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Thron der Magier: Das große Epos von Frankreichs Nummer 1 Fantasy-Autorin Jupiter Phaeton. Der König der Magier ist tot. Jetzt wollen die fünf mächtigsten Magierfamilien in England seine Nachfolge antreten. Mit Intrigen, Machtspielen und natürlich Magie versuchen sie alle sich den Thron zu sichern. Unterdessen will Katleen die 20-jährige Tochter des toten Königs nichts von alldem wissen. Katleen hat sich geschworen, nie wieder einen Fuß in die Welt der Magier zu setzen, und erst als sie vom Tod ihres Vaters erfährt, beschließt sie, sich den Geistern ihrer Vergangenheit zu stellen. Allerdings ahnt sie nicht, dass diese Entscheidung ihr Leben und das Schicksal der Welt verändern wird.
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Von Jupiter Phaeton
Kapitel 1 - Katleen
Kapitel 2 - Katleen
Kapitel 3 - Katleen
Kapitel 4 - Katleen
Kapitel 5 - Azir
Kapitel 6 - Kio
Kapitel 7 - Katleen
Kapitel 8 - Katleen
Kapitel 9 - Azir
Kapitel 10 - Katleen
Kapitel 11 - Sett
Kapitel 12 - Azir
Kapitel 13 - Katleen
Kapitel 14 - Konrad
Kapitel 15 - Ariana
Kapitel 16 - Azir
Kapitel 17 - Katleen
Kapitel 18 - Katleen
Kapitel 19 - Kio
Kapitel 20 - Katleen
Kapitel 21 - Azir
Kapitel 22 - Katleen
Kapitel 23 - Katleen
Kapitel 24 - Katleen
Kapitel 25 - Katleen
Kapitel 26 - Katleen
Kapitel 27 - Katleen
Kapitel 28 - Ariana
Kapitel 29 - Sett
Kapitel 30 - Konrad
Kapitel 31 - Sett
Kapitel 32 - Azir
Kapitel 33 - Ariana
Kapitel 34 - Sett
Kapitel 35 - Katleen
Kapitel 36 - Kio
Kapitel 37 - Katleen
Kapitel 38 - Katleen
Kapitel 39 - Sett
Kapitel 40 - Katleen
Kapitel 41 - Sett
Kapitel 42 - Ariana
Kapitel 43 - Katleen
Kapitel 44 - Katleen
Kapitel 45 - Azir
Kapitel 46 - Katleen
Kapitel 47 - Azir
Kapitel 48 - Katleen
Kapitel 49 - Katleen
Kapitel 50 - Katleen
Kapitel 51 - Katleen
Nachwort des Verlags
Kapitel 1 - Katleen
»Du bist einfach nur ein Idiot.«
Vor drei Jahren die letzten Worte von Katleen an ihren Bruder Konrad.
»Und dann, bumm, ich lasse sie übers Wasser laufen, mache ein paar Bilder und zehn Minuten später liegt sie in meinem Bett.« Nathans Gesicht strahlte. Er sah aus, als hätte er soeben die Zauberformel entdeckt, um mit jeder Frau auf der Welt flirten zu können.
»Okay, aber wie lässt du sie übers Wasser laufen?«, wollte Edward wissen.
»Glaubst du wirklich, ich würde dir mein Geheimnis verraten? Mit dem Wissen könntest du gar nichts anfangen.«
»Ich werde schon nicht mit meiner Kamera rausgehen und jedem Mädchen auf der Straße sagen, dass ich sie übers Wasser laufen lassen kann«, sagte Edward und rollte mit den Augen. »Das ist lächerlich.«
»Das ist romantisch«, korrigierte Nathan ihn.
»Kate, ist das romantisch oder lächerlich?«
Die junge Frau grinste und zuckte mit den Schultern. Sie weigerte sich, sich in die Hahnenkämpfe von Edward und Nathan einzumischen, zu denen es jedes Mal kam, wenn sie zusammen ins Café gingen. Sie drehte ihren Kopf nach rechts zu Anna und warf ihr einen flehenden Blick zu, sie aus dieser Situation zu befreien.
»Also, wie lässt du sie übers Wasser laufen?«, beharrte die hübsche Blondine.
»Ist das alles, was euch interessiert?«, fragte Nathan. »Ihr wollt nicht wissen, ob sie heiß war? Ihr wollt nicht mal ein Foto sehen?«
»Hast du denn ein Foto?«, hakte Anna nach.
Er nahm sein Smartphone heraus, um ihnen das Bild zu zeigen. Es erweckte tatsächlich den Eindruck, als würde die Frau über das Wasser laufen. Wie war das möglich? Ein Vibrieren ließ Kate zusammenzucken. Es kam von ihrem eigenen Handy. Sie zog es aus ihrer Tasche und schaute mit gerunzelter Stirn auf die Nummer auf dem Display.
»Kate?«, fragte Anna, als sie ihre aufgewühlte Miene sah. »Was ist los?«
Die junge Frau antwortete nicht. Edward nahm Nathan dessen Telefon aus der Hand und betrachtete es begeistert.
»Aber wie hast du das gemacht?«, murrte er. Er kratzte sich an seinem kahlen Kopf. Seine Haare wuchsen langsam nach und mussten jucken.
»Kate?«, wiederholte Anna. »Wer ist das? Gibt es ein Problem?«
Katleen erhob sich von dem grünen Ledersessel, auf dem sie es sich bequem gemacht hatte. Nachdem sie in einer hastigen Geste auf ihr Handy gezeigt hatte, um ihren Freunden den Grund für ihren überstürzten Aufbruch zu erklären, ging sie durch die Tür des Cafés nach draußen und nahm den Anruf entgegen.
»Hallo?«
»Er ist tot.«
Kate verstand nicht sofort, was das bedeutete. Die kühle Luft schlug gegen ihre Wangen. In der Eile hatte sie ihren Mantel nicht angezogen und fröstelte.
»Kate, du musst herkommen.«
Kios flehender Tonfall berührte sie.
»Jetzt?«, fragte sie.
Die nächsten Worte kamen ihm hörbar schwer über die Lippen.
»Konrad braucht dich.«
»Konrad hat noch nie jemanden gebraucht«, erwiderte sie trocken.
»Die Nachfolge wird nicht leicht werden.«
»Spricht er schon davon, die Krone zu übernehmen? Wie viel Zeit ist vergangen? Papas Leiche ist noch nicht mal ganz kalt, und schon …«
»Du weißt, dass er diese Verantwortung übernehmen muss.«
»Warum hast du mich angerufen? Um mir zu sagen, dass ich nach Hause rennen und meinen großen Bruder bei seiner Machtübernahme unterstützen muss? Hat er dabei geholfen, Papa ins Grab zu bringen, um schneller den Thron besteigen zu können?«
»Kate!«
Die junge Frau nahm sich Zeit, um ihre Gefühle zu ordnen. War sie mit ihrer Anschuldigung zu weit gegangen? Bestimmt. Doch sie wurde von Gewissensbissen geplagt, als sie daran dachte, wie schwer dieser Anruf für Kio sein musste. Ihr Bruder hatte es nicht verdient, von ihr zerrissen zu werden. Sie war nicht auf ihn wütend, sondern auf Konrad.
Sie klemmte ihr Handy zwischen Ohr und Schulter und fuhr sich durch die langen weißen Haare, um sie zu einem Zopf zurückzubinden. Wenn jemand ihr zum ersten Mal begegnete, wurde sie oft gefragt, mit welcher Wunderblondierung man diese Farbe erzielen konnte. Doch es waren keine Chemikalien, die dafür verantwortlich waren, sondern ein genetisches Merkmal, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Alle Ashs hatten weiße Haare. Sie band sie mit dem Zopfband an ihrem Handgelenk zusammen und nahm das Telefon wieder in die Hand.
»Er würde es begrüßen, wenn du umgehend in die Residenz zurückkehrst«, fuhr Kio fort.
Es war unwahrscheinlich, dass Konrad etwas »begrüßte«, und wahrscheinlicher, dass er es »forderte«, aber vermutlich wollte Kio die Kanten abrunden.
»Hat er dir gesagt, dass du mich anrufen sollst?«
»Nein. Er weiß nicht, dass wir gerade miteinander sprechen.«
Die eisige Kälte ließ ihren Körper zittern. Sie spitzte die Lippen und träumte von ihrer Tasse, die noch immer in dem warmen Café auf sie wartete. Heiße Schokolade besaß immer die seltsame Fähigkeit, all ihre Ängste zu lindern, und mit Kio zu telefonieren, war für sie eindeutig eine Quelle der Angst.
»Wenn du es nicht für ihn tust, dann tust du es vielleicht für mich?«, bemühte sich ihr Bruder.
Sie atmete tief durch die Nase ein. Ihr Brustkorb schwoll an, ihre Schultern hoben sich, und dann atmete sie langsam wieder aus. Ihr entglitt ein gereiztes Seufzen. Was erhoffte sich Kio von diesem Anruf? Dass sie sich schuldig fühlen würde, weil sie nicht da gewesen war, um sich von ihrem Vater zu verabschieden? Keiner von ihnen war sich bewusst, dass jeder Einzelne von ihnen sie auf ihre eigene Art und Weise von sich gedrängt hatte. Trotzdem empfand sie Mitgefühl und einen Stich im Herzen. Von allen Familienmitgliedern hatte sie Kio und ihrem Vater immer am nächsten gestanden.
