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Das Werk "Der Teufel von Tidal Basin" ist ein 1952 veröffentlichter Kriminalroman von Edgar Wallace. Der Originaltitel lautet "White Face". Richard Horatio Edgar Wallace (* 1. April 1875 in Greenwich, London; † 10. Februar 1932 in Hollywood, Kalifornien) war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Wallace gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.
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Seitenzahl: 223
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Zu den Bekannten des Reporters Michael Quigley gehörten Einbrecher, Diebe, Schwindler, Bankräuber, Taschendiebe und viele andere Leute, die nicht gern mit der Polizei in Berührung kamen. Auch mit fast allen Beamten von Scotland Yard stand Mike auf gutem Fuß, und mehrmals hatte er schon, das Wochenende mit dem Henker Dumont verbracht. In seinem Zimmer hingen Fotografien von früheren Königlichen Hoheiten, Schwergewichtsmeistern und berühmten Schauspielerinnen. Er wußte genau, wie sich normale und anomale Menschen in jeder Lebenslage benehmen, nur bei Janice Harman versagten seine Kenntnisse und Erfahrungen.
Er konnte allerdings verstehen, daß eine alleinstehende junge Dame, die keine Verpflichtungen hatte und ein jährliches Einkommen von dreitausend Pfund bezog, sich irgendwie nützlich machen wollte und Befriedigung darin fand, als Krankenschwester in einer Klinik im Osten Londons tätig zu sein. Andere Mädchen hatten ähnliches getan, und sie unterschied sich von der Mehrzahl nur dadurch, daß sie ihrer menschenfreundlichen Tätigkeit nicht müde wurde.
Janice war liebenswürdig und sah sehr gut aus. Michael war sich allerdings nicht klar darüber, was ihn so stark an ihr fesselte: ihre Augen, ihr Mund oder ihre gute Figur. Er hatte nur den Wunsch, sie stundenlang, ja für immer anzuschauen.
Niemals freilich konnte er die Kluft überbrücken, die sie von ihm und seinen siebenundzwanzig Jahren trennte. Sie war dreiundzwanzig und hatte ihm schon oft auseinandergesetzt, daß eine Frau in diesem Alter mindestens um zwanzig Jahre erfahrener sei als ein Mann.
Er hatte gerade sein Monatsgehalt bekommen und sie zum Abendessen in den Howdah-Klub eingeladen. Seine Stimmung war vergnügt und froh, aber plötzlich erzählte sie ihm eine Neuigkeit, die ihm sein weiteres Leben grau in grau erscheinen ließ.
Von ihrem romantischen Briefwechsel hatte er allerdings schon gewußt. Er hatte über den Mann gespottet, hatte ihr Vorwürfe gemacht und versucht, sie durch Ironie und Sarkasmus davon abzubringen. Die Sache hatte harmlos begonnen. Eines Tages fand Janice einen Brief in ihrer Wohnung vor. Ein Unbekannter bat sie darin um die Freundlichkeit, ihn mit seiner alten Krankenschwester in Verbindung zu bringen, der es sehr schlecht ging. Diesen Brief erhielt sie, nachdem sie einige Monate in der Klinik von Dr. Marford tätig war und eine Zeitung in einem Artikel ihre Tätigkeit dort gewürdigt und gerühmt hatte. Er kam aus Südafrika und enthielt eine Fünfpfundnote. Diesen Betrag sollte Janice der Krankenschwester übergeben, wenn sie aufzufinden war. Andernfalls sollte sie das Geld einem Krankenhaus überweisen.
Michael hatte sie gewarnt und ihr erzählt, daß Betrüger sich oft so an ihre Opfer heranmachen. Janice war böse geworden und hatte ihm vorgeworfen, daß er durch seinen Beruf in allen Menschen Verbrecher sehe.
Heute erst erfuhr er, daß der Fremde schon seit ein paar Tagen in London weilte. Das war die Neuigkeit, die ihn so traurig machte.
»Sie sind einer meiner ältesten Freunde, Michael«, begann Janice etwas atemlos, »und ich fühle mich verpflichtet, es Ihnen zu sagen.«
Er hörte ihr bestürzt zu.
Sie hätte auch sehen können, wie blaß er wurde, aber sie schaute ihn absichtlich nicht an. Ihre Blicke hefteten sich auf die tanzenden Paare, die sich auf dem Parkett bewegten.
»Sie müssen ihn persönlich kennenlernen -- Sie finden ihn vielleicht nicht so besonders, aber ich wußte schon immer ... ich meine aus seinen Briefen ... er hat ein fürchterliches Leben im wilden Afrika gehabt. Es tut mir natürlich sehr leid, daß ich den guten Dr. Marford im Stich lassen mußte, aber ...«
Ihre Worte waren ein wenig zusammenhanglos.
