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Er ist Spanier, immer bereit, zuzuschlagen oder zu schießen. Wenn ihm Leute dumm kommen. Oder sich sein Publikum blöd anstellt. Er ist nämlich Filmregisseur. Surrealist. Mit denen ist sowieso nicht zu spaßen. Schon zweimal haben seine Filme provoziert, bis es gefährlich wurde. Jetzt will er einen über Menschen drehen, die nichts haben. Nicht mal Brot zum Essen. Was passierte, in »Las Hurdes«, ist Filmgeschichte. Das surreale Drama vom Dreh mit Hungerleidern, Priestern, Eseln, fliegenden Ziegen, Revolvern und Bischofsmützen ist hier mitzuerleben. Bei der Premiere 1932 wollte Sebastian Guhrs Held Luis Buñuel das Publikum mit Steinen bewerfen. Der Film wurde aber ein Erfolg ~ und sofort verboten. Viel Vergnügen!
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Seitenzahl: 102
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Der Hut macht den Mann
Staubkulturen
Die Stimme der Luft
Luis auf der Suche nach absolut allem
Magische Felder
Landschaft mit Sonne
Weiche Konstruktionen
Traum, verursacht durch das Gähnen eines Pferdes, eine Sekunde vor dem Aufwachen
Das Ende der Gefangenschaft
Skandal und Geheimnis
Orange ist die Farbe, die wir alle zuerst sehen, wenn wir auf die Welt kommen, vertrauteste Farbe seit frühester Menschheit, für die keine Blumen oder andere Farbstoffe gefunden werden müssen, denn Orange sehen wir, wenn Licht durch die dünnen Häute unserer geschlossenen Lider dringt. Denkt er, mit geschlossenen Lidern.
Er denkt außerdem, dass er heute jemanden umbringen wird, er weiß nur noch nicht, wen. Wahrscheinlich einen Priester, wenn ihm einer über den Weg läuft. Das ist so eine fixe Idee von ihm, genau wie seine Vorliebe für Waffen. Er besitzt einen Revolver, das passt zu ihm, und gleichzeitig passt es nicht. Er hat Angst vor Spinnen, besonders vor denen mit einem Kreuz auf dem Rücken. Er liest gern Gedichte, aber er hat auch schon Männer auf der Straße verprügelt, nur weil sie mit ihm flirten wollten. Da, wo er herkommt, verbirgt man seine Schüchternheit unter rauem Gehabe.
Er liegt in seinem Bett, morgens. Selten schläft er länger als sechs Stunden. Er hört seinen Nachbarn schreien und denkt, dass dieses wilde Krächzen nicht zu dem geduckten Menschen passt, der ihm schon mal im Treppenhaus begegnet ist. Manchmal sind Menschen so und manchmal anders. Im Allgemeinen bemitleidet er die, die sich nur in ihren eigenen vier Wänden trauen, sie selbst zu sein. Er versucht, sich an einen Albtraum zu erinnern. Seit Wochen verbringt er die Nächte im Alarmmodus, ohne dass etwas Brauchbares für seinen nächsten Film dabei herausgekommen ist. Ihm ist aufgefallen, dass er morgens stärker an sich zweifelt als abends.
Seit sein Vater an einer Lungenentzündung gestorben ist, spürt er manchmal ein Stechen in seiner Brust. Auch jetzt wieder. Er behält seine Augen zu, in der Hoffnung, die Erinnerung an einen Traum nicht zu verjagen, in dem eine Prozession sich vor einer Kirche versammelt hatte. Die Karfreitagstrommeln seines Heimatdorfs waren in diesem Traum zu hören gewesen, und er flog über die Menschen hinweg, bis eine Filmkamera ihn traf. Daraufhin war er in einen Sarg gestürzt, den die Menschenmenge trug.
