Der Tote aus der Seine - Alexis Ragougneau - E-Book

Der Tote aus der Seine E-Book

Alexis Ragougneau

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Beschreibung

Als man eines Morgens kurz vor Ostern die Leiche eines jungen Obdachlosen aus der Seine zieht, geht man zunächst von einem recht banalen Selbstmord aus. Doch schon bald muss Kommissar Gombrowicz diese These wieder kassieren: Die Hände des Opfers sind durchbohrt, und eine Seite des Körpers ist aufgeschlitzt – alles deutet auf die bewusste Inszenierung eines religiösen Rituals hin. Da die Polizei keine schnellen Ergebnisse liefern kann, begeben sich Pater Kern und die junge Richterin Claire Kauffmann, ein bewährtes Ermittlerduo, auf Spurensuche. Schon bald führen verschiedene Fährten die beiden in das unterirdische Labyrinth der französischen Hauptstadt, wo sie eine grausige Wahrheit entdecken müssen ...

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Das Buch

»Ein wahres Meisterwerk, ein Caravaggio«, schwärmt der kauzige Gerichtsmediziner, als er die Leiche des Mannes obduziert, die man soeben aus der Seine gezogen hat. Ersten Ermittlungen zufolge handelt es sich bei dem Toten um den jungen Mouss, der kurz vor Weihnachten für Schlagzeilen gesorgt hatte: Er war der charismatische Anführer einer Gruppe von Obdachlosen gewesen, die auf der Suche nach Schutz vor der Kälte die ehrwürdige Kathedrale Notre-Dame gestürmt und eine Weile dort logiert hatten – bis die Polizei mit harter Hand eingriff.

Inzwischen ist Ostern, und nachdem endlich Ruhe in dieser leidigen Sache herrschte, schlagen durch den neuen Mordfall die Wellen wieder hoch in Paris. Und so bittet man Pater Kern und die junge Richterin Claire Kauffmann um Mithilfe. Wie immer ergänzt sich das Ermittlerduo aufs Beste: Sie ist das Hirn, er das Herz. Während Claire zielstrebig, strukturiert und immer auf hochhackigen Schuhen unterwegs ist, ist es der gutmütige, kleinwüchsige Geistliche, dem die Menschen sich anvertrauen.

Diesmal müssen die beiden buchstäblich in die Pariser Unterwelt abtauchen, es geht hinunter in die Kanalisation an den Seine-Ufern, wo sie einen grausigen Fund machen.

Der Autor

Alexis Ragougneau, 1973 geboren, wurde für seine Theaterstücke mehrfach ausgezeichnet. Er hat lange als Stadtführer in Paris gearbeitet und kennt die französische Metropole wie sein eigenes Wohnzimmer. Zuletzt erschien bei List Die Madonna von Notre-Dame, der erste Fall für Pater Kern.

Alexis Ragougneau

Der

Tote

aus der

Seine

Kriminalroman

Aus dem Französischen von Olaf Matthias Roth

List

Die Originalausgabe erschien 2016unter dem Titel L’Évangile pour un gueuxbei Éditions Viviane Hamy, Paris.

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Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

ISBN: 978-3-8437-1504-1

© Éditions Viviane Hamy, 2016© der deutschsprachigen Ausgabe2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: © gettyimages/Oliver Reynes

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Ereignisse und Personen dieses Romans sind frei erfunden.

Dieser Roman wurde ermöglicht durch einen Stipendienaufenthalt des Autors im Monastère de Saorge – Centre des Monuments Nationaux.

Mein Heim gebt mir zurück, mein Feld und mein Gewerb!

Mein Weib und auch mein Kind! O schenkt mir hellen Sinn!

Was tat ich nur, so sprecht, dass ich geraten bin

In schlimmer Stürme Schaum! Zerrissen ist das Band,

Verwirkt scheint mir das Recht auf Frankreich,

dich, mein Land!

Victor Hugo

1

Der Körper lag auf dem Rücken. Das weiße Licht, das durch die Fensterscheiben drang, hob die Maserung der Haut hervor, als wäre sie auf ein Pergament gemalt, das durch das Wasser, die Zeit und den Tod brüchig geworden war. Über das Geschlechtsteil hatte man ein Laken geworfen – dabei war Scham hier sicherlich fehl am Platz –, das auch die obere Hälfte der Beine bedeckte. Der Kopf war nach links geneigt und lag auf einem Stück Holz, die dichten braunen Locken waren feucht, schmutzig und blutig verklebt. In dieser unnatürlichen Lage drückte das Kinn auf den Adamsapfel und bildete eine Art Kropf, wodurch das Gesicht feist wirkte und daher in krassem Widerspruch zu dem erschreckend dürren Körper stand. Ein struppiger Bartflaum wie bei einem Pubertierenden umrahmte frühzeitig gealterte Züge, die mit ihrem halb grotesken, halb tragischen Ausdruck an eine antike Maske erinnerten. Unweigerlich zogen die Hände und die Füße die Blicke des Betrachters an: Sie waren durchbohrt.

Ein Metrozug fuhr über die Seine, beschrieb einen Bogen und kam über der Voie Mazas mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Dr. Saint-Omer rauschte in den Raum mit dem verblichenen orangefarbenen Linoleumboden, gefolgt von einem Fotografen der Spurensicherung und dem gerichtsmedizinischen Assistenzarzt.

»Es sind von Ostern noch ein paar Eier da, wenn Sie mögen, Lieutenant Gombrowicz. Ich empfehle niemandem, mit leerem Magen einer Autopsie beizuwohnen. Es ist ein bisschen wie beim Fliegen: Bei Turbulenzen ist es immer besser, etwas im Magen zu haben. Das ist aber nicht Ihre erste Obduktion, oder?«

Gombrowicz murmelte eine ausweichende Antwort, während der Mediziner mit seiner behandschuhten Rechten das Laken anhob, um die Hüften des Toten freizulegen. Ein zusammengeschrumpeltes, beschnittenes Glied kam zum Vorschein. Der Lieutenant musste an eine Trockenfrucht denken, eine Pflaume, Dattel oder Feige – und sah augenblicklich zu seinen Sportschuhen hinunter, bei deren einem ein Schnürsenkel offen war.

Unter Klicken und Piepen seiner Kamera begann der Fotograf um den Edelstahltisch herumzutanzen, der im Blitzlichtgewitter aufflackerte. Saint-Omer trank seinen Kaffee aus, während er den Toten betrachtete. Er warf den Becher in den für medizinische Abfälle bestimmten Mülleimer und kratzte sich den kahlen Schädel.

»Gut … Also ein Clochard am frühen Morgen. Zumindest ist er beim Bad in der Seine ein bisschen sauberer geworden. Tut mir leid, ich ziehe nun mal den Tod dem Schmutz vor. Haben Sie auch Aufnahmen in bekleidetem Zustand gemacht?«

Der Fotograf checkte mit dem Zeigefinger die gespeicherten Aufnahmen, und ohne einen Augenblick vom Display seiner Canon aufzusehen, gab er einen unbestimmten Laut von sich, der den Arzt zufriedenzustellen schien.

»Haben Sie die Kleidungsstücke alle aufgelesen? Ist alles hier?«

Der Assistent bejahte mit einer unmerklichen Bewegung des Kinns.

»Körpermaße, Gewicht, Röntgen, alles erledigt?«

Der Assistent nickte erneut, worauf der Gerichtsmediziner mit einem kurzen quietschenden Geräusch die Hände über seiner Plastikschürze kreuzte.

