Der Sommer trägt Queer - Vanessa Schönhardt - E-Book

Der Sommer trägt Queer E-Book

Vanessa Schönhardt

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Beschreibung

Humorvolle, spannend und coming-outige Sommererzählungen von der ersten Liebe, der Liebe bis zum Lebensende - und der ewigen Liebe. Aber auch Menschen, die ganz ohne körperliche Liebe auskommen, kommen in dieser Anthologie zu Wort. Genau wie die, die beides lieben - oder Beide lieben :-) Manchmal sind es eben die kleinen Alltagsgeschichten, manchmal die Alltäglichkeiten, die einen ins Gefühlschaos stürzen und das eigene Weltbild und die Liebe ins Wanken bringen - oder beides stützen. Und manchmal sind es die großen, alles verändernden Dinge. Lasst euch also entführen und verzaubern in bunten Sommergeschichten, die definitiv Lust auf mehr Liebe machen.

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Seitenzahl: 312

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ELYSION-BOOKS
Inhalt
Großstadtherzen schlagen anders
Heldenreise mit Haarbürste
Was sein könnte
Summer of Ninetysix
Stallgeflüster
Frau und Herrchen
Ausbruch, Aufbruch
Hitzeflimmern
Der Sommer, in dem ich zu mir selbst fand
Resa, wirklich!
Grünes Gras im Sommerschauer
Sunset, sunset
Konzertsommer
Heftig on Board
Brandung
Wellen der Freiheit
Xenia
Summer in Paris
Schoko- oder Erdbeereis
To the Top
Vibe, Flow, Love
Sommerregen, Regenbogen
Autor*innen

Der Sommer trägt Queer

- Anthologie -

Der Sommer trägt Queer

- Anthologie -

ELYSION-BOOKS

Print: 1. Auflage 2024

eBook: 1. Auflage 2024

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2024 BY ELYSION BOOKS

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Grabowski

ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-318-2

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-317-5

www.Elysion-Books.com

Inhalt

Vanessa Schönhardt: Großstadtherzen schlagen anders 7 S.

Marie Meier: Heldenreise mit Haarbürste 13 S.

Julia List: Was sein könnte 19 S.

Julia Dankers: Summer of Ninetysix 24 S.

Pamela Murtas: Stallgeflüster 34 S.

Regina Schleheck: Frau und Herrchen 44 S.

Oliver Fahn: Ausbruch, Aufbruch 56 S.

Yara Loos Schön: Hitzeflimmern 71 S.

Luna Day: Der Sommer, in dem ich zu mir fand 76 S.

Mila Münchow: Resa, wirklich! 90 S.

A. Patros: Grünes Gras im Sommerschauer 98 S.

Lily Magdalen: Sunset, sunset 112 S.

Jule Heer: Konzertsommer 118 S.

Parker Heimlich: Heftig on Board 134 S.

Sabine Steinmeyer: Brandung 143 S.

Calideya Fox: Wellen der Freiheit 150 S.

Jan Moritz: Xenia 159 S.

Lucinder: Summer in Paris 169 S.

Jule Kappes: Schoko- oder Erdbeereis 174 S.

Mona K. Bunse: To the Top 186 S.

Rebekka Görtler: Vibe, Flow, Love 203 S.

Lilli Schön: Sommerregen, Regenbogen 208 S.

Autor*innen 213 S.

Großstadtherzen schlagen anders

Vanessa Schönhardt

»Ich finde dich nett, aber ich stehe leider nicht auf Frauen mit Zahnlücken.« Ein spitzer Schrei entfuhr mir und ich pfefferte meine Handtasche durch den langen Flur meiner WG. Die Worte spukten noch immer durch meinen Kopf. Was sollte das?

Mit meinem Handy in der Hand wischte ich durch das Angebot an Männern in der Stadt. Eigentlich hatte ich keine Lust mehr auf Dates. Vor allem nicht, nachdem das heutige auch wieder ein Griff ins Klo war.

Der Werbeslogan versprach, dass sich alle elf Minuten ein Single über diese Dating-App verliebte, doch so langsam glaubte ich nicht mehr daran. So langsam glaubte ich nicht mehr an die Liebe an sich. Oder lag es an mir? Lag es an meinen straßenköterblonden Haaren, die noch nie in ihrem Leben eine andere Farbe gesehen hatten? Lag es an meinen Kurven, da ich, auch wenn ich es mir immer wieder vornahm, doch keine Zeit für Sport und kein Durchhaltevermögen bei Diäten hatte? Lag es an meinen krummen Fingern? Meiner großen Körpergröße? Den großen Füßen? Oder doch tatsächlich an dem sichtbaren Abstand zwischen meinen Schneidezähnen?

Ich schnappte mir eines der flauschigen Kissen, die auf dem Sofa im Gemeinschaftszimmer lagen, und schrie hinein. Liebe. Was für ein dummer Mist! Ich war bereit für die Liebe. Verdammt, ich war 23, in weniger als einem Monat wurde ich 24. Alle um mich herum führten vernünftige Beziehungen, hatten in ihren jungen Jahren schon etwas erreicht. Und ich? Ich musste mir in meinem zu kleinen WG-Zimmer, umgeben von Forschungsliteratur, die mich zu erdrücken drohte, auf Instagram ansehen, wie alte Schulkameradinnen sich verlobten, während meine Haare mal wieder leicht fettig waren und meine Klamotten nach Instantnudeln und Abgasen rochen.

»Hey, du bist ja schon zurück«, begrüßte mich Ellie. Ich presste das Kissen an meine Brust und sah sie an. Meine Mitbewohnerin hatte ihre Haare mit einer großen Spange hochgesteckt und sich aufwändig geschminkt. Zu einem roten Stricktop trug sie einen braunen Wildlederrock.

»Wolltest du nicht auch auf einem Date sein?«, fragte ich sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Achselzuckend lief sie in die Küche und kam mit zwei Weingläsern und einer noch geschlossenen Flasche Champagner zurück.

