass, meine Augen brannten vom Salz, und die Verlegenheit, die ich ein paar Augenblicke zuvor verspürt hatte, war nichts gegen das. Ich wusste nicht, was über mich gekommen war, was in mich gefahren war, ihn zu küssen.

»Ellen, warte einen Moment!«, rief Roy, während er mich einholte. Er versuchte, meine Hand zu nehmen, aber ich wich ihm aus und stapfte weiter durchs Wasser. Tu so, als wäre nichts geschehen, dachte ich. Es ist nie passiert.

Zwei Männer in Jeans kamen vom Strand aus auf uns zugerannt. Der eine trug ein gelbes T-Shirt. Der andere hatte eine Red-Sox-Baseballmütze auf dem Kopf und einen Werkzeuggürtel um die Hüfte gebunden, mit einer Wasserwaage daran, die beim Laufen hin und her schwang.

»Roy, alles klar? Ist sie okay?«, fragte der Mann mit dem gelben T-Shirt und half mir ans Ufer.

»Ich denke, sie ist okay«, erwiderte Roy, als er aus dem Wasser gewatet kam, die Jeans klebte an seinen Beinen.

Der Red-Sox-Typ legte den Arm um mich, bis ich auf dem Sand stand. »Alles okay mit Ihnen?«

Ich versuchte zu nicken, aber ich zitterte so heftig, ich glaube nicht, dass sich mein Kopf bewegte. »Kalt«, ächzte ich, meine Zähne klapperten.

Ein stämmiger Mann mit Bart und stoppeligen Haaren kam auf mich zu. Auch er trug einen Werkzeuggürtel und hatte eine braune Lederjacke in der Hand. Er legte sie mir um die Schultern und machte den Reißverschluss vorne zu. Das Innenfutter fühlte sich dick und kuschelig an, wie eine Fleecedecke. Ich war froh um das wärmende Gefühl.

Der gelbe T-Shirt-Mann fragte: »Möchten Sie, dass ich einen Krankenwagen rufe? Dass man Sie ins Krankenhaus nach Calvert bringt oder so? Sie wären bestimmt gleich hier.«

Ich hatte keine Ahnung, wo Calvert war, aber das Letzte, was ich wollte, war in ein Krankenhaus eingewiesen zu werden, wo das Personal vermutlich meine Mutter anrufen würde (nicht gut) und Hayden (noch schlimmer).

»Bitte«, sagte ich zitternd, »ich will bloß hier weg.«

Roy kam rüber und stellte sich neben mich. »Ich fahr dich heim.«

Oh nein, dachte ich und spürte, wie meine Wangen vor Verlegenheit rot anliefen. Jemand anderes muss mich heimbringen. Ich kann nicht mit ihm fahren. Ich sah die anderen Männer an, aber keiner machte Anstalten, mich zu begleiten.

»Komm«, sagte Roy und berührte meine Schulter.

Ich marschierte zügig über den Sand los. Er schloss auf und ging dann schweigend voran. Wir gingen bis zum Kai am anderen Ende des Strandes, wo gerade ein Haus gebaut wurde. Drei Männer befanden sich auf dem Dach und hämmerten Schindeln fest. Ich folgte Roy zu einem matschigen Parkplatz vor dem Haus, und er öffnete die Tür eines blauen Ford Pick-ups.

»Sorry für das Durcheinander«, meinte er, als er eine Werkzeugkiste, ein Maßband, eine Wasserwaage und ein paar Bleistifte vom Vordersitz räumte. »Schreinerwerkzeug.« Wasser troff aus meiner Kleidung, als ich auf dem Sitz Platz nahm, und eine Pfütze bildete sich auf der Gummimatte unter mir. Ich sah auf meine Füße hinunter, die von einer feinen Sandschicht bedeckt waren.

»Ich weiß nicht, was da draußen passiert ist«, sagte ich fast flüsternd. »In der einen Sekunde stand ich noch auf dem Pier und in der nächsten …« Mich fröstelte, und ich schlug den Jackenkragen hoch.

Roy drehte den Zündschlüssel um, der Motor keuchte und knatterte, dann sprang er an. »Du bist nicht von hier, oder?«, fragte er. Die Anzeigen auf dem Armaturenbrett lebten auf und das Radio leuchtete in warmem, gelbem Licht.