»So, wen haben wir denn da? Nicht identifiziertes Individuum männlichen Geschlechts, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, nordafrikanischer Typus. Die Leiche wurde am 21. April gegen Ende des Tages aufgefunden, sie trieb in Höhe der Haltestelle Port de Montebello des Batobus. Zyanose des Gesichts, schön blauviolett. Augen turgeszent. Ödeme an den Lidern. Schaumpilzbildung an den frontalen Gesichtsöffnungen. Zahlreiche Hämatome an Knien und Unterarmen, die vielleicht vom Schleifen über den Flussgrund herrühren; allerdings neige ich eher zu der Überzeugung, sie stammen von den vergeblichen Versuchen, vor dem endgültigen Ersticken an Land zu gelangen. Die Untersuchung der Lungen wird den Beweis für die Hypothese ›Tod durch Ertrinken‹ erbringen. Der Mazerationsgrad der Haut lässt auf eine Verweildauer unter Wasser zwischen zwei und vier Tagen schließen. Die Epidermis löst sich an Händen und Füßen. Spuren von Verwesung am Hals und in der Brustgegend. Schauen Sie mal, dieses tiefe Grün hier, Lieutenant, ist doch wirklich erstaunlich, was für Farben der Tod hervorbringt. Interessieren Sie sich für Malerei?«

Gombrowicz starrte angestrengt auf seinen offenen Schnürsenkel und versuchte, sich auf nichts anderes als das dünne weiße Band zu konzentrieren, das sich auf dem abgenutzten Linoleumboden schlängelte. Saint-Omer redete weiter, ohne auch nur ein einziges Mal aufzusehen.

»Genereller Zustand sehr schlecht. Kachexie infolge gravierender Mangelernährung. Extreme Magerkeit. Völlig verschmutzt. Angeborene Atrophie des rechten Arms und dadurch bedingte Unfähigkeit, die Hand zu bewegen. Zahlreiche Hautverletzungen infolge von Flohbissen oder Krätze. Sekundärinfektion in Form eines Geschwürs am Bein. Ist das Ihr erster Obdachloser, Lieutenant …? Zahlreiche Fußprobleme, diverse Dermatosen und Parasitosen; man darf sie aber nicht mit den Blasen verwechseln, die von dem langen Verbleib unter Wasser herrühren …«

Der Gerichtsmediziner hielt mitten im Satz inne, trat einen Schritt zurück – gerade so lange, dass der Fotograf ein paar Nahaufnahmen von den Füßen machen konnte – und redete danach weiter, als hätte er sich nie unterbrochen.

»Jedenfalls sind es immer dieselben Krankheiten, an denen Penner zugrunde gehen. Manchmal reichen schon ein paar Wochen, und das Verhältnis zum Körper ändert sich völlig, was dazu führen kann, dass Infektionen einfach nicht wahrgenommen werden. Ich weiß noch, im November letzten Jahres wurde hier die Leiche eines Vierzigjährigen eingeliefert – der aber gut und gern für einen Siebzigjährigen durchgegangen wäre –, dessen eine Socke buchstäblich mit der Haut verwachsen war, weil er sie monatelang nicht ausgezogen hatte. Zu solchen Anomalien, Lieutenant, kommt man nur, wenn man das Bewusstsein für den eigenen Körper vollkommen verliert. Der Körper wird einem fremd, er ist wie ein Stück Treibgut, das davonschwimmt. Der Bursche hier stellt keine Ausnahme dar: Lange hätte er es ohnehin nicht mehr gemacht.«

Gombrowicz bückte sich und band den Schnürsenkel seines Turnschuhs zu. Als er sich wieder aufrichtete, überkam ihn ein leichter Schwindel, und er drückte die Schultern gegen die Wand. Er hatte heute den ganzen Morgen nichts zu sich nehmen können. Beim Gedanken an die bevorstehende Autopsie war ihm der Magen schon seit dem Vorabend wie zugeschnürt.

Saint-Omer löste seine Hände vom Bauch und stützte sie auf dem Seziertisch ab.

»Die Stigmata an Händen und Füßen sind allerdings absolut ungewöhnlich; es sind tiefe Wunden, zugefügt mit einem Stichel, einem Schraubendreher, vielleicht auch einem großen Nagel. Und dann …«

Der Gerichtsmediziner stach mit seinem latexüberzogenen Finger in eine fünfzehn Zentimeter lange Wunde seitlich unterhalb des Brustkorbs.

»Und dann haben wir ja noch die Wunde hier an der Seite, die von einem Cutter oder einem sehr spitzen Messer herrührt, was noch auf einen zweiten Angreifer schließen lassen könnte. Erinnert er Sie nicht an jemanden, dieser junge Mann? Wie er da so liegt, während sich das Frühlingslicht über seinen Körper ergießt, sieht er nicht aus wie ein Mantegna?«

Gombrowicz sah von seinen Schuhen auf.

»Wer ist das?«

»Andrea Mantegna. Ende 15. Jahrhundert. Ein Meisterwerk. Das Bild hängt in Mailand.«

»Glauben Sie, das hilft uns bei der Identifizierung?«

Zum ersten Mal seit Beginn der Autopsie wandte sich der Gerichtsmediziner von der Leiche ab und betrachtete den jungen Kriminalbeamten über seine halbmondförmigen Brillengläser hinweg.

»Jetzt fällt es mir wieder ein … Das letzte Mal waren Sie mit Ihrem Vorgesetzten da, Commandant … Wie hieß er noch gleich? So ein untersetzter Typ …«

»Landard.«

»Landard, genau. Ist Ihr Aufpasser heute gar nicht mit von der Partie?«

»Er wartet unten im Hof und raucht vermutlich eine Kippe nach der anderen.«

»Wussten Sie nicht, dass es sich um einen Obdachlosen handelt? Bei dem Mann da auf dem Seziertisch, meine ich.«

»Ein Ertrunkener, hieß es nur.«

»Verstehe. Also … Sollen wir den Knaben mal aufschnippeln?«

Saint-Omer zückte ein Skalpell und zeichnete mit leichter Hand, gerade so, als würde er mit einem Pinsel über eine noch jungfräuliche Leinwand fahren, ein großes Y von den Schultern bis hinab zur Schamgegend. Eine gebliche Flüssigkeit quoll aus der Wunde. Der Gerichtsmediziner hob die Ränder an und legte die Rippen frei, dann griff er nach einer großen Zange, um die Rippen zu durchtrennen. Die inneren Organe kamen zum Vorschein, ein bestialischer Geruch erfüllte den Raum. Der Arzt atmete tief ein.

»Haben Sie Parfum an sich, Lieutenant? Denn das intensiviert den Geruch noch. Versuchen Sie nicht, dagegen anzugehen. Im Gegenteil, inhalieren Sie ganz tief. Glauben Sie mir, das ist die einzige Art, damit fertig zu werden.«

Gombrowicz’ Magen krampfte sich zusammen, er hielt die Luft an, um sich nicht übergeben zu müssen.

»Falls Ihnen schlecht wird, da links von Ihnen auf dem Metallwägelchen steht eine Schüssel.«

Der Kriminalbeamte spürte, wie ihm der Schweiß von den Achseln rann. Ein Hauch seines Deos, Ozeanfrische, drang ihm in die Nase, und er biss die Zähne noch ein wenig fester zusammen: Der Duft verstärkte den Leichengeruch tatsächlich.

Saint-Omer hatte sich schon wieder über die sterblichen Überreste des Ertrunkenen gebeugt.