»Ich wollte gerade losgehen, als ich einen ziemlich fiesen Anruf von seiner Freundin erhielt, der diverse Drohungen und Beleidigungen enthielt. Der Typ hatte sein Handy im Wohnzimmer liegen gelassen und sie hat natürlich unseren Chatverlauf gelesen.« Ich verzog das Gesicht. Ellies Geschichte war mit Abstand noch schlimmer, als einen Korb bezüglich einer Fehlstellung der Zähne zu bekommen.

»Männer sind Schweine«, murmelte ich, während Ellie den Korken aus dem Fenster fliegen ließ.

»Darauf trinke ich«, erklärte sie. Ellie füllte den spritzigen Inhalt in die guten Gläser ihrer Großmutter und hielt mir dann eines hin.

»Auf verzweifelte Singles und dass wir die Liebe hoffentlich bald finden.« Seufzend stieß ich mit meinem Glas an ihres und trank einen großen Schluck. Alkohol ist keine Lösung – vor allem nicht, wenn einem so etwas Beschissenes widerfahren ist – aber kein Alkohol ist auch keine Option, schließlich macht er alles ein wenig erträglicher.

»Wir sollten zusammen nach Männern suchen«, schlug Ellie plötzlich vor und ich schreckte aus meinen Gedanken. Mein Blick wanderte langsam in ihre Richtung.

»Allein scheinen wir es ja nicht zu schaffen, jemanden vernünftigen zu finden. Wir sollten uns zusammentun. Vier Augen sehen mehr als zwei.« Mein Kiefer begann zu mahlen. Eine Angewohnheit, die immer dann eintrat, wenn ich angestrengt über etwas nachdachte.

»Ich weiß nicht«, gestand ich meiner Mitbewohnerin, die ihr Glas in einem Zug leerte und auf den Ikea-Holztisch knallte. Sie griff mit beiden Händen nach meinem Unterarm, der noch immer in den weiten schwarzen Flatterärmeln meiner bauchfreien Bluse steckte.

»Aber …«, setzte sie an. Ich schüttelte den Kopf und leerte auch mein Glas.

»Nein, ich habe keine Lust mehr auf Dates. Ich habe keine Lust mehr auf Männer, die ihren Freundinnen oder sogar Frauen fremdgehen und mit denen die Zeit ohnehin begrenzt ist. Ich will nichts Lockeres, ich will endlich was Ernstes. Ich will mich verlieben. Ich will an die wahre Liebe glauben. Ich will die wahre Liebe finden. Keine Ahnung, ob das in der Großstadt funktioniert, auch wenn hier das Angebot um einiges größer ist. Keine Ahnung, ob Dating-Apps dafür das Richtige sind.« Ich merkte, wie sehr ich mich in Rage redete und dabei ehrlicher zu Ellie war, als ich es vielleicht sein wollte – und ich bemerkte, dass ich zum Ende hin leicht zu lallen begann. Verdammt, ich hatte doch nur ein Glas getrunken.

»Und wenn wir anfangen, uns zu daten?«, fragte Ellie plötzlich. Ich stockte.

»Was?« Ellie sah mich aus ihren großen Augen an.

»Schlimmer kann es ja nicht werden. Und gestylt sind wir auch schon. Also wieso gehen wir nicht was essen? Keine Ahnung, was sich daraus entwickeln wird, aber vielleicht funktioniert es ja. Und wenn nicht, dann können wir uns zumindest darüber austauschen, wie wir uns als Datingpartner gefühlt haben und was die andere beim nächsten Mal besser machen könnte.« Ich schwieg. Mein Kiefer mahlte erneut. Ich griff nach dem Champagner und trank diesmal direkt aus der Flasche.

»Was hab’ ich zu verlieren?«, murmelte ich schließlich und erhob mich. Ellie folgte meinen Bewegungen mit ihren Augen. Sie hatte scheinbar nicht erwartet, dass ich ihrem unkonventionellen Vorschlag wirklich zustimmen würde.

»Worauf wartest du?«, fragte ich und lief in den Flur, um meine Handtasche zu suchen. Ein Poltern und lautes Fluchen ließen mich vermuten, dass Ellie so schnell aufgestanden war, dass sie mit dem Knie gegen den Tisch gestoßen war. Meine Mitbewohnerin stürmte in ihr Zimmer, während ich im Wandspiegel mein Make-Up überprüfte. Trotz meines Wutausbruchs saß noch alles perfekt. Ich fischte den Lippenstift aus meiner Tasche und frischte die blutrote Farbe auf, dann stellte ich mich in Ellies Türrahmen.

Sie war in der Zwischenzeit in schwarze, offene Highheels geschlüpft, die ihr Outfit perfekt abrundeten. Mein Mund wurde staubtrocken. So hatte ich Ellie noch nie gesehen. Kurz vor einem Date schon, aber noch nie kurz vor einem Date mit mir. Mir war gar nicht klar gewesen, dass sie in beide Richtungen suchte.

»Bin fertig«, erklärte sie leicht atemlos und kam vor mir zum Stehen. Die großen silbernen Armreife an ihrem Handgelenk schlugen aneinander.

»Hey, mein Name ist Ellie«, erklärte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. Wir zogen das also wirklich durch.

»Hey, ich bin Ava. Freut mich, dich endlich kennenzulernen.« Ich ergriff ihre Hand und schüttelte sie. Nicht zu lang, aber schon so, als wäre ich wirklich interessiert. Was ich irgendwie auch war.

»Wollen wir?«, fragte ich und deutete in Richtung Tür. Ellie nickte und hakte sich bei mir unter.

»Es ist seltsam, sich nicht direkt vor dem Restaurant zu treffen«, gestand sie mir. »Wurdest du noch nie zu Hause abgeholt?«, wollte ich erstaunt wissen. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich wollte es nicht.« Wir verließen unsere Wohnung, liefen die Treppe herunter und traten in die schwüle Juniluft hinaus. Im Sommer hatten wir beide immer die meisten Dates gehabt. Der Sommer war nämlich schon immer die Zeit gewesen, in der ich mich in meinem Körper am wohlsten gefühlt hatte – auch mit ein paar Kilo zu viel.