»Wir wollen doch klar sehen, Janice. Ich werde versuchen zu vergessen, daß ich Sie liebe und immer geliebt habe. Ich wartete nur auf eine Gehaltserhöhung, um Sie um Ihre Hand zu bitten.« Seine Stimme klang ruhig und fest. »Es ist ja nicht ungewöhnlich. Ich habe schon öfter von solchen Fällen gehört. Ein Mädchen beginnt einen Briefwechsel mit einem Mann, den sie noch nie gesehen hat. Die Briefe werden vertraulicher und freundschaftlicher. Sie webt einen ganzen Schleier von Romantik um den Schreiber. Sieht sie ihn dann später eines Tages in Wirklichkeit, so ist sie entweder furchtbar enttäuscht oder sie verliebt sich auf den ersten Blick in ihn. Man sagt, daß auf diese Weise schon glückliche Ehen zustande gekommen sind, aber es gibt auch Gegenbeispiele. Ich weiß tatsächlich nicht, was ich dazu sagen soll.«
Er sah zufällig auf ihre linke Hand und vermißte den wundervollen Rubinring, den sie getragen hatte, solange sie sich kannten.
Sie wußte sofort, was sein Blick zu bedeuten hatte, und legte die Hand in den Schoß, so daß er sie nicht mehr sehen konnte.
»Wo ist Ihr Ring?« fragte er trotzdem.
Sie errötete, und seine Frage beantwortete sich dadurch eigentlich von selbst.
»Ich habe ihn -- aber ich weiß gar nicht, was das mit Ihnen zu tun hat?«
Er holte tief Atem.
»Es hat nichts mit mir zu tun, ich bin nur neugierig. Ein Austausch von Liebeszeichen?«
An diesem Abend war er sehr taktlos.
»Es ist mein Ring, und ich lasse mich deswegen nicht von jemand verhören, der gar kein Recht dazu hat. Sie sind ein schrecklicher Mensch.«
»So?« Er nickte bedächtig. »Schon möglich. Und ich weiß, daß ich Ihnen gegenüber kein Recht habe, schrecklich oder sonst etwas zu sein. Ich will ja auch nicht fragen, was er Ihnen dafür gegeben hat. Vielleicht irgendeine wertlose Halskette --«
Sie zuckte zusammen.
»Woher wissen Sie das? Das heißt, sie ist sehr wertvoll.«
Er sah sie ernst an.
»Ich würde diesen Menschen doch erst einmal genau prüfen, Janice.«
Sie schaute ihm zum erstenmal wieder ins Gesicht und erschrak.
»Wie meinen Sie denn das? Ich verstehe Sie nicht.«
Er versuchte zu lächeln, um es ihr möglichst liebenswürdig zu sagen.
»Sie müssen doch erst Erkundigungen über ihn einziehen. Man prüft doch ein Pferd auch erst, bevor man es kauft.«
»Aber ich kaufe ihn doch nicht -- er ist ein reicher Mann! Er hat zwei Farmen!« sagte sie eisig. »Ihn prüfen! Erkundigungen einziehen! Sie würden natürlich sofort einen Verbrecher in ihm entdecken. Und wenn Sie nichts finden sollten, haben Sie ja genügend Phantasie, um ihm etwas anzudichten! Vielleicht ist er Ihr berühmter Held ›Weißgesicht‹! Der Mann ist doch eine Spezialität von Ihnen, nicht wahr?« Er seufzte, aber er hatte nun wenigstens die Möglichkeit, das unangenehme Thema fallenzulassen.
»Weißgesicht ist durchaus kein Phantasiegebilde. Er existiert tatsächlich. Fragen Sie nur Gasso.«
Michael winkte den schlanken Geschäftsführer des Restaurants heran.
»Ach, Sie meinen Weißgesicht? Ein gemeiner Verbrecher!« sagte der Italiener theatralisch und gestikulierte lebhaft mit den Händen. »Wo bleibt die berühmte Londoner Polizei? Mein armer Freund Bussini ist schwer geschädigt worden. Dieser entsetzliche Mensch hat das ganze Renommee seines Restaurants zerstört!«
Tatsächlich war Weißgesicht eines Abends zu später Stunde in Bussinis Restaurant aufgetaucht und hatte Miss Angelo Hillingcote, bevor die anderen Gäste etwas merkten, ihren Schmuck abgenommen, der sechstausend Pfund wert war. Die ganze Sache spielte sich in wenigen Sekunden ab. An der Ecke von Leicester Square sah ein Polizist, daß ein Mann auf einem Motorrad vorübersauste. Auch am Embankment wurde bemerkt, daß dasselbe Rad in östlicher Richtung davonfuhr. Das war der dritte und bekannteste Auftritt des Verbrechers im Westen Londons gewesen.