»Wunderbare Farben hier im Innern, aber, o Gott, was für ein Schlachtfeld! Spuren einer Pneumonie mit Komplikationen, Anzeichen für Tuberkulose … Der Junge hier hatte die Lungen eines Greises. Übrigens, Lieutenant, am Tod durch Ertrinken besteht kein Zweifel. Hier drin steht das Wasser. Die mikroskopischen Untersuchungen und die Analysen werden es lediglich bestätigen.«

Während der Gerichtsmediziner mit Umsicht die Eingeweide herausnahm – Herz, Leber, Lunge – und sich dann von unten zum Schädel hocharbeitete, trat der Assistent an den Inox-Tisch und wog jedes innere Organ.

»Sehen Sie, Lieutenant, dieses Häufchen Fleisch und stinkende Gedärme, das ist das Leben. Der Tod ist nun mal Teil des Lebens, und ein Gerichtsmediziner ist selbstverständlich ein Arzt, der sich mit dem Lebenden beschäftigt. Dieser Clochard hier auf unserem Obduktionstisch, ob Sie’s hören wollen oder nicht, ist ein Kunstwerk, ein wahrer Schatz, ein Meisterwerk, ein Caravaggio, ein Tizian, ein Uccello. Hören Sie mir überhaupt zu, Lieutenant?«

Das Linoleum schwankte vor seinen Augen, während er an Landard dachte, der in aller Seelenruhe seine Zigarette im Innenhof des Gerichtsmedizinischen Instituts rauchte. Im Hof, also an der frischen Luft. Gombrowicz unterdrückte einen Fluch, aus Furcht, er könnte sein gestriges Abendessen nicht mehr bei sich behalten.

Dr. Saint-Omer ging um den Obduktionstisch herum und entwirrte das Haar des jungen Mannes ein wenig. Dann zückte er erneut das Skalpell und schnitt die Kopfhaut von einem Ohr zum anderen auf. Sein Assistent setzte die Kreissäge an.

»Bevor ich ihnen die Haut über den Kopf ziehe, Lieutenant, betrachte ich sie immer noch einmal eingehend. Das habe ich von jeher gemacht, denn wissen Sie, die Nase, der Mund, das Lächeln, der immer wieder andere Gesichtsausdruck, das macht doch den Menschen aus …«

Plötzlich hielt Saint-Omer inne. Aufmerksam studierte er die Züge des Toten, als habe er eine plötzliche mystische Erleuchtung.

Endlich hob er den Blick und sah zu Gombrowicz hinüber, der begriff, dass die medizinische Routine unterbrochen war.

»Sehen Sie nur, Lieutenant … Das ist doch … Kommen Sie ruhig näher. Unglaublich … Den kenne ich doch …«

Das waren die letzten Worte, die der junge Beamte hörte. Sein Körper schwankte und neigte sich wie ein Baumstamm nach links. Während er das Gleichgewicht verlor, hörte er noch das Scheppern des Metallwägelchens, das mit ihm ins Trudeln geriet, und sah die Schüssel über den orangefarbenen Linoleumboden schlittern. Dann tauchte er in völliges Dunkel und tiefes Schweigen ein.

Landard trat seine Zigarette mit der Schuhsohle aus. Die Luft kam ihm für Ende April ausgesprochen mild vor. Vorhin war ein Leichenwagen vorgefahren und hatte ihn aus seiner brütenden Stimmung gerissen. Er erhob sich von den Stufen zum Hof, auf denen er gesessen hatte, und steuerte einen Sonnenfleck auf dem rissigen Asphalt an. Nach zwei, drei Schritten stand er richtig und spürte, wie die Sonne ihm das Gesicht wärmte. Da bekam er Lust auf eine neue Zigarette, und er zog das unvermeidliche blaue Päckchen aus der Tasche, auf dem die schwarze Silhouette einer Zigeunerin in einer weißen Rauchwolke tanzte.

Plötzlich schwang die Glastür zum Hof auf, und Gombrowicz, fahl im Gesicht wie die Mauern ringsum, wankte heraus und stützte sich auf die Mülltonnen, deren gelbe Plastikdeckel ihn aber an die Abfalleimer im Obduktionsraum erinnerten, so dass er sich mit einem Schluckauf angeekelt abwandte.

»Alles in Ordnung, Kleiner?«

»Verdammt, Landard, hättest mir aber auch vorher sagen können, dass es ein Penner war, der da ertrunken ist.«

»Macht doch keinen Unterschied, oder? Tote riechen immer ziemlich streng, ob nun Clochard oder nicht.«

»Hast du mal ’ne Zigarette für mich?«

»Hab mir gerade die letzte angezündet, sorry.«

»Dann lass mich mal ziehen!«

Mit einem Seufzer reichte Landard seinem Mitarbeiter die Zigarette, die eben noch zwischen seinen Lippen gesteckt hatte. Der junge Mann nahm einen tiefen Zug, und seine Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Grau.

»Gehen wir?«

»Wieso?«

»Bloß weg von diesen Aasgeiern!«

»Ist doch ganz nett hier!«

»Für dich vielleicht. Ich brauche dringend eine Fanta!«

»Die kriegst du am Automaten im Justizpalast. Du hast es nur deshalb so eilig wegzukommen, weil du Miss Feldwebel wiedersehen möchtest.«

»Du bist ein Arschloch, Landard.«

»Gib’s ruhig zu, dass dir die kleine Richterin gefällt.«

»Du bist ein richtiges Arschloch.«

»Ich weiß.«

»Ich hau ab. Außerdem habe ich sowieso die Schlüssel.«

»Auf der Ablage liegen noch ein paar Eier von Ostern, falls du was Süßes brauchst.«

Gombrowicz steuerte schon auf den Ausgang zur Place Mazas zu, als sich in der ersten Etage auf dem Flur zum Obduktionssaal ein Fenster öffnete.

»Lieutenant? Warten Sie einen Moment … Lieutenant!«

Gombrowicz kehrte noch einmal um. Von oben sah Saint-Omer wie von einem Adlerhorst herab.

»Geht’s Ihnen besser, Lieutenant?«

Landard war näher getreten und stand nun unterhalb des Fensters.

»Docteur Saint-Omer, seien Sie mir gegrüßt!«

»Commandant Landard! Was für eine Überraschung! Wie geht’s?«

»Und? Der Clochard mit den durchlöcherten Händen? Irgendwas Auffälliges entdeckt?«

»Zwei, drei interessante Schattierungen, verborgen unter einem Haufen Leid. Gerade habe ich mit Ihrem kleinen Lieutenant darüber gesprochen. Ich war mir sicher, ihn schon mal gesehen zu haben, Ihren Unbekannten aus der Seine. Wissen Sie, wer es ist?«

Gombrowicz hatte sich neben seinen Vorgesetzten gestellt. Von unten sah der Gerichtsmediziner mit seinem blanken Schädel in der Tat wie ein Aasgeier aus.

»Gerade, als ich mir einen Kaffee holte, ist es mir eingefallen. Das ist der Junge aus Notre-Dame. Erinnern Sie sich, es ging durch alle Zeitungen … Vor vier oder fünf Monaten, um Weihnachten herum. Wie hieß er noch? Mouss? Ja, ich glaube, das war’s: Mouss.«

2

Die Protokollführerin steckte den Kopf aus der Tür und gab den beiden Beamten, die auf einer Bank auf dem Flur warteten, ein Zeichen, ins Büro der Untersuchungsrichterin einzutreten. Claire Kauffmann schlug die Beine übereinander und klappte die Akte zu, in der sie gerade gelesen hatte.

