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Vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs erschien »Der vergnügte Idiot« von Wilhelm Cremer, in dem der Autor eine Wanderung durch Deutschland schildert, die wenn überhaupt bestimmt in dieser Form nie stattgefunden hat. Mit geschliffener Sprache und einer ordentlichen Portion Humor spottet er dabei nicht nur über sich selbst, sondern über Militär, Friseure, alte Wahrsagerinnen, den Tourismus sowie allerlei Erscheinungen und Moden der damaligen Zeit.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Vier Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs erschien »Der vergnügte Idiot« von Wilhelm Cremer, in dem der Autor eine Wanderung durch Deutschland schildert, die – wenn überhaupt – bestimmt in dieser Form nie stattgefunden hat. Mit geschliffener Sprache und einer ordentlichen Portion Humor spottet er dabei nicht nur über sich selbst, sondern über Militär, Friseure, alte Wahrsagerinnen, den Tourismus sowie allerlei Erscheinungen und Moden der damaligen Zeit.
Die hier vorliegende Version seines »Reisetagebuchs« wurde an die aktuelle Rechtschreibung angepasst. Soweit möglich, wurden Begriffe, die heute als nicht mehr angemessen und »politisch korrekt« gelten, zeitgemäß ersetzt, wobei jedoch Wert auf die Erhaltung der damals üblichen Sprache gelegt wurde.
Der vergnügte Idiot
Ein Reisetagebuch
von Wilhelm Cremer
Lieber Georg Hermann!
Sie kennen doch gewiss die uralte Geschichte von dem stotternden Zigarrenhändler, der allen Leuten, die auch an diesem Übel litten, seine Waren zu besonders billigen Preisen abließ. Ein Schauspieler nützte das lange Zeit in schmählicher Weise aus, indem er jedes Mal, wenn er sich Zigarren kaufte, wie ein Igel stotterte, bis natürlich eines Tages die Wahrheit herauskam, und der entrüstete Händler ihn wegen Betrugs verklagte. Aber der Schauspieler blieb vor Gericht bei seiner Rolle. »I-i-ich st-st-tottere wirklich!«, sagte er, und als man ihm vorhielt, dass er doch jeden Abend auf der Bühne ein so flüssiges Deutsch spräche, da meinte er ruhig: »I-i-ich st-st-tottere wirklich. A-a-auf der Bühne verst-st-tell ich mich nur.«
Sehen Sie, verehrter Freund, mir geht es genau so. Sie werden natürlich beim Lesen des Vergnügten Idiots ganz erstaunt fragen, wieso grade ich dazu komme, ein so feines und in jeder Zeile von tiefer Weisheit und vornehmer Gesinnung triefendes Buch zu schreiben. Aber beruhigen Sie sich, in diesem Buche verstelle ich mich nur. Im Leben, davon können Sie überzeugt sein, halte ich mir nach wie vor jede sogenannte vornehme Gesinnung mit Erfolg zehn Schritt vom Leibe, und die tiefe Weisheit kann mir vollends gestohlen werden, im Gegenteil, ich proklamiere für alle Menschen ein angeborenes und unveräußerliches Recht auf Dummheit. Übrigens müssen Sie gar nicht glauben, dass nun die Sache bei den sonstigen Dichtern und Bücherfabrikanten irgendwie anders ist. Die Kerle heucheln eher noch schlimmer. Wer zum Beispiel Ihr Jettchen Gebert liest, der denkt natürlich wunders, was Sie für ein netter, liebenswürdiger und edler Mensch sind, und dabei muss man Sie nur einmal kennen lernen!
Überhaupt besteht ja das Wesen jeder echten Kunst darin, dass wir uns auf der Bühne und in Büchern in so geschickter Weise verstellen. Natürlich ist das kein großes Kunststück, in einer Dichtung jung und reich und heldenhaft zu sein, alle diese Eigenschaften sind ja in unbegrenztem Maße gratis zu haben. Darum entführen wir in den Büchern, die wir schreiben, Prinzessinnen, ermorden Tyrannen, verschenken Millionen; im Leben aber leiden wir an der Gicht und haben eine Frau mit vier Kindern, die nach Brot schreien; wir zucken vor dem Portier zusammen, gegen dessen Grobheit wir nicht gewappnet sind, wir schimpfen über jeden, der sich untersteht, bessere Verse zu machen als wir selber.