»Wie ist er ge… von uns gegangen?«, fragte sie in einem weicheren Tonfall.
Es fiel ihr schwer, diese Worte über ihre Lippen zu bringen. Der Kloß in ihrem Hals weigerte sich, das Wort »gestorben« auszusprechen, als wäre es ein Tabu. Am anderen Ende der Leitung räusperte Kio sich. Er schien sich genauso unwohl zu fühlen wie sie.
»Er ist friedlich eingeschlafen, er musste nicht mehr leiden wie …«
Er beendete seinen Satz nicht. Die ersten Wochen der Schmerzen hatte Kate miterlebt. Sie war fast froh, dass sie gegangen war und nicht hatte mitansehen müssen, wie es weitergegangen war, auch wenn das Gefühl blieb, ihren Vater verraten zu haben. Ihn zu Beginn seiner Krankheit im Stich zu lassen, war grausam gewesen.
»Und Mutter?«
»Mama?«, wiederholte Kio. »Sie ist so wie immer.«
»Dekoriert sie schon den Saal für die Beerdigung?«
»Ich glaube, jetzt gerade sucht sie ihr Kleid aus. Sie hat schon allen Mitarbeitern ihre Aufgaben zugewiesen, die Todesanzeigen sind rausgegangen und in fünf Minuten wird sie sich wahrscheinlich mit dem Caterer streiten, den sie für die Veranstaltung ausgewählt hat.«
Trotz des ernsten Themas musste Kate lächeln. Wenigstens blieben manche Dinge unverändert.
»Ja, das klingt nach ihr.«
»Wirst du herkommen?«
»Um zu sehen, wie Konrad Papas Platz auf dem Thron einnimmt? Nein danke.«
»Um ein letztes Mal Abschied von unserem Vater zu nehmen«, entgegnete Kio.
Kate grübelte über die Situation nach. Sie hatte gewusst, dass dieser Anruf eines Tages kommen würde. Sie hatte sich darauf vorbereitet, war die Unterhaltung hunderte Male im Kopf durchgegangen und hatte sogar die Möglichkeit erwogen, dass Konrad sie persönlich anrufen würde, was einfacher gewesen wäre. Nein zu Konrad zu sagen, war eine einfache und automatische Handlung, die keine Schuldgefühle erzeugte, da sie ihren Bruder für eine abscheuliche Person hielt. Kio etwas zu verweigern, ging ihr nicht so leicht von der Hand.
»Nein, ich werde nicht dabei sein.«
Das würde sie nicht verkraften. Sie alle wiedersehen? Und dann auch noch unter diesen Umständen? Nein, in eine solche Situation wollte sie sich nicht begeben. Dabei würde nichts Gutes herauskommen.
»Du bist eine Ash, Katleen. Dein Platz ist an unserer Seite.«
»Ihr habt mir sehr deutlich gemacht, dass ich nicht zu dieser Familie gehöre. Ich sehe nicht, warum sich daran etwas ändern sollte, nur weil Papa tot ist.«
Diese Worte auszusprechen war schwer gewesen, aber sie hatte es getan. Er war tot, das war’s, sie hatte es gesagt. Auch wenn sie ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte, fühlte sie sich trotzdem schlecht. Zum Glück stand sie Kio nicht persönlich gegenüber, sondern telefonierte nur mit ihm, denn sonst hätte er sofort gemerkt, dass sie aufgebracht war, viel stärker als ihr lieb wäre.
»Ich glaube, er hätte sich gewünscht, dass du dabei bist. Er hat dir einen Brief hinterlassen, Kate.«
Einen Brief? Was für einen Brief? Wenn Kio unbedingt wollte, dass sie ihn bekam, konnte er ihn ihr genauso gut per Post schicken. Katleen wurde von ihrer Neugierde gepackt. Was könnte ihr Vater ihr geschrieben haben? Hatte er in seinen letzten Momenten an sie gedacht? Nein, nein, es konnte keinen Brief geben. Kio könnte sie einfach nur anlügen, um sie dorthin zu locken. Aber das war nicht seine Art.
»Offenbar wurde er schon vor langer Zeit geschrieben, die Tinte auf dem Umschlag ist verblasst. Er hatte die Anweisung gegeben, ihn dir erst nach seinem Tod zu geben.«
Wie lange vorher hatte er ihn verfasst? Mehrere Monate? Mehrere Jahre? War das ein ausreichender Grund, um dorthin zurückzukehren? Nachdem Katleen grübelnd auf der Innenseite ihrer Wange herumgekaut hatte, traf sie eine Entscheidung.
»Wie bereits erwähnt, er hat seinen letzten Atemzug getan, Kio. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Er schaut nicht auf uns herab und kontrolliert, wer alles seiner Beerdigung beiwohnt. Sein Leben ist vorbei. Ob ich dabei bin oder nicht, ändert daran nichts. Und was den Brief angeht: Du kannst ihn mir ganz einfach zuschicken.«
Ihre Finger zitterten, als sie diese Worte aussprach. Doch diesmal lag es nicht an der Kälte. Lügen hatte noch nie in Katleens Natur gelegen, und sie wusste genau, dass es einen Unterschied machen würde, dabei zu sein, besonders für sie. Aber sie musste sich selbst schützen.
»Du willst nicht …«
»Ich lege jetzt auf. Ruf mich nicht mehr an.«
Sie nahm das Smartphone von ihrem Ohr und legte auf, während Kios Stimme immer noch aus dem Hörer drang. Kate schaute noch lange auf das Display, das die Dauer ihres Gesprächs anzeigte, bis die Hintergrundbeleuchtung erlosch. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gefühle zu ordnen, griff nach dem silbernen Medaillon um ihren Hals und versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Das Glöckchen ertönte, als sie die Tür des Cafés aufstieß. Kate lächelte dem Barista hinter dem Tresen zu und setzte sich wieder auf ihren grünen Ledersessel, bevor sie das Handy in die vordere Tasche ihrer Jeans steckte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Anna.
»Ja, warum?«, erwiderte Katleen und setzte ein falsches Lächeln auf.
»Darum …«
Sie beugte sich zu ihrer Freundin und fing mit ihrem Zeigefinger eine Träne ab, die über ihre Wange rollte.
»Oh«, sagte Katleen.
Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie weinte. Hatte die Nachricht vom Tod ihres Vaters sie doch mehr aus der Bahn geworfen, als sie sich eingestehen wollte? Sie war geschockt und konnte ihre Gefühle nicht einordnen. Würde sie zusammenbrechen? Durchhalten? Alles vergessen? Was sollte sie tun?
»Muss ich meine Frage wiederholen?«
Katleen schüttelte den Kopf. »Das muss an der Kälte liegen. Draußen ist es eiskalt.«
Doch Anna ließ sich nicht täuschen. »Ich bin nicht dumm, okay. Wenn du nicht darüber reden willst, kannst du es mir einfach sagen.«
Kate fühlte sich schuldig und sie begegnete dem Blick ihrer Freundin. Als sie gerade antworten wollte, wurde sie von den beiden Jungs unterbrochen.
»Denk doch mal nach, Edward. Der Trick ist billig. Wenn du morgen übers Wasser laufen müsstest, wie würdest du das anstellen?«
»Sind sie immer noch dabei?«, amüsierte sich Kate.
Anna nickte seufzend.
»Mann, ich frage dich doch, weil ich die Antwort nicht weiß. Spuck es endlich aus, als deine Geschichte unnötig spannend zu machen.«
»Mit einem Hocker!«, rief Nathan.
»Hm?«, stießen alle drei gleichzeitig aus.
»Es ist ganz einfach. Man stellt einen schwarzen Hocker ins Wasser, sodass die Sitzfläche dicht unter der Wasseroberfläche ist, prüft, ob er stabil ist und zack, das war’s!«
Edward sah entsetzt aus.
»Was?«, fragte Nathan, als niemand reagierte.
»Ich glaube, das ist das erste Mal, dass du mir einen anständigen Tipp gegeben hast«, antwortete Edward. »Das ist … das ist brillant, Mann. Brillant! Und dann machst du ein paar Fotos und zeigst sie ihnen, sie sehen, wie sie übers Wasser laufen, und dann schmelzen sie dahin?«
»Genau.«
»Aber wie lernst du sie vorher überhaupt kennen?«
»Ich spreche sie auf der Straße an! Ich erzähle ihnen, dass ich ein professioneller Fotograf bin, dass sie schön sind und dass ich sie gern dabei fotografieren würde, wie sie übers Wasser laufen. Zuerst lachen sie oft, aber dann zeige ich ihnen die Bilder, die ich schon gemacht habe, und sie finden sie bombastisch! Okay einige von ihnen sind auch misstrauisch …«
Die Unterhaltung ging noch weiter, doch Kates Gedanken schweiften ab. Würde Konrad wirklich den Thron besteigen? Ihr älterer Bruder war immer dazu bestimmt gewesen, eines Tages ihren Vater zu ersetzen, aber so früh … War er überhaupt bereit dafür?