»Lange nicht gesehen, meine Herren.«

Landard fläzte sich auf einen Stuhl und zog eine Zigarette aus der Jackentasche.

»In meinem Büro werden Sie aufs Rauchen verzichten, Commandant! Ihnen brauche ich doch wohl nichts über das Rauchverbot zu erzählen, oder?«

Nach einem vielsagenden Blick zu Gombrowicz hinüber steckte er das Päckchen wieder ein.

»Aber gern doch, Madame. Ich würde es mir nie verzeihen, Ihre Grünpflanzen erstickt zu haben. Hübsches Bürochen. Wie fühlt man sich so als Untersuchungsrichterin?«

»Wie Sie sehen, habe ich nicht mehr Platz als vorher, aber ich will mich nicht beschweren. Kommen Sie gerade aus dem Gerichtsmedizinischen Institut?«

»So ist es, Madame.«

»Und?«

Landard fasste die Untersuchungsergebnisse von Dr. Saint-Omer zusammen, die er eine Stunde zuvor im Auto aus dem armen Gombrowicz herausgepresst hatte. Die junge Richterin hörte ihm zu, ohne seinen Blick zu erwidern, und machte sich Notizen auf einem Block, die sie später mit dem Bericht des Gerichtsmediziners abgleichen würde.

Ihre linke Hand, mit der sie auch schrieb, strich immer wieder eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. Dabei kam jedes Mal ein Piercing zum Vorschein, das aber sogleich wieder durch die störrische Strähne verdeckt wurde. Die lose Art und Weise, wie Claire Kauffmann ihre Haare hochsteckte, ließ befürchten, dass das ganze Gebäude jeden Moment einstürzen und sich eine seidige Kaskade über ihren schmalen weißen Nacken ergießen könnte. Doch dazu kam es nie, der wirre blonde Haarknoten blieb allen Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz wundersamerweise intakt.

»Lieutenant …? Lieutenant? Haben Sie die Geschehnisse von heute Morgen schon verarbeitet, oder sind Sie im Geiste immer noch bei der Autopsie?«

Gombrowicz wurde aus seinen Träumereien gerissen. Die roten Lippen bewegten sich, und die Stimme, die aus diesem Mund kam, richtete sich an ihn. Er brabbelte ein paar unverständliche Silben. Die Ermittlungsrichterin hielt kurz inne – aus Erstaunen oder Entrüstung – und wandte sich dann an Landard.

»Fassen wir zusammen: Tod durch Ertrinken, Wunden an Händen und Füßen sowie seitlich am Thorax, zugefügt durch mindestens zwei Angreifer. Und wie sieht es mit der Identifizierung aus? Sind Sie da schon weiter?«

Der Commandant richtete sich auf.

»Durchaus, Mademoiselle. Wir haben einen Namen. Vielmehr einen Spitznamen. Mouss … Sagt Ihnen der was?«

»Sollte er das?«

»Mmh … Ja!«

Landard schwieg, zog sein Feuerzeug heraus und spielte damit. Claire Kauffmann kannte ihn zu gut, um ihm seinen kleinen persönlichen Triumph zu gönnen: dass er zum derzeitigen Stand der Untersuchungen mehr wusste als sie. So nahm sie denn ihre Lektüre wieder auf und murmelte nur: »Lassen Sie sich Zeit, Commandant.«

Endlich steckte Landard das Feuerzeug ein, grinste aber weiterhin.

»Mouss, der Typ aus Notre-Dame. Fällt es Ihnen jetzt wieder ein? Letztes Jahr zu Weihnachten. Die Obdachlosen, das Tränengas, das Sondereinsatzkommando? Fällt der Groschen jetzt? Das ist unser Toter aus der Seine.«

»Mouss, der Clochard? Der die Kathedrale besetzt hielt im Namen des Rechts auf Wohnen oder so etwas?«

Die junge Frau schwenkte ihren Drehstuhl zum Rechner. Ihre Lippen bewegten sich stumm, während ihre Finger über die Tastatur hasteten.

»Also … ›Mouss + Obdachlose + Notre-Dame de Paris‹. Klar, Tausende von Treffern. Wenn die Presse erfährt, dass man ihren Helden in die Seine geworfen hat, bricht kollektive Hysterie aus. Damit wir uns also recht verstehen, meine Herren: einstweilen kein Sterbenswörtchen, zu niemandem.«

Sie überflog einen Artikel nach dem anderen, las manchmal einzelne Passagen vor, vielleicht nur für sich selbst, vielleicht aber auch für ihre beiden Zuhörer, von denen der jüngere sich im Hintergrund die Beine in den Bauch stand.

»Besetzung der Kathedrale Notre-Dame durch Obdachlose. Notre-Dame wird evakuiert … Die Polizei schreitet ein … Sonderkommando einsatzbereit … Halten die Clochards von Notre-Dame bis Weihnachten durch?«

Die rebellische Haarsträhne machte sich wieder bemerkbar. Da sie ganz auf den Bildschirm konzentriert war, versäumte es Claire Kauffmann, sie zurückzustreichen, und Gombrowicz begann sich schon Hoffnungen zu machen.

»Der Anführer der Obdachlosen tritt vor die Presse … Wohnungen für alle, Schluss mit den Dringlichkeitsdebatten … Ein charismatischer Anführer … Mouss, der König der Bettler …«

Sie beugte sich leicht vor und griff nach ihrem Stift. Dabei löste sich eine Strähne auf der Hinterseite des Haarknotens und fiel ihr auf die cremefarbene Bluse, die den Träger eines BHs durchschimmern ließ. Gombrowicz, der sie im Profil sah, wurde wieder etwas schwummrig.

»Spannungen mit linkem Spektrum verschärfen sich … Heftige Diskussionen auf dem Platz vor Notre-Dame … Innenminister verbürgt sich für die republikanische Ordnung …«

Unter ihrem Schreibtisch setzte die Richterin beide Füße wieder nebeneinander. Weiter oben glitt die blonde Strähne plötzlich auf die Schulter herab. Gombrowicz schloss die Augen.

»Die Clochards von Notre-Dame halten durch … Erklärung der Ministerin für Wohnungsbau für morgen früh angekündigt …«

Die ersten Anzeichen einer allgemeinen Auflösung kündigten sich an. Würde der lose geschlungene Haarknoten das fragile Gebäude noch halten können?

»Regiert an Heiligabend das Chaos? Räumung erscheint nunmehr unvermeidlich … Machtprobe zwischen den Obdachlosen und der Polizei hat begonnen … ›Wir halten Notre-Dame ohne Gewalt besetzt‹, erklärt Mouss … ›Wir sind bereit‹, bestätigt der Innenminister.«

Der Lieutenant hielt es nicht mehr aus. Würde er nun endlich erleben, wie die blonde Haarflut sich über den Nacken von Claire Kauffmann ergoss? Und vielleicht blieb sie so bis zum Ende des Gesprächs? Oder den ganzen Tag über? Vielleicht ginge Claire Kauffmann ja mit ihm essen?

»Der Herold der Pariser Clochards trotz polizeilicher Überwachung aus dem Krankenhaus geflohen. Er soll sein Zimmer im Hôtel-Dieu am Arm eines Krankenpflegers verlassen haben. Seit gestern Morgen wurde er nicht mehr gesehen.«

Unmittelbar bevor sich der Haarknoten löste, hob die Staatsanwältin die Hand, umfasste gedankenlos die Haarflut und wickelte sie wieder auf. Dann stach sie ihren schwarzen Kugelschreiber in das blonde Nest, um es zusammenzuhalten.