»Wo wollen wir eigentlich hin?«, fragte ich plötzlich. Ellie grinste.

»Hannes, der Typ mit dem ich heute ein Date gehabt hätte, hat uns einen Tisch beim Thailänder reserviert. Wenn du willst, können wir dahingehen?«, schlug Ellie vor. Vor knapp einer Stunde hatte ich noch beim Italiener gesessen und mich auf Spaghetti Carbonara gefreut, aber gegen Rotes Curry hatte ich auch nichts einzuwenden.

»Gerne«, stimmte ich also zu und schenkte Ellie ein Lächeln. Auch wenn ich bloß Sneaker trug, waren wir gleich groß. Ich musste jetzt richtig grinsen. Die meisten Männer, die ich gedatet hatte, waren nicht viel größer als meine Mitbewohnerin gewesen und im Gegensatz zu Ellie, hatten sie nicht den Vorteil genutzt, mit Hilfe von Absätzen ein paar Zentimeter hinzu zu schummeln.

»Du bist echt groß«, stellte Ellie plötzlich fest, als könnte sie meine Gedanken lesen.

»Zu groß?«, wollte ich wissen. Ellie brachte etwas Abstand zwischen uns, während ihre Hand meinen Arm jedoch weiterhin berührte, und musterte mich, während wir Richtung Stadtmitte gingen.

»Nein, du hast die perfekte Größe«, stellte sie fest und ich schüttelte den Kopf.

»Was ist denn die perfekte Größe? Und die perfekte Größe wofür?« Ellie kam wieder näher.

»Naja, wenn wir uns umarmen, kann ich meine Stirn gegen deine Schulter legen«, gestand sie.

»Also habe ich eigentlich nur die perfekte Größe für Umarmungen, wie nett«, erklärte ich, doch Ellie seufzte.

»So war das nicht gemeint«, murmelte sie, doch das war mir bereits bewusst.

***

Unsere Lippen prallten aufeinander, noch bevor Ellie es geschafft hatte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Das war mit Abstand das beste Date gewesen, auf dem ich seit langem war. Mit Ellie konnte ich lachen, ohne mich verstellen zu müssen. Wir hatten uns über alles Mögliche unterhalten und ich hatte tatsächlich Dinge über sie erfahren, die ich vorher nicht gewusst hätte. Und nun küssten wir uns. Im Hausflur vor unserer WG. Ich presste Ellie gegen die Wohnungstür, während ich gleichzeitig versuchte, das Schloss zu öffnen. Ich hoffte, dass Emily, unsere andere Mitbewohnerin das Wochenende wirklich wie besprochen bei ihren Eltern verbrachte und wir ungestört die Nacht miteinander verbringen konnten.

Ellies lange Finger hatten sich in meine offenen Locken geschoben und sie zog leicht an den Strähnen, die sie zu fassen bekam, während ihre Zungenspitze erst über meine Lippe strich und dann in meinem Mund verschwand. Endlich öffnete sich die Tür und wir stolperten in den Flur hinein. Wie zwei verliebte Teenager. Ich zog noch den Schlüssel heraus, dann versetzte ich der Tür einen Tritt, sodass sie ins Schloss fiel. Wir liefen geradewegs ins Wohnzimmer. Keine von uns wollte Zeit verlieren. Ich schubste sie aufs Sofa, schob ihren Rock hoch und kroch zwischen ihre Beine.

Plötzlich ging das Licht an. Verflucht. Ellie und ich schaute beide zu Emily, die im Türrahmen stand und uns interessiert musterte.

»Das treibt ihr also, wenn ich nicht da bin.« Ich blickte zu Ellie, die Emily nur frech angrinste.

»Wenn du willst, kannst du gerne mitmachen?«, schlug sie vor. Emily sah zu mir, doch ich zog Ellie bloß auf ihre Füße und lief mit ihr an meiner Hand zu ihr.

»Wir sollten uns dann nur vielleicht lieber ein Bett suchen«, erklärte ich, legte meine Hand auf Emilys unteren Rücken und dirigierte meine Mitbewohnerinnen in mein Zimmer. Heute Nacht schien alles möglich zu sein. Wieso dann also nicht eine Liebe zu dritt?

Seit zwei Jahren waren Emily, Ellie und ich nun schon ein Paar. Eine Beziehung, von der ich niemals gedacht hatte, dass ich sie führen könnte, beziehungsweise, dass sie wirklich halten würde. Aber vielleicht war es das: Vielleicht mussten Liebesgeschichten in der Großstadt so aussehen. Und so war es nämlich: Ich liebte die beiden jungen Frauen, die ich immer nur als meine Mitbewohnerinnen angesehen hatte, während ich von einem Date zum anderen gehetzt war. Erst als mir klar wurde, dass es so viele verschiedene Möglichkeiten von Liebe gibt, habe ich die wahre Liebe gefunden. Und vielleicht war das der Vorteil, wenn man die wahre Liebe in der großen Stadt suchte.

Heldenreise mit Haarbürste

Marie Meier

»Jahrhunderte der Feldbestellung, Jahrzehnte sorgfältigen Sammelns sind in das Zubereiten, Auswählen und Spinnen dieses fest gedrehten Garns eingegangen. Mehr noch: wir brauchen das Abenteuer nicht allein zu wagen. Denn die Helden aller Zeiten sind uns vorangegangen, das Labyrinth ist durch und durch bekannt, und wir haben nur den Pfad des Helden als leitenden Faden zu nehmen.«

Joseph Campbell über die Heldenreise

Der Frisörsalon hat geöffnet. Christina schneidet Spitzen, Natalja macht die Abrechnung. Das ist meine Welt – meine gewohnte Welt. Am Fenster steht Jelka und sehnt sich nach einer Zigarette. Ihre Finger zucken und ihre Lippen reiben übereinander, weil sie das Gefühl des Filters vermissen. Als die Sehnsucht zu groß wird, schiebt sie den Daumennagel gegen ihre Zähne und knabbert daran.