Ich schüttelte den Kopf und murmelte: »Nein.«

»Die Brandungsrückströme können hier ziemlich heftig sein«, erklärte Roy. »Und der Pier ist in keinem guten Zustand. Ein Glück, dass ich dich gesehen habe.«

Ich schloss die Augen gegen die aufflackernde Erinnerung an die Strömung und den Pier, aber mehr noch gegen die Erinnerung an den Kuss. Ein Bild von Hayden kam mir in den Sinn – sein warmes Lächeln, die blonde Locke, die ihm immer in die Stirn fiel, das kleine Zwinkern, das er mir zuwarf, wenn ihm etwas gefiel, seine sanften braunen Augen, seine vertrauensvollen Augen … Ich könnte ihm niemals sagen, was passiert ist.

»Ja, ein Glück«, sagte ich.

Roy sah mich an, und mir fiel auf, dass er ein paar winzige Falten an der Stirn hatte. Seine Augenbrauen waren dunkel, aber mit ein paar grauen Härchen.

»Danke«, sagte ich. »Dass du mich gerettet hast.«

Er warf einen Blick nach hinten und legte den Rückwärtsgang ein. »Klar.« Er nickte, schaltete wieder in den ersten Gang und hielt dann am Ende des Parkplatzes an der Straße. Wir warteten, bis einige Autos vorbeigefahren waren. Er klopfte mit den Fingern aufs Lenkrad.

»Du warst wirklich gut da draußen. Wo hast du so gut schwimmen gelernt?«, begann ich nach einer peinlichen Pause.

Roy zog die Augenbrauen hoch. »Das ist ja ein ziemliches Kompliment von jemandem, der … wo bist du noch mal geschwommen? Bei den Landesmeisterschaften?«

Ich wusste, dass das ein Witz sein musste, aber sein Gesicht verriet keine Spur eines Lächelns.

»Ach … ja, na ja, das ist eine Weile her«, erwiderte ich, während ich zusah, wie ihm Wasserperlen aus dem Haar aufs Hemd tropften.

Sein Haar war dicht und dunkel und wellig, mit ein paar grauen Strähnen, die seine Gesamterscheinung noch verbesserten. Ich fragte mich unwillkürlich, wie er wohl in einem Anzug aussähe.

»Also … warst du mal Rettungsschwimmer?«, fragte ich.

Er bog auf die Straße. »Nein.«

»Wo hast du’s dann gelernt?«

»Einfach so«, sagte er mit einem Schulterzucken und streckte die Hand aus, um die Heizung anzustellen. »Wo bist du untergebracht?«

Einfach so? Ich fragte mich, wie jemand einfach so dermaßen gut schwimmen lernte. Ich hielt meine Hände vor die Lüftung. Er hätte bei der Olympiade antreten können, wenn er dafür trainiert hätte.

»Also, wo bist du untergebracht?«, fragte er noch einmal.

»Im Victory Inn«, antwortete ich und bemerkte eine winzige Narbe neben seiner Nase, gleich unter dem linken Auge.

Er nickte. »Bei Paula. Und wie lange bist du in der Stadt?«

»Nicht lange«, sagte ich. »Überhaupt nicht lange.«

»Tja, du solltest dir diesen Schnitt anschauen lassen.«

»Welchen Schnitt?« Ich klappte die Sonnenblende herunter, aber da war kein Spiegel.

Er zeigte auf mein Gesicht. »Am Kinn.«

Ich fasste mir vorsichtig ans Kinn. Da war Blut an meinen Fingern.

Roy hielt und setzte den Blinker. »Ich kenne einen Arzt in North Haddam …«

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg, und ich wusste, meine Wangen waren wieder knallrot. »Nein, nein«, entgegnete ich schnell. »Das ist nicht nötig, wirklich.« Die Vorstellung, dass er mich noch in einen anderen Ort zu einem Arzt fuhr, war … na ja, verstörend aus irgendeinem Grund. Das wollte ich nicht.

