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Michaela König verschwindet 1990 nur einen Tag nach ihrem Abiball. Hat die junge Frau ihre Pläne von der Reise in die weite Welt tatsächlich spontan in die Tat umgesetzt? Vieles deutete damals darauf hin. Vierunddreißig Jahre später findet der neue Besitzer des ehemaligen Bienenhauses der Familie König Michaelas sterbliche Überreste unter den morschen Fußbodendielen. Die Bienenkönigin, wie ihre Freunde sie nannten, hat den Westerwald niemals verlassen. Schritt für Schritt recherchieren Kriminalhauptkommissarin Nina Moretti und ihr Team Michaelas letzte Wochen, Tage und Stunden. Was ist in der Nacht nach der Abifete tatsächlich passiert?
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Seitenzahl: 453
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9762-7
Micha KrämerDer Tod derBienenkönigin
Für Oscar
Prolog
Sonntag, 17. Juni 1990Naturschutzgebiet Seifer Wald/Westerwald
Mit dem ersten Licht des frühen Tages kam das Leben zurück in den Wald. Zuerst waren da nur ein zaghaftes Zirpen und Pfeifen gewesen.
Doch jetzt, wo bereits vereinzelt die ersten Sonnenstrahlen durch das dichte Grün der Bäume fallen, ist der Gesang der unzähligen verschiedenen Vögel zu einer vielstimmigen Euphonie des Lebens angewachsen.
Um mich herum schwirren Insekten, wie Bienen, Hummeln, Schmetterlinge und Käfer.
Am Rande der Lichtung blüht rot der Klatschmohn.
Ich entdecke einen Fuchs, der im Morgengrauen durch das knöchelhohe Meer aus feuchtem Gras und Wildblumen schleicht. Das schlaue Tier bleibt nun stehen, verweilt einen Moment und sieht neugierig zu mir herüber.
Was wohl in dem Kopf des Räubers vorgeht? Kann er erkennen, welch schändliche Tat hier geschieht?
„Gscht“, zische ich leise, worauf Reineke das Weite suchend im Unterholz verschwindet. Das ist gut so, da ich bei dem, was ich tun muss, keinerlei Beobachter ertragen kann. Weder tierische und schon gar keine menschlichen. Ich selbst bin kein Mensch mehr. Nicht nach dieser Entscheidung, die ich selbst so unendlich verabscheue. Wie konnte das passieren? Wie soll ich in Zukunft noch ohne Abscheu in den Spiegel sehen können?
Nun starren Michaelas Augen leer in den wolkenlosen Morgenhimmel. Das Feuer und die Leidenschaft, die ich immer so an ihr bewundert habe, sind für immer erloschen. Nie wieder werde ich ihr Lachen hören. Nie wieder werde ich lachen können. Die Schuld, dessen bin ich mir bewusst, wird von nun an mein Begleiter sein. Wohin ich auch gehe, was immer ich auch tue.
Im dichten Wald, keine fünfzig Meter von hier, habe ich ein Grab geschaufelt. Es war nicht schwer. Der Boden hier im Seifen ist locker und lässt sich leicht bearbeiten.
Doch der Gedanke, Michaela in Erde zu betten, sie mit Waldboden zu bedecken, widert mich an. Nein, dies ist keine gute Idee.
Ich hebe sie auf und trage sie zurück auf die Veranda des Bienenhauses.
Hier bei ihren Bienen, zumindest glaube ich das, war immer ihr Seelenort gewesen. Hier werde ich sie bestatten. Nicht in der kalten Erde. Es ist das Einzige, was ich noch für sie tun kann. Dann werde ich verschwinden. Zumindest für einige Zeit.
Das Grab im Waldboden werde ich anderweitig nutzen.
Kapitel 1
Samstag, 13. Juli 2024, 10:02 UhrNeue Straße, Kausen/Westerwald
Thomas Kübler saß auf der überdachten Veranda hinter dem Haus, nippte an seinem Kaffee und ließ seinen Blick über das Tal mit dem Naturschutzgebiet Seifer Wald schweifen. Mit seiner linken Hand kraulte er Oscar, den kleinen, wuscheligen pechschwarzen Schäferhundmischling, aus Kroatien, der neben ihm auf der bequemen Hollywoodschaukel ruhte, hinter den Ohren. Vor ihm auf den Holzdielen lag die weiße Herdenschutzhündin Alba und beobachtete durch die Streben des gedrechselten Holzgeländers die Kühe und Pferde, die friedlich auf ihren Weiden grasten.
„Sag mal, Mausbär, wolltest du heute Morgen nicht den Hang mähen?“, fragte seine Frau Alexandra, trat neben den großen weißen Hund und sah auf die verwilderte Fläche hinter dem Geländer, wo üppig blühende Disteln, Brennnesseln und anderes undefinierbares Gestrüpp wucherten.
„Seit wann willst du, dass ich den Hang mähe? Ich dachte, du magst es, wenn es so urwüchsig ist“, wunderte er sich.
Thomas mochte es ordentlich. Was nicht nur mit seinem Beruf als deutscher Kriminalbeamter zu tun hatte. Nein, bereits als Kind war es ihm immer wichtig gewesen, dass die Dinge klare Strukturen und ihre Ordnung hatten.
Seine Frau Alexandra war da anders. Die war mehr so eine Ökohippietussi, der es zum einen nicht bunt genug und auch nicht Natur genug sein konnte.
Im Grunde, wenn er so darüber nachdachte, passten sie beide eigentlich so gar nicht zueinander. Doch vielleicht war gerade dies das Geheimnis ihrer perfekten Partnerschaft. Ja, sie beide waren wie der sprichwörtliche Topf mit dem passenden Deckel.
„Wegen mir musst du das auch nicht mähen. Aber du hattest gesagt, dass du es wolltest“, stellte sie klar und verscheuchte dann mit einem „Tüt tüt“ Hund Oscar von der Hollywoodschaukel.
„Lust hab ich auch eigentlich gar keine“, gab er zu und balancierte die Tasse in seiner Rechten aus, während Alex sich neben ihn plumpsen ließ.
Nein, wenn er ehrlich war, würde er am liebsten einfach nur hier sitzen, Kaffee trinken und die Ruhe genießen. Wobei es samstagsvormittags niemals ruhig in diesem Dorf und den umliegenden Wäldern war.
Nein, allerweilen tuckerte irgendeiner der Dorfbewohner mit seinem Traktor vorbei. Diese Vehikel aus den Fünfzigern, Sechzigern oder Siebzigern gab es in so einem Westerwalddorf wie Kausen gefühlt in jedem zweiten Haushalt. Viele heizten hier noch mit selbst geschlagenem Holz aus den umliegenden Wäldern. Das musste ja irgendwie nach Hause gebracht werden. Thomas vermutete auch, dass nicht wenige der Traktorfahrer aus purer Freude ihren Trecker ausführten.
Hinzu kamen das samstägliche Knattern von Rasenmähern, Freischneidern und das Heulen von Motorsägen. Ruhe kehrte in so einem Dorf dann erst wieder am Abend zur Dämmerung ein.
„Dann lass es. Wiese mähen wird eh vollkommen überbewertet“, seufzte sie und hielt plötzlich eine ihrer selbst gedrehten, medizinischen Kippen in der Hand.
„Ach Bärchen, muss das hier sein?“, stöhnte er genervt.
„Ja, das muss sein“, erwiderte sie, ließ das Feuerzeug klicken, entzündete den Joint, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in den wolkenlosen Himmel.
„Mausbär, du solltest das auch mal probieren. Du wirst sehen, wie dich das entspannt“, fand sie wie so oft und hielt ihm die Zigarette hin.
„Ich bin entspannt“, antwortete er wie bereits so oft zuvor.
Kübler wusste, wie das jetzt laufen würde. Sie nahm noch ein paar Züge, begann irgendwann albern zu kichern, wurde immer flapsiger und dann ziemlich anhänglich. Meistens endete es dann damit, dass sie beide übereinander herfielen. Was er jetzt aber eigentlich gar nicht so schlimm fand.
„Wo sind eigentlich die Kinder?“, erkundigte er sich und blickte sich um.
„Linus ist zum Feuerwehrhaus, und Leah wollte zu Emma und Emilia“, erklärte sie und lehnte sich bei ihm an.
Thomas nickte wissend, nahm noch einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse dann auf dem Beistelltisch neben der Schaukel ab, da das Mobiltelefon in seiner Brusttasche zu läuten begann.
„Moin Thomas“, grüßte ihn die Stimme von Polizeihauptmeister Jürgen Wacker.