Jelka sehnt sich nach einer Zigarette und ich sehne mich nach Jelka. Der Gedanke kriecht eiskalt meine Wirbelsäule hinauf und direkt in meinen Arm. Wie ein Ruf zum Abenteuer beseelt er meine Hand. »Woran erkenne ich, dass ich lesbisch bin?«, tippe ich mit zitternden Fingern in mein Handy.

Google empfiehlt mir einen Vibrator. Ich stöhne, werfe das Telefon weg und verweigere mich Ruf und Realität. Christina und Natalja starren mich an. Nur Jelka, die blickt aus dem Fenster und sehnt sich nach einer Zigarette.

Aus einem grasgrünen Mai wird ein dottergelber Juli. Meine Welt schwimmt in entsättigten Farben, obwohl alles in Blüte steht. Dazwischen wandelt Jelka. Sie trägt Pflaume und Rindenbraun, ist durch und durch Herbstmensch, doch auf der Leinwand meiner Fantasie ist sie so farbenfroh wie der personifizierte Sommer.

Die Türklingel reißt mich aus meinen Tagträumen. Mit den gleißenden Sonnenstrahlen tritt eine Gestalt ein. Ihre geblümte Bluse ist schreiend rot, ebenso wie ihre Lippen. Ihr folgt ein Schwall drückender Hitze, die die Klimaanlage panisch aufheulen lässt. Christina beugt sich zu mir.

»Sagste zu sowas nun Herr oder Frau?« Ihr Mundwinkel schießt hämisch in die Höhe und versucht, ihre Unsicherheit zu kaschieren. Christina isst jeden Tag dasselbe. Ihre Kinder heißen Sonja und Michael. Kategorien jenseits ihrer Alltagswelt irritieren sie.

»Guten Tag«, sage ich laut. »Haben Sie einen Termin?«

Frau Kellner hat einen Termin. Ich bitte sie auf den Drehstuhl und werfe ihr den langen Überwurf um, der ihre Bluse davor bewahren wird, später voller Haare zu sein.

»Darf ich?«

Sie nickt. Ich hebe ihre Perücke vom Kopf und lasse die Finger durch die kurzen, graumelierten Locken fahren.

»Spitzenschneiden, bitte. Ich habe später einen wichtigen Termin.« Ihre Stimme ist sanft. »Im Büro. In meiner beliebtesten Rolle, als Herr Kellner.«

Diesmal ist es an mir, zu nicken. Ich schneide Frau Kellner das Haar, das sie in ihrer schauspielerischen Performance als Herr Kellner darbieten muss. Sie spiele dort, so erzählt sie mir, einen langweiligen IT-Fachmann. Ich drücke mein Mitleid aus, denn Computer sind das Letzte. Frau Kellner ist mir sympathisch, dennoch komme ich nicht umher, immer wieder zu Jelka zu schauen, die gerade die Bürsten reinigt. Ihr Blick geht hoch und trifft meinen. Mein Herz summt eine helle Note, die sich vibrierend ausbreitet und mich schwindeln lässt. Rasch sehe ich fort.

»Zwischen Ihnen stimmt die Chemie.«

Frau Kellners Worte erschallen so unvermittelt, dass ich kurz innehalte.

»Quatsch«, grolle ich. Nach jenem Moment im Mai mache ich mir nicht mehr die Mühe, mein Begehren zu leugnen. Dazu ergibt es zu viel Sinn. Von spätjugendlichen Schwärmereien für weibliche Popsternchen bis hin zu sanften Küssen mit Freundinnen, die ich vehement als typisches Teenager-Gehabe abgetan habe: Ich mag Frauen. Sehr. Und für keinen meiner männlichen Freunde habe ich je so gefühlt wie für Jelka, so voller roher Zärtlichkeit und verzweifeltem Begehren. Es reicht von dem Wunsch, jedem ihrer Leberflecke einen Namen zu geben, bis hin zu jenem, sie jetzt und hier raus auf eine blühende Sommerwiese zu zerren, raus aus dem pflaumenfarbenen Longsleeve, den sie trägt.

»Ich spüre sowas.« Frau Kellner schielt mir über ihre Nasenspitze hinweg entgegen. Zwischen all dem Braun in ihren Augen sehe ich kleine, schwarze Flecken. »Sie sollten handeln. Sonst müssen Sie auch irgendwann eine fürchterlich langweilige Rolle in Ihrem eigenen Leben spielen.«

»Als IT-Fachfrau?«

»Zum Beispiel.« Sie grinst. Ich wünschte, wir wären Freunde, Frau Kellner und ich. Aber stattdessen ist sie etwas anderes: Sie ist die Mentorin, die mir den Weg auf meiner Reise weist. Ich hadere und Frau Kellner ergreift erneut das Wort, diesmal leise und verschwörerisch: »Ich war gestern im Kino. Dieser neue Musical-Film ist ziemlich gut.«

In meinem Magen dreht sich alles. Mir wird heiß und kalt zugleich. Dann bringe ich Luft in meine Lungen, mehr und mehr, als ob ich ein Rockkonzert anstimmen wollte.

»Jelka.« Ihr Kopf hebt sich. Ich schreie innerlich, kreische in meine Seelenwelt, die seit Mai so wund ist von den Postern mit Jelkas Abbild, die ich dort aufgehängt habe. »Willste später ins Kino? Gibt’n Film. Leute singen.«

Jelkas Nicken ist fest. Ich stolpere über die erste Schwelle, statt sie zu überschreiten. Ich habe Angst.

Irgendjemand hat mein Leben auf doppelte Geschwindigkeit gestellt. Ich erinnere mich später, wie das Kinobild Jelkas Gesicht in Pastelltöne gekleidet hat und wie sie lächelte, als wir beim Burgerladen die falschen Gerichte serviert bekamen. Am Ende schmeckte es trotzdem.

Sie hat Ketchup im Mundwinkel und ich strecke gedankenlos die Hand aus, um mit dem Daumen den Fleck wegzuwischen. Wir sehen uns an. Frau Kellners Worte kommen mir in den Sinn und dann, für eine kleine Sekunde, für den Bruchteil eines Herzschlags, meine ich sie auch zu sehen: die Chemie zwischen uns.