»Es ist die richtige Entscheidung, nicht hinzugehen.«
»Nicht wohin zu gehen?«
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie laut gesprochen hatte. Diese schlechte Angewohnheit hatte sie sich angewöhnt, seit sie ihre Katze Neeko adoptiert hatte. Wenn sie beide allein in ihrer Wohnung waren, erzählte Kate der Katze ständig ihre Gedanken. Manchmal ahmte sie sogar eine imaginäre Stimme von Neeko nach und begann einen richtigen Dialog mit ihrem Haustier zu führen. Sie musste aufpassen, diese Anekdote niemandem zu erzählen, denn damit war sie ein Fall für die Psychiatrie.
Anna griff nach ihrer Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und tauchte mit ihren grünen Augen in das Blau von Katleens Iriden ein. »Du kannst dich mir anvertrauen. Ich werde dich nicht verurteilen.«
Katleen kaute auf ihrer Unterlippe und ging in Gedanken ihre verschiedenen Beziehungen durch. Anna kannte sie seit fünf Jahren, Edward seit zwei Jahren und Nathan erst seit ein paar Monaten. Als langjährige Freunde konnte man sie noch nicht bezeichnen. Anna war die älteste von ihnen und ihre Freundschaft ging bis in die Schulzeit zurück. Von den dreien wusste sie am meisten über Katleen.
»Ich weiß, dass du nicht gern über dein Privatleben sprichst«, fuhr Anna fort. »Und um ehrlich zu sein, ist es manchmal verletzend, wenn du mir sagst, dass du mir nicht genug vertraust, um mir davon zu erzählen, aber ich bin für dich da. Das weißt du doch, oder? Wenn der Tag kommt, an dem du dich entschließt, mit uns zu reden, werden wir alle da sein.«
Katleen schluckte schwer und eine weitere Träne rollte über ihre Wange, von der sie nicht wusste, ob es mit Annas Worten oder mit den Neuigkeiten zusammenhing, die sie gerade erfahren hatte. Ihre Freundin rieb ihr tröstend den Arm.
»Ich wünschte, ich könnte dir helfen«, fügte sie hinzu. »Dafür hat man doch Freunde, oder? Wir sind immer füreinander da.«
Ein wenig beunruhigt von diesen Worten, die auf seltsame Weise die Einstellung ihrer Familie widerspiegelten, formte Katleen ein stummes »Danke« mit den Lippen. Sie erinnerte sich an den Schwur, den sie mit sechs Jahren abgelegt hatte. Damals war es ihr so schwergefallen, ihn auswendig zu lernen, weil sie so unter Druck gestanden hatte. Sie war besorgt gewesen, ein Wort zu vergessen oder nicht an der richtigen Stelle Luft zu holen. Trotz ihres jungen Alters hatte sie verstanden, wie wichtig diese Rede gewesen war.
Ich schwöre, dass ich meine Familie, die Familie Ash, über alles andere stellen werde. Ich schwöre, dass Liebe, Hass und Zorn sich nicht zwischen uns stellen werden. Ich verspreche, dass ich immer für meine Familie da sein werde, wenn sie mich braucht. Heute und für alle Zeit gelobe ich, dass meine Familie meine Priorität sein wird, egal, was in meinem Leben passieren möge. Getrennt sind wir verwundbar, aber zusammen können wir alles bewältigen. Wenn wir zusammenhalten, werden wir alle Prüfungen überstehen. Die Familie ist für die Ewigkeit vereint.
»Ich muss nach Edinburgh«, sagte sie schließlich zu Anna.
»Nach Edinburgh?«, wunderte sich ihre Freundin. »Ich dachte, du wolltest nie wieder einen Fuß nach Edinburgh setzen?«
»Mein Vater ist gestorben.«
Annas Mund öffnete sich zu einem »O«, sie blinzelte und fasste sich dann wieder.
»Soll ich dich begleiten?«, fragte sie, bevor sie hastig »Mein herzliches Beileid!« hinzufügte.
Katleen nickte langsam. Anna hatte ihre Eltern und ihre Brüder kennengelernt, als sie noch zusammen zur Schule gingen. Sie kannte sogar ihren Vater, den sie getroffen hatte, wenn sie sich manchmal nach der Schule in der Höhle der Ashs eingeschlossen hatten, um über Jungs, das Leben und ihre Zukunft zu reden. Als Katleen beschlossen hatte, nach London zu gehen, war Anna ihr gefolgt. Die Unterstützung ihrer Freundin rührte sie, aber es wäre nicht wie früher. Auf der Beerdigung wären viele Gäste, und es würden Phänomene auftreten, die man nicht erklären konnte. Wie die große Mehrheit der Menschen auf dieser Welt wusste auch Anna nicht, dass Magie existierte.
Doch Katleen war im Begriff, den König der Magier zu beerdigen.
Kapitel 2 - Katleen
Auf dem Thron der Magier gab es bis heute drei verschiedene Familien: De Solaris, Haut-Argent und Ash.
Wenn man etwas Positives über Katleens Mutter sagen konnte, dann, dass sie eine gute Gastgeberin war. Kate hatte noch nicht einmal die Tür des Familienwohnsitzes aufgestoßen, als sie bereits Hinweise auf die bevorstehende Zeremonie entdeckte.
Das Herrenhaus der Ashs am Rande von Edinburgh war in den Farben ihres Wappens geschmückt: Gold und Weiß. Banner waren aufgestellt worden und in der Mitte des Hofs, hinter dem schmiedeeisernen Tor, flatterte eine Flagge mit einem Phönix und zwei Schlüsseln – den Symbolen ihrer Familie. Wenn sie Zeit gehabt hätte, hätte Katleens Mutter bestimmt angeordnet, dass jeder Pflasterstein auf dem Boden in Gold und Weiß gefärbt werden sollte, um das Andenken ihres verstorbenen Mannes und die Krönung ihres Sohnes zu ehren.
Katleen bezahlte den Taxifahrer, der sie hergefahren hatte.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte er und kurbelte das Fenster herunter, als sie aus dem Wagen stieg und das imposante Gebäude betrachtete.
»Ganz sicher«, antwortete sie und seufzte.
Es kostete sie beträchtliche Mühe, nicht zurück ins Taxi zu steigen und wieder von hier zu verschwinden. Aber der Brief hatte ihre Neugier geweckt. Seit Kio ihr davon erzählt hatte, fragte sie sich unablässig, was wohl darin stehen mochte. Waren es liebe, beruhigende Worte? Eine Entschuldigung dafür, dass er sie zum Weglaufen gedrängt hatte? Nein. Ihrem Vater waren Entschuldigungen oder gefühlsselige Worte noch nie schnell über die Lippen gekommen. Und wenn er diesen Brief lange vor seinem Tod geschrieben hatte, dann musste er etwas anderes beinhalten. Hatten Kio und Konrad wohl auch einen Brief erhalten?
Sie hielt sich an dem Gedanken fest, dass sie gekommen war, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. Die Familie ist für die Ewigkeit vereint, dachte sie. Dies war das Letzte, was sie für ihre Familie tat, danach würde sie für immer aus ihrem Leben verschwinden.
»Ruf mich gern wieder an, wenn du jemanden für die Rückfahrt brauchst.«
Sie bedankte sich, als er ihr seine Karte reichte, und dann fuhr er davon. Als sie das Eingangstor betrachtete, zögerte sie kurz, drückte aber schließlich die Klinke nach unten.
»Angst vor den alten Dämonen?«, ertönte eine Stimme zu ihrer Rechten.
Als sie den Kopf drehte, konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Azir!«
»Shazar!«
Er hatte sich kein bisschen verändert und benutzte immer noch seinen Lieblingsausdruck, der keinerlei Bedeutung hatte, den er aber seit seinem achten Lebensjahr immer wieder verwendete. Für Azir konnten diese zwei Silben alle Emotionen ausdrücken, ganz abhängig davon, in welcher Tonlage er sie aussprach. Ein tiefes, monotones »Shazar« signalisierte Enttäuschung, während ein energiegeladenes »Shazar« mit weit aufgerissenen Augen und einem Lächeln bis zu den Ohren andeutete, dass er glücklich war.
Sie nahm den etwa 20-jährigen Jungen in den Arm und er erwiderte ihre Umarmung glücklich. Als sie Anna erzählt hatte, dass sie nach Edinburgh zurückkehren wollte, hatte sich ihr Magen vor Angst verkrampft. Aber als sie im Flugzeug gesessen hatte, war ihr langsam bewusst geworden, dass nicht nur feindselige Menschen auf sie warten würden. Azir stand ganz oben auf ihrer Liste der möglichen Verbündeten, um die Zeremonie zu überstehen. Mit dem braunen, leicht gelockten Haar, den haselnussbraunen Augen und seiner immer noch überschäumenden Energie konnte er ihr sogar nach all den Jahren die Nervosität nehmen.
»Hast du auch vor, reinzugehen?«, fragte er.
»Ich schätze, jetzt ist es zu spät, um wieder umzudrehen?«
»Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich dich am Flughafen abgeholt.«
»Zu Anfang hatte ich auch nicht geplant, herzukommen«, gestand sie.
»Was hat dich dazu bewogen, deine Meinung zu ändern?«
»Eine alte Erinnerung.« Sie zuckte mit den Schultern, um ihm zu signalisieren, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte.