Also, lieber Georg Hermann, beherzigen Sie die Moral von der Geschichte, und machen Sie es so wie ich. Ich werde nämlich demnächst einen Roman dichten, in dem lauter Tenorsänger, Millionärstöchter, Leutnants und Friseure vorkommen, mit einem Wort, in dem es nur Heldengestalten, edle Charaktere und ideale Jungfrauen gibt. Das wird mir leicht werden, da ich ja die entsprechenden entgegengesetzten Eigenschaften in reichem Maße besitze, und ich bin sicher, dass ich auf diese Weise in Goldschnitt und auf den Weihnachtstisch des deutschen Hauses komme. Dann sollen Sie noch einmal sagen, ich habe keinen vornehmen Charakter!
Stets Ihr
W. C.
Was allen Leuten immer so an mir auffiel, und warum mich mein Onkel Theo oftmals wehmütig betrachtete. Die Kennzeichen eines echten Dichters – ein Trosteswort für alle, die es werden wollen. Das Koblenzer Straßenpflaster und der entlarvte Rheinstrom, nebst einer Psychologie der Berliner. Die Geschichte vom Wirtshaus an der Lahn.
Wenn sonst manchmal von kleinen Kindern gesagt wird: »Schade, der Junge lebt nicht lange, er ist zu klug!«, so war das bei mir durchaus nicht der Fall. Niemand behauptete so etwas von mir, im Gegenteil, alle, die mich sahen, prophezeiten mir ein langes Leben, und der einzige Mensch, der jemals an mir besondere Anlagen und Fähigkeiten entdeckt hat, war mein Onkel Theo, kein anderer wäre auch nur im Traume auf einen solchen Gedanken verfallen. Aber mein Onkel Theo war eben ein selbständiger Charakter, der seine eigene Anschauung vom Leben hatte und nie die Pfade der breiten Alltäglichkeit wandelte. Er war Geschäftsmann und pflegte darum regelmäßige Reisen über die nahe holländische Grenze zu machen, Geschäftsreisen, auf denen er sich vor allem vor Zollbeamten und dergleichen Leuten in acht nehmen musste. Onkel Theo war im gewöhnlichen Leben ein langer, hagerer Mann, ein Mann den ein Windstoß umgeworfen hätte, aber wenn er von der Reise zurückkam, dann marschierte er schwer und langsam nach Hause, und ein Leibesumfang zierte ihn, dessen vorspringender Teil allein einen halben Zentner wog. In seiner Wohnung packten sie ihn aber aus und wickelten aus seinem Bauch ganze Pakete mit Uhren, Zigarren und andern nützlichen Gegenständen heraus.
Dieser Onkel pflegte mich oftmals wehmütig zu betrachten. Er meinte, mein Gesicht gefiele ihm, ich hätte so etwas Harmloses an mir, das auch den misstrauischsten Kriminalbeamten noch beruhigen würde. Er bedauerte sogar, dass er mein Gesicht nicht hätte, denn damit würde er doppelte Geschäfte machen, und eines Tages nahm er mich mit über die Grenze.
»Junge«, sagte er auf der Rückfahrt. »Jetzt mach bloß ein recht dummes Gesicht, wenn der Zollbeamte kommt.« Und dann war mein Onkel ganz stolz auf mich, weil ich das so natürlich herausbrachte.
Aber ich brauchte mich hierbei wirklich nicht besonders anzustrengen, das war mir angeboren, und meine geistigen Anlagen leuchteten schon damals so auffällig aus meinen Zügen hervor, dass fremde Touristen, die mich zufällig erblickten, mich für eine Sehenswürdigkeit meiner Vaterstadt hielten und sich wunderten, warum ich nicht im Baedeker stand. Ja, meine Lehrer vertrieben sich in den Schulstunden ihre Langeweile damit, dass sie in langen Reden meinen armen Vater bedauerten, der das nutzlos weggeworfene Schulgeld für mich bezahlen musste. Die Hartnäckigkeit, mit der ich allen ihren Versuchen entgegentrat, mir die Anfangsgründe menschlichen Wissens beizubringen, nötigte ihnen schließlich sogar einen gewissen Respekt ab und veranlasste sie zu trüben Prophezeiungen über meine künftigen Lebensschicksale. Aber darin haben sie sich schwer geirrt. Dick und fett bin ich geworden, die Leute sollten mich heute nur einmal sehen, und Onkel Theo hat mir sein ganzes Vermögen vermacht. Ich glaube sogar, ich bin der einzige wahrhaft zufriedene Mensch auf dieser trüben Erde, und die Gaben meiner Jugend, das – sagen wir – harmlose Gesicht und eine unbesiegbare Abneigung gegen jede Art geistiger Tätigkeit besitze ich noch heute in ungeschwächtem Maße.