»Meine Kunden sind nervös geworden -- und wer sollte unter solchen Umständen auch nicht nervös werden?« sagte Gasso aufgeregt. »Glücklicherweise sind es gebildete Leute ...« Plötzlich brach er ab und starrte auf den Eingang. »Aber sie hätte wirklich nicht kommen sollen!« schrie er beinahe und eilte zur Tür, um eine Dame zu empfangen, deren Ankunft ihm anscheinend unangenehm war.
Es war die Filmschauspielerin Dolly de Val, eine blonde Schönheit. Ihre Agenten hatten sie so getauft, weil ihr eigener Name Annie Gootch nicht zugkräftig genug wirkte. Sie spielte nicht gut und war der Schrecken der Regisseure, das Publikum aber liebte sie. Im Laufe der letzten Jahre war sie sehr reich geworden und hatte einen großen Teil ihres Vermögens in Brillantschmuck angelegt. In den elegantesten Nachtklubs von London nannte man sie nur ›Diamantendolly‹.
Die Besitzer und Geschäftsführer dieser Klubs und Kabaretts wurden nach dem Überfall auf Miss Hillingcote alle nervös, und wenn die Diamantendolly einen Tisch bestellte, läutete der Inhaber des betreffenden Lokals Scotland Yard an. Chefinspektor Mason, der in diesem Fall zuständig war, schickte dann ein paar Detektive in tadellosem Gesellschaftsanzug, die sich nicht von den anderen Gästen unterschieden und an benachbarten Tischen Platz nahmen, um die Kostbarkeiten Dolly de Vals zu bewachen.
Aber nicht immer war sie so vorsorglich, ihr Erscheinen telefonisch anzumelden. Öfters kam sie in Begleitung netter junger Leute, mit Brillanten behängt, in ein Lokal, und es mußte dann irgendwo ein Tisch provisorisch für sie aufgestellt werden. Auch an diesem Abend hatte sie sich im Howdah-Klub nicht angemeldet, und Gasso war außer sich vor Verzweiflung. Er gestikulierte wild mit den Armen und sprach italienisch, was den Gästen sehr romantisch erschien, da sie nur Englisch verstanden.
»Was, kein Platz? Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Gasso. Natürlich ist Platz da! Es ist ganz gleich, wo für uns gedeckt wird.«
Es wurde in der Nähe des Eingangs ein Tisch aufgestellt, und die kleine Gesellschaft ließ sich dort nieder. Dolly stellte das Menü zusammen.
»Es ist mir aber sehr unangenehm, daß Sie hier sitzen müssen«, sagte Gasso ängstlich. »Der prachtvolle Schmuck ... denken Sie doch an Miss Hillingcote ... ach, es ist entsetzlich! Wenn Weißgesicht ...«
»Aber wie können Sie so unken, Gasso! Halten Sie doch den Mund!« erwiderte Dolly ärgerlich. Dann wandte sie sich dem Oberkellner zu.
Ein russisches Tanzpaar trat auf, und die Gäste folgten fasziniert den wunderbaren Darbietungen. Schließlich verließen die beiden das Parkett wieder, nachdem sie noch drei Zugaben absolviert hatten. Im gleichen Augenblick hörte Dolly jemand hinter sich sprechen.
»Verhalten Sie sich ruhig!«
Sie sah, daß die Gesichter ihrer Begleiter bleich wurden, und sie wandte sich halb in ihrem Stuhl um.
Der Mann, der hinter ihr stand, trug einen langen, schwarzen Umhang, der fast bis auf die Erde reichte. Eine weiße Stoffmaske verdeckte sein Gesicht.
In der einen behandschuhten Hand hielt er eine Pistole, die andere streckte er nach ihrem Hals aus. Ein kurzes Knacken, und die Diamantenkette verschwand in seiner Tasche. Dolly war starr vor Furcht.
Inzwischen wurden die anderen Gäste aufmerksam. Herren sprangen auf, Damen schrien, die Kapelle hörte auf zu spielen.
»Fangt den Dieb!« schrie jemand.
Aber Weißgesicht war fort, und die beiden Portiers kamen langsam aus ihren Verstecken hervor.
»Beunruhigen Sie sich nicht, Janice«, sagte Mike leise, aber eindringlich. »Ich bringe Sie nach Hause, und dann muß ich sofort zu meiner Zeitung. Werden Sie mir bloß nicht ohnmächtig!«
»Ich denke gar nicht daran, ohnmächtig zu werden«, entgegnete sie trotzig, aber sie war doch sehr verstört.