»Na komm.« Er bot ihr seinen Arm an und sie hakte sich unter, bevor sie zusammen die Höhle der Familie Ash betraten.
»Deine Mutter hat wahrlich nicht mit Gold gegeizt. Vielleicht wird auch dein Vater mit Glitzer überzogen, wer weiß?«
Katleen lachte, entspannte sich aber nicht. Ihre Muskeln versteiften sich, als die Eingangstür immer näher kam. Sie bemerkte die Luxusfahrzeuge, die im Hof um den Brunnen herum geparkt waren, kurz vor den beiden symmetrischen Treppen, die in den großen Saal führten.
»Bist du nicht mit deiner Familie angereist?«, fragte sie Azir in dem Versuch, sich abzulenken.
»Sie sind vor mir angekommen. Mein Vater braucht spezielle Vorkehrungen, um hierherfahren zu können, und er hasst nichts mehr, als zu spät zu kommen.«
»Und du warst nicht bei ihm?«, beharrte sie.
»Ich musste … einkaufen.«
»Am Tag der Beerdigung?«
Sie war keine Närrin. Obwohl sie nicht wusste, was Azir vor ihr verbarg, kannte sie den jungen Mann gut genug, um zu spüren, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit sagte.
»Bei dieser Veranstaltung bin ich ein Freigeist, Azir. Du kannst mit mir reden. Ich habe nicht vor, meiner Familie irgendetwas zu erzählen. Ich verabschiede mich von meinem Vater, bleibe noch fünf Minuten, um die Krönung meines Bruders mitzuerleben, und dann verpisse ich mich wieder von hier.«
»Katleen Ash! Was ist aus dir geworden? Was für ein Vokabular benutzt du in meiner Gegenwart? Hast du deine Sprechübungen vergessen? Was würde deine Mutter sagen, wenn sie dich so hören könnte?«
Sie schaute auf, als Azir die Stimme ihres Hauslehrers nachahmte, bei dem sie als Kinder zusammen Unterricht gehabt hatten. Ihr Lehrer, Edgard Mortimer, hatte für gewöhnlich in einem tiefen Bariton mit ihnen gesprochen, aber wenn er in Panik geraten war, war seine Stimme in die Höhe geschossen und hatte einem erschrockenen Sopran geglichen. Jeden Tag hatte sich Azir auf Kosten des Lehrmeisters amüsiert. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Mann bei jeder neuen Lektion auf die eine oder andere Weise zum Schreien zu bringen. Nach zahlreichen Vorfällen hatte dieser schließlich gekündigt. Daraufhin hatten Azir und Katleen eine Privatschule besucht und zusammen mit den Nicht-Magiern zur Schule gehen müssen.
»Na komm«, fügte er in einem ernsteren Tonfall hinzu. »Ich bin bei dir. Wenn deine Furie von Mutter auftaucht, verspreche ich, meinen Körper als Schutzschild zu benutzen.«
»Viel wichtiger ist, dass du mir die Ohren zuhältst. In weniger als einer Minute kann sie Unmengen von Unsinn und Beleidigungen von sich geben. Vielleicht hat sie in ihrer Jugend einen Kurs besucht, in dem das gelehrt wurde.«
»Wie man jemanden in dreißig Sekunden fertigmachen kann?«, schlug Azir vor.
»Genau.«
Sie erklommen die Stufen, und als sie die Tür erreichten, hielt Katleen einen Augenblick inne. Sie überprüfte ihre Erscheinung, berührte ihre Ohrringe, um sicherzugehen, dass beide noch da waren, und zupfte am Stoff ihres Kleides herum. Sie hatte geplant, eine Hose und dicke, warme Stiefel zu tragen, aber für alle Fälle hatte sie noch etwas eingepackt, mit dem sie angezogener aussah. Als sie durch die Gänge des Flughafens gegangen war, war sie auf einen langen Spiegel gestoßen. Sie hatte die Stimme ihrer Mutter klar und deutlich hören können: Findest du deine Kleidung angemessen, um deinem Vater die letzte Ehre zu erweisen? Denkst du, er hätte gewollt, dass du dich ihm so präsentierst?
Sie hatte ihren inneren Kritiker verdrängt und versucht, mit Vernunft an das Thema heranzugehen. Ihr Vater hatte nie ein Wort über die Art, wie sie sich kleidete, verloren.
Trotz all ihrer guten Vorsätze, nicht nachzugeben oder sich nicht auf das Spiel ihrer Mutter einzulassen, hatte sie die Flughafentoilette aufgesucht, um sich umzuziehen. Jetzt trug sie ein nicht besonders warmes, dafür äußerst elegantes Kleid. Sie hasste die Macht, die ihre Mutter immer noch über sie hatte, obwohl sie sich seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatten.
»Du siehst toll aus«, versicherte Azir ihr. »Jeder Mann würde sich nach dir umdrehen.«
»Und das Gesicht verziehen, sobald er meine weißen Haare sieht«, entgegnete sie.
»Die machen deinen Charme aus.«
»Wenn du wüsstest, wie oft meine Mutter sie kritisiert hat.«
»Was soll das heißen? Sie sollte sich lieber freuen, dass du eine Ash bist. Stell dir vor, du hättest keine weißen Haare gehabt! Dann hätte dein Vater sich noch gefragt, ob du wirklich seine leibliche Tochter bist.«
»Ihrer Meinung nach sind sie nicht weiß genug.«
»Soll das ein Scherz sein?«
»Sie gehen eher ins Graue und das lässt mich alt aussehen.«
Azir stöhnte verärgert auf. »Lass mich einen Dolch in ihr Herz stoßen, dann musst du dir nie wieder ihre Kritik anhören.«
Sein lässiger Tonfall ließ Katleen erschauern. Die Art und Weise, wie er diese Worte aussprach, gaben ihr das Gefühl, dass er tatsächlich in der Lage wäre, ein solches Angebot umzusetzen.
»Nein. Heute stelle ich mich meinen Dämonen. Wenn sie mir etwas Schreckliches direkt ins Gesicht sagt, werde ich meiner Mutter die Stirn bieten. Ich werde ihr sagen, dass ich ihr nichts schuldig bin, und sobald das hier vorbei ist, werde ich zu meinem ruhigen Leben zurückkehren.«
»Miss Katleen Ash, Eure ruhige Art und die Kontrolle über Eure Emotionen beeindrucken mich!«, erwiderte Azir erneut in dem Tonfall ihres Privatlehrers.
»Mach dich ruhig lustig«, knurrte sie.
Wieder bot er ihr seinen Arm an. Sie gingen gemeinsam zur Tür, die aufgestoßen wurde, noch ehe sie sie erreichten. Die Hausangestellten begrüßten sie und fragten nach ihren Namen, bevor sie sie passieren ließen. Katleen sah, wie sich einer der Diener sofort auf den Weg machte, um ihre Familie über ihre Ankunft zu informieren. Die Nachricht würde sich schnell verbreiten.
»Ich hatte vergessen, wie großartig es hier ist«, hauchte sie und klammerte sich an Azir.
In mehr als sechs Metern Höhe hingen Kronleuchter von der Decke, entlang der gesamten Galerie, die zum Ballsaal führte, in dem die Zeremonie stattfinden würde. Die Wände waren noch goldener als in Katleens Erinnerung. Es war Musik zu hören, was sie fast als unpassend empfand, doch die Melodie war sanft und elegant, also schob sie ihre negativen Gedanken beiseite.
»Kein goldenes Konfetti«, bemerkte sie.
»Nein, das überrascht mich«, murmelte Azir. »Hat deine Mutter ihren Sinn für Anstand wiederentdeckt?«
Sie gingen die Galerie entlang, auf der zu beiden Seiten Porträts der Vorfahren der Familie Ash hingen. Katleen kannte ihre Großeltern nicht, geschweige denn ihre Urgroßeltern, aber ihre Gesichter erkannte sie trotzdem. Ihr Vater hatte ihr immer wieder von seiner Seite der Familie erzählt. Als sie und Azir zu den Porträts ihrer Generation kamen, grinste Kate und betrachtete die gestelzte Pose, die sie hatte einnehmen müssen, um sich malen zu lassen.
»Shazar! Eines Tages werde ich nachts hier einbrechen und dein Porträt stehlen«, sagte der junge Mann.
»Und was hast du damit vor?«
»Ich werde es auf dem Schwarzmarkt für Kunstwerke verkaufen. Du wirst die neue Mona Lisa!«
Sie hatte nichts mit der La Joconde gemeinsam, außerdem entsprach das Porträt von ihr nicht der Realität. Sie lächelte verspannt, was ihre Mutter als aristokratische Haltung bezeichnet hatte – als müssten alle Prinzen und Prinzessinnen einen Stock im Hintern haben.
»Er hätte sich gefreut, dich hier zu haben«, fügte Azir hinzu. »Dein Vater, meine ich.«
»Ich bin mir sicher, dass es ihn auch gefreut hätte, dich an meiner Seite zu sehen.«
»Bist du bereit?«, fragte ihr Freund und legte seine Hand auf ihre.
Sie atmete tief durch.
»Jetzt ist es zu spät für einen Rückzieher, oder?«
»Es wäre besser, den Sprung zu wagen«, erwiderte er mit einem wissenden Blick.