„Moin Jürgen“, antwortete er und war gespannt, was der Kollege der Schutzpolizei wohl an einem Samstagvormittag von ihm wollen könnte.
Nur so zum Spaß oder aus Langeweile rief der sicherlich nicht an.
„Sag mal, Kübler, bist du zu Hause?“, erkundigte er sich.
„Ja, bin ich. Was gibt es denn?“
„Wir hatten gerade einen Anruf auf der Leitstelle. Von einem Herrn Friedrichs. Dem Mann gehört ein altes Bienenhaus im Naturschutzgebiet Seifer Wald zwischen Kausen und Molzhain. Kennst du das?“, erkundigte sich Wacker.
Kübler erhob sich von der Hollywoodschaukel und trat an das Geländer der Veranda.
„Ja, kenne ich. Ist Luftlinie keine eintausend Meter von mir. Aber Bienen gibt es da schon lange nicht mehr. Das ist mehr ein Trümmerhaufen als ein Bienenhaus. Was soll denn damit sein?“, hakte er nach.
An der verfallenen Hütte im Wald kam er gelegentlich auf seinen Spaziergängen mit den Hunden vorbei. Menschen war er dort noch nie begegnet. Wem die Ruine und das Waldstück drum herum gehörten, wusste er nicht.
„Dieser Herr Friedrichs hat das Gelände gemeinsam mit einem Freund gekauft und glaubt, er habe dort sterbliche Überreste eines Menschen gefunden“, berichtete Wacker.
„Eine Leiche? Hier? Direkt bei mir hinter dem Haus im Wald?“, war er erstaunt.
„Ja … Nein … da sind wohl nur Knochen … glaub ich“, stammelte Wacker.
„Dann würde ich sagen, ihr fahrt mal hin und schaut euch das an“, fand Thomas.
„Würden wir ja … wir sind ja bereits auf dem Weg. Dummerweise wissen wir nicht genau, wo wir lang müssen.“
Thomas kniff die Augen zusammen und blickte über das Waldstück hinweg in Richtung Molzhain. Was hatte er von hier doch für einen sensationellen Ausblick über das Tal und die dahinterliegenden Berghänge, kam ihm seit Langem noch einmal dieser Gedanke. Je länger er hier wohnte, umso selbstverständlicher wurde der Anblick dieses wunderbaren grünen Flecks Erde. Ob es den Menschen, die am Meer lebten, wohl ähnlich ging? Konnte man sich am Anblick der tosenden Wellen sattsehen?
„Ihr seid zu weit unten. Ihr müsst zurück ins Dorf und dann weiter oben über den Feldweg rein. So quasi hinter dem Bürgerhaus“, erklärte er den Kollegen, nachdem er den Streifenwagen hinter dem Wald erspäht hatte. Zumindest hoffte er, dass es sich bei dem Wagen tatsächlich um den der Kollegen handelte. Genau konnte er es auf diese Entfernung und ohne ein Fernglas nicht sehen. Er würde schätzen, dass es gut und gerne zwei Kilometer Luftlinie zwischen ihm und den Kollegen waren.
Der Wagen setzte nun zurück.
„Wenn der Anrufer sich nicht irrt und es sich tatsächlich um die Knochen eines Menschen handelt, wäre das ja eigentlich ein Fall für euch“, meinte Wacker nun.
„Wenn, mein Lieber, wenn“, fand Thomas und beobachtete, wie das Auto nun wendete und im Dorf verschwand.
Eine Berührung an seinem Bein ließ Thomas zum Boden blicken. Oscar. Der kleine schwarze, wuschelige Mischling war anhänglicher als eine Klette und brachte Thomas auf eine Idee.
„Weißt du was, Jürgen? Ich schnappe mir den Hund und komme euch ein Stück entgegen. Bis gleich“, beschloss er spontan und legte auf.
„Nimmst du Alba auch mit?“, erkundigte sich Alexandra.
„Klar, wenn sie will.“
Alba wollte nicht. Der Herdenschutzhund reagierte noch nicht einmal, als Thomas ihn rief und mit der Leine winkte.
Wobei … doch. Die Hündin drehte sich demonstrativ von ihm weg, erhob sich, sprang zu Alex auf die Hollywoodschaukel und legte ihren Kopf auf Frauchens Schoß. Dieser Hund wurde wahrlich mit jedem Tag fauler.
„Bis gleich, ihr beiden“, lachte Alex und kraulte dabei die Hündin hinter den Ohren.
Thomas und Oscar benötigten keine zehn Minuten bis zu der verfallenen Hütte im Wald. Er staunte nicht schlecht, als er die Lichtung zwischen den hohen Buchen und Eichen betrat. Vor etwa zwei Wochen war an dieser Stelle nämlich noch gar keine Lichtung gewesen. Irgendwer war der zugewucherten Bude gehörig mit Motorsäge und Freischneider zu Leibe gerückt. Der Weg von Molzhain kommend, war ebenfalls vom Gestrüpp befreit. Dort parkten ein VW Sharan und der Einsatzwagen der Schutzpolizei.
„Moin Kübler“, begrüßte ihn der Mann in Arbeitskleidung, der mit einem weiteren Herrn und den beiden Uniformierten vor der Ruine stand.
„Friedrichs, was machst du hier?“, erkannte er den ehemaligen Wirt des Stadthallenrestaurants sofort. Mit dem hätte er hier nun so gar nicht gerechnet. Das Letzte, was er gehört hatte, war, dass der als Restaurantleiter bei einem Kölner Rotlichtgangster gearbeitet hatte.
„Der Christian und ich renovieren hier unser Bienenhaus“, antwortete er und deutete auf den zweiten Mann in Arbeitskluft, der freundlich grüßte.
„Euer Bienenhaus?“, war Thomas erstaunt und überlegte krampfhaft, woher er diesen Christian kannte. Der war ihm doch auch schon einmal irgendwo über die Füße gelaufen.
„Ja, unser Bienenhaus. Wir haben die Bude vor sechs Wochen ersteigert“, klärte der Gastronom ihn auf.
„Ähm, wofür? Was wollt ihr mit der Bruchbude?“
„Mensch, Kübler, wozu braucht man ein Bienenhaus? Bestimmt nicht, um hier Waschbären zu züchten“, antwortete Dominic Friedrichs genervt und deutete dann zu der Hütte. „Bevor du noch mehr dämliche Fragen stellst, sollten du und deine Kollegen lieber mal schauen, was wir unter den Dielen der Veranda gefunden haben.“
Thomas trat näher und schaute zwischen den morschen und bereits teilweise herausgerissenen Bodendielen einer überdachten Veranda hindurch.
Um zu erkennen, dass der Schädel und die Knochen zu einem Menschen gehörten, musste man kein Mediziner sein. Nein, das war ziemlich eindeutig.
„Und, Kübler? Was meinst du? Die sieht aus, als läge sie schon länger da“, raunte Polizeihauptmeister Wacker ihm zu.
Thomas drehte seinen Kopf und sah ihn erstaunt an.
„Wie kommst du auf eine Sie? Könnte doch genauso gut ein Kerl sein.“
Wacker zuckte mit den Schultern.
„Ähm … nur so. Gefühlsmäßig würde ich sagen, dass der Kopf … die Zähne … also, keine Ahnung. Aber ich würde wetten, dass es sich um eine Frau handelt“, mutmaßte der Uniformierte, wie Thomas fand, ziemlich unprofessionell. Ob es sich bei den sterblichen Überresten um Männlein oder Weiblein handelte, sollte man nämlich den Profis, sprich der Gerichtsmedizin, überlassen. Solange die nichts festgestellt hatten, musste man alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Kübler besah das Skelett eine Weile und schoss dann ein paar Fotos mit dem Mobiltelefon.
„Ich würde sagen, ihr beide sperrt das jetzt hier mal weiträumig ab, und ich verständige den Rest der Mannschaft“, beschloss er dann.
„Wie, absperren? Ach, Kübler, sag mal, spinnst du? Wir wollen hier weiterkommen“, beschwerte sich prompt Dominic Friedrichs.
„Sorry, Friedrichs. Hier ist erst mal Baustopp, bis die Spurensicherung das untersucht hat“, stellte Thomas klar, während er die Fotos samt Standort an Kriminalhauptkommissarin Nina Moretti sendete.