Übrigens habe ich auch sonst manches für das Wohl der Menschheit geleistet, denn zum Beispiel die passive Resistenz, die jetzt die Eisenbahnbeamten bei ihren Lohnkämpfen mit Erfolg anwenden, ist weiter nichts als eine persönliche Erfindung von mir, die ich merkwürdigerweise schon an meinem ersten Schultage machte, nur dass man damals einen andern Namen dafür hatte und den sozialpolitischen Hintergrund meines Handelns gänzlich verkannte. Aber meinen Sie, heute erwähnt mich irgend eine Zeitung jemals als den geistigen Vater dieser Idee? So sind die Menschen.
Nun ja, ich bin an so manches gewöhnt, und außerdem habe ich andere Sachen zu tun, als mich darüber zu ärgern, ich muss dieses Reisetagebuch schreiben. Es ist eigentlich ganz merkwürdig, welch eine starke Begabung ich für die Poesie besitze. Schon als Knabe fiel mir das an mir auf. In meiner Vaterstadt lief nämlich damals ein wirklicher Dichter herum, ein alter, fetter, schmieriger Kerl mit grünem, verschlissenen Havelock. Sein Körper war eigentlich nur ein einziger Bauch mit kleineren Anhängseln, sein Gesicht aber bestand aus einem grauen Vollbart, einer roten Nase und zwei verglasten Schellfischaugen. Meistens schnupfte er, und wenn er bei diesem nützlichen Geschäft einmal eine Pause machte, dann kam aus seinem Munde ein unverständliches Gegrunze hervor. Nicht vergessen will ich auch, dass die Straße durch die er ging, nachher eine Viertelstunde lang nach Schnaps roch.
Dieser Mann war mein Ideal! Alle anderen Leute, die ich kannte, quälten sich mit irgend etwas ab. Sie lernten, sie arbeiteten, sie stahlen. Er aber tat nichts dergleichen, er dichtete. Sein Geld legte er in alkoholischen Getränken an, seine Seele aber in Versen, und jeden Sonntag stand ein Gedicht von ihm in der Allgemeinen Bürgerzeitung. Wenn ihn daher auch jeder für einen widerlichen Menschen erklärte und ihm aus dem Wege ging, heimlich sprachen sie doch mit Stolz von ihm, denn er war nun einmal der einzige Dichter in unserer Stadt.
Ich bin inzwischen älter, wenn auch nach der Ansicht meiner Freunde nicht grade gescheiter geworden, ich habe so manchen andern Dichter kennen gelernt, aber ich versichere Ihnen, es war immer dasselbe, mochte auch einmal einer, besonders wenn er verheiratet war, auf den ersten Blick etwas manierlicher aussehen. Sie waren alle faul, dumm und gefräßig, und das albernste Märchen, das es gibt, ist das von dem hungernden aber begeisterten Dichter im Dachstübchen. Ich bitte Sie, hungernde Menschen, und gar solche, die in Dachstuben hausen, sind überhaupt keine Poeten, und das erste, was man zur Dichterei gebraucht, ist Geld. Ohne Geld gibt es nicht nur keine Liebe, sondern auch keine Poesie. Ohne Geld druckt dir niemand ein Bändchen Verse, mit Geld aber wird dich die Kritik einmütig in den Himmel erheben.