»Ist aber kein Problem«, sagte Roy. Er lächelte, und mir fiel auf, dass er Grübchen hatte. »Ich war mit dem Typ in der Schule, und ich bin sicher, er …«

»Hör zu«, sagte ich und hob abwehrend die Hände, mein Gesicht glühte. »Ich bin dir für deine Hilfe wirklich dankbar, aber vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt aussteige und den restlichen Weg laufe. Es ist nicht weit, und ich hab schon viel zu viel von deiner Zeit in Anspruch genommen.«

Die kleinen Fältchen an seiner Stirn wirkten plötzlich tiefer. »Du gehst auf keinen Fall zu Fuß«, sagte er. »Ich wollte nicht aufdringlich sein«, fügte er hinzu. »Ich hab bloß gedacht, du solltest das checken lassen.«

Er berührte mein Gesicht an der Seite, kippte meinen Kopf leicht nach hinten, damit er den Schnitt besser sehen konnte, und ein Beben durchlief mich.

»Schon okay«, sagte ich kerzengerade. »Ich … ähm … reise morgen ab«, stammelte ich, »und … äh … ich geh dann in Manhattan zu meinem Arzt.«

Roy zuckte wieder mit den Schultern. »Wie du willst«, meinte er, fuhr wieder los und bog in Richtung Victory Inn ab.

Ich schaute aus dem Fenster und überlegte, ob ich etwas zu dem Kuss sagen sollte, ihm erklären sollte, dass es mir leidtat. Schließlich wollte ich nicht, dass er dachte, dass … ich wollte nicht, dass er irgendetwas dachte.

»Es tut mir leid, was vorhin passiert ist«, sagte ich.

Er schaute mich überrascht an. »Du musst dich nicht entschuldigen. Brandungsrückströme sind gefährlich. Da kommt man leicht in Schwierigkeiten …«

»Nein, ich meinte nicht die Strömung«, widersprach ich, als er an den Straßenrand neben dem Inn ranfuhr. »Ich meinte das andere …« Ich konnte es nicht aussprechen.

Er hielt, lehnte sich im Sitz zurück und ließ die Hand übers Lenkrad gleiten. »Mach dir keinen Kopf«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Es war bloß ein Kuss.«

Falls das bewirken sollte, dass ich mich besser fühlte, ging der Schuss nach hinten los. Jetzt fühlte ich mich gekränkt, als ob es ihn kaltgelassen hätte.

»Weißt du«, platzte ich heraus, »die Leute in Maine sollten ihre Stege besser in Schuss halten.« Ich hörte die Gereiztheit in meiner Stimme, konnte sie aber nicht abstellen. »Ich hätte mich ernsthaft verletzen können, als ich durch das Ding eingebrochen bin.«

Roy schaute mich verwundert an. Schließlich sagte er: »Ich bin froh, dass du dich nicht verletzt hast – eine talentierte Schwimmerin wie du. Und ich bin froh, dass ich da war, um dich zu retten.« Er klappte seine Sonnenblende herunter, die Spätnachmittagssonne tauchte den Vordersitz in goldenes Licht.

Ich dachte, er mache sich wieder über mich lustig, aber dann sah ich, dass sein Gesichtsausdruck ernst war.

»Nun«, sagte er jetzt mit einem Lächeln, »es gibt eine Sache, die die Leute hier in Maine können, und das ist Lesen. Und wenn du das Schild gelesen hättest …

Wovon redete er? Wie, die Leute in Maine konnten lesen? Welches Schild?

»Natürlich kann ich lesen«, sagte ich und fühlte mich jetzt noch mehr in der Defensive, nicht in der Lage, meinen scharfen Ton unter Kontrolle zu bringen. »Ich war vier Jahre auf dem College und drei Jahre an der juristischen Fakultät. Da habe ich jede Menge gelesen.«

»Juristische Fakultät.« Roy nickte bedächtig, als sei ihm gerade etwas klargeworden.

»Ja, juristische Fakultät«, sagte ich und starrte auf sein Profil. Er hatte leichte Bartstoppeln, die ich unter anderen Umständen wohl attraktiv gefunden hätte, damals in meinen Tagen als Single. Aber jetzt ging er mir einfach nur auf die Nerven.

Er wandte sich mir wieder zu. »Also, bist du Rechtsanwältin?«

»Ja«, sagte ich.

