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Aber wie sieht er denn aus? Abgemagert ist er, abgezehrt, gebrechlich. Gramgebeugt. Dieser Schatten von einem Mann, der ehemals als strahlender Dozent mit seinem Witz unter den Studenten die Freude am Lernen zur obersten didaktischen Maxime erhob, geht heute gebeugt, trübsinnig und resigniert. Seine magische Aura hat sich aufgelöst. Seine verzaubernden Worte scheinen verhallt. Er könnte jeden Moment abrupt von der Erdscheibe fallen. Paul Krieger, Hochschuldozent für Französisch und Widerstandskämpfer gegen die Unvernunft, muss operiert werden. Der Hausarzt hat nach der Kostprobe seines Urins Krebs festgestellt. Die Chirurgen schärfen ihre Messer und die lüsternen Priester beten für den Ungläubigen. Nach der gelungenen Operation wird Paul zum Schmerzpatienten. Ein Fehler? Eine unerklärbare Anomalie? Es beginnt eine verworrene Odyssee durch die Praxen der Götter in Weiß, aber selbst der Teufel scheint ihm nicht helfen zu können. Paul stürzt sich wieder in die Arbeit, um seinem chronischen Schmerz zu entkommen. Mit seinem Freund Michel reist er durch reale und imaginäre Jahrhunderte der französischen Salonszene der Aufklärung und Kolonialgeschichte, diskutiert mit den Salonièren über die Emanzipation der Frau und neue Gesellschaftsmodelle. Dabei begegnet er jedoch immer wieder dem Absurden, welches er bejahen will, um leben zu können. In einem ständigen Dialog mit seinem Intimfreund, dem Leser, versucht Paul seine verlorene Orientierung wiederzufinden. Trotz des Debakels ohne Gott bleibt er optimistisch, weil es keinen Grund dazu gibt. Manfred Overmann entwirft nach seinen beiden humorvoll-gesellschaftskritischen Erstlingsromanen durch die deutschen Schul- und Hochschullandschaften in seinem dritten Roman die verzweifelte Reise eines Schmerzpatienten, der in die Normalität zurückkehren möchte. Ich will nicht zu den letzten Menschen gehören, die sich lethargisch, lebensmüde und uninteressiert im Mittelmaß ihrer Komfortzone einrichten (…) Er, der große Krieger im Kampf für Frieden und Humanität, will noch nicht die Waffen strecken und die Flinte ins Korn werfen, denn das selbstverschuldete Inferno hat schon lange begonnen, aber niemand will es wahrhaben. Wir wollen morgen anfangen die Welt zu verbessern, aber heute ist es schon seit gestern zu spät. Deshalb haltet Abstand zu den Menschen, mindestens 1,5 Millionen Lichtjahre.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2021
ibidem-Verlag, Stuttgart
Klage nicht so sehr über einen kleinen Schmerz; das Schicksal könnte ihn durch einen größeren heilen.
(Friedrich Hebbel)
Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen (…) sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll.
(Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/96, 6. Buch, Bekenntnisse einer schönen Seele)
Inhalt
Nach langem Schweigen
Paul Krieger ist wieder da
Auf der Bühne der Weißkittel
Eine Kostprobe beim Hausarzt
PSA – Ratgeber für ungebildete Männer mit Prostata
Unter dem Messer eines Chirurgen
Kopfkino
Der Tölpelprofessor mit dem Clownsgesicht
Zurück an den Arbeitsplatz: Politisches Getrumpel und Aberglaube
Michel und die Elfenbeinstatue
Die Schmerzklinik oder Mainz wie es singt und lacht
Wie sollte es weitergehen?
Traumdeutungen ohne Freude
Michel, der Mensch der Bücher: Homo librorum
Schmerzen als Falten meines Lebens
Ich habe Weltschmerz
Schmerz und Leben – zwei Gedichte
Über den Autor
Da sind wir wieder! Wir? Ja! Ich und insbesondere Sie, lieber Leser. Sie haben sich durch das Erwerben dieses Buches entschieden, wieder in Pauls Leben einzudringen – als Leser, Reisender und vertrauter Freund. Und er hat sich entschieden, durch die Beschwörung der schwarzen Buchstabengestalten wieder das bunte Leben des Textoversums in seiner permanenten Emanation zu beflügeln.
In engster Verbundenheit, Symbiose gar, schreiben und lesen wir gemeinsam am Spinnrad der Zeit die nächste Folge der skurrilen Lebensgeschichte von Paul Krieger, jenem gescheiterten Gesamtschullehrer aus dem Siegerland, der dann Professor werden wollte und an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg in der Sprache Molières und Voltaires versuchte, die Studierenden in die Kunst des Lehramtsberufs einzuweisen, während er selber mit seinem Kollegen Michel in den Gärten der literarischen Ästhetik, und nicht nur dort, lustwandelte und als Dozent und Botschafter der Frankophonie ferne Länder erforschte und bereiste, um die Welt durch den gelebten interkulturellen Dialog etwas friedlicher, demokratischer und humaner zu gestalten.
Durch sein langes Schweigen hatten wir schon vermutet, dass Krieger vielleicht das Zeitliche gesegnet hätte, war er doch aus der Heilanstalt in Davos auf dem Zauberberg entlassen worden, wo Dr. Krokowski, Spezialist für Seelenzergliederung, versuchte, die kranke Vernunft des entarteten Tieres Mensch zu therapieren. Nach Jahren der Therapie wurde Paul von seinen psychischen Ängsten und Zwangsvorstellungen befreit, um dann bei seiner Rückkehr zu seiner geliebten Frau Sophie in Siegen mit einer noch fataleren körperlichen Diagnose konfrontiert zu werden: Krebs.
Krieger scheint jedoch überlebt zu haben, zumindest teilweise, denn er klopft wieder an. Er krebst vor sich hin, tastend, kriechend. Er müht sich ab, allerdings nur mit geringem Erfolg. Er denkt nach, sinniert, fasst einen Gedanken, verwirft ihn erneut, schreibt einen Satz, einen Absatz, löscht ihn dann abermals, um schließlich verzweifelt zu kapitulieren. Dann bäumt er sich von neuem auf und sucht nach Wörtern, die sich zu Sätzen ergänzen sollen. Aber beim ersten Komma scheitert er. Der Satz ist zu lang. Die Sicht zu nebulös. Die Konzentration zu schwach.
Er legt sich erneut hin, um seine Kräfte zu sammeln. Aber alle seine Kräfte, die er wie die Luft zum Atmen braucht, benötigt er jetzt zum Anziehen, zum Frühstücken, für Arztbesuche. Seine Worte lassen sich in diesem Spannungsverhältnis nicht mehr zu Sätzen, Satzgefügen, Absätzen oder sogar Kapiteln zusammenfügen. Krieger ist erschöpft. Er krebst am Existenzminimum, nicht des Geldes, sondern seiner Vitalkräfte, seiner Energie, während sein roter Lebenssaft wie Wasser im feinen Sand zu versickern droht.
Zukunftsplanung kennt er nicht mehr. Er lebt nur noch im hic et nunc, in der unmittelbaren Gegenwart. In der Verzweiflung, der Starre, der Bewegungslosigkeit. Der Sensenmann schneidet ihm ins Fleisch, greift nach ihm. Aber Paul will leben, zumindest überleben. Sein Denken liegt in fleischlichen Fesseln. Es ist eingesperrt, eingekerkert in der Finsternis seines geschundenen Selbst und sucht nach dem Licht der Sonne, nach Anmut und Würde einer schönen Seele. Krieger sucht nach dem unschuldigen Lächeln spielender Kinder, nach ihrem Ausdruck von Freude, ihrer Begeisterung, der Explosion von Energie.
Seine Lebenskraft konsumiert sich jedoch wie die lodernde Flamme, die bald auf dem Aschehaufen erlischt. Paul Krieger schnaubt, hechelt, schnauft, pustet, keucht, japst, röchelt, ringt nach Luft zum Atmen, haucht die Lebensflamme aus – exhaliert. Aber Krieger stirbt nicht. Krieger ist ein Kämpfer.