Er hatte sie auf die Straße gebracht, bevor die Polizei kam, und hielt ein Taxi für sie an.
»Es war entsetzlich -- wer war das nur?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er kurz. »Wie heißt eigentlich Ihr romantischer Liebhaber?« fragte er dann. »Das haben Sie mir noch gar nicht gesagt.«
Sie war so nervös, daß sie die Fassung verlor.
Mike Quigley hörte sich ihren Zornesausbruch ruhig an.
»Ich wette, daß er sehr gut aussieht, wahrscheinlich besser als ich«, meinte er dann gelassen. »Sie sind wirklich töricht, Janice. Aber ich werde ihn schon treffen. Wo wohnt er denn?«
»Sie werden ihn nicht treffen!« Sie hätte am liebsten geweint. »Ich sage Ihnen nicht, wo er wohnt, und ich hoffe, daß ich Sie niemals wiedersehe!«
Sie übersah seine Hand und schwieg, als er ihr Gute Nacht wünschte.
Wütend eilte Mr. Quigley zur Fleet Street und schrieb einen heftigen Artikel über Weißgesicht. Aber all die Angriffe, die darin standen, galten eigentlich dem romantischen Fremden aus Südafrika.
Janice Harman war eine moderne junge Dame, die die Hemmungen früherer Generationen nicht kannte. Gleich bei der ersten Zusammenkunft hatte sie sich in Donald Bateman verliebt. Seine männliche Erscheinung und sein gutes Aussehen hatten es ihr angetan. Es war ein romantisches Abenteuer für sie, und ihre Phantasie begabte den Geliebten mit allen Tugenden und Vorzügen, die ein Mann nur haben konnte. Seine Bescheidenheit, seine Kraft, sein feiner Humor, seine kindlichen Ansichten über Geld und Finanzen und seine Naivität imponierten ihr. Er ordnete sich ihr in gewisser Weise unter und nahm ihr Urteil über Verhältnisse, Ereignisse und Menschen an, ohne etwas dagegen zu sagen, so daß sie sich geschmeichelt fühlte.
Vor allem fand sie seine Zurückhaltung außerordentlich taktvoll. Er hatte sie nur einmal umarmt, und er vergaß nie, daß ihre Bekanntschaft erst kurze Zeit dauerte. Das Wort ›Liebe‹ war noch nicht zwischen ihnen gefallen. Als sie sich das zweitemal trafen, küßte er sie, und das berührte sie unangenehm. Er mußte es gemerkt haben, denn er versuchte es nicht wieder. Aber sie sprachen trotzdem davon, zu heiraten und ein gemeinsames Heim in Südafrika einzurichten. Er erzählte ihr von den Wundern des Schwarzen Erdteils, und sie unterhielten sich sogar über Kindererziehung.
Einen Tag nach ihrem Erlebnis im Howdah-Klub hatte sie sich zum Mittagessen bei Bussini mit ihm verabredet.
»Ist dein Geld gekommen?« fragte sie ihn lächelnd.
Er nahm seine Brieftasche heraus und zeigte ihr zwei Banknoten zu je hundert Pfund.
»Ja, heute morgen. Ich habe die beiden Scheine für meine kleinen Ausgaben eingesteckt -- ich hasse es, in London ohne Geld zu sein. Aber wenn es heute morgen nicht gekommen wäre, hätte ich dich anpumpen müssen, Liebling. Was hättest du dann wohl von mir gedacht?«
Sie lächelte wieder. Männer benahmen sich in Geldsachen wirklich komisch. Zum Beispiel Michael. Sie hatte ihm gesagt, daß er einen kleinen Wagen haben müßte, aber er war direkt beleidigend geworden, als sie ihm Geld dafür leihen wollte.
»Hast du dich gestern abend gut unterhalten?«
Sie verzog das Gesicht.
»Das könnte ich nicht gerade behaupten.«
»Dein Bekannter ist Zeitungsmann? Ich kenne einen Reporter von der ›Cape Times‹ -- famoser Mensch ...«
»Michael war nicht schuld daran, daß der Abend so unglücklich verlief. Es war ein Mann, der eine weiße Maske trug ...«
»Ach so!« Er zog die Augenbrauen hoch. »Du warst ja im Howdah-Klub. Und Weißgesicht war auch dort, ich habe es heute morgen in der Zeitung gelesen. Ich wünschte nur, daß ich dabei gewesen wäre. Es ist mir rätselhaft, daß die Männer in diesem Land so fischblütig sind. Lassen einen frechen Räuber ohne weiteres entwischen! Einer von uns beiden wäre auf dem Platze geblieben, wenn ich in seiner Nähe gewesen wäre. Ihr Engländer habt zuviel Angst vor Feuerwaffen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung ...«
Er erzählte ihr eine Geschichte von einem Goldsucherlager in Rhodesien, die ihn selbst in sehr günstigem Licht zeigte.
