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Venice, Kalifornien, 1949. Das große Vergnügungsviertel wird abgerissen. Der Tod ist überall. Im Kanal wird eine Leiche gefunden, in einer Absteige eine zweite. Am anderen Ende der Stadt ist die alte Dame, die einst Kanarienfutter verkaufte, tot; tot wie die Diva Fannie Florianna. Alle vier könnten eines zufälligen Todes gestorben sein, aber zumindest zwei Leute zweifeln daran...
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Seitenzahl: 421
Ray Bradbury
Der Tod ist ein einsames Geschäft
Roman
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bauer
Diogenes
{5}Dieser Roman
ist Don Congdon gewidmet,
ohne den er nicht entstanden wäre,
sowie dem Andenken
Raymond Chandlers, Dashiell Hammetts,
James M. Cains und Ross McDonalds
und meinen Freunden und Lehrern
Leigh Brackett und Edmond Hamilton,
die ich schmerzlich vermisse.
{7}Die kleine Stadt Venice, California, hatte zu jener Zeit vieles, was sie zum idealen Ort für Leute machte, die gern traurig sind. Fast jeden Abend hing Nebel über der Stadt, an der Küste stöhnten die Ölfördertürme, das schwarze Wasser der Kanäle schwappte gegen die Ufermauern, und Sandkörner prasselten gegen die Fensterscheiben, wenn Wind aufkam und über unbebaute Flächen und menschenleere Wege pfiff.
In jenen Tagen starb der Pier von Venice, verendete im Meer. Die Knochen eines riesigen Dinosauriers, der Achterbahn, wurden vom Wechsel der Gezeiten zugedeckt.
Am Ende eines der langen Kanäle lagen alte Zirkuswagen im Wasser; sie waren dort hineingerollt, dort versenkt worden, und in den Raubtierkäfigen sah man um Mitternacht, wenn man einen Blick hinabwarf, Leben wimmeln; Fische und Krebse, die die Flut hierhertrug; all die Zirkusse der Zeit rosteten hier dahin, waren der Vergänglichkeit anheimgefallen.
Und dann noch die donnernde Lawine der großen roten Straßenbahnwagen, die jede halbe Stunde zum Meer hinauseilten und um Mitternacht um die Kurve quietschten, Funken aus den Oberleitungen schlugen und mit einem Stöhnen wie von einem Toten, der sich in seinem ewigen {8}Schlaf herumdreht, weiterrollten, als wüssten die Wagen und die einsamen Männer, die schwankend am Steuer standen, dass sie in einem Jahr nicht mehr da sein würden, dass dann die Gleise mit Beton und Teer zugedeckt und die Spinnweboberleitungen aufgerollt und weggehext sein würden.
Und gerade zu der Zeit, in einem jener einsamen Jahre, als der Nebel sich niemals auflöste und das Klagelied des Windes nie verstummte, begegnete ich auf einer nächtlichen Fahrt mit dem alten roten, im Eiltempo dahinpolternden Donnerding dem Freund des Todes, und ich erkannte ihn nicht.
Es war eine regnerische Nacht, und ich saß mit einem Buch in dem alten jaulenden, brüllenden Gefährt, das von einem leeren, konfettiübersäten Umsteigebahnhof zum nächsten raste. Ich war allein mit dem großen, vor Schmerz winselnden hölzernen Wagen und dem Fahrer, der vorne an seinen Messinghebeln riss, die Bremsen löste, wann immer nötig Höllendampf ausströmen ließ.
Und mit dem Mann weiter hinten im Wagen, der irgendwie dahingekommen war, ohne dass ich es bemerkt hatte.
Schließlich nahm ich ihn wahr, als er eine ganze Weile hinter mir hin- und herschwankte, unentschlossen, welchen der vierzig freien Sitzplätze er nehmen sollte, denn es ist schwer, sich spätnachts angesichts von so viel Leere für einen bestimmten zu entscheiden. Doch dann hörte ich, wie er sich setzte, und ich wusste, dass er da war, weil ich ihn riechen konnte wie das Meer, dessen Geruch über die Felder herwehte. Über dem Geruch seiner Kleider lagen Schwaden von zu großen, zu schnell getrunkenen Mengen Alkohols.
{9}Ich wandte mich nicht zu ihm um. Längst hatte ich die Erfahrung gemacht, dass in solchen Fällen Blicke nur Mut machen.
Ich schloss die Augen und hielt den Kopf unverwandt nach vorne gerichtet. Es half nicht.
»Oh«, stöhnte der Mann.
Ich spürte, wie es ihn auf seinem Platz nach vorne zog, und fühlte seinen heißen Atem in meinem Nacken. Ich umklammerte meine Knie und sank in mich zusammen.
»Oh«, stöhnte er, lauter als vorher. Als falle er von einer Klippe und rufe um Hilfe, oder als schwimme er weit draußen im stürmischen Meer und wolle gesehen werden.
»Ah!«
Es regnete heftig, als der große rote Zug jetzt über eine mitternächtliche Wiese dahinratterte, der Regen klatschte gegen die Scheiben und schwemmte den Anblick der weiten Felder weg. Wir durchquerten Culver City, ohne etwas von den Filmstudios zu sehen, und fuhren weiter; der große Wagen hob und senkte sich, die Bodenbretter quietschten unter uns, die leeren Sitze knarrten, und die Signalpfeife schrillte.
Dann traf mich von hinten ein fürchterlicher Luftschwall, als der Unbekannte in meinem Rücken ausrief: »Der Tod!«
Die Signalpfeife schnitt ihm das Wort ab, so dass er noch einmal ansetzen musste.
»Der Tod –«
Wieder ein schrilles Pfeifen.
»Der Tod«, stöhnte die Stimme hinter mir, »ist … ein einsames Geschäft!«
Mir schien es, als ob er weinte. Ich starrte nach vorn in {10}den blitzenden Regen, der uns entgegenpeitschte. Der Zug bremste ab. Der Mann erhob sich todernst und ungestüm, als wollte er auf mich einschlagen, wenn ich mich nicht endlich umdrehte und ihm zuhörte. Er wollte gesehen werden. Er wollte mich in seiner Not ertränken. Ich fühlte, dass er die Hand ausstreckte, wusste aber nicht, ob er mit der geballten Faust auf mich einschlagen oder mir das Gesicht zerkratzen wollte. Ich umklammerte die Rücklehne vor mir. Seine Stimme brach aus ihm hervor.
»Oh, der Tod!«
Der Zug hielt an.
Na, komm schon, dachte ich, spuck’s aus!
»Ist ein einsames Geschäft!«, flüsterte er, in einem schrecklichen Ton, und stand auf.
Ich hörte, wie hinten die Tür aufging. Jetzt endlich wandte ich mich um.
Der Wagen war leer. Der Mann war weg, hatte die Todesstimmung mit sich hinaus in die Nacht genommen. Ich hörte, wie der Kies auf dem Weg neben den Schienen knirschte.
Als die Türen zuknallten, murmelte der Mann, den ich nicht gesehen hatte, draußen vor sich hin. Ich konnte ihn durch das Fenster immer noch hören. Etwas von einem Grab. Und noch einmal das Wort Grab. Und dann etwas wie einsam.
Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und donnerte durch das hohe Gras und das Unwetter davon.
Ich riss das Fenster auf und lehnte mich hinaus, schaute zurück in das nasse Dunkel.
Ob dort hinten eine Stadt war und Menschen, oder ein {11}Mann und seine schreckliche Traurigkeit, konnte ich weder sehen noch hören.
Der Zug raste zum Ozean hinaus.
Ich hatte das schreckliche Gefühl, er würde hineinstürzen.
Ich knallte das Fenster zu, setzte mich, zitterte.
Den Rest der Fahrt musste ich mir immer wieder sagen, du bist erst siebenundzwanzig. Du trinkst nicht. Aber …
Ich genehmigte mir dann doch was zu trinken.
Hier, am äußersten Ende des Kontinents, wo die Planwagen und mit ihnen die Siedler angehalten hatten, fand ich noch einen offenen Saloon, der leer war bis auf einen Barkeeper, der sich nicht von einem Spätfilm mit Hopalong Cassidy losreißen konnte.