Ein Handy klingelt – es ist Jelkas. Sie blinzelt und reißt uns beide aus dem Moment, der der Anfang von etwas Wunderbarem hätte werden können.

»Mein Freund«, sagt sie mit einem Blick aufs Display. »Ich muss ran.«

Ich bilde mir ein, dass sie unglücklich wirkt. Zur selben Zeit bin ich mir nicht sicher. In mir heult ein Gefühl, roh und verletzt. Es verbrennt bei lebendigem Leibe und ich leide, während Jelka mit unbewegter Miene den Anruf entgegennimmt und immer mal ein gleichgültiges »Mh« von sich gibt. Dann legt sie auf. Sie sieht mich nicht an und ich blicke auf meinen Daumen, der noch immer rot vom Ketchup ist.

»Wir waren getrennt.« Warum sie mir das sagt, weiß ich nicht. »Aber wir leben zusammen. Und es ist unmöglich, eine bezahlbare Wohnung hier in Hamburg zu finden, so allein. Freundschaft wollte er nicht. Da hat es sich so ergeben, dass …«

Wir sehen einander in die Augen.

»Morgen wieder?«, fragt sie.

»Kino?«

»Irgendetwas.« Ihre Lippen rühren sich, als ob sie sich nach einer Zigarette sehnen, doch ihr Blick ist starr auf mich gerichtet. Das gehäutete Gefühl in meinem Herzen wirft sich einen Mantel über. Es leidet und ich liebe.

»Okay.« Meine Stimme ist so dünn wie der Hoffnungsfaden, den ich zwischen uns spanne.

Wer hätte gedacht, dass der erste Drache, den ich bekämpfen muss, ein cholerischer Mechatroniker ist. Aber ich bin zu weit gekommen, um jetzt vor den Bewährungsproben und Feinden zu fliehen, die mich auf meinem Weg erwarten. Am fünften Kinoabend in Folge steht er vor mir, eine verweinte Jelka im Rücken. Grillen zirpen in der Hitze eines überreifen Sommerabends.

»Und ich dachte, sie geht mir fremd«, höhnt der Mechatroniker. »Aber du bist nur ne anhängliche Freundin.«

Ich sehe an ihm vorbei zu Jelka. Das Gefühl in meinem Herzen zündet sich eine Fackel an, um ganz tief in die Höhle des Löwen vorzudringen. »Gehst du ihm fremd?« Die Stimme, die die Worte sagt, klingt nicht nach meiner. Sie klingt, als würde sie von jemandem stammen, der viel mutiger ist als ich.

Jelka stutzt. Ich glaube zu sehen, wie auch in ihren Augen ein Licht aufleuchtet, das irgendeinem Gefühl den Weg weist. Aber sie ist noch nicht so tief drin wie ich in dem Urwald aus Schmerz, Sehnsucht und Selbsterkenntnis.

»Mit mir?«, schubse ich sie in meinen emotionalen Dschungel. Mir ist schlecht und ich habe das Bedürfnis, nach Hause zu rennen, um mich unter meinem Bett zu verstecken. Zugleich sind meine Füße am Boden festgefroren und harren einer Antwort, die ich zu selben Teilen hören und überhaupt nicht hören will.

»Ja.« Ihre Stimme ist fester als meine. Ich wusste immer, dass sie die Mutigere ist.

»Verdammte Homos!«, keift ihr Freund und greift nach Jelkas Jacke. Meine Gelenke sind schneller als mein Gehirn: Ich stürze mich mit wirbelnden Fäusten auf ihn. Fünfundsechzig Kilo Frau ringen mit neunzig Kilo Mann. Der Entscheidungskampf hat begonnen und es sieht nicht gut für mich aus. Er schlägt und tritt, dann bin ich am Grund der Dinge, der heiß ist von der Sonne eines schwülen Sommertages. Der Inhalt meiner Handtasche verteilt sich über den Boden und ich greife nach irgendetwas, das vertraut in meinen Händen liegt. Mir ist, als ob ich das Artusschwert aus dem Stein gezogen hätte, doch als ich ihm die Haarbürste über den Kopf brate, fühlt es sich weit weniger befriedigend an als ein Schwerthieb. Die Wirkung ist ähnlich: Er heult auf und greift sich an den Kopf, der nun eine blutige Platzwunde und die Abdrücke des Bürstenbesatzes zur Schau stellt. Jelkas Freund (Ex-Freund?) weicht zurück, dann greift die Kino-Security ein.

Der Abend wird zur Nacht. Jelka macht eine Aussage, die Stimme leise aber fest. Ich sitze neben ihr, Schulter an Schulter. Ganz selbstverständlich nehme ich sie mit zu mir. Wir begehen den Rückweg ohne die wärmende Sommersonne, doch selbst im Zwielicht blühen um mich herum die Farben. Ich weiß, dass die Welt dieselbe ist, doch ich habe mich verwandelt. Ich bin, was ich immer hätte sein sollen. Jelka und ich betrachten einander unter einer Straßenlaterne, deren Licht sich in ihren Augen bricht. Kein Wort wird gewechselt, als wir den ersten Kuss tauschen.

Der Hausflur vor meiner Wohnung ist von Jubel erfüllt, denn irgendein Meisterschaftsspiel geht in die Verlängerung. Der Applaus könnte jedoch genauso gut mir gelten. Mir ist, als hätte ich das kostbarste der Welt von meiner Reise zurückgebracht – kostbarer als die Elixiere aus den Legenden, kostbarer als Ruhm und Ehre.

Am nächsten Morgen trete ich zu Jelka ans Fenster. Sie hat diesen sehnsuchtsvollen Blick und ich hoffe, dass ich ihr ein wenig Zerstreuung bieten kann, damit sie nicht zu intensiv von Zigaretten träumt. Ich teile ihr meinen Plan mit und sie lacht.