Nina genoss diese ruhigen Tage am Wochenende, an denen sie morgens ausschlafen konnte. Gegen neun Uhr war sie aufgestanden, hatte ein paar Runden im heimischen Swimmingpool gedreht und saß nun gemeinsam mit ihrem Mann Klaus und den Zwillingen auf der Terrasse am Frühstückstisch. Es gab frische Brötchen, Croissants und sogar ein Rührei. Dazu dieses wunderbare Sommerwetter. Ein Morgen wie in einem Kitschroman. Herrlich!
„Fein habt ihr das gemacht“, lobte sie die Zwillinge, die nach den Sommerferien bereits in die zweite Klasse gehen würden. Wahrlich, an den Kindern sah man, wie man selbst älter wurde. Groß waren sie geworden.
„Das Rührei habe ich heute ganz alleine gemacht“, erklärte Matteo stolz.
„Wirklich? Wow! Aus dir wird bestimmt einmal ein richtig guter Koch“, antwortete Nina nicht wirklich ernst gemeint.
„Nein, Mama. Wenn ich groß bin, werde ich Commissario in Neapel, genauso wie Onkel Antonio“, antwortete er.
„Ach … wie Onkel Antonio. Aber hier in Betzdorf brauchen wir doch auch Polizisten? Warum wirst du nicht hier Kriminalkommissar?“, hakte sie scherzhaft nach und griff nach ihrem Mobiltelefon, das auf dem Tisch neben dem Teller vibrierte. Irgendwer schickte ihr Nachrichten.
„Nein, doch nicht in Betzdorf. Ich möchte lieber nach Neapel. Das liegt am Meer, und da ist es auch sonst viel schöner“, fand der Siebenjährige.
Obwohl Nina bereits eine Antwort auf den Lippen lag, sagte sie nichts, sondern betrachtete die Fotos, die ihr Kübler gerade gesendet hatte.
„Is was?“, erkundigte sich Klaus irgendwann besorgt und neugierig zugleich.
„Nein … ich weiß nicht. Ich glaub, ich muss gleich mal kurz zu Kübler“, antwortete sie ausweichend und hielt Klaus, der rechts neben ihr saß, kurz das Display des Mobiltelefons hin.
„Oh. Das sieht so aus, als ob das heute nichts gibt mit unserem Ausflug in den Kletterwald und zum Tierpark nach Bad Marienberg“, meinte er.
Nina bemerkte die enttäuschten Gesichter der Zwillinge.
„Doch. Das gibt was. Ich fahr nur eben schnell zu Thomas, schau mir das an und bin in einem Stündchen wieder da. Ihr könnt in der Zeit ja schon mal den Picknickkorb packen“, erklärte sie und bemerkte Matteos fragenden Blick auf ihr Handy. Zu gerne würde der kleine Vorwitz wissen, was es da zu sehen gab. Doch die Fotos, die Kübler ihr gerade geschickt hatte, waren bestimmt nichts für einen erst siebenjährigen zukünftigen neapolitanischen Commissario. Überhaupt hoffte sie, dass Matteo seinen Berufswunsch irgendwann noch einmal überdenken und etwas Anständiges lernen würde. Etwas, bei dem er keine Pistole tragen müsste.
Bis sie am Bienenhaus im Wald ankam, brauchte Nina keine zwanzig Minuten. Wobei sie die meiste Zeit darauf verwendet hatte, sich zu Hause eben schnell umzuziehen und ihre Dienstwaffe aus dem Safe zu holen. Die reine Fahrzeit hatte noch nicht einmal fünf Minuten betragen.
Am Leichenfundort warteten Kübler, die beiden uniformierten Kollegen Wacker und Peters sowie zwei Zivilisten auf sie.
Mit den Letzteren hätte sie hier und heute allerdings nicht gerechnet.
Sie parkte ihren Käfer direkt hinter Wackers Streifenwagen und bemerkte im Rückspiegel dann einen alten Opel Corsa, der nun hinter ihr hielt. Eindeutig der Wagen von Gerichtsmedizinerin Frau Doktor Kim Kunze. Nina würde erst wieder wegfahren können, wenn auch Kim wieder fuhr. Das war nicht gut. Kim war gründlich und würde nicht so schnell wieder abdampfen. Nina stieg aus ihrem Käfer und vernahm, wie sich auf dem Waldweg noch weitere Fahrzeuge näherten. Der silberne Mercedes Kombi von Kriminalhauptkommissar Torsten Liebig und der Golf von Kriminalkommissar Leon Schwert. Dass dieser zeitgleich mit der hübschen Gerichtsmedizinerin am Tatort eintraf, fand Nina nicht ungewöhnlich. Die beiden waren ein Paar, taten aber vor den Kollegen zumeist, als würden sie sich nur flüchtig kennen. Nina hatte keine Ahnung, was dieses Versteckspiel sollte, da es sowieso jeder wusste, der nicht vollkommen blind war. Seit Kurzem wohnten die beiden sogar zusammen. Warum die jetzt in getrennten Wagen kamen, war ihr schleierhaft.
„Moin Männers“, begrüßte Nina nun erst einmal die Gruppe um Thomas Kübler, die, wie es sich gehörte, hinter einer Polizeiabsperrung wartete.
Nacheinander gab sie den Herren die Hand.
„Und was macht ihr beiden hier?“, musste sie wissen, als sie bei Dominic Friedrichs und Christian Haas, dem Küchenchef des Hotels Zum weißen Stein, angelangt war.
„Wir sind die neuen Eigentümer des Bienenhauses“, erklärte Christian.
„Ach, stimmt, ihr beiden seid ja unter die Imker gegangen“, fiel ihr wieder ein Gespräch mit dem Koch aus dem Frühjahr ein, als sie sonntags mit Ninas Schwiegermutter im Weißen Stein zum Dinner gewesen waren.
Zugegeben, Kim hatte sich das Wochenende etwas anders vorgestellt. Gestern am Abend waren sie und Leon auf einem Konzert in Koblenz gewesen. Vorher hatten sie gelost. Er hatte verloren und daher fahren müssen, während sie trinken durfte. Es war dann doch etwas mehr geworden als geplant, weshalb sie das Ganze gerade heftig bereute. Ihr Kopf fühlte sich an, als steckte er in einem Schraubstock. Das Aspirin, das sie sich nach dem Aufstehen eingeworfen hatte, schien, zumindest bisher, noch nicht zu wirken.
Als Thomas Küblers Nachricht sie erreicht hatte, lag Kim noch im Bett, während Leon bereits einkaufen war. Dies war der Grund, weshalb sie schon einmal vorgefahren war. Jetzt war er sauer. Sie habe noch Restalkohol, hatte er gemeint und damit vermutlich recht. Wer wusste das nicht besser als sie selbst?
Während sie sich einen der frischen Einwegoveralls überzog, sah sie zu ihm herüber. Leon beobachtete sie, weshalb sie ihm nun erst einmal die Zunge herausstreckte. Er grinste. Das war gut und ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich bereits wieder beruhigt hatte. Sie sah zum Himmel, wo dichtes Laubwerk den Blick zur Sonne verbarg und angenehmen Schatten spendete. Das Klima hier im Wald würde sie als äußerst angenehm bezeichnen, dennoch hoffte sie, dass Leon keine gefrorenen oder verderblichen Lebensmittel eingekauft hatte und diese nun im Kofferraum spazieren fuhr.
Nachdem Kim sich umgezogen hatte, machte sie sich auf den Weg zu dem Bienenhaus. Dort glaubte sie ihren Augen gerade nicht zu trauen. An der Absperrung stand Nina Moretti mit Thomas Kübler, zwei Uniformierten und zwei Kerlen in Arbeitskleidung und unterhielt sich. Was ja auch in Ordnung war. Was allerdings überhaupt nicht ging, war der schwarze, wuschelige Hund, der gerade direkt vor der Veranda des Bienenhauses seinen Rücken krümmte und ein Häufchen machte.
„Ach, Leute, das gibt es ja wohl nicht! Wessen Köter kackt denn da direkt neben den Fundort?“, beschwerte sie sich nun erst einmal lautstark.
Es war Kriminaloberkommissar Kübler, der schlagartig panisch wurde und den Hund beim Namen rief. Sie hätte es sich denken können. Dieser Kübler war ein seltsamer Kauz. Mit dem würde Kim in diesem Leben nicht mehr wirklich warm werden.
Den Hund mit dem Namen Oscar schienen die Rufe seines Herrn vollkommen kalt zu lassen. Anstatt herbeizueilen, begann der nun auch noch zu buddeln.
Kim schlüpfte unter dem Flatterband hindurch und stapfte zornig auf den Vierbeiner zu.
„Gscht. Ab mit dir“, scheuchte sie das schwarze, wuschelige Wollknäuel, das daraufhin das Weite suchte.