»Wir sind keinen Schritt weitergekommen, meine Herren. Ein junger Mann schafft es innerhalb einer Woche landesweit auf die Titelseite der Zeitungen und spaltet ganz Frankreich, dann ist er von einem Tag auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt. Momentan haben wir trotz einer Lawine an Presseberichten nichts als einen Rufnamen oder, besser gesagt, einen Spitznamen: Mouss. Fangen Sie mit Ihren Ermittlungen im Obdachlosenmilieu an? Ich besorge Ihnen einen entsprechenden Untersuchungsbefehl.«

»Genau das wollte ich Ihnen vorschlagen, Frau Richterin. Gombrowicz, hast du Lust auf einen kleinen Verdauungsspaziergang nach dem Abendessen? Ein kleiner Bummel über die Quais. Nach deinem Toten von heute Morgen werden sie dir quicklebendig vorkommen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie besser riechen werden …«

Der junge Lieutenant griff nach der Türklinke, ließ sie aber sofort wieder los; seine Hand zitterte, als er auf das Ohr der Richterin deutete.

»Ist der neu, Ihr …«

Mit dem Zeigefinger berührte er nun sein eigenes Ohr und deutete dann wieder auf das Gesicht der jungen Frau.

»Der … Der ist neu, oder? Ist er aus Gold? Jedenfalls sehr hübsch …«

»Lieutenant?«

»Frau Richterin?«

»Gehen Sie mal besser mittagessen, ich glaube, das haben Sie nötig. Und danke, dass Sie heute Morgen in der Autopsie so tapfer waren.«

Gombrowicz ging als Erster hinaus, dicht gefolgt von Landard, der bereits wieder eine Zigarette zwischen den Fingern hatte. Die Protokollführerin wollte aufstehen, um die Tür zu schließen, doch Claire Kauffmann hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Commandant?«, rief sie den beiden Kriminalpolizisten hinterher.

Seufzend blieb Landard stehen.

»Commandant … Es gibt doch sicher eine Akte über diesen Mouss irgendwo im Präsidium. Wenn man eine Woche lang die gesamte Pariser Polizei in helle Aufregung versetzt, muss es darüber doch irgendwas Schriftliches geben, oder?«

»Durchaus denkbar, Madame.«

»Ich hätte die Akte gern so rasch wie möglich. Kennen Sie nicht jemanden bei der Auskunftsabteilung?«

Landard zündete sich die Zigarette an und nahm einen langen Zug.

»Ich kümmere mich.«

»Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Commandant. Und vergessen Sie bitte nicht, dass Sie hier im Gebäude nicht rauchen dürfen.«

Wieder im Büro angelangt, setzte sie sich an den Schreibtisch, zog den Stift aus dem Haarnest und schüttelte unmerklich den Kopf. Die blonden Locken fielen ihr in den Nacken. Auf dem Bildschirm stand noch der Artikel, den sie zuletzt gelesen hatte. Unter der Titelzeile in dicken Lettern prangte ein Foto, das an Heiligabend auf dem Vorplatz von Notre-Dame aufgenommen worden war. Eine dichte Menschenmenge hielt unzählige Transparente hoch, eingekeilt zwischen den Beamten der Bereitschaftspolizei. Im Hintergrund ragte die Silhouette der Kathedrale auf, alle Gitter und Tore geschlossen.

»Madame Le Maguer«, sagte Claire Kauffmann zu ihrer Protokollführerin, »könnten Sie mir, bevor Sie Mittag machen, die Telefonnummer des Pfarrhauses von Poissy heraussuchen?«

3

Mitten in die Pampa hatte er sich geflüchtet, noch weiter als bis Poissy, und wer mit ihm reden wollte, musste dorthin fahren. Dreißig Minuten ab Paris-Nord, und dann immer die Rue de la Gare entlang, die sich als endlose Linie hinzog, eingezwängt zwischen Feldern, der Francilienne und der Nationale 1.

Seit zwei Jahren hatte sie ihn nicht mehr gesehen, seit dem Fall mit der Madonna von Notre-Dame und den Schüssen, die Gombrowicz vor der Kathedrale abgegeben hatte. Soviel sie wusste, fasste der junge Lieutenant seine Dienstwaffe seitdem nicht mehr an und ließ sie ganz bewusst in der Schublade seines Schreibtischs am Quai des Orfèvres liegen. Und sie, die allzu strenge Staatsanwältin, die sich in dem Prozess zu große Freiheiten erlaubt hatte, war versetzt worden und nun Ermittlungsrichterin.

Claire Kauffmann verlor sich in ihren Erinnerungen. Nach zwanzig Minuten Fußmarsch war sie schließlich am Ziel und betrat ein großes altes Gebäude, dessen ockerfarbener Putz vor kurzem aufgefrischt worden war. Drinnen wies man ihr den Weg zu einem anderen, modernen Gebäude im Hintergrund. Dort angekommen, wäre sie beinahe wieder umgekehrt. Was suchte sie hier bei diesem Mann, der ihr einmal, als sie sich im Dunkel ihrer Vergangenheit zu verlieren drohte, die Hand gereicht hatte? Doch da kam schon eine ehrenamtliche Helferin auf sie zu. Nach kurzem Zögern sagte sie ihr, wen sie zu sprechen wünsche; die Angesprochene nickte eifrig und erwiderte, sie werde sie hinbringen, sonst riskiere sie, »nie mehr ans Tageslicht zurückzufinden«.

Sie durchquerten einen großen Raum mit Regalen an den Wänden, das Frühlingslicht fiel durch großflächige Fenster herein. Die Ehrenamtliche gab die Führerin:

»Das hier ist unser Verteilerzentrum. Wie der Name schon sagt, lagern wir hier erst einmal alles, bevor es dann in die entsprechende Archivabteilung gebracht wird. Im Moment bewahren wir alles auf, was die Initiative in den letzten Jahren so gesammelt hat, selbst wenn wir mehr bekommen, als wir verwerten können. Das sind wir den Leuten schuldig.«

Sie bestiegen eine Art Lastenaufzug, der sie nach unten fuhr. Dann bogen sie in einen Flur mit lauter gelben und grünen Brandschutztüren ein. Plastikröhren und Kabelstränge zogen sich an der Decke entlang. Die Begleiterin öffnete eine der grünen Türen.

»So, jetzt lasse ich Sie allein, Sie finden ihn am Ende des dritten Ganges; er ist gerade mit einer Lieferung Spielzeug und Puppen beschäftigt. Er bringt Sie dann wieder nach oben.«

Claire Kauffmann dankte und bog dann in den angegebenen Gang ein. Zu beiden Seiten drängten sich Regale voller Kartons, auf denen die Namen französischer und auch ausländischer Städte standen. Als sie das Ende des Ganges erreicht hatte, war niemand zu sehen. Sie zögerte zu rufen und bog in den nächsten Gang ein, den vierten, wenn sie richtig mitgezählt hatte. Diesmal standen da Regale mit naiv anmutenden bunten Zeichnungen, ob von Erwachsenen oder Kindern, ließ sich nicht sagen.