Das zweite aber, was man zu diesem Handwerk unbedingt braucht, ist ein natürlicher Hang zum Fettwerden. Nur wer das Verdauen für den eigentlichen Zweck seines Daseins hält, wird in den Pausen zwischen seinen Mahlzeiten, wenn er im warmen Zimmer auf einem weichen Sofa sitzt und träumerisch dem Qualm einer guten Zigarre nachblickt, in jene Stimmung kommen, in der das echte poetische Kunstwerk geboren wird. Mag draußen die unruhige Welt sich abquälen, und sich um Ruhm, Liebe oder Gold die Köpfe zerschlagen, der Dichter sitzt rund, faul und gemütlich in seinem Verdauungszimmer, und wenn auch von Zeit zu Zeit seine Feder ein paar Worte auf einen Bogen Papier kritzelt, das ist keine anstrengende Beschäftigung, und im übrigen ruht ja dabei sein Geist in köstlicher Weise aus. So arbeiten die echten Dichter, die Leute mit dem Lyrikerbauch, der um so mehr Fett ansetzt, je feiner die Verse werden. Und so arbeite auch ich.
Wie ich eigentlich auf die Idee gekommen bin, eine Fußtour von der Mosel nach der Spree zu machen, das weiß ich heute nicht mehr. Mein Gedächtnis arbeitet eben etwas merkwürdig, und während ich manchmal die wichtigsten Dinge vergesse, erinnere ich mich dafür immer wieder an Ereignisse, die gar nicht geschehen sind, weswegen auch meine Freunde behaupten, ich habe meine Reise überhaupt nicht gemacht, und jeder wüsste, dass ich während der ganzen Zeit in Koblenz gesessen und Morgen für Morgen in der Weinwirtschaft von Schäfer mein Viertelchen getrunken hätte. Ich will mich in den Streit nicht einmischen, jeder kann es damit halten wie er will, aber auf alle Fälle ist mein Gedächtnis im Durchschnitt ein ausgezeichnetes, was an der einen Seite fehlt, gebe ich bereitwillig an der andern Seite zu, und wer sich das deutsche Vaterland gründlich ansehen will, der soll ruhig in meinen Bahnen wandeln – er wird staunen!
Gastwirte aber, Verschönerungsvereine und Dorfschulzen, die mich verklagen wollen, weil ich irgend eine Einrichtung in ihrem Dorfe beim richtigen Namen genannt habe, mache ich von vornherein darauf aufmerksam, dass bei mir nichts zu holen ist. Ich prozessiere im Armenrecht und bin gesetzlich eingerichtet, indem die Sachen und das Geld meiner Frau gehören, und im übrigen möchte ich den Manifestationseid sehen, den ich nicht schwöre. Außerdem bin ich strafrechtlich von drei deutschen Gerichtshöfen für unzurechnungsfähig erklärt worden.
Schwer wurde mir doch der Abschied von Koblenz. Wie schön ist diese Stadt! Besonders an einem milden Sommerabend, bei regem Fremdenbesuch, wenn sie den Ehrenbreitstein bengalisch beleuchtet haben, wenn die Militärkapellen die Lorelei spielen und begeisterte Touristen in Elitehotels sich für teures Geld an miserablen Weinen betrinken, während die Eingeborenen dasselbe tun, aber in alten, verräucherten Spelunken für billiges Geld und an den besten Sorten. Ja, sowas muss man genossen haben.
Aber das alte Koblenz von früher ist es doch nicht mehr. Jetzt haben sie die Festungsmauern niedergerissen, Asphaltpflaster angelegt und moderne Häuser gebaut, und kein Mensch kann sich mehr vorstellen, welch ein gemütliches Drecknest diese Stadt früher einmal gewesen ist. Damals hat es ja wohl auch ein Straßenpflaster gegeben, aber wie es aussah, blau, grau oder grün, oder ob es aus Sandstein, aus Schiefer, aus Holz oder aus einer ausgestorbenen, jetzt gänzlich aus der Natur entschwundenen Materie bestand, das wusste niemand zu sagen. Man hätte bei der Nacht das ganze Koblenzer Straßenpflaster ruhig stehlen können, wenn man nur sorgfältig den im Laufe der Jahrhunderte angesammelten Schmutz wieder an Ort und Stelle brachte, kein Bürgersmann würde irgend etwas bemerkt haben. Die Häuser hätten sich nicht mehr vornüber geneigt, wie sie es auch so schon taten, die Rollfuhrwerke würden nicht tiefer versunken sein, die Unglücksfälle durch Ertrinken in den Straßen hatten keinen größeren Umfang angenommen.
Das seltsamste in dem alten Koblenz waren immer die Sprengwagen. Ich habe nie herausbekommen, wozu man sie eigentlich gebaut hat. Aber schön waren sie doch.