Diesen Satz hatten sie in ihrer Kindheit immer wieder gesagt, wenn sie sich gegenseitig herausfordern wollten. Sie bogen nach links ab und betraten den Ballsaal.
Katleens Augen wanderten von oben nach unten, vom hinteren Teil des Raumes, wo die Tische für das Buffet standen, bis zum Podest auf der rechten Seite. Wohin sie auch blickte, überall war Magie am Werk. Goldene Fäden hingen in der Luft. Sie waren unauffällig, aber verliehen dem Saal eine feierliche Atmosphäre und erinnerten an die Farben des Familienwappens. Zu ihrer Rechten warf ein magischer Jongleur silberne Energiebälle nach oben. Sie wirbelten herum, veränderten ihre Form und landeten wieder in den Händen des Künstlers, ehe er sie erneut losschickte. Es fiel ihr schwer, den Blick von diesen Lichtkugeln zu lösen. Inmitten einer Gruppe von sechs Personen streckte ein Mann seinen Arm in Richtung des Buffets aus und sofort schwebte ein Tablett mit Speisen zu ihm. In all dem erkannte sie ihre Mutter wieder und fand ihre Bemühungen unpassend. Wie konnte sie diesen Tag als Festlichkeit behandeln, wenn es sich doch in erster Linie um eine Beerdigung handelte?
»Ich dachte, da wir uns nicht mehr in unserer Welt befinden, sollten die Magier so wenig Magie wie möglich anwenden«, murmelte Katleen.
»Erstens bist du auch eine Magierin«, erinnerte er sie. »Sprich nicht über uns, als gehörten wir unterschiedlichen Kasten an. Zweitens: Auch ohne Saphyrit ist es möglich, Magie anzuwenden. Drittens: Es gibt immer noch Erzquellen auf der Erde. Seit wir alle hier gelandet sind, werden sie übermäßig ausgeschöpft, aber sie ermöglichen es uns, Kristalle zu gewinnen und unsere Kräfte zu erhalten.«
»Unsere Kräfte?«, fragte sie. »Soll das heißen, deine Kräfte haben sich noch entwickelt?«
Sie schluckte die Eifersucht hinunter, die ihre Stimme zu übermannen drohte.
»Es wäre möglich, dass ich einige Fähigkeiten erhalten habe.«
Er hütete sich davor, seine Fähigkeiten im Detail zu beschreiben.
»Bei dir immer noch nichts?«, erkundigte er sich.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht einen Funken Magie in mir, Azir. Ich bin keine Magierin und diese Welt ist nicht die meine. Ich bin gekommen, um mich von meinem Vater zu verabschieden. Dann verschwinde ich wieder und man wird mich hier nie mehr sehen.«
»Wenn du deine Meinung änderst und deinen Aufenthalt verlängern willst, komm zu mir. Vielleicht erwecken die hiesigen Mineralien deine Kräfte.«
»Da gibt es nichts zu wecken«, entgegnete sie mit quietschiger Stimme.
Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt, in der zahlreiche Lehrer versucht hatten, ihr den Umgang mit Magie beizubringen, jedoch ohne Erfolg. Jeder Tag war eine weitere Enttäuschung für ihre Lehrer, ihre Mutter und für sie selbst. Das wollte sie nicht noch einmal erleben.
»Ich dachte auch nicht, dass …«
»Wir sind nicht gleich, Azir«, schnitt sie ihm das Wort ab.
Er ließ ihre Hand los. »Ich wollte dich nicht beleidigen, Kate.«
»Ich …« Sofort stiegen Schuldgefühle in ihr hoch. »Entschuldige, Azir. Ich war schroff. Das wollte ich nicht. All das …« Sie streckte ihre Arme um sich herum aus. Nie hätte sie gedacht, je wieder einen Fuß in das Herrenhaus zu setzen. Ihr Körper war angespannt, ihre Hände schwitzten, ihr Rücken kribbelte: Sie hasste es, hier zu sein, weil das all die schlechten Erinnerungen zurückbrachte. »… zehrt einfach an meinen Nerven.«
Er lächelte sie mitfühlend an. »Das verstehe ich. Du musst dich nicht entschuldigen.«
Sie bedankte sich bei ihm und sie näherten sich dem Thron. Katleen wusste, dass er nicht wie der Thron in ihrer alten Welt – Saphyria – aussah. In Glaynor, der Hauptstadt der Magier, saß der König auf einem Thron aus Kristall. Die Mineralien nahmen die Farbe seiner Magie an, wenn seine Haut mit ihnen in Berührung kam, und er strahlte Autorität und Weisheit aus. Zumindest in ihrer Erinnerung, denn sie hatte ihn seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen.
Hier war der Thron hoch und breit und sah mit seinem weißen Stoff und den goldenen Armlehnen recht elegant aus. Sie erinnerte sich noch daran, wie der König auf diesem Stuhl gesessen und zum ersten Mal Blut gehustet hatte. Damals hatte sie sich große Sorgen gemacht, und auch heute beunruhigte sie das Bild, das in ihrem Gedächtnis auftauchte, immer noch.
»Mein Vater ist hier«, sagte Azir. »Ich werde ihn begrüßen. Willst du mitkommen? Es wird ihn freuen, dich wiederzusehen.«
Noch immer in Gedanken versunken, nickte Katleen. Azir verschwand und sie rief sich die Bilder ihres Vaters in Erinnerung, als er noch gesund war. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem er ihr das Tischtennisspielen beigebracht hatte – hier, auf der Erde –, aber auch an den Moment, als sie die Sterne am Himmel betrachtet hatten. Es waren nicht die gleichen wie auf Saphyria, aber Katleen erinnerte sich kaum an etwas von dort. Er hatte ihr eine Karte mit den Sternbildern gezeigt, wie man sie von ihrem Lehnsgut in Lionrest aus sehen konnte. Er hatte sie meine kleine Biene genannt. Ihr war es egal gewesen, was er ihr beibrachte, solange er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Die meiste Zeit hatte er sich um Konrad oder Kio gekümmert, ihre beiden älteren Brüder, die beide ihre Kräfte entwickelt hatten. Katleen, die ein wenig eifersüchtig gewesen war, hatte jede Minute mit ihrem Vater genossen. Sie hatte gern seiner Stimme gelauscht oder ihn an sich gedrückt, sie vermisste seinen Duft und seine sanften Worte. Im Blick ihres Vaters hatte etwas Beschützerisches gelegen, wenn es um seine Kinder ging, und ganz besonders, wenn es seine erste Tochter betraf. Das hatte Katleen geliebt. Wenn er bei ihr gewesen und sie zum Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit geworden war, schien nichts anderes mehr wichtig zu sein. Wie oft hatte sie davon geträumt, dass diese kostbaren Augenblicke mit ihm ewig dauern würden? Dass die Zeit stehen bleiben und niemand sie aus ihrem besonderen Moment herausreißen würde?
Sie musste diesen Brief haben, brannte darauf, zu erfahren, was darin stand, und ein letztes Mal die Handschrift ihres Vaters zu lesen. Wo war Kio? Hoffentlich trug er den Umschlag bei sich.
»Fühlst du dich ausgeschlossen?«, murrte eine Stimme zu ihrer Linken.
Sie hob ihren Blick und entdeckte Sett Gray. Sein braunes Haar war länger geworden und verdeckte die Narbe auf seiner Wange beinahe vollständig. Er trug die Prunkkleidung der Grays, ganz in Schwarz und Rot gehalten und geschmückt mit ihrem Wappen: ein Panther und ein Schwert. Sett überragte sie um fast einen Kopf, was die Ash-Erbin ärgerte. Er schnippte mit den Fingern, woraufhin ein rotes Leuchten zwischen seinen Händen zum Leben erwachte. Er spielte damit, indem er es um seine Fingerknöchel huschen ließ. Dann wurde es größer und größer, bis es schließlich explodierte und magentafarbene Fäden auf die goldene Dekoration warf, die bereits in der Luft schwebte.
»Ich bin mir sicher, dass es meine Mutter viel Zeit gekostet hat, die richtige Menge an Goldfäden zu ermitteln«, bemerkte Katleen und verschränkte die Arme über ihrer Brust.
Seit wann verteidigte sie ihre Mutter?
»Vielleicht sollte deine Mutter daran erinnert werden, dass es sich um eine Beerdigung handelt und nicht um eine fröhliche Feier. Rot hat den Vorteil, dass es an Blut und damit an den Tod erinnert.«
Er ließ eine neue Sphäre entstehen, und Katleen ballte die Hände zu Fäusten.
»Warum nutzen alle die Magie, als wäre sie eine unerschöpfliche Ressource auf dieser Erde? Die Saphyritvorkommen, die ihr gefunden habt, werden irgendwann erschöpft sein. Was macht ihr, wenn ihr eure Kräfte nicht mehr in vollem Umfang nutzen könnt?«
Sett schnalzte mit der Zunge und grinste.
