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Fatima kommt aus Algerien, ist neu in der Klasse und sieht echt komisch aus mit ihrem langen Kleid und dem Kopftuch. Als Jakob mit ihr reden will, sieht sie ihn nicht mal an! Das ist ihm zu blöd. Doch als er auf dem Nachhauseweg beobachtet, in welch außerirdischem Tempo das Mädchen rennt, setzt er sich in den Kopf, Fatima zu trainieren. Auch als eine Zyste in Jakobs Kopf gefunden wird und ihm eine Operation bevorsteht, hält er an seinem Plan fest. Und das gegen alle Widerstände - die mobbenden Mitschüler, seine Krankheit und auch gegen den Willen von Fatimas Familie.
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Jürgen Banscherus
Der unglaubliche Lauf der Fatima Brahimi
Zu diesem Titel stehen Unterrichtserarbeitungen zum kostenlosen Download zur Verfügung.
Dieses Buch ist auch als Hörbuch erhältlich.
1. Auflage 2017 © 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlag- und Innenillustrationen: Michael Bayer ISBN 978-3-401-80653-2
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Fatima lief. Fatima läuft. Fatima wird laufen.
Damit wäre eigentlich alles gesagt. Zeitraffer sozusagen. 800 Meter unter zehn Sekunden. Aber mein Vater meint, so leicht dürfte ich es mir nicht machen. Wenn man verstehen wolle, was passiert sei und warum, müsse ich schon ein bisschen mehr erzählen. Na gut, dann stelle ich mich am besten erst einmal vor.
Ich heiße Jakob Ter-Owanesian. Der Name Ter-Owanesian stammt aus Armenien. Das ist ein Land am Schwarzen Meer. Es lebt von der Schnapsherstellung, vom Weinanbau und vom Schmuggel. Genau in dieser Reihenfolge, behauptet mein Vater. Keine Ahnung, ob das stimmt, er liebt solche Sprüche. Ein Mensch namens Igor Ter-Owanesian gehörte mal zu den besten Weitspringern der Welt. Angeblich sind wir um ein paar Ecken mit ihm verwandt.
Irgendwann hat mein Vater sein Dorf in den armenischen Weinbergen verlassen und ist auf dem Umweg über Paris und London in Deutschland gelandet. Hier hat er meine Mutter kennengelernt. Als Mädchen hieß sie Martina Ritter-Vogel. Seit meine Eltern geheiratet haben, lautet ihr vollständiger Name: Martina Ter-Owanesian-Ritter-Vogel. Wenn sie ihre Unterschrift auf ein Formular setzen muss, schreibt sie immer winzig klein, sonst kommt sie mit dem Platz nicht hin.
Mein Vater entwickelt in seiner Werkstatt unterm Dach Brettspiele mit Wolkenkratzern, Brücken und Autobahnen. Dafür braucht er vor allem Stich- und Laubsägen, Kleber, Rasierklingen und Scheren. Meine Mutter baut richtige Häuser. Mithilfe von Betonmischern, Baggern, Kränen, Gerüsten und dem ganzen Kram. Einen Monat, bevor meine Geschichte begann, war sie nach Dubai auf die arabische Halbinsel geflogen, um im Auftrag ihres Architekturbüros den Neubau eines Luxushotels zu beaufsichtigen. Die teuerste Suite des Palastes wird später für eine Nacht so viel kosten, wie meine Mutter in einem Monat verdient.
1
Normalerweise ist der erste Schultag nach den Ferien zum Gähnen langweilig – selbst wenn es sich nur um die superkurzen Pfingstferien gehandelt hat. Aber diesmal war es anders. Zur ersten Stunde brachte unser Klassenlehrer nämlich eine Neue mit. Dr. Alexander Brill gibt bei uns Deutsch – und das mit vollem Stimm- und Körpereinsatz.