Alte Veteranen mit weißen Bärten, denen 1870 aus Versehen kein Bein abgeschossen wurde, und die deshalb auch keine Drehorgel spielen konnten, marschierten vorauf und bemühten sich, mit ungeheuren Besen soviel von dem Staub und Schmutz aufzuwirbeln, wie ihren vereinten Kräften nur irgend möglich war. Aber während diese Staubwolke jeden, der hineingeriet, in eine Mumie verwandelte, brachte der darauffolgende Sprengwagen sofort Rettung. Er war nach der Erfindung eines Koblenzer Stadtverordneten gebaut und hatte etwas Originelles an sich in der Art, wie er auf unglaubliche Entfernungen plötzlich seine Wasserstrahlen aussandte. Hunde, Straßenjungen und Eselsfuhrwerke traf er niemals, sie konnten seinetwegen verschmachten. Aber alle anderen Geschöpfe überschüttete er ausgiebig mit den Beweisen seiner Zuneigung, besonders wenn sie vorher in den Staub geraten waren. Er meinte es jedenfalls gut mit ihnen, er wollte sie abwaschen, sie rein und glücklich machen. Aber sie ließen ihm meistens gar nicht die Zeit dazu. Kaum dass sie richtig nass geworden, da liefen sie auch schon davon und schimpften, dass es nicht mehr schön war. Ja, das waren noch gemütliche Zeiten.
Sehr originell fand ich auch immer die Art, wie diese Sprengwagen mit Wasser gefüllt wurden. Der Kutscher ließ einfach den Wagen mit den Pferden rückwärts das sanft abfallende Ufer hinunter in die Mosel gleiten und wartete, bis der Wasserbehälter vollgelaufen war. Die Pferde selbst standen dabei nur halb im Wasser und versuchten jetzt, den vollen Wagen heraufzuziehen. Manchmal gelang das ihnen auch, dann wackelten sie stolz mit dem Kutscher in die Stadt hinein, um dort ihre segensreiche Tätigkeit zu entfalten. Manchmal gelang es ihnen aber nicht, und sie ertranken. Jedenfalls aber blieb es immer ein interessantes und erhebendes Schauspiel, und es standen stets Zuschauer am Ufer, die auf die einzelnen Pferde wetteten, ob sie wohl herauskommen oder ertrinken würden.
Ich unterhielt mich einmal mit dem Vorsitzenden des Koblenzer Verschönerungsvereins über diese Verhältnisse und sagte ihm, es wäre doch eigentlich eine feine Idee, wenn sämtliche Wagen, Droschken, Rollfuhrwerke, Automobile und Kinderwagen (eventuell auch die Kanonen von der Artillerie) solche Sprengvorrichtungen besäßen. Ihm leuchtete auch die Sache ein, und er versprach mir, einen entsprechenden Antrag im Stadtrat vorzubringen. Ich suggerierte ihm dann schnell noch die weitere Idee, auch an den Rhein-Dampfern geeignete Vorrichtungen anzubringen, um im Vorbeifahren die Weinberge zu begießen, und, verließ ihn.
Was aus diesem Antrag geworden ist, ob sie ihn angenommen und aus dieser Einrichtung eine Sehenswürdigkeit für die Fremden gemacht haben, weiß ich nicht. Vielleicht beraten sie heute noch darüber und machen diesen Plan zum Gegenstand erbitterter Wahlkämpfe.
Also, ich musste nun diese Stadt verlassen, und als ich bei Morgengrauen über die Eisenbahnbrücke marschierte, da lagen noch Häuser und Kirchen und Mauern in einem dicken Nebel wie in einem tiefen Schlaf. Ich schlug einen Fußweg ein über die Berge nach Ems, um so die Lahn hinaufzuwandern, die ja auch schon mein Kollege Göte in seiner Jugend mit Erfolg zu Gedichten benutzt hat. Oben auf der Horchheimer Höhe aber nahm ich jetzt Abschied von dem ganzen Rheintal.