Deshalb braucht er Papier, um im Verbrennen wieder zu schreiben, um wieder ein wenig zu leben, um durch das Leben ein wenig weniger zu sterben. Deshalb klopft er wieder an, er, Paul Krieger. Bei Ihnen, lieber Leser. Lesen Sie, denn Lesen bedeutet Leben, und zu guter Letzt haben Sie nur dieses Leben. Hoffentlich besitzen sie viele Bücher, endlose Regale, eine Bibliothek mit Heerscharen von Freunden, denn dann sind Sie unsterblich.
Öffnen Sie den Buchdeckel. Es hat geklopft. Die kleinen schwarzen Geister streben nach Welt, um sich zu entfalten. Sie sind Ihr Lebenselixier. Ihre Luft zum Atmen. Inhalieren Sie tief. Sie sind Ihre Blutzellen. Saugen Sie den Lebenssaft gierig auf. Verlassen Sie die kleine Welt der Menschen und begeben sich in die große Welt des lesenden Seins!
Und wie geht die Geschichte von Paul Krieger nun weiter? Wissen Sie es nicht? Wollen Sie es wirklich wissen? Wir wissen es jedenfalls nicht, aber wir wollen ihn gemeinsam fragen, wie es ihm in den letzten Monaten und Jahren ergangen ist, mit seinem Krebs, ohne seinen Krebs, trotz seines Krebses. Da kommt er gerade einher. Fragen wir ihn also und geben ihm das Wort!
Aber wie sieht er denn aus? Abgemagert ist er, abgezehrt, gebrechlich. Gramgebeugt. Sein Teint ist matt, fahl, blass und farblos. Sein Gesicht wirkt hohlwangig und kraftlos. Sein Blick ist trüb, diffus, irritiert, leer. Krieger scheint in sich versunken, verloren, nach innen gekehrt, distanziert, eingeschlossen in sich selbst, unzugänglich, außerhalb der Welt. Er wirkt geradezu morbid, mumifiziert, um den gänzlichen Verfall seines Körpers zu verhindern, aber dennoch erscheint er wie eine wandelnde Leiche, die nach ihrem Grab sucht, in welchem sie Erlösung finden könnte.
Dieser Schatten von einem Mann, der ehemals als strahlender Dozent mit seinem Esprit und Witz unter den Studenten die Freude am Lernen zur obersten didaktischen Maxime erhob und diesen Lebenseifer in seinen Seminaren umzusetzen versuchte, er, Paul Krieger, der einstmals die jungen Leute durch seinen unkonventionellen Diskurs faszinierte und positiv perturbierte, geht heute gebeugt, trübsinnig und resigniert. Seine dereinst funkelnden Augen sind erloschen. Seine magische Aura hat sich aufgelöst. Seine verzaubernden Worte scheinen verhallt.
Paul beeindruckt nur noch durch seine Unbedeutsamkeit. Er ist eine Bagatelle, eine Lappalie, er existiert nur noch marginal, am Rande. Am Rande der Familie, am Rande der Gesellschaft, der Lebenden, der Welt – des Textoversums. Er könnte jeden Moment unversehens über die Buchseite hinausfallen, abrupt von der Erdscheibe rutschen.
Paul macht einen Rückzieher aus dem Leben. Er, der große Krieger im Kampf für Frieden und Humanität, streckt die Waffen, wirft die Flinte ins Korn, hisst die weiße Fahne, räumt das Schlachtfeld, schmeißt das Leben als Bettel hin. Paul wird nicht mehr wahrgenommen. Er verschwindet langsam und unauffällig aus dem Sein.
Aber unsere Geschichte, für die Sie bezahlt haben, so werden Sie einwenden, lieber Leser, kann noch nicht beendet sein. Protestieren Sie, lassen Sie sich das nicht gefallen. Die folgenden Seiten, für welche Sie einen stolzen Tribut bezahlt haben, dürfen nicht leer bleiben. Sie haben ein Recht auf die Druckerschwärze und ein Mindestmaß an Ordnung unter den Buchstabengestalten. Gehen Sie auf die Barrikaden! Streiken Sie! Bestehen Sie auf Ihre Rechte als Bücherkäufer und Leser! Halten Sie Ihre flatternden Spruchbänder in die Lüfte und schreien Ihre Wahlsprüche aus dem Halse!
Bücher dürfen nicht nur aus leeren Seiten bestehen!
Buchstaben müssen die Seiten füllen und sollen geordnet sein!
Wörter sollen in ihrer Anordnung der Grammatikalität gehorchen!
Die Seiten in einem Buch dürfen nicht lose umherliegen!
Alle Seiten müssen mit dem Buchdeckel fest verklebt sein!
Die Seiten müssen nummeriert und in der richtigen Reihenfolge gebunden sein!
Es dürfen keine Seiten fehlen!
Es gibt einen Titel und einen Autor!
Es gibt Ideen und einen Inhalt!
Wer trägt denn hier die Verantwortung, verdammt noch mal?! Etwa der Leser?! Wo ist der Sinn?!
Schauen Sie, lieber Leser! Er, Paul Krieger, bäumt sich wieder auf, gleichwohl als Schattengestalt, und seine trockenen Lippen öffnen sich, als wollten sie, gleichwohl unter unendlicher Anstrengung, Worte formulieren. Denn am Anfang war das Wort und nicht das Geschwätz. Alles ist durch das Wort geworden. Und ohne das Wort gibt es keinen Sein und keinen Tod, keinen Gott und keinen Teufel. Nicht einmal das Nichts kann sprachlos vorgestellt werden. Ohne Worte keine Geschichte und kein Roman. Ohne Worte kein Leben des leidenden Lehrers Krieger, der auszog, um Professor zu werden und das Multiversum der Literatur zu erforschen. Hören wir also, welche Schallwellen sein Odem in Bewegung setzt, welche Laute sich zur Bedeutung formen. Hören wir, was Paul Krieger uns zu berichten hat.
Eigentlich wollte ich mich bei Ihnen schon seit langem melden und Ihnen schreiben, lieber Leser, aber meine Absicht wurde durch eine Behinderung verhindert, die nicht explizit in meinem Schwerbehindertenausweis steht. Ich hätte mich zwar, wie einst versprochen und wie von einem guten Freund zu erwarten, zumindest postalisch an Sie wenden können, um ein Minimum an Kontakt und innigster Verbundenheit aufrechtzuerhalten, aber mein Wille, ach, war zu schwach, um sich durchzusetzen.
Der Grund: Schmerz, der schlimmste Diktator, den man sich vorstellen kann, zumal wenn er chronisch und damit omnipräsent ist. Er bestimmt dann alles, und man kriecht wie ein Wurm auf dem Boden und bittet um ein wenig Freiheit, um wieder ein wenig der sein zu können, der man mal war – vielleicht einmal war, meinte einmal gewesen zu sein. Man weiß es gar nicht mehr. Die Kraft fehlt, sich die Zeit vorzustellen, während derer man schmerzfrei war. Aber dieser Zustand war weder eine Errungenschaft noch ein Wert an sich.
Für jeden gesunden Menschen ist die Schmerzfreiheit innerhalb seines Kokons der normale körperliche Alltagszustand. Aus diesem Grunde ist für uns die Schmerzfreiheit gar kein bewusstes höchstes Gut, welches uns einen Zugewinn an Lust verschaffte. Ich aber sage Euch: Selig sind die, welche keine Schmerzen empfinden und selig sollen diejenigen sein, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Ich aber sage Euch, liebe Leser: Genießt jede Sekunde, Minute, Stunde, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat und jedes Jahr, in dem Euch gewährt ist, schmerzfrei zu leben, denn dieses größte Geschenk der Mutter Natur, welches Ihr jeden Tag erfahren dürft, wird nicht allen Lebewesen beschert und ist deshalb das höchste Gut.
Die anderen gehören zu den Verurteilten, den Verdammten, deren Verletzungen niemals heilen wollen, weil ihre Wunden jeden Tag wie von einem bösartigen Dämon wieder aufgerissen werden, so dass der Stich des Schmerzes und die lechzenden Zungen des brennenden Feuers immer wieder neue Schockwellen der Verzweiflung auslösen.