»Das ist Fatima«, stellte er das Mädchen vor. »Eure neue Mitschülerin.«
»Die hat uns gerade noch gefehlt«, murmelte Jan.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts, Herr Doktor Brill.«
Unser Klassenlehrer räusperte sich. »Na, das will ich auch hoffen, mein Lieber. Wo war ich? Ach ja: Fatima kommt aus Tunesien.«
»Algerien«, flüsterte das Mädchen. Es trug ein blassgrünes Kopftuch, das Haare, Hals und die halbe Stirn bedeckte, und dazu ein langes blassrotes Kleid. Sie war mindestens so dünn wie ich, und das will was heißen.
»Wie bitte?«, brüllte unser Klassenlehrer. Im Schiller-Gymnasium nennt ihn jeder »Doktor Brüll«.
Fatima zuckte zusammen. Wenn man den Brill nicht kennt und er gibt Vollgas, kann man es mit der Angst kriegen. Dabei ist er schwer in Ordnung, finde ich.
»Meine Familie kommt aus Algerien«, flüsterte Fatima.
»Ach ja …«
»Tunesien ist woanders«, fügte das Mädchen hinzu.
»Wie auch immer«, brüllte Dr. Brill und wieder zuckte die Neue zusammen. »Seid nett zu ihr. Wer wünscht sich Fatima als Tischnachbarin?«
Sofort meldete sich jemand. Aber es war nicht etwa eines der Mädchen, wie man vielleicht hätte erwarten können. Neben Charlotte zum Beispiel war seit Beginn des Schuljahrs ein Platz frei. Nein, ich hob den Finger. Ich, Jakob Ter-Owanesian. Doch ich tat das nicht, weil mir Fatima schon beim Hereinkommen sympathisch gewesen wäre und ich unbedingt neben ihr sitzen wollte. Ich hob den Finger, weil ich plötzlich mehr als dringend aufs Klo musste. Doch bevor ich das dem Brüll erklären konnte, donnerte der auch schon: »Du? Na prächtig!«
Dann beugte er sich zu Fatima hinunter. »Setz dich bitte zu unserem geschätzten Jakob«, sagte er.
»Darf ich zur Toilette?«, rief ich, bevor der Brüll weiterreden konnte. Ich hatte echt Angst, dass gleich ein Unglück passierte. Alarmstufe Rot sozusagen.
»Schwing die Hufe!«, rief Doktor Brill und ich rannte aus dem Klassenzimmer, hinter mir das Gelächter meiner Mitschüler.
So kam es, dass ich wahrscheinlich der einzige Schüler in der Geschichte des Schiller-Gymnasiums bin, der eine Tischnachbarin kriegte, weil er aufs Klo musste. Als ich erleichtert in den Klassenraum der 5a zurückkehrte, hatte Fatima bereits einen Block aus ihrer Schultasche gezogen und schrieb eifrig mit, was uns der Brüll über die nächste Klassenlektüre erzählte.
Auch aus der Nähe betrachtet, schien die Neue nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Die Nase ragte spitz aus ihrem vom Kopftuch umrahmten Gesicht, zwischen den pechschwarzen Augenbrauen war eine tiefe Falte zu sehen. Bestimmt merkte Fatima, dass ich sie beobachtete. Aber sie würdigte mich keines Blickes.
In der ersten großen Pause kam Nick zu mir. Normalerweise war er mit seinen Freunden Jan, Finn-Ole und Kaspar auf dem Schulhof unterwegs und heckte irgendwelchen Unsinn aus. Mädchen ärgern, gut durchgekaute Kaugummis auf Türklinken kleben und so was. Mich hatte er nie gefragt, ob ich mitmachen wollte. Mit mir sprach, wenn ich ehrlich sein soll, sowieso nur selten jemand.
»Na?«, sagte er.
»Ja?«, fragte ich.
»Wie ist sie?«, wollte er wissen.
Ich stellte mich dumm. »Wer?«, fragte ich.
»Das weißt du genau!«
»Nö.«
»Die Neue. Diese Fatima!«
»Ach so.«
»Und?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich.