»Einen doppelten Wodka, bitte.«
Ich war erstaunt über meine Stimme. Warum brauchte ich eigentlich etwas zu trinken? Fehlte mir sonst der Mut, um meine Freundin Peg, die zweitausend Meilen weit weg in Mexico City war, anzurufen? Um ihr zu sagen, dass es mir gutging? Schließlich war doch nichts passiert, oder?
Nichts als eine Zugfahrt und kalter Regen und eine schreckliche Stimme hinter mir, die Dämpfe der Angst ausgestoßen hatte. Aber ich fürchtete mich davor, nach Hause in mein Bett zu gehen, das so leer war wie ein Eisschrank, den die Siedler aus Oklahoma auf ihrem Weg nach Westen zurückgelassen hatten.
Das Einzige, was noch leerer war, war das Bankkonto des großen amerikanischen Romanciers, mein Konto in dem Bankgebäude unten am Meer, das einem alten {12}römischen Tempel glich und darauf zu warten schien, von der nächsten Rezession weggespült zu werden. Die Kassierer warteten jeden Morgen in Ruderbooten, während sich der Direktor in der Bar nebenan ertränkte. Fast niemals bekam ich einen von ihnen zu sehen. Da ich nur gelegentlich mal etwas an eine billige Krimi-Zeitschrift verkaufte, hatte ich nichts, was ich auf die Bank tragen konnte. Also …
Ich trank meinen Wodka und schüttelte mich.
»Meine Güte«, meinte der Barkeeper, »Sie machen ein Gesicht, als wäre das Ihr erster Schluck Alkohol!«
»Das ist auch der erste!«
»Sie sehen nicht gerade gut aus.«
»Mir ist auch nicht gut. Kennen Sie das Gefühl, dass gleich was Schreckliches passieren wird, und man weiß nicht, was?«
»Wenn einem ganz gruselig zumute ist?«
Ich trank noch einen Schluck Wodka und zitterte.
»Nein, nein. Etwas wirklich Furchtbares, das einem unter die Haut fährt, meine ich.«
Der Barkeeper blickte über mich hinweg, als sähe er hinter mir den Geist des Mannes aus dem Zug.
»Haben Sie es mit hier hereingebracht?«
»Nein.«
»Dann ist es nicht hier.«
»Aber«, wandte ich ein, »er hat etwas zu mir gesagt – wie eine Furie.«
»Furie?«
»Ich hab sein Gesicht nicht gesehen. Jetzt ist mir noch schlechter. Gute Nacht!«
»Hören Sie auf mit dem Trinken!«
{13}Aber ich war schon zur Tür hinaus und blickte in alle Richtungen, um das, was auf mich wartete, zu erspähen. Welchen Weg nach Hause, um nicht auf das Dunkel zu treffen? Ich entschied mich für einen.
Und wusste im gleichen Augenblick, dass meine Entscheidung falsch war. Ich eilte das dunkle Ufer des alten Kanals entlang, auf die versenkten Zirkuswagen zu.
Wie die Raubtierkäfige in den Kanal kamen, wusste niemand. Überhaupt schien sich auch niemand zu erinnern, wie die Kanäle hierhergeraten waren, mitten in eine alte Stadt, die dem Zerfall preisgegeben war, deren Staub des Nachts an den Türen raschelte, zusammen mit dem Sand und den Seetangklümpchen und den Tabakkrümeln von Zigaretten, die vielleicht 1910 am Strand weggeworfen worden waren.
Aber sie waren da, die Kanäle, und am Ende einer dieser dunkelgrünen, mit einem Ölfilm bedeckten Wasserrinnen lagen die alten Zirkuswagen und die Käfige, von denen das weiße Email und die Goldfarbe abblätterten, an deren dicken Gitterstäben der Rost fraß.
Vor langer Zeit, zu Beginn der zwanziger Jahre, waren diese Käfige wohl heiter wie der Sommerwind dahingerollt, Tiere waren an den Stäben entlanggestrichen, Löwen hatten den Rachen aufgerissen und heißen fleischigen Atem ausgestoßen. Schimmelgespanne hatten all diesen Prunk durch die Straßen von Venice und über die Felder gezogen, lange bevor die MGM ihre Scheinfassaden errichtet hatte und eine neue Art von Zirkus veranstaltete, der auf Zelluloidstreifen ewig leben sollte.
{14}Nun war alles, was von dem alten Paradeaufmarsch übrig war, hier gelandet. Einige der Wagen mit den Raubtierkäfigen standen aufrecht im tiefen Wasser des Kanals, andere waren flach auf die Seite gekippt und in den Fluten begraben, und der Wechsel der Gezeiten ließ sie irgendwann bei Tagesanbruch zum Vorschein kommen und bedeckte sie wieder um Mitternacht. Fischschwärme zogen zwischen den Gitterstäben ein und aus. Am Tag tanzten kleine Jungs auf den großen, zum Abfall geworfenen Inseln aus Stahl und Holz umher, schlüpften manchmal flink hinein, rüttelten an den Stäben und brüllten hinaus.
Doch jetzt, lange nach Mitternacht, die letzte Bahn war den leeren Strand entlang zu einem Ziel im Norden gefahren, schwappten die dunklen Fluten in den Kanälen gegen die Ufer und saugten an den Käfigen wie alte Frauen an ihren zahnlosen Kiefern. Ich rannte dahin, den Kopf gegen den Regen gesenkt. Der ließ plötzlich nach und hörte dann ganz auf. Der Mond brach durch einen Spalt in der Dunkelheit, wie ein großes Auge, das auf mich herabsah. Ich ging auf Spiegeln dahin, in denen ich den gleichen Mond und die gleichen Wolken noch einmal sah. Ich ging auf dem Himmel unter mir, und – da geschah etwas …
Von draußen, vielleicht einen Häuserblock weit entfernt, rollte eine schwarzglänzende Flutwelle salzigen Wassers zwischen den Ufermauern des Kanals heran. Irgendwo war ein Deich aus Sand gebrochen und ließ das Meer herein. Und da kam die schwarze Flut. Sie erreichte die kleine Brücke in dem Moment, als ich mitten auf ihr stand.
Das Wasser zischte um die alten Raubtierkäfige. Ich ging schneller. Ich griff nach dem Brückengeländer.
{15}Denn in einem der Käfige, direkt unter mir, schlug ein schwaches phosphoreszierendes Leuchten von innen gegen die Stäbe.
Eine Hand schien mir aus dem Käfig zuzuwinken.
Ein alter Löwenbändiger, der sich schlafen gelegt hatte, war eben aufgewacht und hatte festgestellt, an was für einem merkwürdigen Ort er sich befand.
Dann streckte sich träge ein Arm in dem Käfig, hinter den Gitterstäben. Der Löwenbändiger erwachte vollends.
Das Wasser fiel, stieg wieder an.
Und ein Gespenst presste sich gegen die Stäbe.
Ich stand über das Geländer gebeugt, konnte es nicht glauben.
Doch jetzt nahm das gespenstische Leuchten Gestalt an. Nicht nur eine Hand, ein Arm, sondern ein ganzer Körper trieb mit unkoordinierten Bewegungen hin und her, wie eine riesige Marionette in einer eisernen Falle.
Das bleiche Gesicht, mit leeren Augen, denen der Mond etwas Licht gab, und in denen sonst nichts zu sehen war, glich einer silbernen Maske.
Dann zuckte die Flut mit den Achseln und sank. Der Körper verschwand.
Irgendwo in meinem Kopf quietschte der Zug um eine rostige Kurve, blockierte die Räder, ließ Funken sprühen, kam kreischend zum Stehen, während irgendwo ein Mann, der nicht zu sehen war, bei jeder Bewegung, jedem Schritt, jedem Sprung diese Worte hervorstieß.
»Der Tod – ist – ein einsames – Geschäft.«
Nein.
{16}Mit einer Geste, mysteriös wie eine in der Erinnerung bewahrte Seance, stieg die Flut wieder an. Und auch die gespenstische Gestalt im Käfig stieg wieder empor.