Während er sprach, kehrte er das Gesicht dem Fenster zu, und sie hatte Zeit, ihn zu beobachten. Sie betrachtete ihn jedoch nicht kritisch, sondern mit den Augen eines romantischen jungen Mädchens. Er war älter, als sie gedacht hatte. Vielleicht vierzig. Die kleinen Falten in den Augenwinkeln und ein härter Zug um den Mund deuteten es an. Sie wußte, daß er ein gefahrvolles Leben hinter sich hatte, und man konnte der Welt kein glattes, jugendliches Gesicht mehr zeigen, wenn man solche Strapazen durchgemacht hatte wie er. In der Wüste Kalahari hatte er Hunger und Durst gelitten, am Ufer des Tuliflusses hatte ihn ein schweres Fieber gepackt, und westlich von Massikassi ließen ihn seine Träger und Diener im Stich, so daß er allein und ohne Feuerwaffen von Löwen angegriffen werden konnte. Unter dem Kinn hatte er eine lange Narbe von der Pranke eines Leoparden.
»Heutzutage ist das Leben in Afrika nicht anders als hier in der Bond Street«, sagte er. »Es ist nichts Geheimnisvolles mehr daran. Ich glaube kaum, daß es noch einen einzigen Löwen zwischen Salisbury und Bulawayo gibt. Aber in den alten Zeiten passierte es, daß sie mitten auf der Chaussee lagen ...«
Sie hätte ihm stundenlang zuhören können, aber sie erklärte ihm, daß sie noch Pflichten in der Klinik habe.
»Ich werde hinkommen und dich nach Hause bringen -- wo liegt die Klinik eigentlich?«
Sie beschrieb ihm die genaue Lage von Tidal Basin.
»Was ist eigentlich Dr. Marford für ein Mann?«
»Oh, er ist rührend gut«, erwiderte Janice begeistert.
»Dann wollen wir ihn nach Südafrika holen. Es gibt dort viel Arbeit für ihn, besonders bei den Negerkindern. Wenn ich die Farm kaufen könnte, die an die meine stößt, ließe sich das Haus dort leicht in ein Erholungsheim umbauen. Es ist eins der großen holländischen Farmhäuser, und ich selbst besitze eine schöne Wohnung, so daß wir die andere nicht brauchen.«
Sie lachte.
»Du scheinst immer mehr Land haben zu wollen, Donald. Ich werde noch an einen Agenten schreiben müssen, um nähere Einzelheiten über dieses begehrenswerte Grundstück zu erfahren!«
Er runzelte die Stirn.
»Hast du Freunde in Kapstadt?«
»Ich kenne einen jungen Mann dort, aber ich habe ihm nicht mehr geschrieben, seitdem er England verließ.«
»Hm!« Donald wurde ernst. »Wenn Fremde drüben Land kaufen wollen, werden sie meistens hereingelegt. Ich möchte dir einen Rat geben. Versuche niemals, in Südafrika Land durch einen Agenten zu kaufen, denn diese Menschen sind meistens Räuber. Eins ist aber sicher: Der Landbesitz in der Gegend von Paarl -- dort liegt auch meine Farm -- wird in ein paar Jahren das Doppelte wert sein. Die Regierung baut eine neue Eisenbahn, die gerade an der Grenze meines Landes vorbeikommt. Wenn ich ein Vermögen hätte, würde ich es bis auf den letzten Cent dort in Grundbesitz anlegen.«
Er nahm wieder die beiden Hundertpfundnoten aus der Tasche und betrachtete sie. Sie raschelten zwischen seinen Fingern.
»Warum bringst du das Geld nicht auf die Bank?«
»Weil ich es bei mir haben möchte. Außerdem fasse ich englische Banknoten gern an. Sie sehen so sauber aus.«
Er steckte die Brieftasche wieder ein und faßte Janice dann plötzlich an den Schultern. In seinen Augen glühte ein Feuer, wie sie es noch nie vorher gesehen hatte, und sie erschrak ein wenig.
»Wie lange sollen wir eigentlich noch warten?« fragte er leise. »Ich kann doch leicht das Aufgebot bestellen, dann heiraten wir sofort und sind in zwei Tagen auf dem Festland.«
Sie machte sich von ihm frei und bemerkte erstaunt, daß sie zitterte.