Sie wissen gar nicht mehr, wie sie vorher, vor dem Anfang der Zeit und vor der Entstehung des Raums und der Körper empfunden haben. Dieses vermeintliche Leben ist ausgelöscht und kann selbst in der Erinnerung nicht mehr rekonstruiert werden. Der schmerzende Körper bewegt sich in unendlich langsamen, quälenden Bahnen, so dass die Tortur in ewiger Agonie niemals zu enden vermag. Ob der Tod wohl das Ende des Schmerzes einleiten könnte? Warum leben wir noch? Worin besteht der Sinn eines solchen Lebens? Warum dauert es noch so lange an? Warum beenden wir es nicht?
Und wie geht es mir heute? Was empfinde ich heute? Um 12.00 Uhr ist mein Tag zu Ende, denn die Schmerzen erlauben dann keine Tätigkeiten oder Gedanken mehr, die noch authentisch wären, selbständig, verlässlich, glaubwürdig. Keiner verbürgt sich mehr dafür, dass die Ideen oder Handlungen genuin, unschuldig, originär oder unverfälscht wären. Wir schauen keine Ideen mehr, sondern nur noch Abbilder und sind selber Schatten unseres einzigen Selbst, die in Ketten gefangen die Geister für das Göttliche halten und den Irrtum für die Wahrheit.
Mehr als zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust, denn das tragische Schicksal schwankt nicht mehr zwischen dem Erkenntnisdrang der erhabenen Rationalität und den Stürmen der körperlichen Freuden und Sinnlichkeit, zwischen den hellen und dunklen Mächten, sondern wird von einem Dämon bestimmt, der viele Gesichter hat, aber alle sind verzerrt wie Fratzen.
Zwar habe ich einmal studiert Philosophiemit heißem Bemühen, aber alle Studien der Medizin konnten mir bislang nicht helfen, um den Gordischen Knoten des Schmerzes zu durchtrennen, und als Atheist glaube ich weder an den erlösenden und barmherzigen Gott, noch glaube ich an die Unterstützung des Teufels durch seine schwarze Magie.
Meine Schmerztherapeutin meinte einmal verzweifelt, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn in meinem Fall keine herkömmlichen Schmerzmittel oder sogar Opiate hülfen, da ich an nichts glaubte. Wo sind wir denn hier, erwiderte ich. Ist die Medizin etwa eine Zauberwissenschaft?
Sie haben mir in den letzten Jahren gefehlt, lieber Leser: als treuer Gefährte und ergebener Begleiter, als Ansprechpartner und Busenfreund in allen Situationen des Lebens, als Vertrauensperson, als Intimus bei besonders delikaten und brisanten Fragen und lebensverändernden Entscheidungen, aber auch als herzerwärmender Trostspender in Zeiten der Einsamkeit, als Balsam für die geschundene Seele, als unterstützender Helfer und Samariter auf allen Stationen des Kreuzweges durch die Ärztekammern des Schmerzes, als überzeugter Gegner des Suizids, als besinnliche Meditation im fühlenden Denken, als Sinnstifter im gebärenden Schreiben.
Der Weg war mir versperrt. Stacheldraht überall, Minenfelder. Der Schmerz ist ein Diktator. Ein wilder Wolf, der mit seinen Schneidezähnen Fleischstücke aus seiner Beute reißt, Knochen, Sehnen und Muskelstränge schneidend durchtrennt. Er spielt mit seinem Raubtiergebiss auf unserem Knochenxylophon Klavier. Er gibt den Ton an und dirigiert die Kakophonie der Schmerzleidenden. Er ist der Souverän.
Aber wir leben doch in einem freien und demokratischen Land, so mögen Sie einwenden. Nein, diese Gesetze gelten für einen Schmerzpatienten nicht. Der Schmerz kennt die Gewaltenteilung von Montesquieu nicht, den Geist der Gesetze.
Der Schmerz ist ein Tyrann. Er unterscheidet nicht zwischen der richterlichen, gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt. Er erlässt die Gesetze, richtet und exekutiert.
Der Schmerz ist ein Diktator. Das englische Bill of rights. Bürgerkrieg. Der Monarch herrscht nicht mehr nach göttlichem Recht und muss sich der Verfassung unterwerfen – der Schmerz nicht.
Der Schmerz ist ein Despot. Die VirginiaDeclaration of Rights. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Schneidet die Nabelschnur durch und trennt Euch vom Königreich Großbritannien. Werft die Ketten ab. Trennt Euch von den Despoten. Den Kolonialmächten. Trennt Euch vom Schmerz als Insel der Verdammten. Aber wo steht das Heer der wütenden Soldaten? Wo ist die Kommandozentrale, die wir zerstören wollen? Wo ist das Schmerzzentrum? Appelle, Aufrufe zur Befreiung! Wir stellen ein Ultimatum. Jedoch Georges Washington, Abraham Lincoln – unbekannt.
Der Schmerz ist ein heimtückischer Führer. La Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, die französische Erklärung der Menschenrechte gilt für einen Schmerzpatienten nicht. Sie ist eine reine Utopie. Ich mache von meinem Widerstandsrecht gegen die despotische Obrigkeit des Schmerzes Gebrauch. John Locke garantiert mir ein Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum und das Streben nach Glück. Der Schmerz ignoriert alle und alles. Er ist omnipräsent und omnipotent. Leben, ja, aber unter welchen Bedingungen? Freiheit, ja, aber nicht Schmerzfreiheit. Eigentum ja, meines Körpers, aber er entscheidet, welche Signale er sendet, und zwar unabhängig von meinem willentlichen Bewusstsein. Streben nach Glück, ja. Glück bedeutet Schmerzfreiheit.
Der Schmerz ist ein Tyrann. Ein Diktator. Ein Despot. Ein Führer. Er ist mein neuer Gott, den ich nicht leugnen kann. Der Schmerz zerrt an mir wie ein schwarzes Loch beim Sternenmahl, und ich kann seinem Sog keine positive Energie entgegensetzen, so dass die Alchimie des Schmerzes mich mit Baudelaire auf den himmlisch heitren Auen nur noch mit Grauen lässt Verwesung und prunkvolle Sarkophage schauen.
Seit meiner Operation hat sich mein Leben auf unwiderrufliche Weise verändert, und zwar so weit, dass selbst Sie, lieber Leser, ein Buch lesen, welches ich nie schreiben wollte. Ich habe den Kompass meines Lebensweges verloren und navigiere bei hohem Wellengang im Sturm der Gefühle nur noch auf Sicht. Selbst die Sonne und die Sterne bieten mir keine Navigationshilfe mehr, so dass ich dem Gott der Meere, Poseidon, auf meiner Schmerzodyssee ausgesetzt bin und seinen Zorn fürchte, obwohl ich seinen Sohn Polyphem nicht geblendet habe. Jedoch kann ich nicht mehr mit zwei geöffneten Augen in die Zukunft schauen.
Ich bin nicht mehr frei von Qualen. Die Operation wurde zum seismischen Auslöser eines Tsunamis des Schmerzes, zur Beulenpest von Florenz, zum Erdbeben von Lissabon, zur Spanischen Grippe, zur schweinischen Grippe-Pandemie, zur Coronapandemie eines martirisierten Körpers, in dem es brodelt, schneidet, brennt und zerrt. Wer hat meinen Brunnen vergiftet? Wer hat das eruptierte Magna bis zum Ausbruch gereizt? Wer hat mir die Viren des Leids injiziert?
Wenn vor der Zeitrechnung der Entstehung des Schmerzes, im letzten realen oder fiktiven Jahr 2017 vor der Operation in meinem Leben noch alles geregelt war, stimmt plötzlich gar nichts mehr. Lockdown. Ich und mein Schmerz sitzen fest. Wir sitzen in der Falle. Der Leviathan übernimmt die Macht im Bürgerkrieg des körperlichen Schmerzes zwischen den guten und den bösen Mächten. Er ist der neue Souverän, und meine Prostataloge wird zum Bombenkrater von Idlib. Warum diese Kriegserklärung der revoltierenden Zellen gegen die Organe der Vernunft und des ausgeglichenen Friedens? Niemand weiß es, aber es ist ein Krieg aller gegen alle, und niemand weiß, wie dieses Elend beendet werden kann.