Das war ein Toter, der herauswollte.
Jemand stieß einen entsetzlichen Schrei aus.
Als in den kleinen Häusern am Rand des dunklen Kanals ein Dutzend Lichter aufleuchtete, wurde mir klar, dass ich das gewesen war.
»Bitte, treten Sie etwas zurück, bitte!«
Noch mehr Autos kamen an, noch mehr Polizisten stiegen aus, mehr Lichter gingen an, mehr Leute kamen schlaftrunken im Bademantel aus den Häusern, stellten sich zu mir, waren sprachlos, nicht nur aus Schlaftrunkenheit. Wir wirkten wie ein jämmerlicher Haufen verlassener Clowns, standen sinnlos auf der Brücke herum und sahen auf unseren versenkten Zirkus hinab.
Zitternd starrte ich auf den Käfig und dachte: Warum habe ich mich nicht umgedreht? Warum habe ich den Mann, der alles über den da unten im Zirkuswagen wusste, nicht angeschaut? Mein Gott, dachte ich, und wenn tatsächlich der Mann im Zug den Toten dort in den Käfig hineingesteckt hat?
Beweise? Nicht ein einziger. Alles, was ich hatte, waren sechs Worte, die ich um ein Uhr nachts in einem Vorortzug mehrmals gehört hatte, war der Regen, der auf die Oberleitung tropfte und dabei diese Worte wiederholte. Und die Art, in der das kalte Wasser wie der Tod durch den Kanal herankam, die Käfige auswusch und sich – kälter als vorher – wieder zurückzog.
{17}Noch mehr merkwürdige Clowns kamen aus den alten Bungalows.
»Bitte, Herrschaften, es ist drei Uhr morgens. Gehen Sie nach Hause!«
Es hatte wieder zu regnen begonnen, die Polizisten hatten mich, als sie ankamen, angeschaut, als wollten sie fragen: Warum haben Sie sich nicht um Ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert? Oder bis zum Morgen gewartet und uns dann, anonym, angerufen?
Einer der Polizisten stand in schwarzer Badehose am Rand des Kanals und schaute voll Abscheu hinab aufs Wasser. Seine blasse Haut verriet, dass er lange nicht in der Sonne gewesen war. Er sah zu, wie die Fluten in den Käfig drangen und den Schlafenden anhoben, so dass er uns zuwinkte. Das Gesicht tauchte hinter den Stäben auf. Es schien so abwesend, so entrückt, so traurig weit, weit weg. Ich fühlte ein schreckliches Ziehen in der Brust. Ich musste zurücktreten, denn ich spürte, wie sich ein erstes zitterndes Hüsteln, ein bebender Kummer in meiner Kehle ankündigte.
Und dann tauchte der weiße Körper des Polizisten ins Wasser ein. Er verschwand.
Es kam mir vor, als sei auch er ertrunken. Regentropfen fielen auf die ölige Wasseroberfläche.
Und dann war er wieder zu sehen, im Käfig, presste das Gesicht an die Gitterstäbe, würgte vor Übelkeit.
Ich war schockiert, meinte, den Toten zu sehen, der versuchte, einen letzten tiefen Zug Leben einzusaugen.
Gleich darauf sah ich den Schwimmer auf der anderen Seite aus dem Käfig schießen, einen langen {18}gespenstischen Trauerflor aus bleichem Seetang hinter sich herziehend.
Jemand klagte lautstark. Lieber Gott, dachte ich, das bin doch nicht etwa ich!
Die Leiche lag jetzt draußen am Ufer, der Schwimmer trocknete sich ab. Die Lichter in den Streifenwagen gingen aus.
Drei Polizisten leuchteten den Toten mit Taschenlampen an, beugten sich über ihn, sprachen leise miteinander.
»– etwa vierundzwanzig Stunden, denke ich.«
»– wo bleibt der Gerichtsmediziner?«
»– hat den Hörer ausgehängt. Tom geht ihn holen.«
»Eine Brieftasche, irgendwelche Papiere?«
»Hat nichts bei sich. Wohl auf der Durchreise.«
Sie fingen an, die Taschen des Toten nach außen zu kehren.
»Nein, nicht auf der Durchreise«, sagte ich und brach ab.
Einer der Polizisten hatte sich umgedreht und leuchtete mir ins Gesicht. Voller Neugier musterte er meine Augen und horchte auf die Laute, die in meiner Kehle begraben lagen.
»Haben Sie ihn gekannt?«
»Nein.«
»Und warum –?«
»Warum es mich so mitnimmt? Darum. Er ist tot, mausetot. Mein Gott. Und ich habe ihn gefunden.«
Erinnerungen kamen in mir hoch.
Vor Jahren war ich an einem heiteren Sommertag um eine Straßenecke gebogen, und da lag ein Mann unter einem {19}Auto. Der Fahrer sprang gerade aus dem Wagen und starrte auf den Körper hinab. Ich machte noch einen Schritt, blieb dann stehen.
Etwas Rosiges lag auf dem Gehsteig, direkt neben meinem Schuh.
Ich hatte so etwas schon an der Universität in Laborschüsseln gesehen. Ein einsames Stück Gehirngewebe.
Eine Frau, eine Fremde, die vorbeikam, blieb lange stehen und schaute auf die Leiche unter dem Auto. Dann tat sie etwas Impulsives, etwas, das sie sich nicht vorher überlegt haben konnte. Sie beugte sich langsam hinab, kniete sich neben den Toten. Sie tätschelte ihm die Schulter, berührte ihn sanft, als wollte sie sagen: »So, schon gut, wird ja alles wieder gut.«
»Ist er – ermordet worden?«, hörte ich mich fragen.
Der Polizist drehte sich zu mir herum: »Wie kommen Sie darauf?«
»Wie sollte er denn, na ja, wie soll er in den Käfig gekommen sein – dort unter Wasser –, wenn ihn nicht irgendjemand – hineingestopft hat?«
Die Taschenlampe ging wieder an, und der Lichtstrahl glitt über mein Gesicht wie die Hand eines Arztes, die nach Symptomen sucht.
»Haben Sie uns angerufen?«
»Nein.« Ich zitterte. »Ich habe geschrien, wegen mir sind dann überall die Lichter angegangen.«
»He«, flüsterte jemand.
Ein Kriminalpolizist in Zivil, nicht sehr groß, mit schütterem Haar, kniete neben der Leiche und kehrte die Manteltaschen nach außen. Es fiel etwas heraus, Krümel {20}und Klümpchen, wie aus nassem Schnee oder aus Papiermaché.
»Was ist denn das?«, fragte jemand.
Ich weiß es, dachte ich, sagte aber nichts.
Meine Hand zitterte, als ich mich neben den Polizisten hinabbeugte und etwas von dem nassen Papierkram aufhob. Er holte gerade aus den anderen Taschen noch mehr von dem Zeug. Ich behielt etwas davon in der Hand und steckte es, als ich aufstand, in die Tasche. In diesem Moment schaute der Polizist hoch.
»Sie sind doch ganz nass«, meinte er. »Geben Sie meinem Kollegen da Ihren Namen und Ihre Adresse und gehen Sie nach Hause! Ziehen Sie das nasse Zeug aus!«
Es fing wieder an zu regnen, und ich zitterte. Ich wandte mich zu dem anderen Polizisten um, gab ihm meinen Namen und meine Adresse und lief im Dauerlauf davon, zu meiner Wohnung. Ich war noch nicht weit gekommen, als ein Wagen neben mir anhielt und die Tür aufging. Der kleine Kriminalpolizist mit dem schütteren Haar sah verwundert zu mir heraus.
»O Mann, sehen Sie vielleicht aus«, meinte er.
»Das hat mir vorhin schon mal einer gesagt, es ist gerade ’ne halbe Stunde her.«
»Steigen Sie ein!«
»Ich hab’s nicht mehr weit –«
»Nun machen Sie schon!«
Ich stieg zitternd ein, und er fuhr mich das letzte Stück bis zu der muffigen Schuhschachtel, für die ich dreißig Dollar Miete im Monat zahlte. Als ich ausstieg, wäre ich, zitternd vor Schwäche, beinahe hingefallen.