Ratlos kehrte sie um und bog in einen Seitengang ein, der ihr einladender vorkam als die anderen; sie hörte ein Geräusch, erst klang es wie ein Atmen, dann wurde es lauter und verwandelte sich in ein heiseres Brummen. Endlich stieß sie auf eine Art Lichtung inmitten der aufgetürmten Kartons. Dort stand ein Tisch mit einer daran befestigten Klemmlampe. Deren gelber Lichtkegel zeichnete einen einsamen Kreis in den kalten bläulichen Schimmer der Neonleuchten an der Decke. Ein kleiner ausgemergelter Mann saß dort und brabbelte vor sich hin wie ein frühzeitig gealtertes Kind, während er rostiges, zerschlissenes und verbeultes Spielzeug sortierte, Feuerwehrautos, Teddybären und Puppen, die zu Hunderten auf, unter und um den Tisch verstreut lagen, als hätten die Kartons ihr Inneres nach außen gestülpt. An dem Jackett über der Stuhllehne schimmerte ein Anstecker, ein schlichtes Kruzifix.

»Sie sind nicht leicht zu finden, Pater Kern. Haben Sie immer noch kein Handy?«

»Eigentlich will ich ja auch unauffindbar sein, Claire. Wie sind Sie mir auf die Spur gekommen?«

»Ich habe im Gemeindehaus von Poissy angerufen. Dort hat man mir die Adresse vom Centre Wresinski gegeben.«

Der Priester erhob sich und ging auf die Richterin zu. Im Neonlicht traten seine Runzeln deutlich hervor. Er sah müde aus. Und noch magerer als damals, wenn das überhaupt möglich war. Sein von der Krankheit gezeichneter Körper erinnerte sie an die Skulpturen Giacomettis, die immer ins Nirgendwo zu schreiten schienen, aber nie ankamen.

»Wie geht es Ihnen gesundheitlich?«

Pater Kern hielt ein verbeultes Spielzeugauto in den knochigen Händen.

»Sehen Sie hier diesen Rennwagen, Claire? Er wurde aus alten Getränkedosen vom Müll gebastelt. Ein Wunder an Präzision und Erfindungsgeist. Dem kleinen Jungen, der ihn gebaut hat, bedeutete er genauso viel, als hätte man ihn in einem Luxusgeschäft gekauft. Man könnte meinen, er stammt aus den Slums von Kalkutta oder Manila. In Wirklichkeit wurde er jedoch in den verkohlten Trümmern eines niedergebrannten Roma-Lagers bei Drancy gefunden.«

Er ließ seinen von der Gicht steifen Finger einen Augenblick über die Räder gleiten.

»Wie es mir geht? Nun, seit fast zwei Jahren hatte ich keinen Anfall mehr, immerhin. Der nächste wird wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen …«

»Sagen Sie, Pater, was machen Sie hier unten eigentlich?«

»Ich helfe. Ich bin Freiwilliger und gehe den Leuten hier ein wenig zur Hand. Ich klassifiziere und sortiere Gegenstände aller Art. Genau das ist die Aufgabe des Centre Wresinski: Wir bewahren auf, was die Armen auf dieser Erde hinterlassen haben, die Spuren derjenigen, die das Elend in den Augen der Welt unsichtbar gemacht hat. Spielzeug, Zeichnungen, Gemälde, Briefe, Postkarten, Fotos … Wir bewahren hier auf, was sie mit ihren Händen erschaffen haben, die Kämpfe, die sie führten, das Unrecht, das sie erlitten haben. Auf Tonbändern, Super-8-Filmen und jetzt auf Computern speichern wir ihre Gesichter und Stimmen, ihr Lachen, ihr Lächeln. Das ist der Grund, weshalb ich hier wie ein Maulwurf lebe, Claire. Wir arbeiten am kollektiven Gedächtnis des allergrößten Elends, und glauben Sie mir, dieses Gedächtnis ist ein unermesslicher Schatz.«

Er drückte der jungen Frau das Spielzeugauto in die Hand.

»Und Sie, Claire? Was führt Sie hierher?«

»Sie predigen gar nicht mehr in Notre-Dame?«

»Nein, schon seit letztem Winter nicht mehr. Aber ich habe das Gefühl, das wissen Sie alles schon.«

»Stimmt, ich habe mich erkundigt, bevor ich zu Ihnen kam.«

Sie wusste nicht, wie sie beginnen sollte, und spielte nun ihrerseits mit den Rädern des Autos.

»Aber Sie waren dabei, Pater, nicht wahr? Letzte Weihnachten, als die Clochards die Kathedrale besetzt hielten?«

Kern zögerte. Schweigend schaute er Claire an. Sie kannte diesen Beichtvaterblick, den er manchmal annahm, jenen Ausdruck von Geduld und Wohlwollen, der einen dazu bewog, sich zu öffnen. Diesmal aber war Pater Kerns Gesicht von einer grenzenlosen Müdigkeit gezeichnet. Sie hatte das Gefühl, nicht einem Menschen aus Fleisch und Blut gegenüberzustehen, sondern einem aus verrosteten Teilen zusammengesetzten Körper voller Risse, dessen Mechanismus klemmte und dessen Skelett jeden Augenblick zerbrechen konnte. Auf einmal begriff, nein, fühlte sie eher, was den kleinen Priester in seinem Innersten dazu gebracht hatte, sich hier unter die Erde zu flüchten, zwischen all diese leblosen Objekte und Reliquien der Vergangenheit, weit weg vom Tageslicht und dem Chaos der Welt.

Sie gab ihm das Spielzeug zurück und entschuldigte sich, ihn behelligt zu haben. Sie hatte sich schon zum Gehen gewandt, als sie hörte, wie das Auto scheppernd auf den Betonboden fiel und das Echo durch den ganzen Untergrund hallte.

»Er ist tot, nicht wahr?«

Sie drehte sich um. Zu Pater Kerns Füßen lag der in tausend Stücke zersprungene Miniatur-Rennwagen.

»Seine Leiche wurde vor drei Tagen aus der Seine gefischt. Ich bin mit den Ermittlungen beauftragt.«

Der Priester bückte sich und begann die Teile aufzusammeln.

»Eines Tages musste es ja so kommen. Er hatte so etwas tief Verzweifeltes an sich in allem, was er tat. Gleichsam Selbstmörderisches. Von Anfang an.«

»Mouss hat sich nicht umgebracht, Pater. Er wurde ermordet. Man hat ihm Hände und Füße durchbohrt, bevor er im Wasser landete.«

»Hände und Füße, sagen Sie?«

»Und außerdem seitlich eine Wunde zugefügt.«

»Großer Gott! Und wissen Sie schon, wer das getan hat?«

»Ich habe gerade erst die Ermittlungen aufgenommen. Die Leiche wurde heute Morgen obduziert. Wir werden die Obdachlosen auf den Quais befragen. Vielleicht finden wir einen Zeugen. Vielleicht auch einen Schuldigen.«

Kern legte die zerbrochenen Teile auf den Tisch.