Der Schmerz ist ein Tyrann. Ein Diktator. Ein Despot. Stacheldraht überall. Minenfelder. Durch den chronischen Schmerz wird der freie Wille, sofern es ihn geben sollte, aufgegeben, und das malträtierte Bewusstsein folgt, einer Marionette gleich, dem steinigen und dornenreichen Weg ins Jammertal der Tränen. Hier sieht man keine lächelnden Lippen mehr, sondern nur noch verzerrte Gesichter, welche die Zähne zusammenbeißen, um nicht mehr schreien zu müssen und im Tod Erleichterung zu finden.
Für mich gibt es diese letzte Alternative jedoch nicht, weil ich noch viele Bücher lesen und gleicherweise schreiben will, denn das bin ich mir und Ihnen schuldig. Warum? Weil mein Schicksal es so will, und seinem Schicksal entkommt niemand. Jedoch kennt es niemand im Voraus, und man hat es erst in seiner Gänze erfahren, wenn die letzte Stunde geschlagen hat. In der Zwischenzeit, das heißt im Verlauf des Lebens, nehmen wir irrtümlicherweise immer an, dass wir möglicherweise einen anderen Weg beschreiten und einen anderen Traum träumen könnten. Das ist aber nur Einbildung und Illusion, eine falsche Idee von Freiheit, die unserem Leben Bedeutung, Substanz und Sinn geben soll. Nur welchen Sinn soll ein Leben mit Schmerz haben? Und in letzter Instanz ist der freie Mensch summa summarum sogar noch für alles verantwortlich. Selber schuld, wenn dein Weg in eine Sackgasse führt und du Schmerzen hast.
Deshalb rate ich dir: Halte die schmerzfreien, geselligen, lustigen Menschen nicht davon ab, ein sorgenfreies und fröhliches Leben zu führen. Zeige deinen Schmerz nicht. Verberge ihn. Mache deinen Schmerz nicht zur res publica, zur öffentlichen Sache. Beiße die Zähne zusammen. Gehe nicht auf den Markt, um deinen Schmerz zu verhandeln. Keiner gibt dir Recht. Keiner will ihn mit dir teilen. Keiner will ihn dir abnehmen. Selber schuld. Dumm gelaufen.
Sobald die anderen dein schmerzverzerrtes Gesicht, deine nach innen gerichteten Augen, deine unruhigen Lippen und deine unsichere Stimme wahrnehmen, offenbart sich dein Schmerz als Stigma, als Mahnmal, als Kainsmal, obwohl du Abel nicht auf dem Felde erschlagen hast und keine gerechte Strafe verdienst. Stamm Kains, was heult dein Eingeweide/ Vor Hunger wie ein Hund?/ (...) Stamm Kains, auf deinen wirren Wegen/ Lieg‘ Kampf und Todesqual. (Baudelaire, Abel und Kain)
Wenn dein Schmerz nach außen dringt, zu den anderen, wirst du stigmatisiert, gebrandmarkt, du wirst zum Außenseiter, zum Ausgestoßenen, zum Geächteten. Man zeigt mit Fingern auf dich. Da kommt er wieder, der Outsider. Seht ihr ihn? Es ist Kain, der uns beschuldigt, schmerzfrei zu sein und sein eigenes Schicksal nicht annimmt. Stamm Kains, in Schmutz und Schlamm versinke,/Verende wie ein Tier.
Während die großräumige Kartierung des Universums durch die Astrophysiker mit Lichtgeschwindigkeit voranschreitet, die Computer ihre Kapazitäten nach dem mooreschen Gesetz alle zwölf Monate verdoppeln, liegt die Erkenntnis der Komplexität der schmerzverursachenden Gesetze, welche die kleine Welt zusammenhält, noch Lichtjahre von uns entfernt.
Der Körper ist keine Maschine und der Schmerz kein Glockenläuten am Ende eines biologischen Klingelzugs. Descartes hat sich geirrt. La Mettrie und die französischen Materialisten in gleicher Weise. Sogar der heulende Hund verspürt Schmerz. Der Körper ist kein rein mechanischer Automat. Die radikale Trennung von Geist und Körper macht keinen Sinn mehr. Jedoch versuchen selbst heute noch verzweifelte, schmerzfreie Schmerztherapeuten Glückspillen zu verschreiben, welche die Schmerzimpulse in chronische Lustanwandlungen verwandeln sollen. Bei einer akuten Schmerzattacke mag das gelingen. Nicht aber bei einem chronisch schmerzinfizierten Patienten. Der Körper ist kein rein mechanisches Räderwerk.
Psychosoziale und emotionale Impulse beeinflussen unser Verhalten über das Gehirn genauso wie ein eingeklemmter Finger, und soziale Misserfolge, Stress und Frustration wirken schmerzverstärkend oder sogar schmerzauslösend. Die Neurowissenschaftler und Hirnforscher mobilisieren nicht genügend graue Substanz, um den Zusammenhang zwischen Schmerz und Bewusstsein aufzuklären, und unsere Schaltzentrale bleibt trotz der bildgebenden Verfahren in ihrer Funktionsweise ein weitgehend unerklärtes Universum.
Die Wissenschaft hat in den letzten 300 Jahren zwar die meisten einzelnen Probleme unserer kleinen Welt gelöst, aber dabei die Komplexität der Systeme nicht beachtet. Unserer Unvernunft denkt zu linear, ohne netzwerkartige Dependenzen in ihrer nichtlinearen Dynamik sichtbar zu machen. Deshalb gelingt es ihr nicht, kollektive Intelligenz zu gestalten. Durch den Klimawandel und das Klimaterium kommen jetzt ganze Systeme irreversibel ins Rutschen, nur weil wir uns alle in zu großen Scharen um zu große Lagerfeuer versammeln und dabei stark schwitzen.
Bei mir war der Kipppunkt als Auslöser der beginnenden Tragödie so groß wie eine Nuss, ein Georg Nüsslein mit großer Maske, das geknackt werden sollte und dann alles ins Rollen brachte: eine anscheinend gut verlaufene Prostatektomie zur Entfernung einiger hungriger Krebszellen. Mein gesamtes System begann jedoch einige Monate später durch Schmerzattacken zu rebellieren, ohne dass ein direkter Zusammenhang zur Operation hergestellt werden konnte. Die Pole begannen zu schmelzen, und die Menschen hörten auf zu atmen, obwohl ich mir ein Elektroauto gekauft und die Nuss umweltfreundlich entsorgt hatte. Für die Ärzte war mein System zu komplex, um Ursache und Wirkung in einen logischen Zusammenhang zu bringen, zumal letztendlich mein Kopf dazugehörte. Hätte man diesen entfernt, wäre der Schmerz wahrscheinlich wie ein Tropfen Blut im Sande verronnen. Aber die Guillotine wurde auch in Frankreich 1977 zum letzten Mal erfolgreich genutzt. Seitdem ist sie rostig und stumpf geworden, und ich möchte mir zusätzlich zu meinen chronischen Schmerzen nicht noch eine Blutvergiftung einhandeln.
Ich versuche mich an die Pharmaindustrie zu wenden, damit diese Forschungsreihen im Rahmen einer ganzheitlicheren Medizin ins Leben ruft. Trotz meiner flehenden Appelle und vergossenen Tränen zeigen sich diese milliardenschweren Konzerne jedoch nicht bereit, mit lakto-vegetarischen Yogis brahmanischen Glaubens aus Indien, Voodoo-Medizinern aus Afrika oder Nadelstechern aus China zu kooperieren, um komplexere Modelle gegen den Schmerz zu erforschen, die über die bunten Pillen hinausgehen, weil diese Forschungen sich nicht unmittelbar in klingende Münzen umsetzen lassen.