»Komm schon!« Nick blieb hartnäckig. »Du wolltest doch unbedingt, dass sie neben dir sitzt!«
»Stimmt ja gar nicht!«
»Stimmt wohl!«
»Ich musste aufs Klo«, erwiderte ich. »Deshalb habe ich mich gemeldet.«
»Die ist irgendwie komisch«, sagte Nick.
»Komisch?«
»Wie die schon aussieht!«
»Wie denn?«
»Wie ihre eigene Oma!«
»Mir egal«, knurrte ich und ließ Nick stehen. Er trottete ohne brauchbare Informationen zu seinen Freunden zurück, die neben der Turnhalle auf ihn warteten. Bis jetzt hatten mich die vier in Ruhe gelassen. Ich hoffte sehr, dass es so blieb.
Nach der Pause trafen Fatima und ich fast gleichzeitig im Klassenzimmer ein. In der nächsten Stunde hatten wir Bio, Frau Lantermann kam meistens zu spät.
»Hallo«, sagte ich.
»Hallo«, flüsterte Fatima, ohne mich dabei anzuschauen. Die kahle Wand hinter mir schien interessanter zu sein.
»Ich heiße übrigens Jakob«, fuhr ich fort. Keine Ahnung, was ich sonst hätte sagen sollen. Immerhin hatte ich während der letzten neun Monate allein an meinem Tisch gesessen. Da vergisst man ein bisschen, wie man ein Gespräch mit einem wildfremden Menschen beginnt.
»Ich weiß.«
Natürlich wusste sie es. Schließlich hatte ihr der Brüll meinen Namen gesagt.
»Na dann …«, sagte ich.
Sie nickte. Meine Eltern hatten mir schon früh beigebracht, andere Leute beim Sprechen anzuschauen. Das Mädchen aus Nordafrika schien das noch lernen zu müssen.
»In welchen Fächern bist du gut?«, machte ich einen letzten Versuch, Fatima zum Reden zu bringen.
»Sport«, flüsterte sie, während sie angestrengt in ihrer Schultasche kramte.
»Sport?« Ich verkniff mir nur mit Mühe ein Grinsen. Sport mit Kopftuch und Omakleid? Wie sollte das denn funktionieren?
»Etwa Schach?«, fragte ich weiter. Es sollte ein Scherz sein. Aber Fatima machte ein Gesicht, als hätte sie den Witz nicht verstanden. Vielleicht sollten mir ihre hochgezogenen Augenbrauen aber auch zeigen, dass sie mich für einen ausgewachsenen Blödmann hielt.
Bevor Fatima mir hätte antworten können, betrat Frau Lantermann das Klassenzimmer – wie fast immer fünf Minuten zu spät. Und wie immer umwehte sie ein intensiver Nikotingeruch. In den großen Pausen qualmte sie ihren alten Polo voll, das hatten Jan und seine Freunde entdeckt.
Als unsere Biolehrerin meine Nachbarin erblickte, blieb sie stehen. »Du bist bestimmt Fatima«, sagte sie. Fatima lächelte unsere Lehrerin an und gab ihr bereitwillig die Hand. Aha, so sah es aus, jetzt verstand ich: Meine neue Nachbarin wollte mich nicht anschauen. Na, mir sollte es egal sein. Ab jetzt würde ich Fatima genauso übersehen wie sie mich. Außerdem nahm ich mir fest vor, mit Charlotte zu reden. Vielleicht hatte sie ja Lust, Fatima als Tischnachbarin zu übernehmen. Mit Jungen schien das Mädchen echt nichts am Hut zu haben. Oder sagen wir besser – am Kopftuch.
»Wir werden sicher gut miteinander auskommen«, fuhr Frau Lantermann fort.
»Bestimmt«, murmelte Jan. Er muss alles und jedes kommentieren, er kann nicht anders.