Will ihm dieser Traum etwas sagen? Dass er als Regisseur am Ende ist, weil sich niemand mehr traut, ihm Geld zu geben? Die rechte Presse hatte aus seinem letzten Film, L’Age d’Or, einen Skandal gemacht, die patriotische Jugend war in die Ausstellungsräume der Surrealisten gestürmt, und bald darauf verbot der Polizeipräfekt den Film, angeblich zur Wahrung der öffentlichen Ordnung.
Er denkt, dass etwas wahr wird, sobald er es ausspricht oder aufschreibt. Aber was soll er aufschreiben? Er hat nicht die geringste Idee. Als er seine Augen öffnet, scheint die Sonne durch die roten Vorhänge. Lange hatte er das Gefühl, als Künstler ein Scharlatan zu sein. Er schlüpft in Hemd und Hose, zieht die Vorhänge beiseite und sieht Krähen über den Dächern von Montmartre kreisen. In der Nacht hat es geregnet, am Balkongeländer glitzern und zittern die Wassertropfen. Wer von euch springt als Erster? Seltsamer Gedanke. Seine Verbitterung wendet alles ins Negative. Er hat sich vorgenommen, ehrlich über sich zu denken. Damit will er heute anfangen, keine Ausreden mehr. Im Badezimmer beugt er sich übers Waschbecken, klatscht sich Wasser ins Gesicht, sieht sich im Spiegel. Weil er ein schiefes Lächeln hat, wirkt er sogar auf seine Freunde immer etwas verschlagen.
Den Traum der letzten Nacht will er sich aufschreiben, aber als er sein Notizbuch öffnet, zweifelt er, dass daraus etwas Interessantes wird. Nichts, was die Zuschauer gefangen hält. Er macht den Leuten im Kinosaal gern Angst. Er ist ein extremistischer Charakter, in Diskussionen überholt er sogar die Positionen seiner Verbündeten spielend.
Er muss Filme machen, das weiß er, seit er mit zwanzig Jahren Fritz Langs Der müde Tod gesehen hat. Zehn Jahre und zwei Skandalfilme später verdient er seinen Lebensunterhalt mit Synchronarbeiten für die Paramount, das reicht gerade so für diese möblierte Einzimmerwohnung in der Rue Pascal. Ein andalusischer Hund hatte er mit dem Geld seiner Mutter gedreht. Unmöglich, sie noch einmal um eine Finanzierung zu bitten. Nein, entweder er überfällt eine Bank oder es geschieht ein Wunder.
Ein Klopfen an der Wohnungstür. Manchmal klopft es auch nur in seinem linken Ohr. Er neigt zur Hypochondrie. Während er zur Tür schleicht, fragt er sich, ob die Miete schon wieder fällig ist. Durch den Spion sieht er das ängstliche Gesicht des Concierge; bestimmt hat man ihm Gruselgeschichten über die Surrealisten erzählt.
Als er die Tür öffnet, erschrickt der Concierge und stottert etwas von einem Anruf für ihn, aber bevor er nachfragen kann, eilt der kleine Mann die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Er folgt ihm, quetscht sich in die Telefonkabine und hört am anderen Ende der Leitung einen alten Bekannten plappern.
»Ramón, halt! Nochmal von vorn!«
»Also, pass auf, du hast im Lotto gewonnen! Das heißt, ich habe gewonnen, aber ich möchte mit dem Geld deinen nächsten Film finanzieren.«
»Ist das ein Witz?« Sein Herz klopft. Er hat noch nie an seinen Fingernägeln gekaut.
»Lass uns alles Weitere nachher im Cyrano besprechen.«
Als er auflegt, ist er gerührt. Das hätte er von Ramón nicht erwartet. Zwar kennen sie sich seit vielen Jahren, aber sie sehen sich nicht allzu oft. Ramón ist Illustrator und überzeugter Anarchist, weshalb er Arbeitern kostenlose Abendkurse im Zeichnen gibt; für ihn sind die Surrealisten ein Haufen Spinner.