»Das ist unmöglich«, erwiderte sie atemlos. »Ich habe noch so viel zu tun, und ich muß doch zunächst noch in der Klinik bleiben, bis ich eine verläßliche Nachfolgerin habe. Es geht nicht, daß ich Dr. Marford einfach sitzenlasse! Und du hast auch einmal gesagt, daß du erst in einigen Monaten heiraten wolltest.«
Er schaute sie lächelnd an.
»Ich kann Monate, auch Jahre warten«, erwiderte er.
Sie hatte abends nur eine halbe Stunde für ihn Zeit, aber er wollte trotzdem mit ihr essen gehen. Der Gedanke daran machte ihr keine besondere Freude. Sie sagte sich selbst, daß sie ihn liebe. Er war genauso, wie sie ihn sich wünschte. Aber Heirat -- sofortige Heirat? Sie schüttelte den Kopf.
»Mit welcher Bank arbeitest du eigentlich?« fragte sie plötzlich.
Diese Frage überraschte ihn sehr.
»Bank? Ach so, die Standard Bank -- das heißt nicht eigentlich die Standard Bank, sondern eine Firma, die mit ihr in Verbindung steht. Aber warum interessiert dich das?«
Sie wollte es erfahren, um ihm eine Freude machen zu können, aber davon sollte er noch nichts wissen.
»Ich erzähle es dir später.«
Er begleitete sie nach Tidal Basin und verbrachte den Nachmittag in verschiedenen Reiseagenturen, um Pläne und Prospekte durchzusehen. Er wäre gern in London geblieben, ebenso wie in vielen anderen Orten, die er hatte verlassen müssen. Inez lebte hier. Sie war eine Schönheit geworden. Er hatte sie wiedergesehen, obwohl sie nichts davon wußte. Sonderbar, wie sich Frauen entwickeln konnten. Früher war sie ein ungelenkes Mädchen gewesen, das ihm gar nicht gefallen hatte. Wie würde wohl Janice in ein paar Jahren aussehen? Im Augenblick war sie ja sehr schön. Aber sie besaß Eigenschaften, die ihm wenig gefielen. Freilich, eine vollkommene Frau gab es wohl überhaupt nicht!
Als er sie heute an den Schultern faßte und ihr in die Augen sah, hatte er etwas anderes erwartet, als daß sie sich so erschrocken von ihm abwandte. Sie hatte ihre Scheu so offen gezeigt, daß er klugerweise im Augenblick nicht weiter in sie dringen wollte. Natürlich mußte er sie heiraten, aber eine Heirat in diesem Land war sehr gefährlich. Ein Zeitungsreporter war ihr Freund? Diese Leute haßte er ganz besonders, denn sie steckten ihre Nase in alle möglichen Dinge, die sie nichts angingen, und waren skrupellose Menschen. Und Reporter, die über Kriminalfälle berichteten, waren die allerschlimmsten.
Er fühlte sich unbehaglich und beschäftigte sich wieder mit Inez. Von ihr wanderten seine Gedanken zu anderen Frauen. Was mochte wohl aus Lorna geworden sein? Tommy hatte sie wahrscheinlich wiedergefunden und ihr alles verziehen. Tommy war immer ein willensschwacher Mensch gewesen. Aber Inez ...!
Am Abend speiste er mit Janice im Howdah-Klub. Der Überfall in diesem Lokal hatte bereits seine Folgen gehabt. Der Speisesaal war halb leer, und Gasso ging mit düsterer Miene auf und ab.
»Die Sache hat mich ruiniert, Miss Harman«, sagte er ganz gebrochen. »Die Leute kommen überhaupt nicht oder ohne Schmuck, und ich liebe doch vornehmes Publikum, das auch den nötigen Schmuck trägt -- allerdings nicht wie Miss Dolly!«
»Ich hoffe, Weißgesicht kommt heute abend wieder«, erklärte Donald mit einem ruhigen Lächeln.
»So, das hoffen Sie auch noch?« fragte Gasso aufgeregt. »Das wäre mein vollkommener Ruin, dann könnte ich auf der Straße betteln gehen. Nein, so dürfen Sie wirklich nicht sprechen!«
Janice lachte, und es gelang ihr, den nervösen Geschäftsführer wieder zu beruhigen.
»Es ist allerdings heute abend leer hier«, meinte Donald. »Aber ich glaube nicht, daß wir Weißgesicht sehen werden. Ich muß an die alten Zeiten in Australien denken. Dort hatten es sich mehrere Leute zur Spezialität gemacht, Banken zu plündern, und sie trugen auch weiße Masken. Sie haben sogar verhältnismäßig viel Geld erbeutet. Hast du einmal von den Furses gehört? Es waren Brüder -- die gerissensten Spezialisten in ihrem Fach.«
»Vielleicht ist er einer von ihnen«, sagte sie, ohne sich etwas dabei zu denken.