{21}»Crumley«, stellte er sich vor. »Elmo Crumley. Rufen Sie mich an, wenn Sie sich auf den Papierkram, den Sie eingesteckt haben, einen Reim machen können!«
Ich zuckte schuldbewusst mit der Hand zu der Tasche, in der das Zeug steckte. Dann nickte ich. »Natürlich.«
»Und hören Sie auf, sich Gedanken zu machen! Dann kriegen Sie auch wieder ein bisschen Farbe«, empfahl mir Crumley. »Er war doch niemand –« Er brach ab; was er gesagt hatte, war ihm unangenehm. Er zog den Kopf ein und wollte noch einmal ansetzen.
»Irgendwie hab ich ’ne Ahnung, wer er sein könnte«, kam ich ihm zuvor. »Wenn ich auf den Namen komme, rufe ich Sie an.«
Ganz starr vor Kälte stand ich da und hatte Angst, dass gleich, hinter meinem Rücken, weitere schreckliche Dinge auf mich warteten. Würden sich, wenn ich die Wohnungstür öffnete, die schwarzen Fluten des Kanals über mich ergießen?
»Los jetzt!« Elmo Crumley knallte die Tür zu.
Dann sah ich nur noch zwei rote Lichtpunkte, die durch den Platzregen davonrasten, der jetzt herunterprasselte und mich zwang, die Augen zuzukneifen.
Ich schaute über die Straße zu der Tankstelle gegenüber mit der Telefonzelle, die ich als mein Büro benutzte, von der aus ich Verleger anrief, die nie zurückriefen.
Ich durchwühlte meine Taschen nach Kleingeld, dachte, ich werde in Mexico City anrufen, Peg aufwecken, ich werde es als R-Gespräch anmelden, ihr von dem Käfig und dem Mann erzählen und – mein Gott – zu Tode erschrecken werd ich sie!
{22}Hör auf Crumley, dachte ich.
Los jetzt!
Ich zitterte mittlerweile so heftig, dass ich den verdammten Schlüssel nicht ins Schlüsselloch bekam.
Regen folgte mir nach drinnen.
Dort erwartete mich:
Ein leeres 36 m2-Studio-Apartment mit einem durchgesessenen Sofa, ein Bücherregal, auf dem sich vierzehn Bücher verloren, ein Sessel, den ich für einen Pappenstiel gebraucht gekauft hatte, und ein unbehandelter Kieferschreibtisch von Sears & Roebuck, auf dem eine nachlässig gepflegte Underwood-Standard-Schreibmaschine, Baujahr 1934, stand, so groß wie ein Klavier und so laut wie Holzschuhe auf dem nackten Fußboden.
In der Schreibmaschine ein erwartungsvolles Blatt. Daneben lag auf einem Stoß in einem Holzkistchen meine gesammelte literarische Produktion. Einige Nummern verschiedener Kriminalmagazine, die mir dreißig oder vierzig Dollar pro Geschichte gezahlt hatten. Auf der anderen Seite stand ein zweites Holzkistchen, das darauf wartete, mit Manuskripten gefüllt zu werden. Darin lag ein einziges Blatt von einem Buch, das nicht beginnen wollte.
ROMAN OHNE TITEL.
Und darunter mein Name. Und das Datum, der 1. Juli 1949.
Das war vor drei Monaten gewesen.
Ich zitterte, zog mich aus, rieb mich mit einem Handtuch trocken, schlüpfte in einen Bademantel und kehrte zurück an den Schreibtisch und starrte darauf.
{23}Ich berührte die Schreibmaschine, fragte mich, ob sie ein verlorener Freund sei oder ein Mann oder eine niederträchtige Geliebte.
Einmal, vor ein paar Wochen, hatte sie Geräusche von sich gegeben, als spräche die Muse aus ihr. Jetzt saß ich meist an dem dummen Ding, als hätte man mir die Hände an den Handgelenken abgeschnitten. Drei- oder viermal täglich saß ich da und wurde von einem literarischen Brechreiz gequält. Nichts kam. Oder wenn doch etwas kam, dann löste es sich in luftige Haarknäuel auf, die ich abends am Boden zusammenkehrte. Ich steckte gerade in einer langen literarischen Dürre, wie in einer der großen Wüsten in Arizona.
Es hatte viel damit zu tun, dass Peg so weit weg war, bei diesen Katakomben-Mumien in Mexiko, und damit, dass ich mich einsam fühlte, und dass seit drei Monaten in Venice die Sonne nicht mehr geschienen hatte, nur dunstiger Himmel und Nebel und Regen und dann wieder Nebel und dunstiger Himmel. Ich wickelte mich nachts in kalte Baumwolltücher ein und rollte mich am Morgen, ein einziger Pilz, wieder heraus. Mein Kopfkissen war morgens immer feucht, doch ich wusste nicht, was für ein Traum daran schuld war, dass ich es so mit der salzigen Flüssigkeit getränkt hatte.
Ich schaute aus dem Fenster, hinüber zu dem Telefon, auf das ich Tag für Tag von früh bis spät lauschte und das niemals klingelte, mir niemals eine Menge Geld bot für meinen großartigen Roman, wenn ich ihn, am besten schon vorgestern, fertigkriegen würde.
Meine Finger bewegten sich unsicher auf den Tasten der Schreibmaschine. Sie erinnerten mich an die Hände des {24}toten Fremden, die aus dem Käfig ins Wasser herausbaumelten, sich wie Seeanemonen bewegten, und an jene Hände, die ich nie zu Gesicht bekommen hatte, die Hände des Mannes hinter mir im Zug letzte Nacht.
Beide winkten mir zu.
Langsam, ganz langsam setzte ich mich.
In meiner Brust klopfte es, als stieße jemand gegen die Gitterstäbe eines verlassenen Käfigs.
Jemand ließ seinen Atem um meinen Nacken streichen …
Ich musste dafür sorgen, dass sie beide verschwanden, musste etwas tun, damit sie Ruhe gaben, damit ich schlafen konnte.
Ein Laut kam aus meiner Kehle, als würde mir gleich übel. Aber ich übergab mich nicht.
Stattdessen begannen meine Finger zu tippen, strichen die Worte ROMAN OHNE TITEL durch, bis sie nicht mehr zu lesen waren.
Dann schaltete ich eine Zeile weiter und sah andere Wörter auf das Papier springen:
DER TOD IST EIN und dann EINSAMES und dann schließlich GESCHÄFT.
Ich starrte auf den Titel und verzog dabei wild das Gesicht, keuchte und tippte dann eine Stunde lang ohne Unterbrechung, bis die donnernden, blitzenden Straßenbahnwagen weggerollt waren und die schwarze Flut des Ozeans den Löwenkäfig füllte, bis sie heranströmte und den Toten emporhob …
Durch meine Arme hinab in die Hände und aus den kalten Fingerspitzen hinaus auf das Blatt.
{25}Wie eine Flut kam die Dunkelheit.
Ich lachte, froh darüber, dass sie da war.
Und fiel ins Bett.
In der Nacht begann ich, in einem fort zu niesen, fühlte mich elend und verbrauchte eine große Packung Papiertaschentücher, glaubte schon, die Erkältung würde nie mehr vorbeigehen.
In der Nacht verdichtete sich der Nebel, und weit draußen in der Bucht, wie versunken und verloren, tutete immer wieder ein Nebelhorn. Es klang wie ein riesiges Seeungeheuer, das schon lange tot war und sich auf dem Weg zu seinem Grab draußen auf See befand, dabei einen Klagelaut nach dem anderen ausstieß, Klagelaute, die niemanden kümmerten, denen niemand nachging.
In der Nacht blies ein Windstoß durch mein Fenster herein und blätterte in den beschriebenen Seiten meines Romans drüben auf dem Schreibtisch. Ich hörte das Raunen des Papiers, es war wie das Geräusch des Wassers im Kanal, wie der Atem in meinem Nacken, und schließlich schlief ich ein.