Er kehrt in seine Wohnung zurück, ist aber zu aufgeregt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Niemand weiß, dass er viel weint, wenn er allein ist. Da er gern Witze erzählt, halten manche ihn für oberflächlich. Er setzt sich aufs Bett. Sein nächster Film scheint zum Greifen nah, sein Leben bekommt eine neue Richtung. Er könnte den Traum der letzten Nacht verfilmen, der Sarg, die Prozession, der Sturz vom Himmel. Ein paar Katholiken würden sich darüber ärgern, aber liegt ihm so viel an einem weiteren Skandal? Er blättert durch sein Notizbuch. Die dort gesammelten Ideen kommen ihm wenig originell vor. Und werden sie Ramón überzeugen? Schließlich wird Ramón dem Film, den er finanziert, eine bestimmte Richtung geben wollen.
Seine Mutter hat den Film, den sie finanziert hat, nie gesehen. Für sie ist das Kino etwas Vulgäres, das auf den Jahrmarkt gehört. Seit sein Vater tot ist, denkt er nachsichtiger über sie. Er lächelt, schaut auf seine Taschenuhr. Manchmal ist er so einsam, dass es sich wie eine große Ruhe anfühlt.
Als es so weit ist, setzt er sich seine Melone auf und verlässt das Haus. Wegen seiner kindischen Angst vor herunterfallenden Dachziegeln geht er weitab von den Hauswänden. Seine Eltern haben ihn auf einer Urlaubsreise von Madrid nach Paris gezeugt, vielleicht lebt er deshalb jetzt hier. Ihm entgegenkommende Menschen betrachtet er genau, wie sie gehen, wie sie reden. Namen kann er sich nur schlecht merken, bei Gesichtern dagegen weiß er noch nach Jahren, wo er sie gesehen hat.
Von einer Fahrradstange sammelt er mit einer Hand Wassertropfen ein und steckt sie sich in seine Hosentasche, das soll Glück bringen. Er hat sich sein Horoskop erstellen lassen, glaubt an Tarot. Bei dem Gedanken, Ramón eine Handvoll getrockneter Wassertropfen mitzubringen, muss er lächeln. Eine feine surrealistische Tat, die Breton loben und die Ramón nicht verstehen wird.
Das Cyrano befindet sich an der Place Blanche und ist ein typisches Pigalle-Café mit Nutten und Zuhältern. Die Luft ist trüb von Zigarettenqualm. Als er eintritt, sieht er Ramón an einem Zweiertisch, und wer sitzt ihm gegenüber? Dalí!
»Was macht der denn hier?« Er schmeckt Blut im Mund, als ob er sich gerade in die Zunge gebissen hat. Am liebsten würde er das Blut vor Dalí ausspucken. Er hängt seinen Hut an einen Haken. Wenn er in Gedanken versunken ist, zieht er sich manchmal einzelne Haare aus seinem Nacken. Das ist ihm neulich aufgefallen. Er weiß nicht, warum er das macht.
»Reg dich nicht auf«, sagt Ramón und kommt eilig auf ihn zu, »er will sowieso gerade gehen.«
»Ach ja? Hat er dich belästigt?« Um sich interessant zu machen, nimmt er sich vor, leise zu sprechen, so als wäre er die Inkarnation eines Gottes, aber er hält es nur einige Worte lang durch. Er ist wohl einfach ein lauter Mensch.
Ein andalusischer Hund haben sie gemeinsam innerhalb einer Woche geschrieben, indem sie sich gegenseitig ihre Träume erzählten. Eine Woche vollkommener Übereinstimmung. Aber während der Arbeit am Drehbuch für L’Age d’Or war Dalí von einem Tag auf den anderen völlig verändert; bei nichts waren sie mehr einer Meinung. Er hat Dalís dumme Freundin Gala dafür verantwortlich gemacht und sie deswegen fast erwürgt, so unerträglich fand er sie.
»Luis, mein Freund!« Dalí springt auf und fällt ihm um den Hals, als wäre nichts passiert. Seit er mit Gala zusammen ist, prostituiert er sich für die Kunst und denkt nur noch ans Geld. Dalí hat außergewöhnlich große Ohren, geradezu elefantenhaft. Plötzlich scheint es ihm verlockend, in eines dieser Elefantenohren zu beißen.