Vielleicht werden zukünftig noch eher Gehirnsonden mit Tiefensimulation durch digitale Impulsgeber das Rennen machen, solange kein Gen, Molekül oder Elementarteilchen zur Aufklärung der Schmerzodyssee gefunden wird. Aber der Schmerz lässt sich nicht lokalisieren und messen wie der Blutdruck, der einen Aderlass fordert. Deshalb verlange ich in der Zwischenzeit zur Erleichterung meiner Pein Chloroform, Lachgas und Äther. Denn ich halte die Presswehen nicht mehr aus. Setzt mir eine Periduralanästhesie.
Aber was können Sie, könnt Ihr dafür, dass Paul leidet? Waren wir bereits per du? Oder siezen wir uns noch, lieber Leser? Der Schmerz kennt diese formelle Unterscheidung nicht. Er ist privat. Intim. Persönlich. Halt schlecht gelaufen für ihn, für Paul, für dich. Außerdem war er immer ein wenig merkwürdig, ein Sonderling, oder? Findet Ihr nicht? Falls er wirklich so große Schmerzen hätte, ginge er nicht auf den Markt. Ich habe ihn sogar auf der Post gesehen! Und ich bei einem Spaziergang im Wald! Und ich beim Bäcker. So schlimm kann es also beim besten Willen nicht sein. Im Falle, dass es mir schlecht geht, bleibe ich zu Hause. Und er? Er läuft noch immer umher. Erst gestern noch sah ich ihn beim Einkaufen. Er hatte sogar eine gute Flasche Saint-Emilion Grand Cru in seinem Einkaufstrolley. Ob es bei ihm wohl was zu feiern gibt? Welchen Grund könnte ein Schmerzpatient dafür haben? Merkwürdig. Autofahren kann er anscheinend auch noch. Er hat sich sogar die neue Mercedes A-Klasse gekauft. Angeber! So schlimm kann sein Schmerz tatsächlich nicht sein, denn sonst würde man ihn nirgendwo mehr zu Gesicht bekommen. Alles nicht so schlimm. Wichtigtuer! Simulant!
Warum bleibt er nicht im Bett? Warum schluckt er nicht wie andere vernünftige Patienten Tabletten? Wenn ich Kopfschmerzen habe, nehme ich ein Paracetamol und – weggepustet sind sie! Er kann doch zwei oder drei davon nehmen, sogar ohne Verordnung eines Arztes! Wahrscheinlich hat er Angst vor Medikamenten. Weichei! Oder er steht nur auf natürliche Heilverfahren und Homöopathie. Globuli. Akkupunktur. Wahrscheinlich macht er sich schon beim Anblick der Nadeln in die Hose! Klugscheißer! Immer viel Wind machen! Wenn seine Schmerzen wirklich so schlimm wären, nähme er Opiate. Dann hätten zumindest wir wieder etwas zu lachen, wenn er in aller Öffentlichkeit auf seinem Trip ausflippte. Oder Antidepressiva? Dann würde er nicht mehr ein so grimmiges Gesicht ziehen und endlich wieder lächeln.
Jedenfalls soll er uns nicht unsere kostbare Zeit rauben. Wenn er sich beschweren will, soll er in den Wald gehen. Und überhaupt: Über Schmerzen braucht er mir nichts zu erzählen! Mein Opa war noch im Krieg! Und wenn ich meine jährliche Migräne bekomme, falle ich sogar für 24 Stunden ins Koma, aber niemandem zur Last! Und ich habe manchmal furchtbaren Muskelkater, wenn ich am Wochenende einen Marathon laufe! Und ich Knieschmerzen, wenn ich drei Wochen in den Dolomiten wandere! Und ich hatte einmal furchtbare Zahnschmerzen! Solche Schmerzen kann er sich gar nicht vorstellen! Trotzdem musste ich in der vollen Praxis noch zehn Minuten Wartezeit in Kauf nehmen, bevor der Zahnarzt meine Kariesattacke behandelt hat – und ganz ohne Betäubung! Ich bin doch kein Weichei! Und ich hatte letzte Woche eine Genickstarre! Gut, dass ich noch am selben Tag beim Kinesitherapeuten einen Termin bekommen habe! Ich weiß gar nicht, wie ich sonst am Abend den Weg in die Kneipe gefunden hätte, da ich meinen Kopf nicht mehr drehen konnte! Mich sieht man bei richtigen Schmerzen jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit!
Warum läuft dieser Depp noch immer umher? Sollte man ihn nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses einsperren lassen? Sucht er unser Mitleid? Warum provoziert er uns durch seine Anwesenheit? Ich möchte mich jedenfalls nicht mehr mit ihm treffen, denn das ständige Reden über seinen Schmerz verdirbt einem die gute Laune, den Appetit, den Spaß am bunten Leben! Er kann dir den ganzen Nachmittag versauen, insbesondere wenn er dir gegenüber sitzt und seine merkwürdigen Grimassen schneidet! Nein, das möchten wir nicht mehr! Wir laden ihn nicht mehr ein! Wir laden ihn aus! Verbannen ihn! Der ist uns zu anstrengend, zu negativ, zu pessimistisch! Er verdunkelt unser Vertrauen in die Menschen! Nimmt uns unsere Zukunftshoffnungen! Den Glauben an das Gute! Unseren uneingeschränkten Optimismus! Nein, solche Menschen muss man meiden, denn andernfalls wird man selber noch griesgrämig und stürzt in einen Abgrund von Zweifeln! Man muss wissen, was man will! Man darf sich die Wahrheit nicht ausreden lassen!
Also Paul: Immer schön lächeln, wenn du zufällig jemanden triffst. Dann macht man dir Komplimente darüber, wie gut du aussiehst, selbst wenn du zehn Kilo abgenommen hast und bleich bist wie ein Gespenst. Verschweige deinen Schmerz, deinen Makel, dein Kainsmal. Mach dich vom Acker! Sobald du ihnen den Rücken kehrst, ziehen sie ohnehin über dich her und zerreißen dich in der Luft. Gerede. Verleumdung. Verunglimpfung. Böswillige Unterstellungen. Blödes Gelaber. Gequake. Getratsche. Mach dir nichts draus!
Aber wehe, wenn sie dir begegnen und dir nicht ausweichen können. Dann verlieren sie kostbare, das heißt schmerzfreie Lebenszeit, weil sie vorgeben müssen, sich ernsthaft nach deiner Gesundheit erkundigen zu wollen, während sie in Wirklichkeit nur so schnell wie möglich wieder verschwinden möchten.
Paul, hör einfach nicht hin! Hör ihnen nicht zu und deinem Schmerz auch nicht! Verschließe deine Ohren! Gieße Wachs hinein und höre nicht auf den Sirenengesang, der dich, gefesselt am Mast und Odysseus gleich, ruft, um dich ins Unglück zu stürzen! Der Schmerz fordert dich auf, zwischen Skylla und Charybdis zu wählen. Auf der einen Seite fühlst du dich angezogen von dem schönen Oberkörper einer jungen Frau, merkst aber nicht, dass ihr Unterleib aus sechs wilden Hunden besteht, die alles zerreißen, was ihre Fangarme ergreifen, sobald du dich ihr und ihnen näherst. Sie reißen dir die Gedärme aus dem Körper, und ihre spitzen Stoßzähne zerfleischen deine Eingeweide. Mit ihren wilden Bissen suchen sie nach deiner Prostata, ohne dieses beste Filetstück jedoch zu finden, welches sie noch wilder und blutrünstiger macht.
Das zweite Ungeheuer, Charybdis, saugt dein Meer aus Tränen dreimal am Tag auf und spuckt dich dann brüllend wieder aus, so dass deine Schmerzen an den Felsen der Meeresenge wie Granaten zerplatzen und ihre scharfen Splitter sich in dein Fleisch bohren.