»Sie scheinen mir selbst nicht davon überzeugt zu sein. Sonst wären Sie ja nicht hergekommen. Sie werden nichts erreichen. Die Obdachlosen werden schweigen.«

»Sie haben einen guten Draht zu ihnen, stimmt’s? Während der Besetzung von Notre-Dame waren Sie die ganze Zeit bei ihnen.«

»Ich habe damals ganze zwei Wintertage in ihrer Gemeinschaft verbracht. Dass ich sie kenne, würde ich daher niemals zu behaupten wagen, das wäre respektlos. Diejenigen, die sich brüsten, ihre Leidensgenossen zu sein, nur weil sie ein paar Stunden mit ihnen im Zelt geschlafen haben, sind Marktschreier oder Sozialvoyeure. Zwischen denen, die ein Dach überm Kopf haben, und denen, die das nicht haben, liegt ein Abgrund. Ich wäre sehr überrascht, wenn Ihre Ermittler auch nur das Geringste herausbekämen. Die Obdachlosen haben ein heiliges Grauen vor der Polizei. Wen hat man dazu bestimmt?«

»Landard und Gombrowicz.«

»Grüßen Sie Gombrowicz von mir. Und jetzt, Claire, wenn Sie so freundlich wären …«

»Pater, ich bin hergekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche!«

»Meine Hilfe?«

»Sie müssen mir berichten. Das, was Sie bei der Besetzung von Notre-Dame gesehen haben. Sie haben Mouss gekannt. Sie sind der Einzige, der bemerkt haben könnte, ob Mouss sich Feinde gemacht hat, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kathedrale.«

»Mouss war während dieser Weihnachtstage der Held von ganz Frankreich. Auf einmal hatte er sehr viele Freunde. Und mindestens genauso viele Feinde. Als das Medienecho verhallt war, hörte man nur noch von Letzteren etwas.«

»Wollen Sie mir nicht mehr darüber erzählen?«

»Ich bin kein guter Erzähler. Und außerdem …«

»Außerdem?«

»… und außerdem habe ich ihn selbst ja auch im Stich gelassen. Ich habe nichts unternommen, als die Polizei kam, um ihn festzunehmen. In gewisser Weise habe ich ihn sogar der Polizei ausgeliefert. Sie verstehen daher sicherlich, dass ich mich nicht mehr berechtigt fühle, den Kommissar zu spielen. Diesmal nicht, tut mir leid. Und nun, Mademoiselle Kauffmann, sofern Sie keinen Untersuchungsbefehl oder ein ähnliches Dokument bei sich haben, verabschiede ich mich von Ihnen. Der Fahrstuhl befindet sich am Ende des Gangs.«

Ohne ihre Reaktion abzuwarten, nahm er wieder seinen Platz am Tisch ein, im warmen Lichtkegel seiner Architektenlampe, inmitten all der Spielzeugteile, deren eines unwiederbringlich zerbrochen war.

4

Allmählich senkte Dämmerung sich auf den Fluss. Ein Batobus drehte die letzte Runde des Tages und verließ die Haltestelle Montebello wie ein großes gläsernes Insekt, das gegen die Strömung dicht an der Wasseroberfläche dahingleitet. Auf der anderen Seite des Seinearms, jenseits vom Square Jean-XXIII, trat das Flaggschiff Notre-Dame de Paris mit seiner hohen Silhouette seine reglose Reise in die Nacht an, wie es dies Abend für Abend unveränderlich tat, seit man im Jahr 1163 mit seinem Bau begonnen hatte.

Unter all den Spaziergängern, Touristen und Joggern, die den Quai um diese Uhrzeit bevölkerten, gab es zwei, die den Fluss mit besonderer Aufmerksamkeit betrachteten. Der Ältere und Korpulentere hatte unter seinem beigefarbenen Blouson, den er jahrein, jahraus trug, eine Pistole der Marke Sig Sauer 9mm Parabellum versteckt; der Jüngere, Schlankere, trug keine Waffe, und genau darüber unterhielten sie sich in diesem Augenblick.

»Glaub mir, ein Bulle ohne Waffe ist wie ein Typ ohne Klöten. Willst du deine Knarre noch ewig in der Schublade liegen lassen?«

Der andere antwortete nicht und starrte in die grünlichen Strudel des Flusses.

»Hör zu, mein Freund. Wie oft muss ich dich noch decken? Monsieur geht nicht mehr zum Schießtraining, Monsieur springt vor Schreck an die Decke, wenn er ein Magazin klicken hört, Monsieur steht der Schweiß auf der Stirn, sobald wir zu einem Einsatz aufbrechen, Monsieur kippt aus den Pantinen, wenn er einer Obduktion beiwohnen muss. Was ist das für ein kindisches Getue? Okay, du hast auf einen Trottel geschossen. Der Typ ist gestorben, okay. Aber das ist zwei Jahre her, okay? Und die Generalinspektion hat dich reingewaschen, vergiss das nicht! Also, mein lieber Gombrowicz, hör endlich auf, die erschrockene Jungfrau zu spielen, ja?!«

Der Lieutenant stopfte die Fäuste in die Taschen seiner Jeans.

»Geh mir nicht auf den Sack, Landard!«

»›Geh mir nicht auf den Sack!‹ Mehr hast du mir nicht zu sagen? Und wenn du auf einmal einem besoffenen Penner mit einer Axt gegenüberstehst, der mit dir kurzen Prozess machen will, was dann?«

»Wieso sollte ein Penner mit einer Axt unterwegs sein?«

»Weil er Holz hacken will! Was glaubst du denn!? Diese Menschen leben wie in der Steinzeit. Sie mampfen Ravioli aus der Dose, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist und die sie in der Glut erhitzt haben. Ihr Treibstoff ist billigster roter Fusel. Und wenn sie keinen Platz in der Notunterkunft gefunden haben, dann lassen sie ihren Ärger an uns Bullen aus!«

»Mag sein. Und ab und zu findet man auch einen unter ’nem Frachtkahn eingeklemmt, mit Folterspuren am Körper.«

»Ich sag’s doch: Das sind Wilde! Aber im Grunde sind es arme Schweine. Suff, Depressionen, Arbeitslosigkeit … Es fängt ganz harmlos an, doch eh du dich’s versiehst, bist du ganz unten angelangt. Nach drei Monaten gerätst du aus dem Lot, nach sechs Monaten bist du ein Tier. Du scheißt auf den Boden, frisst aus der Mülltonne, fletschst die Zähne und machst die Passanten an. Ich kenne sie, die Pariser Clochards. Also, mein lieber Gombrowicz, ab morgen schnallst du dir wieder das Pistolenholster um, ja? Befehl vom Chef. Haben wir uns verstanden? Ehrlich gesagt habe ich keine große Lust, dich als Bullenhaschee vom Boden zu kratzen.«

Der junge Polizist nickte lau. Landard zündete sich eine Zigarette an und schlug dann den Weg stromaufwärts ein. Gombrowicz folgte ihm, wie ein bockiges Kind trottete er ein, zwei Meter hinter ihm her, die Hände noch immer in den Taschen. Sie überquerten den Pont de l’Archevêché, dann schloss Gombrowicz endlich auf.

»Und, wie ist der Plan heute Abend?«

»Wir gehen spazieren, Richtung Austerlitz. Immer den Fluss entlang. Genau den Weg, den der Leichnam getrieben ist, bevor er unter das Schiff geriet. Wir beobachten. Wir warten. Gleich wirst du ganz andere Bilder sehen als den Postkartenblick von ›Paris-by-Night‹!«

Tatsächlich leerten sich die Quais immer mehr, je weiter sie stromaufwärts gingen und je dunkler es wurde. Sie kamen zum Pont de la Tournelle. Auf einmal gewahrten sie huschende Schatten im Halbdunkel, von irgendwoher aufgetaucht, von den Brückenpfeilern, aus Bäumen, Büschen und den Nischen der Ufermauern, die sie vom Verkehr wenige Meter über ihnen trennten. Krummbeinig und keuchend tapsten sie dahin, in viel zu weiten Kleidungsstücken, setzten vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als gingen sie über rohe Eier oder Schmierseife.