Ich wachte erst auf, als die Sonne durchs Fenster strahlte. Niesend erreichte ich die Tür, riss sie weit auf und trat hinaus ins Tageslicht, das mir so grell entgegenschlug, dass ich plötzlich ewig leben wollte – doch gleichzeitig schämte ich mich so über diesen Gedanken, dass ich am liebsten wie Ahab mit einem Schlag die Sonne ausgelöscht hätte. Stattdessen zog ich mich schnell an. Die Sachen, die ich letzte Nacht angehabt hatte, waren noch feucht. Ich zog eine Turnhose und eine Jacke an und kehrte dann die Taschen {26}des feuchten Mantels nach außen, fand die Klumpen aus Papiermaché, die, erst vor ein paar Stunden, aus dem Anzug des Toten gefallen waren.
Ich berührte die Klümpchen mit den Fingernägeln und atmete durch. Ich wusste, was das war. Aber ich war noch nicht so weit, dass ich den Tatsachen ins Gesicht sehen konnte.
Als Läufer bin ich nichts Besonderes. Doch jetzt rannte ich.
Weg vom Kanal, von dem Käfig, von der Stimme im Zug mit den düsteren Worten, weg aus meinem Zimmer und weg von den frisch getippten Seiten, die darauf warteten, gelesen zu werden, die begonnen hatten, alles auszusprechen; aber ich wollte sie nicht lesen, noch nicht. Ich rannte einfach blind den Strand entlang nach Süden.
In ein prähistorisches Land wie im Film The Lost World.
Dann lief ich langsamer, beobachtete das morgendliche Äsen merkwürdiger mechanischer Tiere.
Ölquellen. Fördertürme, die Öl pumpen.
Diese großen Pterodactylus waren, wie ich Freunden erzählte, Anfang des Jahrhunderts mitten in der Nacht durch die Luft herangeglitten und hatten hier ihre Nester gebaut. Aus dem Schlaf aufgeschreckt, hörten die Leute das gierige Pumpen gewaltiger Schlünde. Geweckt von dem Knarren, Quietschen, Knacken dieser Skelette, dem Auf und Ab federloser Flügel, die sich nicht mehr von der Erde lösen konnten, die sich um drei Uhr nachts hoben und senkten, Laute ausstießen, die wie urzeitliche Atemzüge klangen, richteten sich die Küstenbewohner in ihren Betten auf. Der Geruch dieser Tiere, und mit ihm die Zeit, wehte die Küste {27}entlang, kam aus einer fernen Vergangenheit, ehe es Höhlen gab und Menschen, die sich darin versteckten; es war der Geruch von Urwäldern, die zerfielen, in der Erde begraben wurden und zu Öl reiften. Ich rannte durch diesen Brontosaurierwald, stellte mir bald einen Triceratops, bald einen Stegosaurus mit Palisadenzaunrücken vor, inmitten zähen schwarzen Sirups, halb versunken in Teer. Ihre Klagelaute hallten über den Strand, und die Brandung warf ihr urweltliches Donnern zurück.
Ich rannte an den kleinen weißen Häuschen vorbei, die später dazukamen, ihre Nistplätze zwischen den Monstern wählten, und vorbei an den Kanälen, die ausgehoben und gefüllt worden waren, damit sie den strahlenden Himmel des Jahres 1910 widerspiegelten, als die weißen Gondeln auf klaren Fluten dahinglitten und Brücken, um die sich Girlanden von Glühwürmchenlampen wanden, zukünftige Spaziergänge auf Seepromenaden versprachen, die es dann für kurze Zeit gab, eine Balletttruppe auf Tournee, und die sich nach dem Krieg für immer verabschiedeten. Und die dunklen Ungeheuer saugten weiter den Sand aus, während die Gondeln auf den Grund sanken und das letzte Partygelächter mit sich nahmen.
Einige von den Leuten blieben natürlich, versteckten sich in Hütten oder sperrten sich in eine der wenigen mediterranen Villen ein, die hier wie der Ausdruck architektonischer Ironie wirkten.
Plötzlich bremste ich aus vollem Lauf ab, blieb stehen. Ich musste gleich umkehren und die Papierklümpchen herauskramen, und dann musste ich den Namen ihres verlorenen, toten Besitzers herausfinden.
{28}Doch jetzt stand einer der mediterranen Paläste vor mir, so leuchtend weiß wie der Vollmond, der über dem Strand steht.
»Constance Rattigan«, flüsterte ich. »Können Sie herauskommen und spielen?«
Was da direkt am Meer vor mir lag und die Fluten aufforderte, zu kommen und ihre Kräfte zu erproben, war eine weißglühende arabische, maurische Festung. Eine Festung mit Minaretten und kleinen Türmchen und blauen und weißen Fliesen, die sich auf den Sandgesimsen unsicher neigten, hier, keine dreihundert Meter von den neugierigen Wellen entfernt, die sich ehrerbietig verneigten, hier, wo die Möwen herabsegelten, um einen zufälligen Blick auf das alles zu werfen, wo ich jetzt stand und Wurzeln schlug.
»Constance Rattigan.«
Doch niemand trat aus dem Haus.
Allein und ungewöhnlich in diesem von Donnerechsen bewohnten Landstrich, bewachte dieser Palast die außergewöhnliche Kinokönigin.
Ein Turmfenster war Tag und Nacht erleuchtet. Wann immer ich hier vorbeikam, brannte dahinter Licht. Ob sie jetzt da war?
Ja!
Denn wie ein Blitz war ein Schatten an dem Fenster vorbeigehuscht, so als hätte jemand einen kurzen Blick auf mich werfen wollen, um dann wie eine Motte zu verschwinden.
Ich stand da und grub Erinnerungen aus.
Sie hatte in den Zwanzigern ein erfolgreiches Jahr gehabt {29}und war dann schnell hinabgerutscht in die Kinogewölbe. Ihr Regisseur hatte sie, wie vergilbtes Zeitungspapier erzählte, mit dem Studiofriseur im Bett erwischt und ihr mit einem Messer die Wadenmuskeln durchtrennt, damit sie nicht länger so laufen konnte, wie er es liebte. Dann war er geflohen, war einfach geradeaus nach Westen, in Richtung China geschwommen. Constance Rattigan hatte sich nie mehr gezeigt. Ob sie laufen konnte, wusste niemand.
O Gott, hörte ich mich flüstern.
Ich fühlte, dass sie sich spätnachts herausgewagt hatte in meine Welt und dass sie Leute kannte, die auch ich kannte. Manchmal schien sie mir so nahe zu sein, dass ich ihren Atem spüren konnte.
Geh schon, dachte ich, lass den Messinglöwenkopf an ihre Haustür pochen.
Nein, entgegnete ich mir selbst mit einem Kopfschütteln. Ich fürchtete, nur ein schwarzweißes Zelluloidektoplasma würde mir die Tür öffnen.
Du willst deine große Liebe gar nicht wirklich treffen, du willst nur davon träumen, dass sie eines Nachts heraustritt und von hier weggeht, Fußspuren in den Sand drückt, die der Wind sofort wieder verweht, dass sie zu dir kommt, an dein Fenster klopft, in dein Zimmer tritt und in langen Filmströmen gespenstisches Licht an die Zimmerdecke abspult.
Constance, liebe Rattigan, dachte ich, komm heraus! Spring in den großen weißen Duesenberg, der feurig strahlend dort im Sand parkt, lass den Motor aufheulen, winke und bring mich weg nach Süden, nach Coronado, die sonnenüberflutete Küste entlang.
{30}Doch kein Motor heulte auf, niemand winkte, niemand brachte mich nach Süden, zur Sonne, weg von dem Nebelhorn, das draußen auf See sein nasses Grab suchte.
Ich trat zurück, stellte überrascht fest, dass ich mit meinen Tennisschuhen knöcheltief in salzigem Wasser stand, wandte mich um und ging dahin zurück, wo kalter Regen in Käfigen auf mich wartete, auf den bedeutendsten Schriftsteller der Welt, was außer mir nur niemand wusste.