»Ich stehe hier nicht wegen der Zigaretten«, verrät sie mir. Lächelnd deutet Jelka auf mein Abbild, das sich in der großen Fensterfront des Friseursalons spiegelt. »Du hättest mich für gruselig gehalten, wenn ich dich die ganze Zeit direkt angestarrt hätte, oder?«

Ich sehe sie an, bewegt von Gefühlen, die mir mittlerweile nicht mehr fremd sind. Im Hintergrund schneidet Christina Spitzen und Natalja macht die Abrechnung. Es ist alles wie immer, hier, in meiner gewohnten Welt, doch zum ersten Mal höre ich ihn nicht, den Ruf zum Abenteuer – den Ruf zu Veränderungen. Er ist verstummt, denn ich bin angekommen.

Was sein könnte

Julia List

Ich blicke von der oberen Terrasse des Berghotels und sehe, wie du unten aus der Sauna kommst. In ein Handtuch gewickelt, aus dem deine nackten Schultern, Arme und Beine herausschauen und unter dem sich deine Kurven abzeichnen, die langen blonden Haare zum Zopf gebunden, auf dem die Sonne schimmert, Brille auf der Nase. Mit einem Buch unter dem Arm gehst du zu einem Liegestuhl und setzt dich, blickst auf das Bergpanorama, die gigantischen, zerklüfteten Hänge, in Licht und Schatten getaucht, weiß glitzernder Schnee und schwarze Schluchten, unter dem weiten blauen Himmel. Weit wie die Möglichkeiten, die sich vor mir auftun. Soll ich hinunter gehen und mich zu dir setzen? Und was wird dann passieren?

Drei Tage zuvor haben wir uns zum ersten Mal gesehen, in der Seilbahn, die hinauf zum Hotel fuhr, voll mit Teilnehmenden des Wanderurlaubs. Wir alle dick bepackt mit unseren Wanderrucksäcken und -Stöcken. Du warst in Begleitung einer anderen Frau. Ich habe mich gefragt, ob ihr ein Paar wart, mein Gaydar schlug bei dir gleich zu Beginn heftig aus. Du hast erwähnt, dass ihr Kolleginnen seid. Nach dem Einchecken haben wir uns zu dritt auf die Terrasse gesetzt und geredet. Schnell wurde klar, dass du Single bist, dass du zuvor mit einer Frau zusammen gewesen warst, und gleich war da ein Vibe zwischen uns. Dieser Vibe ist in den letzten drei Tagen immer stärker geworden.

Wir sind in die Berge gestiegen, haben zusammen geschwitzt und gekeucht, unter unseren schweißnassen Hemden zeichneten sich unsere Nippel ab, während unsere Haare feucht an unseren Stirnen klebten. Wir stanken brutal nach Schweiß, der Dampf stand in der Luft und vermischte sich. Wir haben zusammen im Gras gesessen und unsere Brotzeit gegessen, unsere Sonnencreme geteilt, während über uns riesige Vögel kreisten. Wir spekulierten scherzhaft, ob es Bergadler waren oder Geier, und ob sie nur darauf warteten, dass wir schlapp machten, um über uns herzufallen. Abends haben wir bewundert, wie die untergehende Sonne die Bergspitzen rosa färbte, dann zusammen mit anderen Teilnehmenden Karten gespielt und Kicker, wir beide in einem Team, wir gaben uns nach dem Spiel High Five.

Und vor allem haben wir geredet. Über unsere Jobs, unsere Hobbys, die Bücher, die wir lasen, ich habe dir von dem Roman erzählt, an dem ich schreibe. Du warst sehr interessiert.

Du hast mich gefragt, welcher Charaktertyp von dem Test »16 Personalities« ich sei. Warum stellt man diese Frage, warum will man den Charakter eines anderen Menschen einschätzen? Weil man überlegt, ob es passen könnte?

Ich sagte: »Früher war ich INTJ, aber mit der Zeit eher INFJ, vielleicht, weil ich mehr Zugang zu meinen Gefühlen bekommen habe.«

Du lachtest und sagtest: »Ich schwanke auch zwischen den beiden.«

Da musste ich an meine Ex denken. Sie hatte mir dieselbe Frage gestellt, und sie schwankte auch zwischen INTJ und INFJ (davon abgesehen, dass dieser Test wissenschaftlich eher fragwürdig ist). Und sie hatte denselben Beruf wie du.

Wir haben über Psychologie geredet, über die Therapie, die ich mache, über unsere früheren Beziehungen. Du hast von deiner Ex erzählt, mit der du 9 Jahre zusammen warst, die dich gezwungen hat, eure Beziehung zu verheimlichen, 9 Jahre Versteckspiel. Du hast gesagt, dass du Versteckspielen satt hättest.

Ich habe dir von meiner Ex erzählt, nur 6 Monate waren es, fühlten sich aber nach mehr an, die mich vor ihren Eltern verheimlicht hat. Ich habe gesagt, dass ich Versteckspielen auch satt hätte. Wir haben uns angelächelt.

Dann sind wir weiter hochgestiegen, du über mir, ich sah, wie sich dein Hintern in deiner engen Sporthose abzeichnete.

Ich habe mich gefragt, ob da etwas werden könnte zwischen uns.

Ich habe mich auch gefragt, ob du nicht in mancher Hinsicht meiner Ex ähneltest, ob das ein schlechtes Zeichen war. Aber dass du dich nicht mehr verstecken wolltest, zeigte, dass du an einem anderen Punkt warst als meine Ex, und außerdem sollte ich keine oberflächlichen Schlüsse ziehen, oder?

Dann hast du mir von Indien erzählt. Dass du an Neujahr zu der Hochzeit eines Freundes in Indien eingeladen seist und eine Reisebegleitung suchen würdest. Und ich habe gesagt, dass ich Lust hätte, mitzukommen. Wir haben angefangen, Pläne zu schmieden.

Ich stellte mir uns vor, wie wir – wie vom Brautpaar verlangt – Saris bei der Hochzeit tragen würden, wie du darin wohl aussehen würdest. Was passieren könnte, wenn wir beide ein Hotelzimmer teilen würden, so weit entfernt von zu Hause.

Bei all diesen Gesprächen waren wir zusammen mit der Wandergruppe, nie allein.