Aber du überlebst. Das ist dein Schicksal. Und wenn du es geschafft hast, die Meeresenge zu durchqueren, erwartet dich mit Schrecken ein tobender Wasserfall und zwingt dich zur Umkehr, wo die beiden Monster dich wieder erwarten. Wie gerne würdest du mit Sisyphus tauschen, um in Ruhe den Felsen den Berg hinaufzurollen. Er ist stark und hat keine Schmerzen. Er strengt sich an, gibt sich Mühe und findet dadurch sein Glück. Er nimmt sein Schicksal an.
Wo ist überhaupt der plausible Grund, der Beleg, der Beweis für deinen Schmerz? Du hast kein amputiertes Bein, keine gebrochenen Knochen, keine klaffenden Wunden vorzuweisen. Man glaubt dir nicht. Du bist ein Simulant. Ein Einfaltspinsel. Du warst schon immer gesellschaftlich fragil. Anders. Nicht angepasst. Auffällig. Kein Wunder also. Und jetzt drängst du dich mit deinen chronischen Schmerzen in den Vordergrund. Angeber! Prahlhans! Wir glauben dir nicht! Und wieder bist du alleine. Der Außenseiter. Der gescheiterte Lehrer. Der Möchte-gern-Professor.
Paul. Mensch. Bleib im Sattel! Wir Leser mögen dich doch, auch wenn niemand es dir sagt. Vielleicht bist du kleiner Mensch zu groß für diese Welt. Zu kritisch. Zu intelligent. Zu anders. Auf dem Zauberberg. Hinter den sieben Bergen. Bei den sieben Zwergen. Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Der Tölpelprofessor? War er wieder da? Ist er dir wieder im Traum erschienen? Hat er dir wieder Schmerzen zugefügt? Dir Gift auf dein Tellerchen gestreut? Säure in dein Tässchen gegossen? Nadeln in dein Kopfkissen gesteckt, damit du von ihm albträumst? Paul, schmerz mal runter. Wir lieben dich. Wir lesen dich.
Danke für Euer Gebet, das ich nicht höre. An das ich nicht glaube. Aber ich mag Euch. Nur die Gewürze stimmen nicht. Schnell. Einen Schluck Wein. Der Schmerz lässt nach. Es dämmert. Das Leben. Es schreibt. Es schreibt voran. Es atmet. Es lebt. Es wird geboren in Schmerz. Das Leben.
Der Dämon sitzt mir im Nacken und bestimmt, was ich mache, was ich will, was ich denke. Und wer bestimmt bei Ihnen, lieber Leser, was Sie jetzt tun? Warum lesen Sie mein Buch? Legen Sie es schnell weg. Tragen Sie eine Maske, bevor der Schmerzvirus Sie infiziert! Solche Geschichten liest man nicht. Man muss sich vor ihnen schützen. Diese Dinge passieren nur den anderen. Warum lesen Sie noch weiter? Nur weil Sie den Eintrittspreis bereits bezahlt haben? Weil Sie sich für mein tragisches Schicksal interessieren? Haben Sie Mitleid mit mir? Schämen Sie sich nicht, dass Sie sich am Leid eines anderen ergötzen, ohne ihm zu helfen?
Ich sage Ihnen: Es gibt schönere Geschichten. Ein schöneres Leben. Gehen Sie zurück in Ihr eigenes Leben. Warum mischen Sie sich hier ein? In unserer Wegwerfgesellschaft ist jeder Mensch frei, etwas zu kaufen oder nicht zu kaufen. Werfen Sie das Buch weg! Oder ist Ihre Papiermülltonne schon voll? Warum sind Sie immer noch hier? Nutzen Sie Ihre Freiheit und gehen ins Schwimmbad! Oder können Sie nicht schwimmen? Haben Sie Angst, in dieser Plastikwelt zu ertrinken? Öffnen Sie eine Flasche Wein und plaudern mit dem Weltgeist! Hegel. Und genießen Sie Ihre Schmerzfreiheit!
Das Leben ist zu kurz, um Schmerzen zu haben, Schmerzen zuzufügen. Sich über Schmerzen zu lamentieren. Schließen Sie Frieden. Mit Ihrem Chef. Ihren Kollegen. Ihren Feinden. Operieren Sie in Ruhe, aber lassen Sie sich nicht operieren. Der Prostatakrebs schadet keiner Frau, vielleicht Ihrem Mann. Dann sind Sie ihn los. Es gibt andere. Gesunde. Mit Prostata.
So, das wäre gesagt. Das wäre geklärt! Und was planen Sie für morgen? Wie, das wissen Sie noch nicht? Seien Sie selbständig und entscheiden sich frei, was Sie machen und wollen! Jetzt! Unmittelbar! Überlegen Sie nicht zu lange. Es gibt immer Gründe dafür und dagegen. Gute und schlechte Gründe. Lassen Sie sich nicht von anderen tyrannisieren! Hören Sie nicht auf die zahlreichen Meinungen Ihrer Bücher in den Regalen! Treffen Sie selber Ihre Entscheidungen! Sie sind frei! Sie leben in keiner Diktatur! Sie sind vogelfrei, aber nicht rechtlos und geächtet. Sie können wählen! Wählen Sie nicht den Schmerz!
Und was machen Sie nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr? Entscheiden Sie sich schnell, bevor sich ein anderer einmischt, sie zufällig oder willentlich trifft. Sie einlädt. Sich in Sie verliebt. Sie in ein Arbeitsverhältnis drängt, das Sie frei und bereitwillig annehmen. Beeilen Sie sich, bevor Sie fallen, krank werden, taub und blind von dem Elend, bevor Sie sterben! Danach ist es zu spät! Das Leben ist zu kurz, um nicht hier und jetzt gelebt zu werden!
Nun aber einmal ehrlich unter uns. Unter vier Augen. In aller Intimität. Ich hoffe wirklich, dass Sie, lieber Leser, keine Schmerzen haben, zumal wir befreundet sind und ich für Sie mitempfinde. Aber ich weiß darüber hinaus und gebe zu bedenken: Es trifft nicht immer nur die anderen. Paul Krieger. Fremde. Unbekannte. Die Bücher. Es trifft auch Ihre Nachbarn, entfernten Verwandten. Also warum nicht Sie? Warum nicht ich? Wer will freiwillig fallen und sich verletzten? Wer will freiwillig in einen Unfall verwickelt werden? Wer will freiwillig krank werden? Ich muss mein Schicksal annehmen. Wir müssen unser Schicksal annehmen – in Freiheit. Ich will mich nicht mehr gegen Tatsachen auflehnen. Mit dem Kopf gegen die Wand laufen. Schmerztherapeuten nennen das Akzeptanz. Aber ist das akzeptabel? Den Schmerz annehmen? Und ist es gut so, weil es nicht anders sein kann? Das Leben ist zu kurz, um nicht hier und jetzt gelebt zu werden.
Lesen Sie Seneca: De brevitate vitae. Von der Kürze des Lebens. Lesen Sie Horaz‘ Ode an Leukonoë und genießen Sie den Tag, die Kostbarkeit des Augenblicks und die guten Gedanken. Das Buch. Carpe diem. Pflücken Sie jeden Tag die reifen Früchte und Blumen der Natur. Das Leben ist nicht kurz, nur vergeuden Sie Ihre kostbare Zeit nicht mit unwichtigen Dingen. Mit Fragen ohne Antworten. Mit Revolten gegen Dinge, die Sie nicht ändern können. Laufen Sie nicht ständig gegen die Wand! Genießen Sie den heutigen Tag und warten nicht auf den kommenden! Nehmen Sie Ihr Los an, wie es fällt und lehnen den Zweifel ab! Wir wissen nicht, ob wir alt wie Methusalem werden! Genießen Sie den Tag! Lassen Sie Ihr einmaliges Leben nicht ungelebt! Schauen Sie nicht auf das vermeintliche Glück der anderen oder klagen über Ihr Schicksal: Carpe diem! Das Leben ist zu kurz, um nicht hier und jetzt gelebt zu werden!