Kim mochte Hunde. Ja, sie könnte sich sogar vorstellen, irgendwann selbst einmal einen zu besitzen. Was sie nicht mochte, waren Typen wie diesen Kübler, die es einfach nicht auf die Kette bekamen, ihre Viecher zu erziehen.
„Wegmachen. Sofort!“, stellte sie klar, sah dabei zu Kübler und deutete auf den Haufen, von dem ein wirklich übler Geruch ausging.
Langsam trat sie auf das Bienenhaus zu und blieb dann vor den aufgerissenen und teils arg vermoderten Dielenbrettern stehen. Das Skelett – vielmehr der Leichnam – schien auf dem Rücken abgelegt worden zu sein. Zumindest deutete die Position des Schädels darauf hin. Was aber auch nichts heißen musste, da Tiere die Lage der Knochen verändert haben könnten. Organisches Gewebe gab es keines mehr. Kim beugte sich vor und betrachtete den Schädel genauer. Dann wanderte ihr Blick hinab bis zum Becken, welches, wie auch der Rest der Knochen, sehr gut erhalten war.
Der sogenannte Beckenring lag frei von Erde und war eher kreisförmig ausgelegt. Es handelte sich also ziemlich eindeutig um eine Frau.
„Was meinst du?“, erkundigte sich Leon, der neben sie getreten war und sich nun ebenfalls vorbeugte. Er trug wie sie Schutzkleidung.
„Eine Frau. Noch nicht sehr alt“, sagte sie das, was ihr in den Sinn kam.
„Was ist das?“, fragte er und deutete auf einige kreisrunde dunkle Punkte.
„Das dürften Knöpfe sein. Drei, vier, vielleicht von einer Jacke oder Jeanshose“, überlegte sie laut.
„Du meinst, sie war bekleidet?“, meinte er.
Kim nickte.
„Ja, sieht so aus. Auf alle Fälle liegt sie schon ziemlich lang hier“, war sie sich sicher.
„Was meinst du mit lang?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Ein paar Jahre. Vielleicht auch ein paar Jahrzehnte. Das kann ich erst sagen, wenn ich sie bei mir im Institut habe“, antwortete sie und betrachtete dann noch einmal den Schädel genauer.
„Denke, du machst erst mal ein paar Fotos, und anschließend fangen wir an, alles Stück für Stück zu bergen“, beschloss sie und erhob sich, um aus dem Auto ihren Koffer zu holen. Leon folgte ihr. Seine Kamera lag ja vermutlich auch noch in seinem Wagen.
„Wie geht es dir?“, erkundigte er sich leise im Gehen.
„Frag nicht. Ich glaube, ich werde langsam zu alt für zu viel Alkohol“, winkte sie ab.
Nina beobachtete von hinter der Absperrung aus, wie Kim und Leon einen ersten Blick auf die skelettierte Leiche warfen und sich dabei leise unterhielten.
Dass der Fund der sterblichen Überreste ein Fall für die Kripo war, stand für Nina außer Frage. Der oder die Tote lag schon länger dort. Zumindest war dies ihr Gedanke gewesen, als sie Küblers Fotos am Frühstückstisch zum ersten Mal gesehen hatte.
Das Bienenhaus war, dies hatten die beiden Hobbyimker ihr vorhin berichtet, irgendwann vor dem Zweiten Weltkrieg errichtet und seitdem mehrfach renoviert und umgebaut worden. Nina ging nicht davon aus, dass es sich bei den Dielen der Veranda noch um die Bretter handelte, die dort vor dem Krieg verarbeitet worden waren. Nein, die waren bestimmt schon zwei- oder dreimal in der langen Zeit erneuert worden. Bei diesen Arbeiten wäre der Leichnam sicherlich ebenfalls entdeckt worden. Der oder die Tote musste dort also irgendwann zwischen der letzten Renovierung des Holzbodens und heute abgelegt worden sein. Ein Skelett aus der Vorkriegszeit oder aus einer noch weiter zurückliegenden Epoche schied in ihren Augen daher aus.
Das Bienenhaus war seit über dreißig Jahren nicht mehr in Gebrauch und seitdem Stück für Stück verfallen. Ergo mussten die Bretter aber mindestens dreißig Jahre alt sein. Ob der Mensch unter der Veranda eines gewaltsamen Todes gestorben war, würden Kim Kunze und ihr Team hoffentlich herausfinden. Dass hier etwas im Argen lag, war offensichtlich. Kein Mensch wurde legal unter dem Fußboden einer Hütte im Wald bestattet.
„Wusstest du, dass die Bude hier steht?“, erkundigte sie sich bei Kübler, der gerade mit einem Klappspaten in der Hand unter der Absperrung hindurchschlüpfen wollte.
„Ja klar. Das Bienenhaus steht hier schon ewig. Ich geh hier schon mal mit den Hunden. Aber nur im Sommer. Im Winter, oder wenn es mal ein paar Tage geregnet hat, ist es drum herum ziemlich matschig. Dann ersäufst du hier im Morast“, wusste er zu berichten, bevor er in Richtung des Hundehaufens weiterging.
Nina blickte sich um. Etwas abseits bei dem Streifenwagen standen Polizeihauptmeister Jürgen Wacker und Kriminalhauptkommissar Torsten Liebig, der innerhalb des Teams gemeinsam mit Kriminalkommissar Leon Schwert für die Spurensicherung zuständig war und dementsprechend über die nötigen Qualifikationen verfügte. Die beiden unterhielten sich angeregt. Wobei … nein … das Ganze wirkte auf Nina, als stritten sie. Um was es genau ging, konnte sie nicht verstehen, da die beiden recht leise aufeinander einsprachen.
Sie wusste, dass Wacker und Liebig auch privat Kontakt pflegten. Nicht nur im Schützenverein. Die kannten sich wohl bereits seit ihrer Jugend.
Nina war von Haus aus neugierig, weshalb sie nun einfach zu den Kollegen hinüberschlenderte, um zu hören, um was es da ging.
Als Wacker und Liebig sie bemerkten, unterbrachen sie ihr Gespräch.
Es war also, wie es schien, nicht für ihre Ohren bestimmt. Vermutlich ging es um irgendetwas Privates.
„Hallo Torsten“, begrüßte sie den Kollegen.
„Moin Nina“, erwiderte er kurz angebunden und ging dann einfach an ihr vorbei in Richtung der Hütte.
Sie wandte sich daher Wacker zu, dessen Laune, seinem Gesichtsausdruck nach, ebenfalls nicht die Beste zu sein schien.
„Sag mal, Jürgen, was für eine Laus ist dem Torsten denn über die Leber gelaufen?“
„Dem Liebig? Keine Ahnung. Vielleicht Stress daheim. Frag ihn“, tat der etwas beleibte Beamte ab, griff in seine Jacke und zog eine Schachtel Zigaretten hervor.
„Habt ihr beiden Zoff?“, blieb sie weiter am Ball.
„Nein. Wie kommst du darauf? Alles bestens“, tat er verwundert. Nina hatte einen guten Riecher dafür, wenn man sie belog. Irgendetwas war hier faul, und weder Wacker noch Liebig wollten mit ihr darüber reden.
Kapitel 2
Samstag, 13. Juli 2024, 20:02 UhrKarl-Stangier-Str., Betzdorf/Westerwald
Der Tag war, trotz des morgendlichen Leichenfundes, doch noch sehr entspannt verlaufen. Nina und Klaus waren wie geplant gegen Mittag nach Bad Marienberg in den Kletterwald gefahren. Während er mit den Kindern durch die Wipfel der Bäume kletterte, war sie nach ersten kläglichen Versuchen lieber am Boden geblieben, hatte sich ein schattiges Plätzchen gesucht und gelesen. Das mit der Kletterei war definitiv nicht ihr Ding.
Im Anschluss waren sie gemeinsam zu Oma Inge Moretti in die Karl-Stangier-Straße gefahren. Hans Peter Thiel, der Lebensgefährte ihrer Mutter, hatte den Grill angeheizt. Zu den Würstchen gab es Inges selbst gemachten Kartoffelsalat und frisch gebackenes Brot. Ein einfaches Mahl und dennoch ein Genuss.
Um den Fall Bienenhaus würde Nina sich am Montag kümmern.
Eile war hier nicht geboten. Dies hatte Gerichtsmedizinerin Kim Kunze Nina bereits am Fundort der Leiche bestätigt.