Aber jetzt sehe ich dich nur in ein Handtuch gewickelt dort auf der unteren Terrasse sitzen, allein. Kein anderer Gast zu sehen. Und ich frage mich, ob ich zu dir hingehen soll. Ob dann, wenn wir allein sind, mehr passieren wird als reden.

Ich fange an zu gehen, dann bleibe ich wieder stehen, meine Hand auf dem Geländer.

Ich muss daran denken, wie wir über unsere Lebensziele gesprochen haben. Du hast gesagt, dass du dir Kinder wünschtest. Es klang, als würdest du unter Zeitdruck stehen, da du schon Ende 30 bist. Ich habe gesagt, dass ich mir keine Kinder vorstellen kann, zumindest nicht in absehbarer Zukunft. Dass ich erst mein Buch veröffentlichen will.

Du hast gesagt, du würdest kein Drama wollen, nach all dem Drama mit deiner Ex, sondern einfach eine ganz spießige Zweierbeziehung, vielleicht ein gemeinsames Haus. Ich habe gesagt, dass ich mich sexuell ausprobieren will, vielleicht eine offene Beziehung oder Polyamorie.

Du hast gesagt, du würdest einmal Heiraten wollen, ganz kitschig in Weiß. Ich habe gesagt, dass ich die Institution der Ehe ablehne.

Und ich muss daran denken, dass du am anderen Ende Deutschlands wohnst, zufrieden mit deinem Job dort, und dass ich zufrieden bin mit meinem Leben in meinem Wohnort.

Ich bleibe eine Weile dort stehen und sehe zu dir hinunter. Ich frage mich, was zur Hölle mit uns Lesben und sapphischen Menschen los ist, dass wir nicht einfach mal nur vögeln können, anstatt sofort an eine gemeinsame Zukunft zu denken und an die Hindernisse auf dem Weg zu dieser. Aber vielleicht bin das nur ich und mein Gehirn, das sofort alles zerdenkt, anstatt einfach etwas zu probieren.

Ich sehe dich an und will zu dir gehen und doch nicht. Du siehst in die Berge, du bist diese wunderschöne Frau vor diesem wunderschönen Panorama, ich bewundere dich mit deinen braungebrannten Armen, deinem hellglänzenden Haar, deinen kräftigen übereinandergeschlagenen Beinen, deinem wippenden Fuß, ich genieße diese Schönheit aus der Ferne. Ich glaube zu spüren, dass eine Berührung auch das sein kann, aus der Ferne den anderen zu schätzen und ihm alle Gute auf seinem Weg zu wünschen, auch wenn man diesen Weg nicht begleiten kann, weil man zu unterschiedlichen Zielen unterwegs ist.

Du schlägst das Buch auf und beginnst zu lesen.

Ich gehe wieder ins Haus.

Später haben wir noch ein paar Mal telefoniert. Du bist mit einer anderen Frau zusammengekommen. Die Indienreise haben wir abgesagt, weil du lieber mit ihr in den Urlaub fahren wolltest.

Ich habe eine Person kennengelernt, mit der ich eine polyamore Beziehung geführt und wieder beendet habe; Polyamorie war doch nichts für mich. Und ich habe mein Buch weitergeschrieben (es ist natürlich immer noch nicht fertig).

Trotzdem bleiben du und dieser Urlaub mir in wertvoller Erinnerung. Ich hätte gerne mit dir etwas gehabt, wirklich gerne. Egal, ob etwas Kurzes oder etwas Längeres, oder nur für eine Nacht. Falls du das auch gewollt hättest. Aber ich bin auch froh über das, was ich gelernt habe: Zu erkennen, wenn etwas nicht passt. Sich gegen etwas zu entscheiden, was sein könnte.

Summer of Ninetysix

Julia Dankers

»Spring, Jule, spring«, skandieren Janno, Finn und Hauke vom Dreimeterbrett aus und stampfen mit nackten Füßen auf den ausgeblichenen Beton. Ebenso wie ihre Penisse schwingt ihre Heiterkeit bei jeder Silbe mit. Der hellgelbe Mond malt groteske Muster auf ihre Wangen.

»Ich kann nicht«, motze ich und drücke beide Hände auf meine Brüste. Ich bin nicht gerne nackt, schon gar nicht in Gesellschaft meiner besten Freunde. Von oben betrachtet wirkt das Becken verdammt klein und entsetzlich weit entfernt. Das Loch im Freibadzaun ist nicht zu erkennen, die Bierdosen neben unseren Handtüchern im kurzgeschnittenen Gras nur schemenhaft. Ich werde sterben, wenn ich springe. Wenn ich es nicht tue, werde ich das vielleicht auch – vor Scham.

Es sei schön, schwimmen zu gehen, wenn alle anderen schlafen, haben sie gesagt und von einem Ohr zum anderen gegrinst. Finns ketchupverschmierte Hand liegt auf meiner Schulter und der junge Mann am Nachtschalter der Tankstelle schaut reichlich bekifft drein. Acht große Dosen Pils wandern über den Tresen und ein heiterer Hüpfer in meinem Bauch herum. Ich mag Bier, laue Sommerabende und Softeis aus dem Automaten. Vor ziemlich genau zwei Stunden ist es also die beste Idee der Welt gewesen, nachts in ein Freibad einzubrechen.

Inzwischen ist mir kalt, obwohl wir noch fast fünfundzwanzig Grad haben. Mein Shirt liegt irgendwo da unten neben meinen Shorts, etwas klamm von Haukes Bierdusche, aber dennoch tragbar, zumindest im Schutz der Dunkelheit. Nachts sei Angst weniger groß, sagt man so leicht dahin. Im Finsteren sei sie ein klitzekleines graues Mäuschen in Birkenstockschuhen. Keiner messe ihr Beachtung bei.