»Einige von uns haben Tricks gefunden, um ohne die Ausbeutung der Vorkommen auf der Erde auszukommen.«
Noch bevor sie ihm eine weitere Frage stellen konnte, trat er näher und flüsterte: »Das ist eine Zeremonie für Magier. Vielleicht solltest du lieber verschwinden, bevor dein Schwindel aufgedeckt wird, meinst du nicht?«
Wutentbrannt wollte Katleen ihm folgen, als er gemächlich davonschlenderte, aber am anderen Ende des Saals, auf dem Podium, ertönte ein Räuspern. Als sie die Silhouette ihrer Mutter erblickte, schüttelte sie den Kopf.
Oh, Azir hatte sich geirrt. Ihre Mutter war immer noch verrückt. Ein Blick reichte, um das zu erkennen.
Auch heute war Victoria Ash wieder zu weit gegangen.
Kapitel 3 - Katleen
»Victoria Ash ist wie der Star einer Reality-Show. Je mehr Glitzer, je mehr Drama, desto glücklicher ist sie.«
Azir Shade
Victoria Ash trug ein prunkvolles Kleid, das aus goldenen, durchsichtigen Fäden gewebt war und durch das man ihren nackten Körper sehen konnte. Der Intimbereich war verdeckt, was Katleen erleichtert aufseufzen ließ. Nichts war beschämender, als ihrer Mutter dabei zusehen zu müssen, wie sie nackt durch eine Menschenmenge lief. Das Kleid hatte mehrere unterschiedlich lange Schichten, die es nach unten hin bis zum Boden immer weiter scheinen ließen. Wie viel wog dieses Kleid? In den Stoff waren Diamanten eingenäht, die bei jeder Bewegung glitzerten und das Gewand noch schwerer machten.
Das auffällige Kleid entlockte dem gesamten Publikum »Ohs« und »Ahs«. Katleen trat ein paar Schritte vor, um ihre Mutter zu mustern. Sie war übertrieben geschminkt: goldener Lidschatten, der bis zu den Augenbrauen reichte, Glitzer auf den Wangen und ein greller Lippenstift. Ihre Wimpern waren so lang, dass sie sich fragte, wie Victoria Ash überhaupt noch blinzeln konnte.
»Wenn Papa das sehen könnte …«, murmelte Katleen.
Seine Augen würden vermutlich riesengroß werden, ehe er sich abwenden würde. Kristian Ash und seine Frau waren nie auf der gleichen Wellenlänge gewesen, wenn es um ihr Aussehen ging. Dadurch hatte Katleen ihren Vater noch mehr geliebt.
All die Male, die Victoria Ash sie von oben herab behandelt hatte, kamen ihr wieder in den Sinn. Sie war nie »genug« gewesen. Sie war nicht schön genug, ihr Haar war nicht weiß genug, sie stand nicht gerade genug, war nicht groß genug, kleidete sich nicht elegant genug. Oder sie war etwas »zu sehr«. Sie war zu übergewichtig, besonders, als sie zwölf Jahre alt gewesen war, kurz bevor sie einen rasanten Wachstumsschub erlebt hatte. Wegen ihres kleinen Bauches hatte ihre Mutter ihr den Spitznamen »Fetter Puter« gegeben. Wie oft hatte Katleen deswegen Albträume gehabt, auch noch Jahre später. Es war ein Wunder, dass sie keine Essstörung entwickelt hatte. Und dann war sie zu schüchtern, zu still, dann plötzlich zu gesprächig, zu zurückhaltend, und vor allem sehnte sie sich zu sehr nach der Aufmerksamkeit ihres Vaters. Nein, das einzige Thema, bei dem sie weder zu viel noch zu wenig war, war Magie. Sie hatte gar keine. Punkt.
Als sie sich an all die schrecklichen Dinge erinnerte, die sie in diesem Haus erlebt hatte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Beinahe ohne es zu merken, führten ihre Schritte sie zum Ausgang. Sie konnte diesen Anblick ohnehin nicht länger ertragen. Es schien, als wäre ihre Mutter froh, eine Gelegenheit zu haben, sich selbst in Szene zu setzen, sogar wenn der Grund dieser Versammlung die Beerdigung ihres eigenen Ehemannes war.
»Du bist so weit gekommen«, sagte der junge Mann, der sich Katleen in den Weg stellte. »Geh jetzt nicht, bevor du dich verabschieden konntest.«
Sie blickte zu Kio und seinen halblangen weißen Haaren auf, die ihm ins Gesicht fielen. Ihr erster Gedanke galt dem Brief, wodurch sie sich sofort schuldig fühlte. Sie hatte ihren Bruder seit drei Jahren nicht mehr gesehen, es war egoistisch, sich nur für den Umschlag zu interessieren, den er ihr überreichen sollte.
»Sag ihr, sie soll mit diesem Theater aufhören, dann bleibe ich vielleicht«, knurrte sie und schluckte ihre Tränen hinunter.
»Du weißt doch, dass wir sie nicht aufhalten können. Aber ich bin froh, dass du gekommen bist.«
Er legte einen Arm um die Schultern seiner Schwester und drückte sie an sich, während er sich zum Podium drehte.
»Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen – wenn du mir den schlechten Wortwitz erlaubst –, spricht dein Liebling der beiden Zwillinge gleich nach ihr.«
»Du willst eine Rede halten?«, wunderte sich Katleen.
»Nein, ich habe von Konrad gesprochen.«
»Du wagst es zu behaupten, dass er mein Lieblingszwilling ist?«
»Ich wollte nicht anmaßend wirken, indem ich mir diesen Status selbst zuschreibe.«
Sie stieß ihn mit dem Ellbogen an. Konrad und Kio waren am selben Tag und zur selben Zeit geboren worden. Sie sahen sich ähnlich, aber nicht vollkommen gleich aus. Selbst wenn man sie zum ersten Mal traf, konnte man sie unterscheiden.
»Fünf Minuten«, murmelte sie. »Fünf Minuten, die dein Schicksal von Geburt an verändert haben. Wie ist es möglich, dass ihr mit der gleichen Erziehung, den gleichen Eltern und den gleichen Genen so diametral absolut unterschiedliche Charaktere habt?«
»Ähm, kann man wirklich sagen, dass wir beide die gleiche Erziehung genossen haben? Immerhin wurde Konrad mit dem Ziel erzogen, einmal Papas Platz einzunehmen. Ich habe gelernt, wie ich Konrad unterstütze, aber nicht, wie man seinen Platz einnehmen könnte.«
»Vielleicht hat dir das die Empathie und die Selbstlosigkeit gegeben, die unserem Bruder fehlen. Trotzdem … wärst du fünf Minuten früher geboren, hättest du die Gabe des Phönix geerbt und wärst jetzt das Oberhaupt der Familie.«
Die Macht des Phönix wurde in jeder Generation der Ashs nur an ein Kind weitergegeben. Konrad hatte sie bei seiner Geburt geerbt.
»Sei nicht zu hart zu ihm. Du weißt nicht, welche Verantwortung er übernehmen musste, als Papa krank wurde.«
»Er musste Mutter ertragen, dafür muss ich ihm wohl ein paar Punkte gutschreiben.«
Bevor Katleen weitersprach, befeuchtete sie nervös und etwas verlegen ihre Lippen: »Du hast einen Brief erwähnt.«
Ihr Bruder griff in die Innenseite seiner Jacke, holte einen Umschlag heraus und reichte ihn ihr. Auch wenn die Tinte beinahe vollständig vom Papier verschluckt worden war, erkannte sie ihren Namen darauf.
»Weißt du, wann er ihn geschrieben hat?«
Kio nickte.
»Haben du und Konrad auch einen bekommen?«
»Nein.«
Ihre Fingerspitzen strichen über die ausgeblichenen Buchstaben. Der Umschlag war nicht dick und schien nur ein einziges Blatt zu enthalten. Was hatte er geschrieben? Was konnte so wichtig sein, dass er das Bedürfnis verspürt hatte, diese Worte auf Papier zu bringen, und dann angeordnet hatte, dass sie erst nach seinem Tod herausgegeben werden sollten?
Sie war sich unsicher, ob sie den Umschlag öffnen sollte. Kio, der immer noch neben ihr stand, war offensichtlich genauso neugierig auf den Inhalt wie sie.
»Ich werde ihn später in Ruhe lesen«, beschloss sie.
In Wahrheit brannte sie darauf, ihn sofort aufzureißen, aber sie wollte nicht, dass ihr Bruder dabei war, wenn sie es tat. Was, wenn die Worte ihres Vaters sie zum Weinen brachten? Was, wenn der Inhalt vertraulich war? Unsinn, dachte sie. Ihr Vater hatte ihr nichts Vertrauliches oder Geheimnisvolles zu erzählen. Dennoch ermahnte sie eine kleine Stimme in ihrem Inneren, diskret zu sein.
Victoria hatte bereits mit ihrer Rede begonnen, der Katleen bis dahin keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Als sie noch hier gelebt hatte, hatte sie sich stets bemüht, die Worte, die aus dem Mund ihrer Mutter kamen, so gut es ging zu ignorieren. Sie wusste, dass sie stärker schmerzen konnten als der Schnitt einer vergifteten Klinge. Aber dieses Mal sprach Victoria nicht mit ihr. Die Königin lieferte eine Show für ihr Publikum aus Magiern ab, als wären sie immer noch in Saphyria und all dieses Theater von Bedeutung.