Die Tote, Kim war sich sicher, dass es sich um eine Frau handelte, lag dort, genau wie auch Nina es bereits nach Betrachten der von Kübler gesendeten Fotos vermutet hatte, seit Jahren. Es machte keinen Sinn, sich bereits heute in die Arbeit zu stürzen.
Normalerweise zählte bei den Ermittlungen in Mordfällen jede Stunde. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Je früher man begann, die Zeugen zu befragen und Spuren auszuwerten, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, den Fall zu lösen. Doch nicht so in diesem Fall. Zuerst würden sie die Obduktion abwarten und dann im nächsten Schritt versuchen, die Identität der Toten zu klären. Hauptkommissar Liebig und sein Team hatten Unmengen an Spuren gesichert. Diese auszuwerten würde Tage dauern.
Die Spurenlage rund um die Hütte im Wald war nicht dürftig. Nein, im Gegenteil. Es gab Hunderte von Puzzlestücken, von denen die meisten aber vermutlich überhaupt nichts mit dem eigentlichen Puzzle zu tun hatten, welches es hier zu lösen gab. Hunderte Menschen und Tiere waren in den letzten Jahren dort gewesen und hatten ihre Spuren und somit auch jede Menge Unrat hinterlassen.
Zu unterscheiden, welche Dinge mit der toten Frau zu tun hatten und welche nicht, war faktisch unmöglich. Dennoch hatten die Kollegen der Spurensicherung über den kompletten Tag alles gründlichst dokumentiert und aufgesammelt, was von Bedeutung erschien.
Das Bienenhaus selbst war eine Ruine. Die Wände gemauert, der Rest aus Holz. Auf einer Seite war der Bau offen, dort hatten sich wohl die Kästen mit den Bienen und dem Honig befunden. Dutzende der teils zerstörten Kisten hatten überall verstreut herumgelegen. Die meisten davon wohl ein Fall für den Müll.
Überhaupt war es im Grunde total schwachsinnig, das Bienenhaus wiederherzurichten. Das Einfachste würde es sein, die Bude abzureißen und neu zu bauen. Doch dies war leichter gesagt als getan.
Auch Nina hatte einen Moment gebraucht, bis sie den Sinn hinter der aufwendigen Instandsetzung verstand. Dominic und Christian, die beiden neuen Eigentümer, hatten es ihr erklärt.
Das Gelände lag in einem Naturschutzgebiet. Da durfte man nicht einfach mal so ein kleines Häuschen errichten. Noch nicht einmal, um Bienen zu halten.
Früher war so etwas weniger kompliziert gewesen. Da hatte es niemanden interessiert, wer was wo im Wald errichtete. Doch nicht so im Deutschland 2024. Da ging nichts mehr, ohne den Amtsschimmel einmal kräftig wiehern zu lassen. Rechtlich war es einfacher, die bestehende Hütte zu sanieren, als eine Genehmigung für ein neues Häuschen zu bekommen. Die Chancen für einen Neubau tendierten, zumindest behaupteten dies die beiden Jungimker, gegen null. Nina war gewillt, dies zu glauben.
„Was ist das da eigentlich für eine Sache mit diesem Bienenhaus?“, erkundigte sich Kriminaloberkommissar a. D. Hans Peter Thiel, der bis vor etwa zehn Jahren Ninas Partner in der Kriminalinspektion gewesen war und ungefähr genauso lange nun mit ihrer Mutter zusammenlebte.
Thiel war, obwohl sie es ihm gegenüber niemals zugeben würde, so etwas wie ihr Ersatzvater. Darüber hinaus war der alte Bulle aber auch ein Freund, auf den sie sich blind verlassen konnte.
„Ach, das. Da hat wohl jahrelang eine tote Frau unter den Dielenbrettern der Veranda gelegen. Wir sind da noch ganz am Anfang und wissen im Grunde gar nichts. Weder, wie lang sie da schon lag, noch, wer sie sein könnte“, gab sie brav Auskunft, obgleich ihn das eigentlich gar nichts mehr anging und sie über Dinge, die die Arbeit betrafen, nicht mit Außenstehenden reden durfte. Bei Thiel machte Nina da aber wie so häufig eine Ausnahme. Irgendwie gehörte der nämlich auch nach so vielen Jahren im Ruhestand immer noch zum Team. Gelegentlich half er sogar schon mal aus, wenn Not am Mann und die Personaldecke wieder einmal dünn war. Angeblich besaß er einen Beratervertrag mit der Staatsanwaltschaft. Gesehen hatte den, soweit Nina das wusste, bisher noch niemand. Aber es gab ihn wohl.
„Wo genau ist dieses Bienenhaus?“, hakte der Alte nach und trank einen Schluck Bier aus der Flasche.
„Das ist im Wald direkt bei Kübler hinter dem Haus. In diesem Naturschutzgebiet“, gab sie Auskunft.
Er nickte und schien angestrengt nachzudenken.
„Gab es in den letzten Jahren, also vor meiner Zeit, mal irgendeinen Vermisstenfall, den ihr nie aufklären konntet?“, fragte sie nun einfach einmal nach.
„Ja, da waren schon einige. Weißt du ja selbst. Es verschwinden ja öfter schon mal Leute. Wobei die meisten aber nach einiger Zeit wieder auftauchen. Spontan fällt mir keiner ein, den ich mit dem Fund der Toten in Verbindung bringen würde. Bei diesem Bienenhaus bin ich auch noch nie gewesen. Wusste noch nicht einmal, dass es da so etwas gibt“, antwortete er.
Nina nahm ihr Mobiltelefon vom Tisch und öffnete eines der Fotos, die Kübler ihr am Morgen von dem Skelett und der Umgebung gesendet hatte. Dann reichte sie das Gerät an Thiel weiter.
Dieser stellte seine Flasche ab, griff danach und betrachtete die Bilder. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf.
Nina beobachtete ihn interessiert. Thiel war alt geworden, war aber immer noch fit wie ein Turnschuh. Ja, selbst in der Grillschürze mit der Aufschrift Das Schwarze kann man abkratzen machte er eine gute Figur. Er schien angestrengt zu überlegen und betrachtete Foto für Foto mit Bedacht.
„Was ist das?“, fragte er und zog mit zwei Fingern eines der Bilder auf dem Display größer.
Nina lehnte sich zu ihm hinüber. Auf dem Bildschirm erkannte sie den Schädel der Toten und einige Knochen. Dazwischen etwas Kleines, Glänzendes, welches das Sonnenlicht reflektierte.
„Keine Ahnung. Könnte eine Kette mit einem Anhänger daran sein“, glaubte sie es zu erkennen.
„Ja, das ist eine Kette mit einem Anhänger in der Form eines Fisches“, meinte er.
„Eher ein Delfin“, erwiderte sie und wunderte sich gerade, dass ihr das Schmuckstück vorhin vor Ort nicht aufgefallen war.
Nina hatte, nachdem Kim Kunze und die Kollegen der Spurensicherung grünes Licht gegeben hatten, die Leiche noch selbst näher betrachtet. Vielleicht hatten Torsten oder Leon das Objekt zu dem Zeitpunkt aber auch schon in einem der Asservatenbeutel gesichert. Ja, das hatten sie bestimmt, da es ihr ansonsten doch aufgefallen wäre.
„Die Kette könnte uns helfen, die Identität der Toten zu klären“, dachte sie laut und nahm dann von Thiel das Telefon entgegen. Der Alte lehnte sich zurück und trank einen weiteren Schluck aus seiner Bierflasche. Dabei schien er angestrengt nachzudenken. Irgendetwas ging da gerade in seinem Kopf vor.
„Da gab es mal einen Fall in den Achtziger- oder Neunzigerjahren. Eine junge Frau, eine Schülerin hier aus Betzdorf, ist damals von zu Hause abgehauen“, sagte er irgendwann.
„Und sie ist nie wieder aufgetaucht?“, fragte Nina nach und glaubte die Antwort bereits zu kennen. Weil, wäre das Mädchen wohlbehalten zurückgekehrt, hätte Thiel sie vermutlich gerade erst gar nicht erwähnt.
„Nein, zumindest nicht, soweit ich mich erinnern kann. Wir haben den Fall auch nie wirklich bearbeitet, da es im Grunde auch gar kein Fall war. Es gab keine Vermisstenanzeige“, sagte er leise und sah zu Ninas Mama Inge und zu Klaus, die gerade aus dem Wohnzimmer kommend auf die Terrasse traten. Inge trug in jeder Hand je eine Flasche Rotwein und Klaus die dazugehörigen Gläser.