»Hast du was gesagt, Jan?«
»Nein, Frau Lantermann.«
»Da bin ich aber froh!«
2
Nach Schulschluss packte meine neue Tischnachbarin ihre Sachen zusammen und verließ wortlos unser Klassenzimmer. Ich war wie üblich mit dem Fahrrad zur Schule gefahren und musste es erst zwischen den Rädern, die links und rechts des Eingangsportals standen, hervorholen. Als ich es endlich geschafft hatte, war Fatima schon verschwunden.
Kurz vor der Berliner Straße, in der wir in einem von meiner Mutter höchstpersönlich entworfenen Haus wohnen, sah ich sie plötzlich den Bürgersteig entlangrennen. Eigentlich hatte ich ja gerade erst beschlossen, sie nicht mehr zu beachten. Aber seit der Biostunde kitzelte mich eine Frage, die ich unbedingt loswerden musste. Deshalb schaltete ich in den höchsten Gang und gab Vollgas.
In der Nähe der Container-Siedlung, in der seit ein paar Jahren Flüchtlinge untergebracht waren, hatte ich Fatima eingeholt.
»Hey!«, rief ich.
Sie nickte nur, ohne ihr Tempo zu verringern und ohne mich anzuschauen. Was anderes hätte mich nach dem, was ich in der Schule erlebt hatte, auch echt gewundert. Ich schaltete ein paar Gänge tiefer und radelte neben ihr her.
»Wohnst du hier?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wo dann?«, fragte ich weiter.
»Berliner Straße!«
Das gab’s ja gar nicht!
»Ich auch!«, rief ich. »Welche Nummer?«
»14!«
»Ich wohne in der 84! Hast du gerade den Bus genommen?«
Sie schaute mich erstaunt an. Zumindest guckte sie in meine Richtung. Das war doch schon mal was.
»Nein.«
»Wie bist du dann hergekommen?«, fragte ich.
»Zu Fuß.«
»Den ganzen Weg?«
Sie nickte.
Ich warf einen raschen Blick auf meine Armbanduhr. Fatima hatte für die Strecke zwischen Schiller-Gymnasium und Berliner Straße offenbar nicht mehr Zeit als der Bus gebraucht. Das war unglaublich. Ach was, das war außerirdisch!
»Jetzt bleib doch mal stehen!«, rief ich. Obwohl sie ihr Tempo nicht verringerte, schien sie kaum außer Puste zu sein. Für mich galt das ganz und gar nicht. Meine Oberschenkel begannen bereits zu brennen.
»Warum?«
Ja, wieso eigentlich? Weil sie zu schnell für mich war? Weil ich sie unbedingt noch fragen musste, warum sie mich in der Schule nicht angeschaut hatte, Frau Lantermann aber wohl? Keine Ahnung. Jedenfalls bog sie plötzlich ab und verschwand ohne Abschied in dem Haus direkt neben der Pizzeria Rimini.
Bevor die Wohncontainer aufgestellt worden waren, wohnten hier Flüchtlingsfamilien. Einmal hatte ich mich mit einem Jungen angefreundet. Ali hieß er. Er hatte mir Handstand beigebracht und ich ihm ein paar Brocken Deutsch. »Ich heiße«, »ich wohne«, »ich suche«, »wie viel kostet« und so was. Aber dann war er mit seinen Eltern und seinen vier Schwestern in eine andere Stadt gezogen und ich hatte nie mehr was von ihm gehört.
Warum ich mich von diesem Tag an eigentlich nur noch für Fatima interessierte? Besser gesagt für ihr unglaubliches Lauftalent? Warum ich mit dem Gedanken daran ins Bett ging und am Morgen aufstand? Das hat wohl mit meiner Leidenschaft für Zeiten zu tun. Von den 1500 Metern der Männer bei den Olympischen Spielen 1972 in München (es gewann der Finne Pekka Vasala in 3:36,33 Minuten) bis zu den 3000 Metern Hindernis in London (es siegte Ezekiel Kemboi aus Kenia in mäßigen 8:18,56 Minuten) – in meinem Kopf war eine gigantische Menge von Daten gespeichert. Aber nicht nur von Ergebnissen bei Olympischen Spielen oder Welt- und Europameisterschaften in der Leichtathletik. Las ich in der Zeitung einen Artikel über ein popeliges Bezirkssportfest irgendwo in der Pampa, merkte ich mir auch Namen und Siegerzeit einer unbekannten 1000-Meter-Läuferin.