»… indem wir sein Andenken ehren, ehren wir alle Magier, die ihr Leben gegeben haben, damit wir durch das Portal gehen und Zuflucht auf der Erde finden konnten. Ich weiß nicht, ob Jarvan IV. De Solaris wusste, dass wir hierher zurückkehren würden. Als er das Portal schuf, das es uns ermöglichte, von der Erde nach Saphyria zu reisen, ahnte er da, dass wir eines Tages zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren würden? Ich bin heute in Gedanken bei jenen, die wir bei der Evakuierung verloren haben: die Haut-Argents natürlich, aber auch wichtige Mitglieder unserer Familien. Ohne die Vergangenheit vergessen zu wollen, müssen wir dennoch in die Zukunft blicken. Können wir auf diesem Planeten ohne unsere Mineralienvorkommen gedeihen? Wie können wir uns in dieser Welt organisieren und zusammenhalten? Sollten wir anfangen, mit den Regierungen zu verhandeln und ihnen unsere Existenz offenbaren, weil wir hierbleiben müssen? Mein Sohn Konrad wird uns auf diesem zukünftigen Weg leiten.«
Sie klatschte, als Katleens älterer Bruder das Podium betrat. Der zukünftige König, dessen halblanges Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war, wirkte zehn Jahre älter als früher, was wohl an seinen tiefen Augenringen liegen musste.
»Fünf Minuten«, wiederholte Katleen. »Fünf Minuten früher und du wärst an seiner Stelle gewesen.«
»Glaub mir, ich bin nicht neidisch.«
Sie drückte sich an Kios Seite. Von ihren Geschwistern verstand sie sich mit ihm am besten. Er hatte sie nie herablassend behandelt, selbst als jegliche Hoffnung auf die Entwicklung ihrer Kräfte geschwunden war. Er hatte sie nie ausgegrenzt und sie oft abends in ihrem Zimmer besucht, um mit ihr zu spielen. Als sie älter geworden war, waren diese nächtlichen Treffen seltener geworden, weil Kio so viele Verpflichtungen hatte. Der Prinz verbrachte seine Zeit als Konrads Sklave, was Katleen absolut inakzeptabel fand.
Sie wollte sich die Rede ihres zukünftigen Königs anhören, wurde aber von ihren anderen Geschwistern unterbrochen. Killian schlang die Arme um ihre Taille und riss sie fast um, während Kassandra sich an ihre Beine warf. Katleen konnte nur deshalb das Gleichgewicht halten, weil ihr älterer Bruder sie immer noch mit seinem Arm stützte.
»Katleen!«, riefen Kassandra und Killian gleichzeitig.
Oh, wie sehr sie sie vermisst hatte! Sie zerzauste ihre weißen Haare und drückte sie an sich. Die beiden schrien vor Begeisterung und Konrad musste seine Rede unterbrechen, um Ruhe einzufordern. Später, wenn er sie in die Enge treiben konnte, würde er ihr dafür sicherlich die Hölle heiß machen.
»Psssst«, flüsterte sie und hielt sich einen Zeigefinger an die Lippen. »Ich freue mich auch sehr, euch zu sehen, aber Konrad hält gerade seine Rede, und die sollten wir nicht unterbrechen.«
Als sie das Herrenhaus verlassen hatte, hatte sie sich in vielerlei Hinsicht schuldig gefühlt: Sie hatte ihren Vater verlassen, als seine Krankheit gerade erst ausgebrochen war, aber auch ihre jüngeren Geschwister den Krallen ihrer Familie überlassen. Sie waren noch zu jung, um die gleiche Kritik wie sie zu erfahren, aber sie hatte keinen Zweifel daran, dass das Gift von Victoria Ash auch in sie eindringen würde, wenn sie alt genug waren.
Kassandra zog einen Schmollmund und Killian, der etwas älter war, knurrte, dass das nicht fair sei. Trotzdem gehorchten sie und hörten sich gemeinsam mit ihr Konrads Rede an.
»Ich habe nicht vor, mit euch über Politik zu sprechen, wenn wir meinem Vater noch nicht die letzte Ehre erwiesen haben. Es gibt viel über den Mann zu sagen, der mich großgezogen und der es uns ermöglicht hat, einer Welt zu entfliehen, die uns nicht mehr haben wollte. Selbst in der schlimmsten Phase seiner Krankheit dachte er immer nur an die Magier und ihre Zukunft. Wenn er eine Idee hatte, ließ er mich rufen und erklärte mir alles. Ich habe vor, seine Pläne zu verwirklichen, damit unsere Kaste auf der Erde überleben und gedeihen kann, so wie sie es auf Saphyria getan hat.«
Gemurmel breitete sich im Saal aus, aber Katleen konnte nicht ausmachen, ob es sich um Zustimmung oder Widerspruch handelte. Sie schaute zu Kio, der auf ihre stille Frage mit einem Schulterzucken antwortete. Dann spürte sie ihr Handy vibrieren.
Anna: Alles gut?
Katleen: Ja, so ungefähr. Aber wenn es um meine Familie geht, kann nie wirklich alles gut sein.
Anna: Ja, das stimmt!
Kate wusste, dass Anna nur eine Standardantwort geschickt hatte, aber dennoch überraschte sie die Reaktion ihrer Freundin. Obwohl Anna sehr neugierig war, sprachen sie nicht oft über ihre Familie.
Katleen: Ich gebe dir Bescheid, wenn ich nach Hause fahre.
Anna: Abgemacht! Und vergiss nicht, mir dann alles zu erzählen!
Konrad beendete seine Rede mit einer Aufforderung, seinem Vater zu gedenken, dann betraten sechs Männer den großen Ballsaal. Auf ihren Schultern balancierte ein weiß-goldener Sarg. Bei dem Anblick stiegen Katleen Tränen in die Augen. Sie drückte die Hände von Kassandra und Killian ein wenig fester.
»Ist das Papa?«, flüsterte die Kleinste.
»Ja, das ist Papa«, antwortete Katleen.
Die Männer stellten die große Kiste auf die dafür vorgesehenen Böcke. Würde sie das Gesicht ihres Vaters ein letztes Mal sehen oder war der Sarg bereits versiegelt? Die Gäste drängten sich in mehreren kreisförmigen Reihen um den toten König.
Katleen erschauderte, als Konrad näher trat und seine Rede fortsetzte. Als er die Hand auf den Sarg legte, entbrannte in ihr das Bedürfnis, ihn zu schlagen. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, hatte nie einen Hehl aus seinem Ehrgeiz gemacht, den Thron jung und noch im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte zu besteigen. Konrad brauchte ständige Aufmerksamkeit.
Dann trat Azirs Schwester Fiona, die Katleen seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, vor und begann mit der Hymne der Magier. Ihre sanfte Stimme passte perfekt zu den Worten, die Kate erschauern ließen und sie an Saphyria erinnerten. Dort hatte sie sie in ihrer Kindheit oft gehört: bei Geburten, Todesfällen, während des Lichterfestes …
Wenn das Licht über der Welt erlischt,
Und der Traum vor deinen Augen verwischt,
Solltest du dich ergeben? Oder unbeirrt weiter streben?
Wenn der Schatten über mich kommt, werde ich mich erheben?
Fionas kristallklare, harmonische Stimme hallte durch den Saal.
Vereinigen wir unsere Kräfte
Vereinigen wir unsere Stimmen
In unseren Herzen, in unseren Venen,
Entfacht das Feuer, nach dem wir uns sehnen.
Als sie fertig war, schimmerten Tränen in Katleens Augen.
Konrad fuhr mit emotionsgeladener Stimme fort: »Seine Weisheit und sein Rat haben mich während …«
Der plötzliche Auftritt einer Delegation unterbrach den zukünftigen König und zog alle Blicke auf sich. Das gestickte Wappen auf ihren Anzugjacken verriet Katleen sofort, um wen es sich handelte: Es waren ein Bär und ein Turm, die Symbole der Dur’Aciers. Ihre Fäuste waren geballt und ihre Mienen verschlossen, die Sorge stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Das Oberhaupt ihrer Familie, bewaffnet mit dem Zerspalter – einem riesigen Hammer, der aus dem dichtesten Material Saphyrias geschmiedet war – trat auf Konrad zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Rasch veränderte sich die Miene des zukünftigen Königs.
»Ich bin gleich zurück«, sagte er und verschwand, rannte beinahe mit seinem Gesprächspartner davon.
Katleen versuchte, sich an die Namen aller Mitglieder der Dur’Acier-Familie zu erinnern. Doch als sie feststellte, dass ihr kein einziger Name mehr einfiel, presste sie die Lippen zusammen. Schuldgefühle stiegen in ihr auf. Wie oft hatten sie den Ashs geholfen? Selbst hier, in dieser Welt, die nicht wirklich ihre eigene war, hatten sie die Herrscherfamilie immer beschützt.
Das Gemurmel über diese Unterbrechung ging weiter. Der Rest der Dur’Acier-Delegation blieb stoisch und wartete nur wenige Schritte von den Besucherkreisen um den Sarg entfernt. Niemand sprach die fünf Männer an, die reglos mit gestrafften Schultern dastanden, oder den Teenager am Ende des Zuges, der jedes Detail des Saals in sich aufnahm.
»Weißt du, worum es geht?«, flüsterte Katleen ihrem Bruder zu.