„Nina, Liebes, magst du auch einen? Zur Auswahl stehen einen Spätburgunder aus Baden oder der Vitello Primitivo von Aldi“, erkundigte Mama Inge sich bei ihr.
Ihren Lebensgefährten Thiel würde ihre Mutter erst gar nicht fragen, da sie dessen Antwort bereits kannte. Thiel und Wein, das passte einfach nicht zusammen. Der trank, wenn überhaupt, nur Bier.
„Nee, Mama, lass mal. Ich bleib bei Bier“, entschied sie sich, ohne lange zu überlegen, und wandte sich dann wieder Thiel zu.
„Kannst du dich noch an den Namen der jungen Frau erinnern?“, interessierte es sie brennend.
Thiel schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich weiß nur, dass die beste Freundin von dem Mädchen damals bei uns vorstellig geworden ist und eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte. Dem sind wir dann auch nachgegangen und haben die Eltern kontaktiert. War aber falscher Alarm. Der Vater hat uns damals ziemlich glaubhaft versichert, dass seine Tochter mit Sack und Pack davon sei. Da gab es wohl öfter mal Zoff. Du weißt ja selbst, dass Pubertiere und ihre Eltern nicht immer einer Meinung sind. Außerdem war das Mädchen bereits achtzehn oder neunzehn. Die konnte gehen, wohin sie wollte. Es gab keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen. Die hat ihre Klamotten gepackt, sich auf ihr Motorrad gesetzt und ist auf und davon“, erklärte er.
Nina nickte und sah zu den Zwillingen, die auf der Hollywoodschaukel saßen und leise kicherten. Was die wohl wieder ausheckten? Bisher, das musste sie unumwunden zugeben, waren ihre beiden äußerst pflegeleicht. Wobei Matteo schon ein Wildfang war.
„Sag mal, Thiel, wenn da nichts gewesen ist, wenn dieses Mädchen einfach nur ihre Klamotten gepackt hat und auf und davon ist: Warum kommt sie dir dann jetzt gerade in den Sinn?“, hakte Nina nach, da ihr dies gerade schon seltsam vorkam, dass Thiel sich an genau diesen Fall erinnerte.
„Weil ihr Vater damals getobt hat. Die Kleine hat nämlich nicht nur ihre Sachen mitgenommen, sondern auch die Kasse vom Haustürverkauf der Eltern“, wusste er.
„Was meinst du mit Haustürverkauf?“
„Die Honigkasse. Die Eltern hatten Bienen. Er war Imker und hat den Honig in Gläsern an der Haustüre verkauft. Da war so ein Schild im Garten, dass es da Honig gibt. Die hatten da eine Blechkassette auf dem Schrank in der Diele, und die Tochter hat sich mit den Einnahmen samt der Kasse aus dem Staub gemacht“, meinte er grinsend.
Nina nickte wissend. Sie hatten heute eine Tote unter den Dielenbrettern eines verfallenen Bienenhauses gefunden, und die Eltern des entlaufenen Mädchens waren Imker gewesen. Das musste nicht zwangsläufig etwas heißen, könnte aber ein Ansatz sein. Auf alle Fälle würde sie am Montagmorgen als Erstes recherchieren, wer in den letzten Jahren alles Besitzer der Ruine gewesen war. Dominic und Christian, die beiden Jungimker, hatten den Namen des Vorbesitzers nicht gekannt. Versteigert worden war das Gelände mit dem Häuschen vom Amtsgericht Betzdorf. Wohl im Auftrag einer Bank, da der letzte Besitzer vermutlich seine Schulden nicht mehr hatte zahlen können. So etwas kam öfter vor, als man dachte.
Beim Amtsgericht hätte sie am Montag sowieso angerufen. Auch ohne Thiels Hinweis führte die erste Spur zu den ehemaligen Besitzern der Bude. Weil, wer immer die Leiche dort versteckt hatte, musste sich ausgekannt haben. Ein Fremder käme sicher nicht auf die Idee, unter dem Fußboden einer unbekannten Hütte eine Leiche zu verstecken. Die Gefahr, dass die Tote durch den Besitzer des Gebäudes entdeckt würde, war einfach zu groß. Sicherlich musste es in den Tagen nach der illegalen Beisetzung rund um das Bienenhaus nicht nur nach Wald und Blumen, sondern auch nach Tod gerochen haben.
„Weißt du noch, wie die Leute hießen oder wo die gewohnt haben?“, erkundigte sie sich bei Thiel.
„Nicht genau. Ich meine, das war irgendwo im Kreuzland. Bin mir aber wie gesagt nicht wirklich sicher“, antwortete er.
Nina nickte in Gedanken. Auch dies würde sie am Montag herausbekommen.
„Du sagtest, in den Achtziger, oder Neunzigerjahren. Geht es nicht doch ein bisschen genauer?“, wollte sie dann noch wissen.
Thiel schüttelte abermals den Kopf.
„Nein, mein Engel. Das ist schon zu lange her“, antwortete er, schielte kurz zu Inge und hob sein Bier, um mit Nina anzustoßen. Für Thiel schien das Thema fürs Erste beendet. Er hatte noch nie gerne im Beisein ihrer Mutter über polizeiliche Dinge gesprochen, da er vermutlich glaubte, er müsste sie, wieso und warum auch immer, von Dingen wie diesen fernhalten.
Vielleicht hatte er sogar recht damit. Es war Samstagabend, und sie saßen hier bei einsetzender Dämmerung im familiären Kreis zusammen. Die Polizeiarbeit hatte Zeit bis Montagmorgen um acht.
Thomas Kübler hockte auf der Terrasse hinter dem Haus und beobachtete die dunkelrot glühende Sonne, wie sie Stück für Stück hinter dem Steinerother Kopf verschwand. Die Vögel des nahen Waldes, die am Morgen noch um die Wette gezwitschwert hatten, waren mittlerweile verstummt. An ihrer Stelle setzten nun die Grillen ein, von denen vermutlich Tausende den Hang unterhalb seines Freisitzes und die dahinterliegenden Wiesen bevölkerten.
„Ich muss immer noch an diese Frau denken, die da unter dem Bienenhaus begraben war. Die geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich bin da die Tage erst noch mit den Hunden gewesen“, flüsterte Alexandra und schmiegte sich an ihn.
Thomas legte seinen Arm um sie und sah weiter der Sonne zu, deren oberster Rand gerade in diesem Moment hinter dem Berg verschwand. Jetzt dauerte es vermutlich nur noch Minuten, bis das Tal in Dunkelheit versank und wie bereits am Vorabend unzählige Glühwürmchen aus den Wiesen aufstiegen. Er sog die Luft ein. Irgendwo in der Nachbarschaft brannte ein Lagerfeuer.
„Die Frau Doktor Kunze meint, die Tote könnte da schon Jahrzehnte gelegen haben“, erzählte er, obgleich dies seine Frau eigentlich gar nichts anging, da es sich bei diesen Informationen ja quasi um Dienstgeheimnisse handelte.
Thomas gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die Dienstliches nach außen trugen und Sachen herumtratschten. Die Einzige, der er fast alles erzählte, war seine Frau Alexandra. Sie beide hatten keine Geheimnisse voreinander. Zumindest fast keine.
Nein, es tat ihm sogar gut, mit ihr über Dinge zu sprechen, die ihn beschäftigten oder gar belasteten.
„Mausbär, meinst du, sie wurde ermordet?“, wollte Alex wissen.
Thomas zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, Bärchen. Wir sind da ja noch ganz am Anfang der Ermittlungen. Aber warum sollte jemand sie da verstecken, wenn sie eines natürlichen Todes verstorben ist?“, stellte er eine Gegenfrage und bemerkte, wie sie sachte zustimmend nickte.
„Wir könnten hingehen und eine Kerze für sie anzünden“, schlug Alex nach einer Weile vor.
Thomas seufzte.
„Nein, Bärchen. Es hat seit Wochen nicht geregnet. Der Waldboden und das morsche Holz von dieser Hütte sind furztrocken. Nachher fackelt noch der ganze Wald ab“, versuchte er ihre Euphorie zu bremsen, während sie sich bereits aufrichtete.
„Dann lass uns wenigstens ein paar Blumen hinlegen“, entgegnete sie.
„Bärchen, nein. Die ist doch schon längst nicht mehr da. Die Kollegen haben alles, was von ihr übrig ist, eingepackt und in die Gerichtsmedizin gebracht“, versuchte er es weiter.