»Wie meinst du?«
Sie sah ganz deutlich, daß er erschrak. Das war eigentümlich, denn Donald Bateman fürchtete sich doch sonst vor nichts.
»Das glaube ich nicht«, meinte er nach einer Pause.
Als sie sich während des Essens gegenseitig neckten und harmlose Dinge erzählten, legte er plötzlich Gabel und Messer hin, und sie entdeckte wieder den furchtsamen Ausdruck in seinem Gesicht. Er schaute starr zu einem Herrn hinüber, und sie folgte der Richtung seines Blicks.
Der schlanke, elegant gekleidete Mann, der mit einer kleinen Gesellschaft hereingekommen war, mochte etwa sechzig Jahre alt sein. Die Kellner eilten sofort auf ihn zu.
»Wer -- wer ist das?« fragte er und bemühte sich, gleichgültig zu sprechen. »Ich meine den Herrn dort mit den jungen Damen. Kennst du ihn zufällig?«
»Ja -- das ist Dr. Rudd.«
»Rudd!«
»Er ist der Polizeiarzt unseres Bezirks. Ich habe ihn schon oft gesehen. Er war auch schon in unserer Klinik. Ein unsympathischer Mensch. Er hatte nur abfällige Bemerkungen für unsere Arbeit übrig.«
Sie wunderte sich, daß Donald so bleich geworden war. Nur allmählich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück.
»Kennst du ihn denn?« fragte sie erstaunt.
Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Nein, aber er erinnerte mich an jemand -- an einen alten Freund -- in Rhodesien.«
Als sie beim Herausgehen am Tisch von Dr. Rudd vorbeikamen, verdeckte Donald den unteren Teil seines Gesichts mit seinem Taschentuch, als ob er Schmerzen hätte.
»Hast du dich verletzt?« fragte Janice.
»Nein, es ist nur ein wenig Neuralgie«, scherzte er. »Das kommt davon, wenn man Nacht für Nacht unter freiem Himmel im Regen liegt.«
Er erzählte ihr dann eine Geschichte von einem Tropenregen in Nordrhodesien, der vier Wochen ohne Unterbrechung gedauert hatte.
Sie trennte sich von ihm an der Tür ihrer Wohnung in Bury Street. Er war offensichtlich enttäuscht, denn er hatte erwartet, daß sie ihn einladen würde mitzukommen. Aber schön auf dem Rückweg zum Hotel tröstete er sieh. Er hatte ja für den nächsten Morgen ein Rendezvous verabredet -- allerdings nicht mit Janice.
In seiner karg bemessenen Freizeit stand Dr. Marford gewöhnlich in seinem Sprechzimmer hinter den roten Kalikovorhängen, die den unteren Teil der kahlen Fenster bedeckten. Er konnte gerade darüber hinwegschauen, und er liebte es, philosophische Betrachtungen über Tidal Basin, seine Bewohner und ihre Schicksale anzustellen.
Dr. Marford hatte seine Klinik in einem ziemlich verwahrlosten Häuserblock entrichten müssen, als er seine bescheidene Praxis eröffnete. Alle Leute in Tidal Basin wußten, daß der Doktor arm war und kein Geld hatte, denn er hatte die Fußböden und die Wände selbst gestrichen. Wahrscheinlich hatte er auch die Vorhänge genäht. Die Einrichtung stammte vom Caledonian Market, wo man alte Möbel zu billigen Preisen erstehen konnte.
In Tidal Basin hieß er der »arme Doktor«, später der »Baby-Doktor«, denn nach einem Jahr fing er an, Kinder kostenlos mit Höhensonne zu bestrahlen. Unbedingt mußte er reiche Gönner haben, denn nach einiger Zeit folgte die Eröffnung eines Erholungsheims an der See.
Sein Beruf füllte ihn vollkommen aus, und keinen Schilling des Geldes, das man ihm stiftete, verbrauchte er für sich persönlich. Sein Arbeitszimmer blieb so einfach und ärmlich wie früher, im Gegensatz zu all den Krankenzimmern, die mit den modernsten Einrichtungen versehen waren.
Er stand am Fenster, als Janice Harman vorüberkam, und ging hinaus, um ihr die Tür zu öffnen. Trotz seiner Liebe zur Wissenschaft und zu den Armen war er Mensch genug, seine schöne Krankenschwester zu bewundern. Manchmal saß er in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch und dachte stundenlang nur an sie. Aber er zeigte nicht, was in seinem Inneren vorging, als sie ihm schüchtern und zusammenhanglos von ihren Heiratsplänen erzählte.