»Warum starrst du so auf mein Ohr?«
»Hab Ameisen drin gesehen.«
»Ich liebe dich, Luis, das weißt du, ja?«
Ihm ist dieses Gerede über Liebe unangenehm, so als ob etwas an seinen Fingern klebt. Bei solchen Sachen ist er wirklich empfindlich. Er kann nicht in der Umarmung einer Frau einschlafen, sondern muss allein auf seiner rechten Körperseite liegen, denn auf der linken würde er sein Herz hören.
Während er Ramón begrüßt, wendet Dalí sich an die anderen Cafébesucher und redet den üblichen Stuss: »Ich bin so süß, ich könnte mich selbst amputieren!« Dalí macht aus allem ein Drama, er wühlt in Gefühlen wie in altem Gerümpel; dabei entscheidet er sich garantiert für das billigste. Die Leute im Café sind peinlich berührt.
Nach ein paar Minuten ist Dalí endlich verschwunden, und er setzt sich zu Ramón an den Tisch und bestellt sich einen trockenen Martini. Er beruhigt sich nur langsam. Er ist besser in Kraftsport als in Ausdauersport. Und er legt gern geheime Listen mit Vorwürfen an, die er im Streitfall verwenden kann, allerdings fragt er sich, ob diese Listen nicht erst den Streit verursachen. Mit Dalí wird er nie wieder normal sprechen können, dafür waren sie sich zu nah. Sobald die Kellnerin den Martini bringt, zündet er sich eine Gitane an. Unmöglich zu trinken, ohne zu rauchen. »Ich wusste nicht, dass du Dalí kennst.«
»Tue ich auch nicht, er hat mich angesprochen. Als ich ihm gesagt habe, auf wen ich warte, war er völlig aus dem Häuschen.«
»Du erwähnst Fremden gegenüber einfach so meinen Namen?«
»Natürlich kenne ich Dalí, wer kennt ihn nicht? Er ist total in dich verknallt, Luis.«
»Das macht mich traurig.« Er wirft oft Dinge weg, von denen er fälschlicherweise glaubt, er würde sie nicht mehr brauchen, und bereut es dann später. Er raucht, seit er sechzehn ist. Jetzt erinnert er sich an das Studentenwohnheim in Madrid, wo García Lorca einen Sommer lang Dalí umschwärmte. »Früher war Dalí noch schüchtern. Es gab das Gerücht, García Lorca und er würden es miteinander treiben.«
Ramón macht große Augen, sein Gesicht wird rot. Ihm ist das Thema sichtlich unangenehm. »Sprechen wir über deinen nächsten Film. Wie möchtest du das Geld verwenden?«
Er räuspert sich. »Hör mal Ramón, ich sag’s dir gleich, ich hasse Kompromisse.«
Ramón nickt und lächelt ihn aus. Das macht er gern, ihn auslächeln. Es ist Ramóns effektivste Waffe. »Welche Kompromisse?«
Gute Frage. Er reibt sich die Stirn. Manchmal weiß er erst, was er wirklich denkt, nachdem jemand ihn fragt, was er wirklich denkt. »Ich möchte mich weiterentwickeln. Keine zerschnittenen Kuhaugen oder als Bischof verkleidete Skelette mehr.« Er blickt sich misstrauisch um. Hört jemand zu?
»Also kein Surrealismus mehr?«
Bis zum Tod seines Vaters hat er keine Fotografien gesammelt. »Doch!« Er mag die irrationale Ausdrucksform des Surrealismus, das Sexuelle. In der Zeitschrift La Révolution Surréaliste gab es mal eine Umfrage, wie man am besten masturbierte, das fand er außerordentlich. Er zuckt mit den Schultern, weiß selbst nicht, was er will. »Surrealismus bedeutet, sich auf nichts zu verlassen. Das finde ich immer noch gut.«
»Verstehe, aber es soll nicht innerhalb dieser Pariser Kunstblase bleiben?«