Nein, Thomas hatte keine Lust, jetzt noch einmal in den Wald zu rennen, um dort Blumen oder sonst etwas an diesem blöden Bienenhaus abzulegen. So etwas war vertane Zeit. Er wollte einfach nur hier sitzen, seinen Tee schlürfen und den Tag ausklingen lassen.
„Ich zieh mir nur schnell Schuhe an“, schien sie da jedoch ganz andere Pläne zu verfolgen.
„Ach, Alex. Lass uns doch einfach hierbleiben. Du gehst jetzt in dein Atelier, holst dir einen deiner Joints, und wir bleiben einfach hier hocken und … und lassen mal Fünf gerade sein“, schlug er ihr nun sogar vor, obwohl er es nicht guthieß, dass sie gelegentlich kiffte.
„Okay, ich geh jetzt hoch ins Atelier, hol mir was zu rauchen, ziehe Schuhe an, und wir gehen dann einfach noch eine Runde mit den Hunden. Die müssen ja eh noch einmal raus“, gab sie einfach keine Ruhe.
„Na gut. Wenn du meinst. Dann gehen wir noch eine Runde mit den Kötern“, schnaubte er.
Ja, Thomas wusste nach all den Jahren mit ihr, wann es an der Zeit war, aufzugeben und sich ihrem Willen zu fügen. Wenn seine bessere Hälfte sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde die nicht eher Ruhe geben, bis sie ihren Willen bekam. Wenn er sich weigerte, schmollte sie den ganzen Abend und ging alleine in den Wald. Am Ende würde sie dann doch noch eine Kerze anzünden oder andere Dummheiten machen.
Keine fünf Minuten später betraten sie durch das Törchen an der hinteren Grundstücksgrenze das Naturschutzgebiet Seifer Wald, das sich tatsächlich bis direkt an ihren Garten erstreckte.
Die Hunde liefen an langen Schleppleinen einige Meter voraus. Sie bei Dunkelheit hier freilaufen zu lassen, war Thomas eindeutig zu unsicher. Mehrfach hatte er in den letzten Tagen Rehe mit ihren Kitzen in den Wiesen beobachtet. Zwar jagten ihre beiden Wuffis für gewöhnlich keinem Wild hinterher, doch sicher war sicher.
Anders als am Morgen hatte auch Herdenschutzhündin Alba sich nun von ihrem Posten erhoben und beehrte sie bei dieser Nachtwanderung mit ihrer Anwesenheit. Alexandra hakte sich bei Thomas unter.
„Leah ist wegen Hannahs Besuchs morgen total aufgeregt“, raunte sie ihm zu und erinnerte ihn damit wieder an die Gäste, die er morgen Mittag am Flugplatz in Katzwinkel abholen sollte. Hannah Bechersheim, ein Mädchen, das die Kinder im Frühsommer auf Langeoog kennengelernt hatten, würde die nächsten zwei Wochen ihrer Sommerferien bei ihnen verbringen. Ihr Vater, der Inselarzt Jan Martin Bechersheim, brachte die Zehnjährige mit seiner einmotorigen Cessna, blieb zum Essen und würde am Abend wieder zurück auf die Insel fliegen. Thomas mochte den jungen Arzt, genau wie den Rest seiner Langeooger Freunde. Spätestens im nächsten Sommer, oder vielleicht sogar schon in den Herbstferien, würde die ganze Familie Kübler deshalb wieder an die Nordsee fahren.
„Und was meint Linus? Freut er sich auch auf den Besuch von der Insel?“, interessierte es Thomas, als sie bereits eine Weile gegangen waren.
Während er dies sagte, musste er grinsen. Hannah und Leah waren beide zehn Jahre alt, Linus mit seinen dreizehn Lenzen also deutlich älter als die beiden Mädchen. Drei Jahre Altersunterschied waren bei Kindern, anders als bei Erwachsenen, eine Menge. Dennoch hatte Thomas das Gefühl, dass Hannah total verknallt in den älteren Jungen war. Beim Küblerschen Aufenthalt auf der Nordseeinsel über Pfingsten hatte sie wie eine Klette an Linus gehangen. Der hatte es tapfer ertragen.
„Nee. Ich glaube, der ist ziemlich genervt“, kicherte Alexandra.
„Na ja, lass den mal noch zehn Jahre älter sein. Dann ist er bestimmt nicht mehr genervt, wenn ein drei Jahre jüngeres Mädchen ihm hinterherläuft“, erwiderte er amüsiert, während sie Arm in Arm weitergingen und aufpassen mussten, nicht zu stolpern.
Hier, mitten im Wald im Schatten der Bäume, war es mittlerweile stockfinster geworden. Nur der Weg, der eine Schneise in dem dichten Grün bildete, wurde ein wenig vom Mondlicht erhellt, das durch die Wipfel der Eichen fiel. Es ärgerte ihn, dass er weder eine Taschenlampe noch sein Mobiltelefon eingesteckt hatte.
Tausende von Glühwürmchen tummelten sich nun vor ihnen auf dem Weg und in den Büschen links und rechts von ihnen. Doch obwohl deren Hinterleib leuchtete, machten die Viecher kein Licht.
„Schon irgendwie gruselig mit den kleinen Flatterkäfern“, amüsierte sich Alex und blieb dann unvermittelt stehen.
„Was ist?“, erkundigte er sich und vernahm im selben Moment ein Knurren, das eindeutig von Alba stammte. Irgendetwas schien dem großen weißen Hund nicht zu passen.
„Guck mal, da vorne zwischen den Bäumen. Da ist doch jemand mit einer Taschenlampe“, zischte Alexandra. Thomas starrte in die Dunkelheit.
„Wo? Also ich sehe da keine Tasch… doch, da ist was“, entdeckte er nun auch das Aufblitzen einer Lampe.
„Wer ist denn so bekloppt und rennt hier nachts im Wald herum?“, empörte Alexandra sich.
„Ähm, wir, Bärchen. Wir sind so bekloppt und rennen nachts sogar ohne Licht durch den Wald. Wer immer das da hinten ist, hat uns was voraus. Er oder sie hat nämlich eine Lampe dabei“, erwiderte er.
„Ist das da, wo das Bienenhaus ist?“, ging sie auf seinen Kommentar gar nicht erst ein.
„Ja, da ist das Bienenhaus“, antwortete er und überlegte angestrengt, was es wohl zu bedeuten hatte, dass da jemand nachts an dem Ort herumschnüffelte, an dem sie erst am Morgen eine Leiche geborgen hatten.
„Ich denke, wir sollten da mal nachsehen“, entschied Alexandra und zog ihn mit.
Bis zu dem verfallenen Häuschen waren es noch nicht einmal fünfzig Meter. Während sie näher gingen, ließ Thomas die Geschehnisse nicht aus den Augen. Immer wieder flammte die Taschenlampe auf und erlosch gleich wieder. Zumindest hatte Thomas dies geglaubt, bis er begriff, dass der oder die Fremde im Inneren der Ruine herumstöberte und die Mauern das Licht daher gelegentlich verdeckten.
„Hallo Sie! Was machen Sie denn da?“, hörte er plötzlich Alex neben sich rufen, als sie vom Weg auf die Lichtung traten.
Im Haus war ein Poltern zu hören, dann kam eine Gestalt herausgelaufen und blendete Kübler so dermaßen, dass er für einen Moment überhaupt nichts mehr sah.
Er hörte Schritte, die sich entfernten, und überlegte einen Moment, die Leinen der Hunde einfach loszulassen. Doch zum einen waren die beiden keine Wachhunde, sondern eher zu groß geratene Schoßhunde, und zum anderen hatte er viel zu viel Angst, dass jemand den Tieren etwas antun könnte. Dass die im Gegenzug jemandem etwas antaten, würde er ausschließen. Die wollten wahrhaftig nur spielen und rumkläffen.
Als seine Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, waren die Gestalt und auch der Kegel der Taschenlampe verschwunden.
„Wo ist der denn jetzt hin?“, erkundigte sich Alexandra, die plötzlich ihr Mobiltelefon in der Hand hielt. Na super! Hätte er das gewusst, hätten sie doch eben schon damit leuchten können.
„Warum hast du das Ding nicht schon früher angeschaltet?“, zischte er ihr vorwurfsvoll zu.
„Hab ich nicht darüber nachgedacht. War doch so schön romantisch mit den Glühwürmchen und dem Sternenhimmel“, erwiderte sie und ließ das Gerät wieder in ihrer Hosentasche verschwinden.
Thomas lauschte in die Nacht. Kurz glaubte er in einiger Entfernung das Schlagen einer Autotür zu hören. Dann entdeckte er in einigen Hundert Metern Entfernung am Waldrand des Nachbardorfes die Scheinwerfer eines Wagens. Irgendwer drehte da und fuhr schließlich über den Feldweg davon.