Meine allerdings ist ein Schloss mit acht gigantischen Türmen, eine überdimensionale Burg, ein Manifest mit den Ausmaßen des gesamten Universums. Lautlos lacht der Mann im Mond mich aus. Dabei wirkt er verdammt fett gefressen, ganz kugelrund in den wolkenlosen Himmel geklebt. Lach du nur, denke ich fröstelnd und hoffe, dass seine Hochmut ihn einfach so herabfallen lässt, platschend ins eiskalte Wasser, während die klitzekleinen Sterne sich vor Gackern in die Hose machen.

»Spring, Jule, spring!«, erinnert mich an »Lauf, Forrest, lauf!«. Am Ende der Welt ist sie vielleicht doch nur eine Scheibe. Ohne Netz und doppelten Boden werde ich ins Uferlose fallen. Niemand wird in der Hölle warten, um mich zu fangen.

Hauke haut von unten mit der Handfläche gegen die Betonkante und rülpst laut, als in zehn Metern Entfernung zwei Scheinwerfer aufblenden. Hunde hetzen hechelnd vor dem Treppenaufgang zum Sprungbrett herum. Keiner von ihnen bellt. Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie beißen werden, nicht allzu gering.

»Scheiße, die Bullen!«, keucht Janno und hält sich die Hände schützend vor den Schritt, als ob es die Höllenhunde ernsthaft interessiert, wie klein sein Pimmel ist, wenn er ebenfalls Muffe bekommt.

»Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei.« Die Stimme der Polizistin klingt schnarrend und ein wenig verzerrt durch das Megaphon. Zumindest vermute ich das. Vielleicht hört die Dame sich auch tatsächlich wie Darth Vader im Stimmbruch an. »Bitte kommen sie mit erhobenen Händen herunter!« Wie stellt sie sich das vor, denke ich noch und dann gar nichts mehr. Ein fetter Vogel landet direkt vor meinen Füßen. Misstrauisch schaut er mich an, den Kopf leicht schief gelegt, bevor er davonflattert. Zwanzig Zentimeter von meinem großen Zeh entfernt hat er einen Haufen hinterlassen. Zögerlich strecke ich meine Arme empor. Ich wünschte, ich könnte fliegen.

Finn springt als erster. Arschbombe hoch zehn. Laut sein kann er wirklich gut, schwimmen hingegen nicht so sehr. Sein Planschen zerreißt die Ruhe der Nacht in ziemlich genau zwei gleich Hälften, heute und morgen, jetzt und nie. Am Horizont droht die Sonne nur halbherzig damit aufzugehen. Hauke folgt feixend im Handstand und Janno kurz darauf so elegant wie ein Elefant. Sein Rüssel glänzt elfenbeinfarben im Stabtaschenlampenlicht.

»Spring, Jule, spring«, juchzt Janno am Beckenrand. Hektisch und hundsverrückt sind seine Bewegungen. Seine Stimme zittert, als der dickliche Polizist ihm die Hand reicht, damit er aus dem Becken klettern kann.

»Ich kann nicht«, schreie ich so laut ich kann, was nicht sehr laut ist verglichen mit der Hartnäckigkeit meines Herzschlags.

»Komm einfach die Leiter herunter«, ruft die Polizistin mir zu und wirft ihre Taschenlampe ins Gras, bevor sie mit zackigen Schritten zum Aufgang läuft. Die Sohlen ihrer schweren Stiefel hören sich bei jedem Schritt wie klitzekleine Gewehrschüsse an. Playmobilwaffen könnten so klingen, wären sie echt.

»Ich kann nicht«, wispere ich und starre in die Dunkelheit. Wasser hat keine Balken, Schwermut schon. Ich hoffe, letztere hält mein Gewicht.

»Schau nicht nach unten«, ruft die Ordnungshüterin zu mir hinauf. »Ich komme dir entgegen.« Schließt niemals Freundschaft mit dem Arm des Gesetzes, haben die älteren Kerle mit ihren knallbunten Dreadlocks uns in Gorleben eingebläut, die Bong in den tabakgelben Fingern drehend. Dennoch traue ich mich Schritt um Schritt die rutschigen Stufen hinab. Das Universum ist verdammt groß und der Himmel so unendlich weit. Vielleicht ist sie gar keine Polizistin, sondern ein Alien. Dann wäre alles halb so schlimm, ermahne ich mich innerlich. Schon morgen wird mir der Gedanke völlig absurd vorkommen, aber das weiß ich heute noch nicht.

Nach siebenunddreißig Stufen steht sie plötzlich vor mir, beide Arme ausgestreckt und sieht überhaupt gar nicht alienmäßig aus. Sterne blitzen in ihren blauen Augen, während der Mond die schlechte Kopie eines echten Heilgenscheins über ihr Haupt malt.

»Ich kann nicht mehr«, gestehe ich leise. Meine Knie zittern und mein Herz rast wie ein Düsenjet, während ich in ihre Arme fliege, die sie ausbreitet.

»Doch, du kannst«, flüstert die Polizistin. Ihre Stimme klingt heiser, ihre Worte kitzeln in meinem Ohr und ein paar Sekunden später auch in meinem Bauch. »Siehst du?« Der derbe Stoff ihrer Uniform fühlt sich kratzig auf meiner nackten Haut an.

»Scheiße«, keuche ich erschöpft und sinke tiefer in diese unerhörte Umarmung. Für einen Augenblick habe ich vergessen, dass ich nichts anhabe.

»Ja, scheiße.« Sie lacht und schließt mich fester in ihre Arme, während ihr Hund unten vor dem Aufgang zu winseln beginnt. Natürlich handelt es sich um einen echten Deutschen Schäferhund. »Das ist Floh. Er beißt übrigens nur Ganoven und Gangsterbräute.«

»Gut zu wissen«, schluchze ich in ihre Halsbeuge, die so unverschämt gut riecht, nach Kioskpommes, Sonnencreme und heißer Haut – überhaupt nicht nach Amtsstube, vergilbten RAF-Fahndungsplakaten und abgestandenem Kaffee mit Dosenmilch.

»Du bist eine von den Guten, schätze ich.« Sacht streicht ihre Hand über meinen Rücken und macht kurz vor dem Po Halt.

»Sei dir da nicht zu sicher«, maule ich. Ich zerfließe, während ich versuche, mich zu fangen.