»Und in welcher Fachrichtung bist du … äh, tätig?«

»Gewerbliche Immobilien.«

»Aha.« Er kratzte sich am Kinn. »Dann weißt du also, was ›Unbefugtes Betreten‹ bedeutet?«

Natürlich wusste ich, was ›Unbefugtes Betreten‹ bedeutete, aber es war kein Fachbereich, mit dem ich viel zu tun hatte.

»Ja«, behauptete ich und setzte mich ein bisschen aufrechter hin. »Ich weiß alles über ›Unbefugtes Betreten‹. In meiner Kanzlei bin ich quasi die Expertin, wenn es um ›Unbefugtes Betreten‹ geht. Ich betreue alle Fälle, bei denen es darum geht.«

Ein Toyota hielt uns gegenüber, und Roy gab dem Fahrer ein Zeichen, dass er fahren könne. »Also eine Expertin auf diesem Gebiet«, meinte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Braucht man dafür einen extra Abschluss?«

Einen extra Abschluss? Was für eine lächerliche Frage. »Nein, natürlich braucht man dazu keinen …« Ich unterbrach mich, denn das Glitzern in seinen Augen sagte mir, dass er mich diesmal definitiv aufzog.

»Okay«, meinte er. »Also bei deinem Hintergrund, bei allem, was du gelesen hast, und wo du doch eine Expertin bist, warum hast du dann das BETRETEN-VERBOTEN-Schild am Pier nicht gelesen? Oder falls du es doch gelesen hast, warum hast du ihn trotzdem betreten?«

Von welchem BETRETEN-VERBOTEN-Schild redete er da bitte, und warum nahm er mich so ins Kreuzverhör? Ich spürte ein Rinnsal meinen Rücken hinunterlaufen, als ich mich vage daran erinnerte, am Strand neben dem Pier ein Schild gesehen zu haben. Hatte etwa BETRETEN VERBOTEN darauf gestanden? War das wirklich darauf zu lesen gewesen? Nein, das kann nicht sein, dachte ich. Sonst hätte ich hier ein Riesenproblem. Dann hätte er nämlich jedes Recht dazu, mich für eine totale Idiotin zu halten.

»Ich habe nirgends ein BETRETEN-VERBOTEN-Schild gesehen«, sagte ich zu ihm. »Da war keins. Es wäre mir aufgefallen.«

Roy zupfte ein Stück Seetang von seinem Hosenbein und schnippte es aus dem Fenster. »Tja, vielleicht ist es dir nicht aufgefallen«, entgegnete er, »aber da ist ein Schild. Dort wird ein neues Haus gebaut. Genau genommen arbeite ich daran. Und die Bootsanlegestelle und das Haus stehen auf demselben Grundstück. Das Schild wurde aufgestellt, damit die Leute dem Grundstück fernbleiben.« Er blickte mich an. »Besonders dem Pier.«

Ich schaute wieder hinunter auf meine sandigen Füße und die Wasserpfütze, die sie umgab, während ich versuchte, die Bruchstücke zusammenzusetzen. Ich versuchte noch einmal, mir Pier und Strand vorzustellen. Ja, jetzt erinnerte ich mich an das Schild. Weiß mit schwarzer Beschriftung. Was stand darauf? Oh Gott, ich glaube, da stand wirklich BETRETEN VERBOTEN. Mir wurde mulmig. Offenbar hatte ich es überhaupt nicht beachtet. Wie hatte ich bloß direkt an dem Schild vorbei auf den Steg spazieren können? Das Ganze war mir jetzt furchtbar peinlich. Als gute Schwimmerin hätte ich nicht in den Brandungsrückstrom geraten dürfen, und als Anwältin hätte ich den Pier nicht unbefugt betreten sollen. Mit einem lauten Klicken löste ich meinen Gurt. Ich würde nichts dazu sagen. Ich könnte niemals zugeben, was ich vermasselt hatte.

»Weißt du was?«, sagte ich, in dem Bewusstsein, dass meine Stimme zitterte und dass sie sich gegenwärtig eine Oktave höher anhörte. »Du kannst dem Besitzer sagen, dass er sein Grundstück in einem besseren Zustand halten soll.« Meine Kehle war wie zugeschnürt, als ich mich daran erinnerte, wie ich auf dem Pier eingebrochen war. »Sie können von Glück sprechen, dass ich nicht verletzt wurde.« Ich hielt inne. »Oder gestorben bin.« Ich fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Roys Gesicht herum. »Dafür könnte man jemanden verklagen. Das Ding müsste eigentlich abgerissen werden.«

So, jetzt weiß er Bescheid, dachte ich, gerade als sich ein Sandklumpen aus meinen Haaren löste und auf meinen Schoß plumpste.