Ich hatte das feuchte Konfetti, die Papiermachémasse, in der Jackentasche, als ich den Raum betrat, von dem ich wusste, dass ich dort weitersuchen musste.
Es war der Ort, an dem die alten Männer beisammensaßen.
Ein kleiner, düsterer Laden, direkt neben den Gleisen des Vorortzugs, wo Süßigkeiten, Zigaretten und Zeitschriften verkauft wurden und die Fahrkarten für die großen roten Wagen, die von Los Angeles aus ans Meer eilten.
Der Laden, in dem es wie in einer Tabakscheune roch, wurde von zwei nikotinfleckigen Brüdern betrieben, die wie zwei alte Weiber ständig herumjammerten und sich zankten.
An der Wand saß auf einer Bank rund um die Uhr, wie Zuschauer bei einem Tennismatch, eine Gruppe von alten Männern, die das Gezänk einfach ignorierten, die damit beschäftigt waren, voreinander mit ihrem hohen Alter zu protzen, sich etwas vorzuschwindeln. Einer sagte, er sei zweiundachtzig. Ein anderer prahlte, er sei neunzig. Ein Dritter gab an, vierundneunzig zu sein. Die Zahlen {31}änderten sich von Woche zu Woche, weil sich keiner von ihnen an seine Lüge vom letzten Monat erinnern konnte.
Und wenn man genau aufpasste, konnte man, wenn einer der großen eisernen Züge vorbeirollte, hören, wie der Rost von den Knochen der alten Männer abblätterte und durch ihre Adern trieb, und ihn dann einen Augenblick lang in ihrem ersterbenden Blick aufschimmern sehen, wenn sie zwischen zwei Sätzen stundenlang stumm dasaßen und sich an das Thema zu erinnern versuchten, von dem sie am Mittag zu sprechen begonnen hatten und das sie vielleicht um Mitternacht beenden würden, wenn die zwei zänkischen Brüder den Laden zumachten und sich wehklagend in ihre Junggesellenbetten verkrochen.
Wo der alte Mann wohnte, wusste niemand. Jede Nacht, nachdem die Brüder ins Dunkel davongemeckert waren, zerstreuten sich die alten Männer wie Löwenzahnsamen, die der salzige Wind in alle Richtungen davonblies.
Ich trat ins ewige Dunkel dieses Raumes und starrte auf die Wand, wo die alten Männer schon seit Urzeiten saßen.
Ein Platz auf der Bank war leer. Wo sonst immer vier gesessen hatten, waren es jetzt nur noch drei, und ich konnte an ihren Gesichtern erkennen, dass irgendetwas nicht stimmte.
Ich schaute auf ihre Füße, um die herum nicht nur Häufchen von Zigarrenasche lagen, sondern auch eine weiche Schneeschicht von merkwürdigen kleinen Papierschnipseln, Konfetti, herausgestanzt aus Hunderten von Fahrkarten, in Form von verschiedenen Buchstaben – hier ein L, da ein X, dort ein m.
{32}Ich zog die Hand aus der Tasche und verglich die inzwischen fast wieder trockene aufgeweichte Masse mit dem Schnee auf dem Boden. Ich beugte mich hinab, hob ein bisschen davon auf und ließ dieses Alphabet durch meine Finger rieseln, durch die Luft hinab auf den Boden.
Ich sah auf den leeren Platz auf der Bank.
»Wo ist der alte Herr –?« Ich brach ab.
Denn die Alten starrten mich an, als hätte ich eine Gewehrkugel auf ihr Schweigen abgefeuert. Außerdem teilten mir ihre Blicke mit, dass ich für eine Beerdigung nicht richtig angezogen sei.
Einer, er schien der Älteste zu sein, zündete seine Pfeife an und brummte schließlich, während er sie anrauchte: »Der kommt schon. Ist noch jedes Mal gekommen.«
Die anderen beiden jedoch krümmten sich beklommen, ihre Gesichter waren düster.
»Wo«, fragte ich kühn, »wohnt er?«
Der Alte hörte auf, an der Pfeife zu saugen. »Wer will das wissen?«
»Ich«, erwiderte ich. »Sie kennen mich ja. Seit Jahren komme ich hierher.«
Die alten Männer blickten einander nervös an.
»Es ist wichtig«, erklärte ich.
Der Alte krümmte sich ein letztes Mal.
»Kanarienvögel«, murmelte der Älteste.
»Wie?«
»Die Frau mit den Kanaris.« Die Pfeife war ihm ausgegangen. Er zündete sie mit bekümmertem Blick wieder an. »Aber lassen Sie ihn in Ruhe. Ihm fehlt nichts. Er kommt schon wieder!«
{33}Er protestierte so heftig, dass die beiden anderen auf der Bank sich langsam, beinahe unmerklich wanden.
»Wie heißt –?«, setzte ich an.
Das war ein Fehler. Seinen Namen nicht zu kennen! Mein Gott, den kannte doch jeder! Die Alten funkelten mich böse an.
Ich wurde rot und trat den Rückzug an.
»Die Frau mit den Kanaris«, sagte ich noch und rannte so eilig zur Tür hinaus, dass mich zehn Meter von der Ladentür entfernt eine ankommende Straßenbahn beinahe ins Jenseits befördert hätte.
»Esel!«, schrie der Fahrer, der sich aus dem Fenster beugte und mir mit der Faust drohte.
»Kanarienvogel!«, schrie ich, nicht sehr geistreich, zurück und schüttelte meine Faust, um deutlich zu machen, dass ich noch lebte.
Dann stolperte ich davon und machte mich auf den Weg.
Ich wusste, wo sie wohnte. Ich erinnerte mich an das Schild im Fenster. KANARIENVÖGEL ZU VERKAUFEN.
Venice war und ist voll von solchen verlorenen Orten, wo Menschen die letzten abgetragenen Fetzen ihrer Seele zum Verkauf anbieten in der Hoffnung, dass niemand sie mitnehmen wird.
Kaum ein einziges der alten Häuser mit schmutzigen Vorhängen ohne Schild im Fenster.
NASH, BAUJAHR1927. GUTER ZUSTAND. HINTERHAUS. oder MESSINGBETT. KAUM BENUTZT. GÜNSTIG. 1. STOCK.
{34}Im Vorbeigehen überlegt man, welche Seite des Bettes wohl benutzt war und wie lange beide Seiten benutzt wurden und seit wann nicht mehr, seit zwanzig, dreißig Jahren?
Oder GEIGEN, GITARREN, MANDOLINEN.
Und im Fenster alte Instrumente, nicht mit Stahl- oder Darmsaiten, sondern mit Spinnweben bespannt, und im Raum bearbeitet ein alter Mann über eine Werkbank gebeugt Holz, hält den Kopf, während die Hände in Bewegung sind, stets vom Licht abgewandt; einer, der übrig geblieben ist aus der Zeit, als die Gondeln in Hinterhöfen strandeten und sich in Blumenkästen verwandelten.
Wann mochte er zum letzten Mal eine Geige oder Gitarre verkauft haben?
Und wenn man an die Tür, ans Fenster klopft, dann schnitzt und schmirgelt der alte Mann unbeirrt weiter, und das Gesicht, die Schultern zittern dabei. Lacht er, weil da einer klopft und er so tut, als höre er nichts?
Dann ein letztes Fenster mit einem Schild.
ZIMMER MIT AUSBLICK.
Das Zimmer bietet einen Blick aufs Meer. Aber seit zehn Jahren war niemand mehr dort droben. Das Meer hätte ebenso gut gar nicht mehr da sein können.
Ich bog um eine letzte Ecke und stand vor dem Schild, das ich suchte. Es hing in einem sonnenverbrannten Fenster, die zerbrechlichen Bleistiftstriche darauf waren verblichen, waren so blass wie eingetrockneter Zitronensaft, der sich, vor mehr als fünfzig Jahren, selbst ausgelöscht hatte!
KANARIENVÖGEL ZU VERKAUFEN.