„Ich glaube, der ist weg“, sagte er leise.
Alexandra hatte sich von ihm gelöst und war nun bis an die Veranda des Bienenhauses getreten.
„Komm, Bärchen, lass uns zurückgehen“, schlug er vor und vernahm dann das Klicken eines Feuerzeuges. Die Flamme beleuchtete nun Alex’ Gesicht, während sie sich einen Joint anzündete.
„Muss das sein?“, stöhnte er.
„Mensch, Mausbär. Du weißt auch nicht, was du willst. Du hast mir doch vorhin sogar vorgeschlagen, dass ich mir einen reinziehen soll“, erinnerte sie ihn wieder an seinen törichten Vorschlag.
Thomas erwiderte nichts. Seine Gedanken waren immer noch bei dem Unbekannten. Warum war der Typ geflüchtet? Er war sich fast sicher, dass es sich um einen Mann gehandelt hatte. Wie er genau darauf kam, wusste er nicht. Dennoch kam es ihm merkwürdig vor. So verhielt sich doch nur jemand, der etwas Verbotenes getan hatte. Morgen früh nach dem Aufstehen würde Thomas noch einmal mit den Hunden hierhergehen und nachschauen, ob sich seit der Bergung der Knochen irgendetwas verändert hatte.
Kapitel 3
Sonntag, 14. Juli 2024, 20:02 UhrInstituts für Rechtsmedizin/Bonn
„Ich hoffe, du magst Accept?“, fragte Kim Kunze an den Schädel der toten jungen Frau gewandt, der gemeinsam mit einem Teil der geborgenen Knochen auf dem Tisch in der Mitte des Raumes ruhte, und drehte dann die Musikanlage noch etwas lauter.
Die Entscheidung, am Sonntag ins Institut zu fahren, um sich die Knochen anzusehen, war die beste, die sie für den heutigen Tag hatte treffen können. Vermutlich gab es nur wenige Orte wie diesen, an dem sie heute ihre Ruhe hätte. Draußen, im Rest der Republik, herrschte nämlich gerade Ausnahmezustand. Heute fand das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft statt. Kim hasste Fußball. Wobei es nicht das Spiel an sich war, welches ihr auf die Nerven ging. Nein. Vermutlich machte es sogar Spaß, gemeinsam mit einundzwanzig anderen hinter einem Ball herzurennen und sich so richtig auszupowern. Sinnlos und ziemlich unspannend fand sie es lediglich, das Ganze als Zuschauer anzusehen. Da verdienten Typen Millionen damit, dass andere ihnen beim Ballspielen zusahen. So etwas war in ihren Augen total krank.
Leon, ihr Lebensgefährte, sah das anders. Der war schon am Mittag mit seinen Kumpels aufgebrochen, um sich beim Public Viewing zu betrinken. Dabei fing das Spiel doch erst am Abend um einundzwanzig Uhr an. Kim hatte kein Problem damit. Solange Leon nicht von ihr verlangte, mitzukommen und sich den Unsinn anzusehen, war alles gut.
Sie musste zugeben, dass sie das Institut noch nie so ausgestorben vorgefunden hatte wie heute. Sie war auf dem Weg vom Parkplatz bis in den Seziersaal keiner Menschenseele begegnet. Außer ihr selbst schienen tatsächlich alle Menschen in diesen Mauern tot zu sein. Aber auch dies störte sie nicht. Nein, sie genoss die Ruhe förmlich. Wobei man bei der lauten Musik nicht wirklich von Ruhe sprechen konnte.
„Tja, meine Liebe, magst du mir nicht doch verraten, was du da unter diesen Holzdielen getrieben hast? Wer hat dich bloß da abgelegt?“, fragte sie, während sie weiter einen Knochen nach dem anderen auf den mit einem grünen Tuch bedeckten Tisch legte. Jeden an die Stelle, an der er früher einmal gewesen war, als die junge Dame noch lebte. Die Verstorbene war noch nicht sehr alt gewesen. Kim würde schätzen, dass sie, als sie starb, circa sechzehn bis maximal zwanzig Jahre alt gewesen war. Der Ersatz von Knorpel durch Knochen während des Skelettwachstums begann bereits beim Embryo, ab etwa der sechsten Woche, und dauerte bis über das zwanzigste Lebensjahr hinaus an. Dadurch ließen sich wunderbar Rückschlüsse auf das Alter der Verstorbenen ziehen.
Bereits bei der Bergung der Knochen war ihr das Zungenbein der Toten aufgefallen. Ein etwa drei Zentimeter kleiner hufeisenförmiger Knochen mit zwei Hornansätzen, der, wie es der Name sagte, unterhalb der Zunge saß. Dass dieses winzige Knöchlein nach all den Jahren überhaupt noch vorhanden war, war pures Glück. Solch kleine Knochen wie das Zungenbein zersetzten sich meist zuerst oder wurden auch gerne einmal von Tieren weggeschleppt. Überhaupt war das Skelett – oder vielmehr die beiden Skelette – in einem hervorragenden Zustand. Das Alter des Ungeborenen würde sie auf etwa die fünfzehnte bis sechzehnte Schwangerschaftswoche schätzen. Vorsichtig hob Kim die beiden Teile des zerbrochenen Zungenbeins mit einer Pinzette auf und betrachtete sie nacheinander. Auch ohne dass sie die Bruchstelle bisher unter dem Mikroskop betrachtet hatte, war sie sich sicher, was die Todesursache betraf: Die junge Frau war stranguliert worden. Wie genau dies vonstattengegangen war, würde sie anhand der Knochen nicht mehr herausfinden können. Nur dass irgendetwas den Hals der jungen Frau abgeschnürt hatte, war eindeutig. Dies konnten ein Strick, ein Draht, ein Tuch oder auch nur Hände gewesen sein. Der Fundort, das Versteck der Toten, sprach dafür, dass jemand, der nicht wollte, dass sie gefunden wurde, sie dort abgelegt hatte. Einen Suizid konnte sie, genau wie einen Mord, nicht ausschließen. Dies herauszufinden war Aufgabe der Kripo.
Sie legte das Zungenbein auf ein Tablett und widmete sich weiter dem Knochenpuzzle auf dem Tisch. Die Halswirbel waren unauffällig. Im Laufe der Untersuchung entdeckte sie noch drei ältere bereits verheilte Frakturen. Eine an der Speiche des rechten Unterarmes, eine am rechten Schienbein und eine weitere am Schulterblatt.
„Tja, meine Liebe. Entweder warst du als Kind ein rechter Wildfang oder du wurdest geschlagen. Was meinst du?“, fragte sie an den Schädel gewandt, bekam jedoch, wie so oft in solchen Fällen, keine Antwort. Für diese war sie selbst verantwortlich. Und Kim würde ihr Bestes geben, um diese Antworten zu finden.
Kriminalhauptkommissarin Heike Friedrich-Liebig saß an ihrem Lieblingsort, dem Strandkorb im heimischen Garten, und versuchte sich auf das Buch, einen Roman von Rudolf Utsch aus den 1940er-Jahren, welchen sie sich gestern auf dem Flohmarkt gebraucht gekauft hatte, zu konzentrieren. Doch es gelang ihr nicht. Sie konnte ihre Gedanken einfach nicht auf die Buchstaben und Wörter fokussieren. Immer wieder sah sie zu ihrem Mann Torsten, der im Schatten einer großen Tanne auf der selbst gezimmerten Bank hockte. Vor ihm auf dem alten verwitterten Biergartentisch stand sein Laptop, auf dem er immer wieder herumtippte, um dann wieder längere Zeit darauf zu starren. Heike ließ das Buch sinken. Irgendetwas war anders an ihm, seit sie gestern am Nachmittag nach Hause gekommen war. Morgens, bevor sie mit den Kindern aufgebrochen war, um altes Spielzeug und zu klein gewordene Kinderbekleidung auf dem Trödelmarkt zu veräußern, war er noch ganz normal gewesen. Er hatte gelacht und Späße gemacht. Nachmittags dann, als er von dem Einsatz im Wald zurückkam, war er sehr still und in sich gekehrt gewesen. Ein Zustand, der sich auch über den Abend nicht verändert hatte.
Zuerst hatte Heike sich dabei nichts gedacht. Torsten war ein sehr sensibler Mensch, der sich das Schicksal der anderen öfter einmal mehr zu Herzen nahm, als es ihm guttat.