Roys Gesichtsausdruck änderte sich kaum, aber irgendetwas in seinem Blick und dem Zug um seinen Mund sagte mir, dass er mich ziemlich lustig fand. Ich wischte den Sand von meinen Shorts auf den Boden.

Er schaute erst auf den Boden, dann wieder zu mir. »Der Pier wird auch abgerissen. Deshalb ist das Gatter da.«

»Tja, aber das Gatter war nicht abgeschlossen«, erwiderte ich. Langsam fing der Schnitt an meinem Kinn wirklich zu brennen an.

»Hätte es aber sein sollen.«

»Tja, war es aber nicht. Oder wie wäre ich sonst da rausgekommen?«

Er sah so aus, als wolle er etwas sagen, aber ich redete schnell weiter. „Vielleicht solltest du dem Besitzer sagen, dass er das BETRETEN-VERBOTEN-Schild direkt auf dem Pier anbringt und nicht irgendwo mitten im Sand.« Gutes Argument, dachte ich. Sie sollten es da aufstellen, wo es auch wirklich Sinn macht.

Er drehte sich zu mir um, und diesmal bestand kein Zweifel. Er grinste – ein ironisches Grinsen, das mir das Gefühl gab, ich sei die Maus und er die Katze. »Ach«, meinte er. »Also hast du das Schild doch gesehen?«

Meine Güte. Jetzt war ich in meine eigene Falle getappt. Der Kerl war wirklich unausstehlich, abscheulich, unerträglich. Ich spürte die Hitze hinter meinen Augen und wusste, ich würde gleich in Tränen ausbrechen. Aber das würde er nicht zu sehen bekommen. Ich öffnete die Beifahrertür, sprang aus dem Auto und ließ den triefenden Sitz zurück. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich noch und versuchte, tough zu klingen, damit ich nicht zu heulen anfing. Ich knallte die Tür zu und ging auf den Eingang des Gasthauses zu. Da hörte ich Roy mir nachrufen.

»Ellen. Hey, Ellen!« Er hatte sich aus dem Beifahrerfenster gelehnt. Seine Stimme klang eindringlich, und sein Blick war ernst. Keine Spur mehr von dem Glitzern, als er mich aufgezogen hatte.

Also gut, dachte ich mir. Soll er loswerden, was er zu sagen hat. Ich ging zurück zum Wagen.

»Ich dachte mir bloß, das könnte dich interessieren«, meinte er. »Bei Schiffsbedarf Bennett ist gerade Ausverkauf.« Jetzt kehrte sein Lächeln zurück, und seine Augen leuchteten auf. »Auf Schwimmwesten gibt es dreißig Prozent.«

2Der Brief

Nass, erschöpft und bis auf die Knochen blamiert, stapfte ich die Treppe zum Victory Inn hoch. Dann machte ich die Tür auf und spähte in die Lobby. Paula Victory, die Besitzerin, saß an ihrem Tisch hinter dem hohen Rezeptionsschalter aus Holz, mit dem Rücken zu mir. Sie summte vor sich hin. Alles, was ich wollte, war, rauf in mein Zimmer zu flitzen, mich unter die dampfend heiße Dusche zu stellen und den Pier, das Meer und Roy zu vergessen. Was ich nicht wollte, war, dass Paula mich so sah.

Denn die Frau konnte ziemlich neugierig sein, an der Grenze zu unverschämt. Heute Morgen, als ich eingecheckt hatte, hatte ich sie dabei erwischt, wie sie meinen Verlobungsring anstarrte. Und dann hatte sie auch noch die Nerven besessen, mich zu fragen, ob er echt sei. Jetzt würde sie wahrscheinlich wissen wollen, warum ich ihn nicht trug. Ihren Gesichtsausdruck hätte ich liebend gerne gesehen. Gott sei Dank gab es den Zimmersafe, dachte ich, als ich die nackte Stelle an meinem Finger rieb und mir meinen -Ring heil und wohlbehalten darin vorstellte.

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