Ja, irgendwer hatte vor einem halben Jahrhundert eine {35}Bleistiftspitze mit der Zunge befeuchtet, die Pappe beschriftet und ins Fenster gehängt, hatte sie mit Fliegenfängerklebstreifen befestigt und war zum Tee nach oben gegangen, in Zimmer, wo Staub die Geländer mit einer schmierigen Lackschicht bedeckte und die Glühlampen erstickte, so dass sie orientalisch anmutendes Licht ausstrahlten, wo Staubbällchen die Kissen bildeten und von den leeren Kleiderständern in den Schränken Schatten herabhingen.
KANARIENVÖGEL ZU VERKAUFEN.
Ich klopfte nicht an. Vor Jahren hatte ich es aus unsinniger Neugier einmal getan, mich dann wie ein dummer Junge gefühlt und war weitergegangen. Ich drehte an dem altertümlichen Türknopf. Die Tür glitt auf. Das Erdgeschoss war leer. In keinem der Zimmer standen Möbel. Ich rief durch das staubige Sonnenlicht hinauf.
»Jemand zu Haus?«
Ich glaubte, ein Dachbodenflüstern zu hören:
»… niemand.«
Tote Fliegen lagen in den Fenstern. Ein paar Motten, die seit dem Sommer 1929 tot waren, hingen am Fliegenfenster, bestäubten es mit ihren Flügeln.
Irgendwo von weit droben, wo ein uraltes Rapunzel ohne Haare verloren im Turm saß, fiel eine einzelne Feder herab, berührte sanft die Luft:
»… ja?«
Eine Maus seufzte in den dunklen Dachsparren:
»… herein.«
Ich stieß die Korridortür weiter auf. Sie gab mit einem lauten Knarren und Quietschen nach. Mir schien, dass sie {36}nicht geschmiert worden war, damit die rostigen Angeln jeden unangekündigten Besucher verrieten.
Eine Motte stieß droben im Flur gegen eine blinde Glühbirne.
»… hier herauf …«
Ich schritt hinauf in den mittäglichen Dämmer, an zur Wand gedrehten Spiegeln vorbei. Kein Spiegel sah mich kommen, kein Spiegel würde mich gehen sehen.
»… ja?« Ein Flüstern.
Ich zögerte vor der Tür oben an der Treppe. Vielleicht erwartete ich, wenn ich hineinschaute, einen riesigen Kanarienvogel zu sehen, der auf einen Staubteppich hingestreckt lag, zu keinem Lied fähig, seine einzige Sprache das Raunen seines Herzens.
Ich trat ein. Hörte, wie jemand nach Luft schnappte.
Mitten in dem leeren Zimmer stand ein Bett, in dem, die Augen geschlossen, der Mund schwach atmend, eine alte Frau lag.
Archaeopteryx, dachte ich.
Ja. Wirklich.
Ich hatte solche Knochen in einem Museum gesehen, die zerbrechlichen Reptilienflügel dieses vor Urzeiten ausgestorbenen Vogels, eingeprägt in Sandstein, als seien sie von einem ägyptischen Priester hineingemeißelt worden.
Dieses Bett und sein Inhalt waren wie der Schlick in einem seichten Flussbett. In seiner gemächlichen Strömung zeichneten sich Stroh und ein dünnes Skelett ab, ein hingeworfenes Mikadospiel.
Sie lag so flach und zart hingestreckt da, dass ich nicht glauben konnte, ein lebendes Wesen vor mir zu haben, {37}sondern nur ein Fossil, ungestört vom Voranschreiten der Zeit.
»Ja?« Der winzige vergilbte Kopf, der kaum unter der Tagesdecke hervorlugte, öffnete die Augen. Winzige Lichtscherben funkelten mich an.
»Kanarienvögel?«, hörte ich mich fragen. »Das Schild in Ihrem Fenster? Die Vögel?«
»Oh«, seufzte die alte Frau, »… je.«
Sie hatte es vergessen. Vielleicht war sie seit Jahren nicht mehr unten gewesen. Und ich war, möglicherweise, der Erste, der in den letzten tausend Tagen hier heraufkam.
»Oh«, flüsterte sie. »Das ist lange her. Kanarienvögel. Ja. Ich hab ein paar sehr schöne gehabt.«
»1920«, flüsterte sie weiter. »1930–31–.« Ihr schwand die Stimme. Weitere Jahre gab es nicht.
Als ob es erst gestern gewesen wäre.
»Und gesungen haben sie, meine Kleinen, wie die gesungen haben. Aber nie ist jemand gekommen und wollte einen kaufen. Wieso? Ich hab nie auch nur einen verkauft.«
Ich schaute mich um. Ganz hinten in einer Ecke stand ein Vogelkäfig, und noch zwei andere halb versteckt in einem Schrank.
»Entschuldigen Sie«, murmelte sie. »Ich muss vergessen haben, das Schild aus dem Fenster zu nehmen.«
Ich ging hinüber zu den Käfigen. Meine Ahnung erwies sich als richtig.
Den Boden des ersten Käfigs bedeckte der Papyrus einer Los Angeles Times vom Oktober 1927.
Der siebenundzwanzigjährige Monarch
hat am Nachmittag …
Ich ging weiter zum nächsten Käfig. Erinnerungen an meine Highschool-Zeit mit all ihren Ängsten überschwemmten mich.
Mussolini erklärt sich zum Sieger,
Haile Selassi protestiert …
Ich schloss die Augen und wandte mich von diesem längst vergangenen Jahr ab. So lange hatten hier keine Federn mehr geraschelt, war kein Trillern mehr ertönt. Ich stand neben dem Bett und dem, was verschrumpelt, vom Leben beiseitegeschoben, in ihm lag. Dann hörte ich mich fragen:
»Haben Sie manchmal am Sonntagmorgen die ›Stunde für den Kanarienfreund in den Rocky Mountains‹ gehört?«
»Wo einer Orgel gespielt hat und das Studio voll war mit Kanarienvögeln, die dazu gesungen haben!«, rief die alte Frau aus, von einer Freude erfüllt, die sie um Jahrzehnte jünger wirken und den Kopf in den Nacken werfen ließ. Ihre Augen funkelten wie Glasscherben. »Wenn es Frühling wird in den Rockies!«
»Sweet Sue, Mein blauer Himmel«, fügte ich hinzu.
»Oh, ja, waren die Vögel nicht süß!?«
»Sie waren phantastisch.« Ich war damals gerade neun und fragte mich immer, wie es die Vögel schafften, so gut {39}der Melodie zu folgen und im Takt zu zwitschern. »Einmal hab ich zu meiner Mutter gesagt, irgendjemand muss wohl Notenblätter in den Käfig gelegt haben.«
»Sie müssen ein sehr empfindsames Kind gewesen sein.« Der Kopf sank ihr erschöpft auf die Brust, und sie schloss die Augen. »So etwas gibt es heute nicht mehr.«
Das hat es auch niemals gegeben, dachte ich.
»Aber«, flüsterte sie weiter, »Sie sind eigentlich wegen etwas anderem gekommen, oder?«
»Ja«, gab ich zu. »Wegen dem alten Mann, der bei Ihnen zur Miete wohnt.«
»Er ist tot.«
Ehe ich etwas sagen konnte, fuhr sie ruhig fort: »Seit gestern früh war nichts mehr von ihm zu hören, drunten in der Küche. Letzte Nacht, das hat mir die Stille im Haus gesagt. Als Sie dann eben die Haustür geöffnet haben, wusste ich, dass mir jemand schlechte Nachrichten bringen würde.«
»Es tut mir leid.«
»Schon gut. Ich hab ihn das ganze Jahr nicht gesehen, nur an Weihnachten. Die Frau, die nebenan wohnt, kümmert sich um mich, sie bringt zweimal am Tag mein Bett in Ordnung und stellt mir das Essen hin. Dann stimmt es also, er ist tot? Haben Sie ihn näher gekannt? Wird es eine Beerdigung geben? Dort auf der Kommode liegen fünfzig Cent. Kaufen Sie ihm ein kleines Bukett.«
Es lag kein Geld da. Es gab auch gar keine Kommode. Ich tat, als sei alles so, wie die Alte gesagt hatte, und steckte das Geld, das es gar nicht gab, ein.