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Was faselt Krieger da? So kann es nicht weitergehen! Das ist keine Geschichte! Sie werden sich als Leser beschweren. Sie wollen Klarheit, Kontinuität in der Handlung, Spannung, Freude, Sex und Spiele in der römischen Unterhaltungsarena, politische Gladiatorenkämpfe, Korruption, Lüge, Liebe, Beziehungskrisen, Hoffnung, Romantik, Dekadenz – nur nicht die Wahrheit! Diese wird aber in aller Offenheit und Aufrichtigkeit folgen. Dafür haben Sie bezahlt! Seien Sie ehrlich! Lesen Sie und entziehen Sie sich nicht der Wahrheit! Sie tragen nämlich die Verantwortung! Für das, was Sie lesen!
Lieber Leser: Sie erinnern sich noch, dass ich mich nach meiner Rückkehr vom Zauberberg einer Krebsoperation unterziehen musste. Und ich bin Ihnen als guter Freund schuldig zu berichten, wie die tragischen Geschehnisse von einer harmlosen Blutuntersuchung bis zu meinem jetzigen Überlebenskampf verlaufen sind.
Die neue Bühne ist eine Arztpraxis, jener Wirtschaftsbetrieb, der dem Kunden kein Bier, wohl aber reinen Wein einschenkt, indem man Tacheles redet, also die Wahrheit im Klartextformat mit verständlichen Worten bezeichnet. Der Arzt hat studiert, ist ein gebildeter Akademiker und weiß fast alles. Er weiß mehr als wir. Er weiß mehr als der Durchschnitt der Menschen. Er besitzt deshalb großes Ansehen in der Öffentlichkeit, und selbst seine Frau wird mit Frau Doktor angesprochen. Die zweite Persönlichkeit, zumindest in jedem Dorf, ist der Pfarrer. Er hat ebenfalls studiert und darüber hinaus eine direkte Verbindung zum lieben Gott. Er entscheidet, was gut und was schlecht ist. So sind die Dinge. Und diese Wahrheiten sind in Granit gemeißelt.
Heute muss ich als kritischer Denker indes feststellen: So waren die Dinge einmal, und keine Wahrheit ist mehr in Granit gemeißelt. Es gibt nicht nur eine Wahrheit, sondern so viele Wahrheiten wie es Ärzte und Pfarrer gibt – und dann existieren darüber hinaus noch die anderen Menschen, nämlich wir. Aber wenn jeder seine eigene Wahrheit hat, gibt es gar keine allgemeine Wahrheit mehr. Das darf doch wohl nicht wahr sein, oder?
Darüber hinaus darf ich als Geisteswissenschaftler und Hermeneutiker anmerken, dass es keinen Klartext gibt und auch keine allen Menschen in gleichem Maße verständlichen Worte. Verstehen bedeutet immer auch Missverstehen, so erinnere ich mich an die Worte von Wilhelm von Humboldt, die während meiner Studienzeit in Köln von einem Dozenten in einem Seminar Zur Erziehung des Menschengeschlechts zitiert wurden. Leider lässt die Erziehung des Menschengeschlechts noch immer auf sich warten. Der Mensch scheint gegen eine vernünftige und harmonische Erziehung zu einer Schönen Seele resistent zu sein, und das gilt nicht nur für seelenlose Atheisten, sondern insbesondere für alle Fanatiker, deren Unvernunft durch einen vermeintlichen Klartext zu infernalen Handlungen angestiftet wird. Wir scheinen noch Lichtjahre davon entfernt zu sein, durch schöne Worte zum schönen Denken und schließlich zum schönen Handeln zu gelangen, um die sittliche Vervollkommnung des Menschen voranzutreiben.
Doch zurück in die Praxis und zu Hippokrates von Kos, der die griechischen Gesundheitsgottheiten Apollon, Asklepios, Hygieia und Panakeia als Zeugen berief, als er den Eid verkündete, sich dem Nutzen der Patienten zu verschreiben, um sie vor Schädigung und Unrecht zu bewahren und versprach, ihnen selbst bei Verlangen keine tödlichen Mittel zu verabreichen sowie sich eine ärztliche Schweigerpflicht aufzuerlegen.
Jedoch selbst ein schweigender Arzt spricht keinen Klartext, und das allgemeine Missverstehen wird in einigen Fällen noch durch unverständliche Fachbegriffe maximiert. Manche bösen Zungen behaupten sogar, dass selbst bei Ärzten nur mit Wasser gekocht wird, und wenn sie auch kein Blatt vor den Mund nehmen, so reden sie dennoch oft nur um den heißen Brei, an dem sich der Patient manchmal die Finger verbrennt. Zudem ist der Arzt oft gefährlicher als die Krankheit.
Genau aus diesem Grunde müssen Sie, lieber Leser, und ich dann entscheiden, wie wir uns gegenüber der vermeintlichen Wahrheit dieses Medikus‘ und Halbgotts in weißem Klartext verhalten wollen. In jedem Fall müssen wir die Kohlen aus dem Feuer holen, indem wir zum Beispiel in einem nicht wenig aufwendigen Kraftakt einen zweiten ärztlichen Rat heranziehen und bei einer dritten Konsultation einen Schiedsspruch verlangen, der jedoch auch nicht rechtsbindend ist und unsere Unsicherheiten und Ängste noch verstärkt.
Daraufhin können wir andere Ärzte, die noch länger studiert haben und noch weiser und weißer sind, sogenannte Fachärzte und Krankenhausärzte, mit an den Verhandlungstisch bitten, um uns in einem diagnostischen Marathon noch mehr Unklarheit zu verschaffen, während der Wald vor lauter Bäumen immer undurchsichtiger wird und man in der Zwischenzeit Krankheiten gefunden hat, unter denen Sie und ich noch nie gelitten haben. Aber ein guter Arzt findet auf der Bühne der Gebrechen und Leiden immer ein kleines Übel, während der im Wartezimmer lesende Patient vor sich dahinsiecht. Dafür hat er studiert, und dafür wird er bezahlt. Bei fehlender Unklarheit überweist er Sie an einen Seelendoktor, einen Psychologen, natürlich nur, insofern Sie kein Atheist sind wie ich. In diesem Falle greifen Sie lieber nach einem utopischen Roman, in dem man in der Lage ist, Sie zu heilen!
Trotz meiner widersprüchlichen Erfahrungen mit den Göttern in Weiß und vieler enttäuschender Untersuchungen, die mich aus purer Verzweiflung so manches Mal zu Häme und Spott bewegen, danke ich allen guten Ärzten, und insbesondere meinem Hausarzt, Dr. Christ, die sich engagiert und selbstlos für mich einsetzen, als sei ich ein Mitglied ihrer Familie, damit ich mein Leben wieder schmerzfreier gestalten kann. Mehr noch als die Tat oder das Ergebnis veredelt die gute Gesinnung einer schönen Seele die Würde und die Anmut eines Menschen, der sich uneigennützig in den Dienst der Menschheit stellt.
In dieser wahrhaft bunten Gesellschaft der Weißkittel spiele jedoch ich, Paul Krieger, die erste Geige und als erfahrener Schauspieler die Hauptrolle, auch wenn mein Leben für den Arzt nur ein Nebenschauplatz ist. Und Sie gehören als Leser natürlich in gleichem Sinne zu den Patienten. Warum? Weil Sie von dem Virus des Viellesers infiziert sind und sich als Bücherwurm und Leseratte durch Tonnen von mit Druckerschwärze vergiftetem Papier fressen, um sich als Leseneurotiker von Ihren Ängsten, Phobien und depressiven Verstimmungen ablenken zu lassen. Ihre gut ausgestattete Bibliothek ist der schreiende Beweis dafür, dass Sie sich aus dem Alltagsleben immer mehr zurückziehen. Wahrscheinlich werden Sie Ihrer Probleme nicht mehr Herr und ziehen die Lektüre Ihrer Bücher einem Aufenthalt in einer Klinik, beispielsweise auf dem Zauberberg, vor.