Die beiden Polizisten steuerten auf den Pont de Sully zu. Die Schatten scharten sich nun zu kleinen Grüppchen zusammen, in der Hauptsache waren es Männer. Es war nahezu unmöglich, ihr Alter zu bestimmen, mit ihrem schwankenden Gang wirkten sie wie einsturzreife Gebäude. Hin und wieder zeichnete sich die plumpe Silhouette einer Frau ab, die, unter dicken Kleidungsschichten begraben, mit kleinen, unendlich langsamen Schritten hinter den Männern hertappte oder sich von ihnen entfernte.

Sie kamen zum Port Saint-Bernard, wo die Uferböschungen sich zum Freiluftmuseum der Skulptur weiteten. Dort, an der langen Promenade, wo Beton bereits das Grün verdrängte, zwischen den Kunstwerken aus Marmor oder Bronze, die ihre unruhigen Schatten auf den Boden warfen, schlug eine Gruppe Clochards ihr Lager auf, Schlafsäcke, Decken und Planen wurden ausgebreitet, Zelte errichtet. Abend für Abend entstand dieses Behelfslager, dessen Einzelteile tagsüber hinter den Büschen eines Square oder unter den Bodengittern einer Bushaltestelle versteckt waren, während ihre Bewohner von Metro zu Metro, von Bahnsteig zu Bahnsteig, von Gleis zu Gleis liefen, um zu betteln. Wenn man sie so sah, wie sie mitten in einer Bewegung innehielten, von plötzlichem Stumpfsinn befallen und wie zu Stein erstarrt, hätte man sie auch mit den Statuen verwechseln können.

»Clodoville oder Frankreichs schlimmste Schmuddelecke. Na, Gombrowicz, glaubst du immer noch, dass unser Land so glänzend dasteht? Oder bist du wie ich der Ansicht, dass bei der nächsten Wahl diese Scheißregierung hinweggefegt werden sollte?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er eine Taschenlampe aus der Jacke und ging auf ein verwaschenes rotes Zelt zu, in das sich gerade eine der Gestalten gezwängt hatte. Er bückte sich, und sein Kopf verschwand in der Öffnung. Der junge Lieutenant sah, wie der Lichtschein das Zeltinnere abtastete und in eine Art riesigen Lampion von der Farbe getrockneten Blutes verwandelte. Der Obdachlose wirkte mit seinem eckigen Schatten an der Zeltwand wie ein unter einem Lampenschirm gefangenes Insekt. Nach weniger als einer Minute zog Landard den Kopf mit angewiderter Miene zurück.

»Puh, stinkt das da drin!«

»Was hat er gesagt?«

»Nichts.«

»Hast du ihn gefragt, ob er Mouss kannte?«

»Hoffentlich habe ich mir keine Flöhe eingefangen.«

»Kannte er Mouss?«

»Flöhe oder Läuse!«

»Hast du ihn denn nicht nach Mouss gefragt?«

»Gar nichts hat er gesagt, der Bursche. Er hat mich nur mit offenem Mund angestarrt, als würde er jede Sekunde abkratzen. Nur Luft kam raus, ein heiseres Pfeifen, wie bei einem platten Fußball, aus dem die Luft entweicht. Keinen Ton hat er von sich gegeben.«

»Verdammter Mist!«

Sie zogen von Unterschlupf zu Unterschlupf, von Zelt zu Schlafsack, ohne auch nur eine einzige sinnvolle Auskunft von den Clochards zu erhalten. Die Nacht wurde immer dunkler, der Fluss hatte sich inzwischen pechschwarz gefärbt, und die menschlichen Umrisse, die über die Ufermauern geisterten, schienen im Schweigen verschlossen.

Am Rande eines Lagerfeuers blieben beide stehen. Ein Mann, der unglaublich viele Schichten Kleidung übereinandertrug, versuchte sich an den Flammen zu wärmen. Er warf einen unförmigen zuckenden Schatten auf den Asphalt. Als er ihre Schritte hörte, hob er den Kopf, und Gombrowicz bemerkte sofort, dass ihm ein Auge fehlte. Die linke Augenhöhle war leer, doch das schwarze Loch schien ihn mit einer Schärfe anzustarren, bei der ihm unbehaglich wurde.

Landard hielt ihm ein Foto hin, das im Gerichtsmedizinischen Institut aufgenommen worden war.

»Kennst du den?«

Der Einäugige betrachtete das Porträt im Schein der Flammen und gab es dann zurück. Er zog einen verkohlten Stock aus dem Feuer, an dessen Ende eine dampfende Wurst steckte.

»Mögen Sie eine Knacker? Die sind gut! Keine verdorbene Ware, nein, die habe ich aus dem Franprix in der Rue Monge.«

Landard hielt ihm erneut das Foto unter die Nase.

»Ich glaube, du hast nicht genau hingeschaut. Sieh’s dir noch mal an. Dann lassen wir dich in Ruhe essen.«

Der Clochard rührte sich nicht.

»Das muss ich mir nicht noch mal ansehen. Das ist Mouss. Das wollten Sie doch wissen, oder? Er sieht sehr friedlich aus so im Tod. Sehr gelassen. Man könnte meinen, der Mantegna in Mailand.«

Gombrowicz durchforstete seine Erinnerungen an die Obduktion am Morgen. Der Gerichtsmediziner hatte doch auch diesen italienischen Maler erwähnt, unmittelbar vor der eigentlichen Sezierung, kurz bevor der widerliche Geruch ihm in die Nase gestiegen war.

»Wieso kennst du Mantegna?«

Der Einäugige blies auf seine Wurst.

»Ich war mal Maler, vor langer Zeit. Und heute noch verdiene ich mir ein paar Euro, indem ich Reproduktionen von Gemälden aufs Pflaster kritzele. So hab ich abends was zu futtern.«

Er sprach deutlich und drückte sich gewählt aus, fast zu sehr, als stamme er aus einer anderen Welt. Wenn er plötzlich in den Gassenjargon verfiel, so legte er ganz bewusst leichte Übertreibung in seinen Tonfall. Landard, der mit Kunst nichts anfangen konnte, kam wieder auf das eigentliche Thema zurück.

»Du wusstest schon, dass Mouss tot ist?«

Der Einäugige biss krachend in die Wurst und kaute, indem er gleichzeitig Luft einsog.

»Hier wussten alle Bescheid. Als ihr am Port de Montebello seine Leiche aus dem Wasser gezogen habt, beobachteten euch viele Augenpaare.«

»Was soll das heißen?!«

»Damit will ich sagen, Herr Polizist vom Quai des Orfèvres, dass die Clochards die Augen von Paris sind. Wir sind Tag und Nacht da und haben nichts anderes zu tun als zu beobachten. Zu beobachten und zu saufen. Niemand bemerkt uns, niemand achtet mehr auf uns, wir sind schon mit dem Asphalt verschmolzen. Und wir sind überall, wir sehen alles und speichern es. Um dann für immer zu schweigen. Natürlich wussten wir alle, dass Mouss tot war, was glauben Sie denn? Ein Penner ist mehr wert als eine Überwachungskamera und muss nicht ständig gewartet werden!«

Der Einäugige verstummte, fuhr dann aber fort:

»Wollen Sie ganz bestimmt keine Knacker? Ich rede gern bei einem guten Essen. Wenn ich aber sehe, dass meine Gäste die feinen Pinkels spielen und sich zieren, vergeht mir die Lust zu reden. Und dann sage ich gar nichts mehr.«

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