»Nein.«
Er spitzte die Ohren und hielt mit verengten Augen Ausschau nach der Rückkehr des zukünftigen Königs.
»Solltest du nicht über alle Angelegenheiten der Magier Bescheid wissen?«, beharrte seine Schwester.
»Doch«, bestätigte er ihre Vermutung.
Sein ernster Tonfall und die einsilbigen Antworten zeigten, dass diese Situation nicht normal war. Katleen nutzte die Unterbrechung, um sich mit ihren jüngeren Geschwistern zu unterhalten. Als Konrad dicht gefolgt von dem Dur’Acier-Abgesandten zurückkehrte, ging das Stimmengewirr der Menge in ein leises Gemurmel über und verstummte schließlich ganz.
»Lasst uns noch einmal neu beginnen«, sagte Konrad.
»Was war das gerade?«, unterbrach Sett Gray ihn.
»Nichts, was von deinem Interesse wäre.«
Konrads schrille Stimme war nah an der Grenze zur Respektlosigkeit. Es wirkte beinahe, als wollte er Sett absichtlich provozieren.
»Die Dur’Aciers sind zu spät zur Zeremonie gekommen. Wir wissen alle, dass sie dir wie treudoofe Hündchen folgen.«
»Das reicht!«
»Betrifft das, was sie dir anvertraut haben, dich persönlich oder die Magier im Allgemeinen?«
»Sett …«, grummelte er mit warnender Stimme.
»Wenn es Letzteres ist, haben wir ein Recht darauf, es zu erfahren.«
Sett Gray warf Konrad einen herausfordernden Blick zu. Keiner von beiden wollte nachgeben.
»Wir sind hier, um das Andenken an meinen Vater zu ehren. Der Rest kann warten«, entschied Katleens älterer Bruder schließlich. »Ich nehme von niemandem Befehle entgegen, schon gar nicht von einem Hund wie dir.«
Der junge Gray biss die Zähne zusammen und wich in der Menge zurück. Katleen zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er, so grimmig wie er war, bald wieder vortreten würde.
Als Konrad seine Rede beendet hatte, gesellte sich Victoria zu ihm. Sie streckte ihre Hand aus, sie verschränkten ihre Finger ineinander und sofort summte die Luft vor Magie. Die goldenen Fäden sammelten sich über dem Sarg zu einer Masse, die so hell war, dass Katleen ihre Augen abschirmen musste. Dann nahmen sie die Form eines prächtigen Vogels an, den man auch auf dem Siegel der Ash-Familie finden konnte: den Phönix. Da Victoria nicht über die Macht der Flammen oder des Phönix verfügte, bedeutete, dass sie ihre Kräfte nur für diese Show mit Konrad verband.
»Ich vermisse Astion«, hauchte Kate.
Sie hatte nur wenige Erinnerungen an ihr Leben in Saphyria, aber das Bild von Astion, dem ältesten Phönix in ihrer Familie, war in ihrem Gedächtnis fest verwurzelt.
Das Tier stieß einen Schrei aus, der wahrscheinlich Teil der magischen Vorführung war. Es hob ab und wirbelte über den Köpfen der Zuschauer hinweg.
Plötzlich ertönte ein Klatschen. Rote Magie vermischte sich mit den goldenen Fäden, aus denen der Vogel bestand. Die rubinrote Farbe gewann die Oberhand und erstreckte sich über das gesamte Tier. Als kein Millimeter Gold mehr in den Federn zu sehen war, klatschte Sett Gray in die Hände und ließ den Phönix zerspringen, und magische Asche rieselte auf den Sarg nieder.
»Wir haben ein Recht darauf, es zu erfahren«, verkündete der Gray-Erbe. »Ich verlange Antworten. Sofort.«
Er schritt durch die Menge und starrte Konrad entgegen. Nur die riesige Holzkiste trennte die beiden Männer. Sett hob seinen Arm und Rote Magie waberte über den Sarg.
»Rühr ihn nicht an!«, schrie Konrad.
Er erweckte seine eigene Magie mit den Fingerspitzen zum Leben und beschwor eine Feuerkugel herauf. Sein wütender Blick verriet, dass er nicht zögern würde, seine Flammen auf den jungen Gray zu werfen.
»Wenn es zu einem Kampf kommen muss, habe ich nichts dagegen«, zischte Sett.
Katleen vernahm den Klang von Dolchen, die aus ihren Scheiden gezogen wurden. Kio ließ sie los und ging näher an seinen Bruder heran, bereit, im Falle eines Angriffs einzuschreiten.
»Das ist absurd!«, schrie Victoria. »Diese Geschichten können warten, bis wir mit der Beerdigung von Kristian, meinem geliebten und liebevollen Ehemann, eurem verstorbenen König, fertig sind.«
»Damit Konrad frei von jeglichem Widerstand gekrönt werden kann?«, entgegnete Sett.
»Ist es meine Krone, die du haben willst? Du forderst Informationen an, die ich als vertraulich eingestuft habe, um die Gelegenheit zu nutzen und den Thron zu besteigen? Du trägst weder den Namen Ash noch wurdest du für diesen Tag ausgebildet. Du wüsstest mit dem Thron doch gar nichts anzufangen!«
Sett sprang über den Sarg und schloss seine Finger um Konrads Hals. Der zukünftige König reagierte, indem er seinen Feuerball gegen das Schlüsselbein seines Angreifers rammte. Erfolglos versuchte dieser, einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, als die Magie ihn verbrannte. Die Ashs hatten eine von allen gefürchtete Kraft: die Fähigkeit, zerstörerische Flammen zu entfachen. Sie behaupteten, diese Gabe von den De Solaris geerbt zu haben, und sie konnten sehr gut mit Feuer umgehen. Darüber hinaus besaß Konrad die Macht des Phönix, mit der er das Feuertier, das er während seines Trainings gezähmt hatte, heraufbeschwören konnte. Wenn er ihn in diesem Augenblick freisetzen würde, müsste eine Evakuierung angeordnet werden, denn seine Kraft war ebenso mächtig wie zerstörerisch.
Kio lief los, um seinem Bruder zu helfen, während die Dur’Aciers herbeigeeilt kamen, um die Auseinandersetzungen vor dem Sarg zu beenden. Bei dem Versuch, die Königin zu schützen, prallte einer der Männer gegen einen Bock, und entsetzt beobachtete Katleen, was dann geschah. Die hölzerne Kiste schwankte bedrohlich, bevor sie mit einem donnernden Knall auf den Boden krachte.
Die Kämpfe brachen abrupt ab. Nur Setts Hand lag noch immer um den Hals seines Gegners, obwohl er bedroht wurde.
»Wenn du mich nicht sofort loslässt, bringe ich dich um«, knurrte Konrad.
»Wenn das deine Absicht gewesen wäre, hättest du es schon längst getan«, erwiderte Gray. »Du hast nicht das Zeug zu einem Soldaten oder einem Monarchen. Du bist schwach und wirst es immer bleiben.«
Konrad stieß die Flammenkugel tiefer in den Körper seines Gegners, der vor Schmerz aufschrie, ehe er sie auf sein Gesicht richtete. Da Sett den Schlag seiner Hand parierte, nutzte der Ash-Nachfolger die Gelegenheit, um ihm mit seinem freien Arm in den Magen zu schlagen, ohne von ihm ablassen zu müssen.
Der Dur’Acier, der mit Konrad gesprochen hatte, beschloss einzugreifen, bevor die Situation noch weiter eskalieren konnte und einer der beiden einen Arm, ein Auge oder die Stimme verlor. Er nahm seinen riesigen Hammer in beide Hände, hob ihn über seinen Kopf und schlug auf den Boden. Als er sich in die Fliesen bohrte, durchfuhr ein Ruck den gesamten Saal. Der Aufprall war so heftig, dass Staub von der Decke fiel. Konrad und Sett schauten überrascht auf, als ein brauner Blitz aus dem Zerspalter in ihre Richtung schoss. Sie zuckten zurück und Gray ließ von seinem Gegner ab, ehe sie beide zu Boden stürzten.
Endlich erinnerte Katleen sich wieder an den Vornamen des Dur’Acier: Er hieß Manik.
»Früher oder später wird er es erfahren«, sagte dieser, als wäre nichts gewesen. »Wenn die sofortige Bekanntgabe der Nachricht die Anspannung hier lösen würde, sehe ich keinen Grund, warum wir uns dem verweigern sollten.«
Konrad ließ sich mit seiner Antwort Zeit. So vermittelte er den Eindruck, von dieser heiklen Situation unbeeindruckt zu sein. Als er schließlich aufgestanden war, nickte er knapp.
Manik verstand die Botschaft und sprach weiter: »Die Finsternis, die über Saphyria hereingebrochen ist und uns zur Flucht auf die Erde getrieben hat …«, begann er.
»Ja, wir wissen alle, worum es geht, du Idiot«, rief Sett verärgert. »Jetzt halt uns nicht mit einem Geschichtsvortrag hin, sondern gib uns die Informationen, die wir haben wollen.«
Ohne sich an der Unterbrechung zu stören, fuhr Manik fort: »Wir glauben, dass die Finsternis jetzt auch auf der Erde eingekehrt ist.«