Schade, denn dort hätten wir uns schon vor Jahren persönlich und in der guten Gesellschaft von Hans Castorps aus Hamburg und dem Humanisten und Literaten Lodovico Settembrini kennenlernen können. Wenn es Ihnen jedoch in Ihrer neurotischen Neigung beliebt, die Lektüre meines Buches Vom Zauberberg. Paul Kriegers skurrile Reise von der Schule über die Hochschule in die Welt dem realen Aufenthalt im glücklichen Jammertal der vernünftigen Kranken im Sanatorium von Davos vorzuziehen, jenem mystischen Ort zwischen der Erde und dem Olymp, so steht Ihnen diese Wahl natürlich frei. Gleichwohl können Sie meine und Ihre Geschichte natürlich auch in diesem Buch, das Sie gerade lesen und verzweifelt zu deuten versuchen, weiter verfolgen, und zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Dessen ungeachtet erhalten Sie von mir nur einmal eine Rechnung als bittere Pille für die schönen Worte, und bei Diagnose und Therapie entscheiden Sie immer mit, denn ich rede immer Klartext, selbst wenn ich nur selten verstanden werde, denn dies ist eine wahre Geschichte, mit allen Lügen, die dazugehören.
Meine Geschichte verläuft nicht geradlinig. Der Weg hat viele Abzweigungen und ist oft holprig und nierensteinig. Die Verkehrsschilder sind schmutzig, teilweise rostig und verfallen. Das Ziel ist angegeben, aber die Ferne rückt nicht näher. Nebel zieht auf. Das Herz schlägt schneller. Furcht vor der Finsternis breitet sich aus. Wartet der Tod bereits an der nächsten Kreuzung? Die Ampelanlagen sind ausgefallen. Manche wähnen sich auf einer Vorfahrtsstraße. Aber wohin? Geradeaus. Aber in welche Richtung? Es kommt zu ersten Kollisionen. Schreie. Feuer bricht aus. Ich reibe mir die Augen und navigiere auf Sicht. Bedrohliche dunkle Wolken geben ihre Wassermassen frei. Blitze stechen durch die Nacht. Donnernde Unholde toben vor Wut. Ein regelloses Durcheinander entsteht. Unordnung auf den Wegen. In den Gassen. In den Häusern erlischt das Licht. Chaos. Das Leben.
Nicht immer bestimmt das Denken mein Sein. Gefühle mischen sich überall ein: Triebe sprießen nach ehernen Gesetzen aus dem Samen hervor und geben ihre Gesetzmäßigkeit nicht zu erkennen. Wünsche erwecken unbewusst meine Sehnsüchte, auch wenn der Wächter des Schlafes mir als Zensor immer wieder die klare Sicht verstellt. Die Libido erweckt ein unstillbares Verlangen nach einem Objekt der Begierde, welches sich mir nicht zu erkennen geben will. Überall regieren unwillkürliche Reflexe mit. Es entstehen Schwingungen, Stöße, Erschütterungen – Traumata. Das Leben. Eine Geschichte. Meine Geschichte. Das Leben konstruiert immer eine Geschichte. Meine Geschichte. Ihre Geschichte.
Angefangen hat alles damit, dass ich häufiger pinkeln musste als der Durchschnitt der Männer, Biertrinker einmal ausgeschlossen, und dass mein Harndrang oft plötzlich auftrat und mir dann nicht mehr allzu viel Zeit ließ, um eine Toilette aufzusuchen.
Um das Problem sinnvoll anzugehen, überlegte ich zunächst, ob ich nicht die edlen Weinreben und den daraus gewonnenen Saft gegen ein Hopfengetränk eintauschen sollte, welches bei großzügigem Konsum einen offensichtlichen und natürlichen Erklärungsgrund für den vermehrten Harndrang geliefert hätte. Nach einer kurzen Experimentierphase wurde mir aber schnell bewusst, dass es mittelfristig kein Gewinn war, den Harndrang durch das Biertrinken zu erklären, insbesondere wenn man mit seinem Fass oder seinem Kasten Bier auf der Toilette in Isolationshaft blieb, weil der Hin- und Rückweg in die Gesellschaft der Freunde in diesem Fall zu weit war und ich nicht zu den Sprintern gehörte.
Deshalb beschloss ich den entgegengesetzten Weg zu beschreiten und weniger zu trinken, dafür aber hochprozentiger. Aber auch dieser Schuss ging im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten los, denn ein mir bis dahin nicht bekannter Nierenstein vergrößerte sich in kürzester Zeit zu einer ansehnlichen Größe und führte mich dadurch auf einen weiteren steinigen Weg.
Zwei Versuche, den Mühlenstein durch eine extrakorporale Stoßwellenlithotripsie ohne Anwendung von Dynamit zu zertrümmern, scheiterten leider kläglich. Als Mahnmal blieben einige bunte Hämatome zurück, die zwar kaum schmerzten, aber interessante Muster hinterließen, die von einer Tätowierung hätten stammen können, allerdings zu einem exorbitanten Preis.
Der Urologe, den ich aufgesucht hatte, wohlgemerkt, ohne ihn über meine Alkoholprobleme und den damit verbundenen imperativen Harndrang zu unterrichten, riet mir daraufhin abzuwarten, um einige Monate später durch eine erneute Ultraschalluntersuchung das Wachstum des Steins zu überprüfen.
Abwarten. Das war gut. Es verhinderte eine definitive Entscheidung. Mir fiel ein kardiologischer Stein vom Herzen, weil eine chirurgisch-urologische Intervention zunächst nicht ins Blickfeld rückte. Wenn diese Friedensverhandlungen auch nur von vorübergehender Dauer sein sollten, weil der Stein schließlich nicht im Herzen, sondern in der Niere angesiedelt war, so war ich die Weißkittel aus dem Krankenhaus zunächst einmal los. Sie sollten mir keine weiteren Steine in den Weg legen.
Abwarten. Das war gut. Es verhinderte eine definitive Entscheidung, und ich konnte mich weiterhin der Illusion hingeben, nicht krank zu sein. Krankheit ist die Abwesenheit von Gesundheit, und während die Gesundheit Leben bedeutet, impliziert Krankheit die Gefahr, dieses vorzeitig zu verlieren. Zunächst wird man nur schwächer, ein Kräfteverlust, den der gesunde Mensch im Allgemeinen, ausgenommen seiner Alterswehwehchen, nicht kennt.
Aber wie sollte ich, Paul Krieger, nomen est omen, aus dem Geschlecht der Titanen, Sohn der Gaia und des Uranos, den Überlebenskampf erfolgreich bewältigen, wenn mich meine Kräfte verließen? Mein Leben ist immer ein Kampf gewesen, aber ich habe nie die Absicht gehegt, das Feld ohne Widerstand kampflos zu räumen. Ich bin immer stark und gesund gewesen, wenn auch eher mental als körperlich, voller Energie und Zuversicht. Mein Wille, so glaubte ich zumindest, hatte das Kommando. Aber auf dem Schlachtfeld der Kranken kannte ich mich nicht aus. Das war nicht meine Welt. Dort standen nicht meine Truppen. Es gab nur Gegner, unzählige, eine bedrohliche Phalanx, und ich stand alleine da. Ich, Krieger, als Einzelkämpfer. Meine Gegner reihten sich in einer gepanzerten Formation aneinander, hielten lange Lanzen bereit und schritten auf mich zu.
Ich musste gesund bleiben, um wie ein Krieger erbitterten Widerstand zu leisten. Um zu leben. Nun griffen mich an meiner nierenschwachen Flanke auch noch die Weißkittel an. Es war ein Hinterhalt. Eine Verschwörung gegen die Gesundheit. Aus ihren Fratzen starrten Röntgenaugen auf meinen Körper und ätzten Löcher in mein Fleisch. Die topographische Lage war unübersichtlich. Aber mit modernster Technik setzten die Weißkittel ein starkes Magnetfeld und Radiowellen ein, um meinen Körper in gestochen scharfe Schichtaufnahmen zu zerlegen. Es tumorte auf dem Schlachtfeld, als ein spitzes Projektil mich in einen dämmernden Schlaf versetzte, während dessen ich Hypnos und Somnus begegnete, die mich bis an die Pforten des Tartaros begleiteten, wo ich Thanatos, noch halb in der Welt der Sterblichen und bereits halb in der Welt der Toten, antraf.