»Kommen Sie doch in einem halben Jahr wieder«, {40}flüsterte sie. »Dann geht’s mir wieder gut. Und ich verkaufe wieder Vögel, und … Sie schauen die ganze Zeit zur Tür! Müssen Sie gehen?«
»Ja, Madam«, sagte ich schuldbewusst. »Sie erlauben, ein Hinweis – Ihre Haustür ist nicht abgesperrt.«
»Na, was sollte denn schon einer von einer alten Frau wie mir wollen?« Sie hob ein letztes Mal den Kopf.
Ihre Augen blitzten. Irgendetwas hämmerte in ihr, wollte sich von diesem Fleisch befreien, ließ sie vor Schmerz das Gesicht verziehen.
»In dieses Haus, diese Treppe hoch, wird niemals irgendwer kommen«, weinte sie.
Ihre Stimme schwand wie Musik von einem Sender, der weit weg, hinter den Bergen liegt. Als sich die Augenlider senkten, verstummte er vollständig.
O Gott, dachte ich, sie wartet darauf, dass irgendjemand kommt und ihr einen schrecklichen Gefallen tut.
Aber nicht ich, fuhr es mir durch den Kopf.
Sie riss die Augen auf. Hatte ich es laut gesagt?
»Nein«, meinte sie, und mir war, als ob sie tief in mich hineinblickte. »Sie sind es nicht.«
»Wer bin ich nicht?«
»Der Kerl, der draußen vor der Tür steht. Jede Nacht.« Sie seufzte. »Aber er kommt nie herein. Warum bloß?«
Sie hielt inne, blieb stehen wie eine Uhr. Sie atmete noch, doch sie wartete darauf, dass ich wegging.
Ich warf einen Blick über die Schulter.
An der Tür ließ der Wind den Staub wabern wie Nebel, als warte dort jemand. Das Ding, der Mann, was immer es war, das jede Nacht kam und im Flur stand.
{41}Ich störte.
»Auf Wiedersehen«, rief ich ihr zu.
Schweigen.
Ich hätte bleiben, mit ihr Tee trinken, zu Abend essen, frühstücken sollen. Aber man kann nicht immer und überall jeden Menschen beschützen, oder?
Ich blieb an der Tür stehen.
Auf Wiedersehen.
Stöhnte sie diese Worte in ihrem alten Schlaf? Ich spürte nur, dass mich ihr Atem hinausschob.
Als ich die Treppe hinabging, fiel mir ein, dass ich nun immer noch nicht den Namen des alten Mannes kannte, der in dem Raubtierkäfig ertrunken war, eine Handvoll Fahrkartenkonfetti in jeder Tasche, Konfetti, das er nicht mehr verstreuen konnte.
Ich fand sein Zimmer. Doch was nützte das?
Sein Name würde nicht da sein, ebenso wenig wie er selbst.
Wenn etwas anfängt, ist es meist gut. Doch wie selten in der Geschichte der Menschheit, in der Geschichte kleiner und großer Städte, endet etwas gut.
Alles zerfällt. Wird zu dick. Wuchert. Die Zeit gerät aus den Fugen. Die Milch wird sauer. Die Drähte an den Hochspannungsmasten erzählen bei Nacht, im Nieselregen, furchtbare Geschichten. Das Wasser im Kanal wird blind vor Schaum. Feuersteine geben, wenn man sie gegeneinanderschlägt, keine Funken mehr. Frauen, die man berührt, geben einem keine Wärme mehr.
Der Sommer ist plötzlich vorbei.
{42}Der Winter schneit einem in die fleischbedeckten Knochen.
Dann ist es Zeit für die Wand.
Die Wand eines kleinen Zimmers, wo das Beben der großen roten Züge vorbeizieht wie ein Alptraum, wegen dem man sich hin und her wälzt in seinem kalten eisernen Bett unten in dem gar nicht königlichen Haus der verlorenen Kanarienvögel, wo die Hausnummer am Eingang abgeblättert ist und das Straßenschild an der Ecke um neunzig Grad verdreht wurde, so dass Besucher, sollten jemals welche zu einem kommen wollen, unweigerlich in die falsche Straße einbiegen und für immer verschwinden würden.
Aber wenigstens hat man diese Wand, direkt neben dem Bett, die man mit tränengefüllten Augen lesen, nach der man greifen kann und die man doch nie berührt – sie ist zu weit weg und zu tief und zu leer.
Ich war sicher, dass ich in dem Zimmer des alten Mannes eine solche Wand vorfinden würde.
Und so war es auch.
Die Tür war, wie alle Türen im Haus, nicht abgeschlossen, wartete darauf, dass der Wind oder der Nebel oder irgendein bleicher Fremder eintrat. Ich tat es. Zögerte. Vielleicht erwartete ich, dort auf dem leeren Bett einen Röntgenabdruck des Alten zu sehen. Das Zimmer sah, genau wie das der Frau mit den Kanaris im ersten Stock, aus, als wäre hier eine Haushaltsauflösung durchgeführt und alles für einen Apfel und ein Ei weggeschleppt worden.
Nicht einmal eine Zahnbürste lag irgendwo herum, keine Seife, kein Waschlappen. Der Alte musste einmal am Tag im {43}Meer gebadet und sich jeden Mittag die Zähne mit Seetang geputzt haben. Sein einziges Hemd hatte er offensichtlich in der salzigen Flut gewaschen, sich dann auf eine Düne gelegt und das Hemd daneben; dort trocknete es, wenn die Sonne herauskam, falls sie herauskam.
Ich ging weiter wie ein Tiefseetaucher. Wenn man weiß, dass man ins Zimmer eines Toten kommt, hemmt die Atmosphäre der Verlassenheit darin jede Bewegung, ja selbst das Atmen.
Ich schnappte nach Luft.
Ich hatte danebengetippt.
Denn da, an der Wand, stand sein Name. Ich wäre beinahe auf das Bett gefallen, als ich mich hinabbeugte, einen Blick darauf warf.
Er hatte seinen Namen in den Putz hinter dem Bett gekratzt, ihn x-mal wiederholt. Immer und immer wieder, als habe er Angst, vergesslich oder senil zu werden, als schrecke ihn die Vorstellung, eines Morgens aufzuwachen und keinen Namen mehr zu haben. Immer wieder hatte er ihn mit seinen vom Nikotin verfärbten Fingernägeln dort eingekratzt.
William. Und Willie. Und dann Will. Und darunter Bill.
Und dann ein paarmal nacheinander:
Smith. Smith. Smith. Smith.
Und darunter dann: William Smith.
Und: Smith, W.
Sein hingekritzeltes Einmaleins verschwamm mir vor den Augen, als ich es anstarrte, denn in ihm sah ich all die Nächte, in denen ich voller Angst in die dunklen Fernen meiner Zukunft geblickt hatte. Mich gesehen hatte, 1999, {44}allein, und meine Fingernägel nagten wie eine Maus Buchstaben in den Putz …
»Mein Gott!«, flüsterte ich. »Moment mal!«
Das Bett quietschte wie eine aus dem Schlaf geschreckte Katze. Ich ließ mein ganzes Gewicht darauffallen und strich mit den Fingerkuppen über den Putz. Da standen noch andere Worte. Eine Botschaft, ein Hinweis, eine Spur?
Ich erinnerte mich an einen Zaubertrick, der uns als Kinder immer fasziniert hatte. Man ließ jemand anders Wörter auf einen Block schreiben und das beschriebene Blatt abreißen. Dann ging man mit dem Block in ein anderes Zimmer und strich mit einem weichen Bleistift über die unsichtbaren Eindrücke auf dem Papier, und schon wurden die Wörter sichtbar.
Jetzt machte ich genau das: Ich zog meinen Bleistift aus der Tasche und strich mit der Spitze sachte über die Wand. Die Fingernagelkratzer zeichneten sich ab, hier ein Mund, dort ein Auge; Figuren, Formen, Fetzen aus den Wachträumen eines alten Mannes:
Vier Uhr und immer noch wach.
Und darunter eine gespenstische Bitte:
Mein Gott – Schlaf!