Mein Vater hätte gern gesehen, wenn ich selbst ein berühmter Läufer oder Weitspringer wie Igor Ter-Owanesian geworden wäre. Deshalb hatten mich meine Eltern schon mit sechs in einem Sportverein angemeldet. Aber ich gehörte immer zu den Langsamsten. Und beim Weitsprung schaffte ich es kaum bis in die Grube. Deshalb war meine Sportlerlaufbahn auch schon nach einem Jahr beendet. Was von meiner Karriere blieb, war die Macke, alle Zeiten auswendig zu kennen. Mein Vater behauptet, ich könnte bei jeder Quizsendung im Fernsehen gewinnen. Mal sehen, vielleicht melde ich mich irgendwann für eine an.
In den ersten Wochen des Schuljahrs hatte ich mit meinen Kenntnissen zu glänzen versucht. Seitdem hielten mich die meisten meiner Klassenkameraden für komplett bescheuert. »Spinner« nannten sie mich, keine Ahnung, wer damit begonnen hatte. Am Anfang hatte ich ein Problem damit. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran.
»Wir haben eine Neue gekriegt«, erzählte ich meinem Vater beim Mittagessen. Es gab Bohneneintopf mit Brühwurst. Aus Armenien stammte das Gericht garantiert nicht. Dort schmeckt alles nach Schwarzkümmel, Koriander und anderen seltsamen Gewürzen. Wir hatten im Jahr zuvor meine Großeltern besucht. Es hatte ein paar Tage gedauert und einige Liter Kamillentee gebraucht, bis sich mein Magen an das fremde Essen gewöhnt hatte. Inzwischen mochte ich es ganz gern – jedenfalls lieber als Bohnen mit Brühwurst.
»Fatima kommt aus Algerien«, fuhr ich fort.
»Aha.«
»Sie sitzt neben mir.«
»Schön.« Mein Vater nahm sich eine zweite Portion Bohneneintopf. Er kann so viel essen, wie er will, er nimmt nicht zu. Meine Mutter findet das gemein.
»Außerdem wohnt sie in unserer Straße«, sagte ich. »In dem Haus neben der Pizzeria.«
»Na, wunderbar.« Er steckte sich ein viel zu großes Stück Wurst in den Mund. »Vielleicht kannst du dich ja mit ihr treffen!«, nuschelte er. »Wäre doch schön, eine Freundin zu haben!«
»Treffen? Mit Fatima?« Ich lachte. »Die schaut mich nicht mal an! Die guckt weg, wenn ich mit ihr rede!«
Bevor wir unser Gespräch fortsetzen konnten, meldete sich meine Mutter aus Dubai. Wir haben auf dem Computer Skype installiert. Da konnten wir reden und uns dabei sehen. Es wurde höchste Zeit, dass Mama nach Hause kam – und das nicht nur, weil sie viel besser kocht als mein Vater.
Sie berichtete, dass sie gerade mit dem Innenausbau des Hotels begonnen hätten, dass das bei vierhundert Zimmern und Suiten keine Kleinigkeit sei und dass es jeden Tag neuen Ärger mit den Handwerkern gebe. Auf meine Frage, wann sie endlich nach Hause komme, antwortete sie, dass sie das nicht so genau wisse, dass es aber bestimmt nicht mehr lange dauern werde. Bevor sie auflegte, warf sie uns noch über 5000 Kilometer eine Kusshand zu. Oder besser: zwei. Eine für meinen Vater und eine für mich.
Auf dem Weg in mein Zimmer blieb ich vor dem großen Flurspiegel stehen und unterzog mich einer gründlichen Prüfung. Anders als meine Mutter machte ich das nur selten, aber an diesem Tag musste es sein. Vielleicht lag es daran, dass jetzt in der Schule ein Mädchen neben mir saß.