»Oh«, sagte er nur nachdenklich, »das ist ja sehr schade ich meine für die Klinik. Was sagt denn aber Mr. Quigley dazu?«
Bisher hatte er eine merkwürdige Abneigung gegen den jungen Berichterstatter gehabt. Viel zu oft hatte Mike Janice in der Klinik besucht und abends abgeholt. Dr. Marford. war es auch nicht recht gewesen, daß Quigley so begeisterte und lobende Artikel über ihn und die Klinik verfaßt hatte, denn er liebte es nicht, in der Öffentlichkeit genannt zu werden.
»Mr. Quigley hat nicht das geringste Recht, etwas dagegen zu sagen«, erklärte sie trotzig. »Er ist ein sehr guter Freund oder vielmehr er war es.«
Es folgte eine peinliche Pause.
»Sie sind nicht mehr miteinander befreundet?« fragte Dr. Marford freundlich, der sich im Augenblick eigentümlich zu dem jungen Mann hingezogen fühlte.
»Das kann man eigentlich nicht sagen. Ich mag ihn gern er ist sehr nett, aber manchmal etwas herrisch und anmaßend. Neulich sorgte er wirklich sehr gut für mich, und ich habe ihm nicht einmal dafür gedankt. Es war an dem Abend im Howdah-Klub, als der schreckliche Mensch kam.«
Er sah sie fragend an.
»Welcher schreckliche Mensch?«
»Weißgesicht!«
»Ach ja, ich habe davon gelesen. Sergeant Elk hat es auch erwähnt. Man nimmt an, daß der Mann hier in der Gegend wohnt. Ich glaube, für diese Theorie ist Ihr Freund Mike verantwortlich. Handeln Sie auch wirklich klug?«
Die Frage kam überraschend.
»Meinen Sie meinten Entschluß, zu heiraten? Handelt ein junges Mädchen in dieser Beziehung überhaupt klug, Dr. Marford? Selbst wenn ich diesen Mahn seit Jahren jeden Tag gesehen hätte, würde ich ihn dann kennen? Die Männer zeigen sich den Frauen gegenüber nur von der besten Seite, solange sie nicht verheiratet sind. Solange man nicht mit ihnen zusammenwohnt, ist es unmöglich, sie wirklich kennenzulernen.«
Marford nickte, dann schwiegen sie beide eine Weile.
»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie verliere«, sagte er schließlich. »Sie waren eine sehr tüchtige Helferin.«
Sie kam nun zu einem schwierigen Punkt, denn sie wußte, wie empfindlich er in dieser Beziehung war.
»Ich möchte der Klinik eine kleine Stiftung machen. Etwa tausend Pfund ...«
Er hob die Hand, und sein Gesichtsausdruck zeigte, wie peinlich es ihm war, über solche Dinge zu sprechen.
»Nein, nein, davon will ich nichts hören. Sie haben mir früher schon einmal den Vorschlag gemacht. Aber es ist wirklich genug, daß Sie die lange Zeit hier umsonst gearbeitet haben. Das war ein gutes Werk und mehr wert als alles Geld.«
Sie wußte, daß er seine Meinung nie ändern würde. Aber wenn er ihre Stiftung zurückgehen ließ, wollte sie ihm am Tage ihrer Hochzeit das Geld anonym zukommen lassen.
Unerwartet streckte er seine schmale Hand aus:
»Ich hoffe, daß Sie glücklich werden«, sagte er.
Diese Worte waren zu gleicher Zeit Glückwunsch und Entlassung.
Sie überquerte die Straße bei der Endley Street. An der Ecke stand ein großer, hübscher Mann, dessen Haare an den Schläfen grau wurden. Janice erkannte Donald und war erstaunt, daß er sich ziemlich vertraut mit einer Dame unterhielt. Die Frau ging gleich darauf fort, und er kam lächelnd auf Janice zu.
»Eine entsetzliche Gegend, mein Liebling. Ich freue mich, daß du bald von hier fortkommst.«
»Mit wem hast du denn eben gesprochen?« fragte sie.
Er lachte und sah der schlanken Gestalt nach.
»Ach, meinst du die Dame? Es ist merkwürdig -- sie hielt mich für ihren Bruder. Als sie ihren Irrtum bemerkte, kam sie in große Verlegenheit. Hast du gesehen, wie hübsch sie war?«
Janices Wagen war in einer nahen Garage untergebracht. Früher hatte sie ihn vor der Tür stehen lassen, aber Dr. Marford hatte ihr davon abgeraten. Und er hatte auch recht behalten, denn in einer Woche hatten die Eltern der Kinder, die sie im Krankenhaus pflegte, aus dem Auto gestohlen, was sie nur nehmen konnten.