Vor mir stand ein schmaler Junge in geflickter Jeans und mit schwarzem T-Shirt, etwa vierzig Kilo und ein paar Gramm schwer und knapp über 1,60 Meter groß. Arme zu dünn, Beine zu dünn, Füße viel zu groß. Trotzdem gab es keinen Grund, mir über mein Aussehen Gedanken zu machen. Hässlich war ich nicht, da gab es andere in der 5a.
In meinem Zimmer fuhr ich den Rechner hoch und sah mir in den nächsten Stunden auf YouTube Aufzeichnungen der letzten Olympiaden an. Die olympischen Rekorde von 100 Metern bis zum Marathonlauf kannte ich bis auf die Hundertstelsekunde auswendig. Bei den Frauen fehlten mir noch einige Zeiten. Und ich wusste, dass ich sie am besten behielt, wenn ich mir die Rekordläufe anschaute. Da mussten die Schularbeiten warten.
3
Der nächste Schultag verlief ereignislos. Total tote Hose sozusagen. Hätte ich mir nicht die 5000-Meter-Zeiten der Frauen bei den letzten Leichtathletik-Weltmeisterschaften einzuprägen versucht, wäre ich spätestens in der zweiten Stunde in Tiefschlaf verfallen. Fatima hockte stumm wie ein schwarzäugiger Fisch neben mir und schrieb alles mit, was die Lehrer von sich gaben. Wahrscheinlich notierte sie sogar die zahllosen »Ähs« von Herrn Leineweber, unserem Geschichtslehrer. Irgendwann hatte ich versucht, sie zu zählen. Bei 124 »Ähs« hatte ich das Handtuch geworfen – und da waren es immer noch zehn Minuten bis zum Ende des Unterrichts gewesen. Ein paar Mal schauten Jan und seine Freunde zu mir herüber. Als sie aber feststellten, dass sich zwischen Fatima und mir nichts abspielte, schienen sie das Interesse zu verlieren.
Nach der letzten Stunde gehörte meine neue Tischnachbarin zu den Ersten, die das Klassenzimmer verließen. Wie am Tag zuvor rannte sie den Weg nach Hause. Ich hatte inzwischen festgestellt, dass sie Straßenschuhe mit dünnen Sohlen trug. Eigentlich hätte sie gleich barfuß rennen können – wie der geniale äthiopische Marathonläufer Abebe Bikila bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom. Fatima und ich hatten den Morgen über kein Wort miteinander gesprochen. Deshalb sah ich keine andere Chance, als meine Frage jetzt loszuwerden.
»Bleib stehen!«, japste ich, nachdem ich sie mit meinem Fahrrad eingeholt hatte. Mir war plötzlich ein bisschen schwindlig, es dauerte einen Moment, bis sich die Fahrbahn nicht mehr bewegte. Dabei war ich mit meinem Vater in den Osterferien 80 Kilometer über einen Radwanderweg gefahren, ohne schlappzumachen.
»Ich will doch nur was wissen!«, rief ich, weil Fatima nicht reagierte.
Endlich verlangsamte sie ihre Schritte. Dann blieb sie stehen. Noch immer schaute sie mich nicht an.
»Ist schon mal gestoppt worden, wie schnell du bist?«, fragte ich.
Sie nickte.
»Auf welcher Strecke?«
Sie flüsterte etwas, das ich nicht verstand.
»Wie bitte?«
»Zwei Runden im Stadion«, antwortete sie. »In der Grundschule. Letzten Sommer.«
Nicht zu fassen, das war ja fast ein ganzer Satz!
»In welcher Zeit bist du die 800 Meter gelaufen?«, ließ ich nicht locker.
»Unter drei Minuten.«
»Genauer weißt du es nicht?«
»Nein.«
»Gab’s denn keine Stoppuhr?«, fragte ich weiter.
»Nur eine Armbanduhr.«