Gott ja, der Rhein. Wenn ich etwas in meinem ganzen Leben nicht begreifen werde, so ist es die Tatsache, dass alle Leute in Deutschland für den Rhein schwärmen. Es scheint hier eine ganz merkwürdige Massensuggestion vorzuliegen, denn ein öderes und langweiligeres Gewässer als den Rhein kann man schwerlich auftreiben. Die paar Ruinen, die der Verschönerungsverein angelegt hat – man weiß ja, wie die Sache gemacht wird – imponieren mir ebensowenig, wie der Kölner Dom, an dessen Lotterie schon mein Vater zehn Jahre lang sein Geld verloren hat, ohne je etwas zu gewinnen. Und die sogenannten Weinberge, diese Erdhügel, die die Weinfabrikanten zu Reklamezwecken angekarrt haben, damit man ihr Gemisch von Brennspiritus, Regenwasser und Zucker für Liebfrauenmilch halten soll – ich will lieber gar nicht darüber reden, aber jedenfalls war vor fünfzig Jahren die ganze Rheinprovinz so eben wie ein Tennisplatz. Alles ist falsch an dem Rhein. Der Mäuseturm ist so ziemlich der einzige Ort in der ganzen Gegend, wo es keine Mäuse gibt. Überall sonst wird man von diesen Tieren aufgefressen. Über den Ansichtskartenhandel auf der Lorelei hat ja schon der Schriftsteller Heine geklagt. Und dann das Wetter am Rhein. Es fängt ganz harmlos an mit einem dicken Nebel, so dass man den ganzen Morgen Blindekuh spielen kann, ohne eine Binde zu gebrauchen. Erst gegen Mittag steigt der Nebel empor und erzeugt einen gleichmäßigen Landregen, der den während der Nacht ausgetrockneten Rhein von neuem in einen stolzen Strom verwandelt. Abends hört auch der Regen auf, und es wird auf kurze Zeit so schön, dass man in einer Bienenhaube heraumlaufen muss, weil sich einem sonst die Moskitos so dicht ins Gesicht setzen, wie sie nur gerade nebeneinander Platz haben. An dem Wetter, das während der Nacht herrscht, kann man freilich nichts aussetzen, aber man ist es doch nicht gewohnt, im Juli oder August in einem Pelzmantel herumzulaufen.
Natürlich schwärmt man für den Rhein am meisten in solchen Gegenden, die möglichst weit davon entfernt liegen, wie an der russischen und österreichischen Grenze. Das klassische Land der Rheinbegeisterung ist aber Berlin.
Der Berliner ist in tiefster Seele Romantiker, in seinem Herzen lebt eine heimliche Sehnsucht nach Schönheit. Wie glücklich fühlt er sich, wenn er des Sonntags in einer sogenannten rheinischen Winzerstube zwischen künstlichem Reblaub und Papierrosen sitzen kann! Voll Andacht bestellt er sich eine Flasche Rüdesheimer und versucht dann, den berühmten rheinischen Humor und Frohsinn zu entwickeln. In vorgerückter Stunde gelingt ihm das auch, und noch auf dem Heimwege krächzt er: »Nur am Rhein begraben sein!«
In Berlin gibt es nicht weniger als siebzehn Vereine von Rheinländern, und es ist kein Mitglied darin, das jemals das Weichbild der Reichshauptstadt verlassen hat. Aber alle reden sie einen unverfälschten Kölner Dialekt, den sie wohl aus einem Buche erlernt haben, und der das Gute an sich hat, dass kein Mensch ein Wort davon verstehen kann. In diesen Vereinen glaubt man allgemein, am Rhein herrsche das Faschingstreiben in Permanenz, und so halten sie denn das ganze Jahr hindurch Karnevalssitzungen ab. Sie hoffen, dass noch einmal eine Zeit kommt, in der man auch in Berlin nur noch in Maskenkostümen herumlaufen darf, und ich zweifle nicht, dass sie es durchsetzen.
Obgleich nun von tausend Berlinern kaum einer dahin gelangt, den Rhein von Angesicht zu Angesicht zu schauen, so sind sie doch alle über diesen Fluss und die ganze Umgegend aufs Genaueste unterrichtet. Das lernen sie schon als kleine Kinder, wenn sie auf der Schule Freiligraths Loreleilied deklamieren:
»Hurra, du stolzes, schönes Weib,
Wie kühn mit vorgebeugtem Leib
Am Rheine stehst du da!«
Und später dürfen sie Aufsätze über den Rhein schreiben und sind der Stolz ihrer glücklichen Eltern und Lehrer.
Ich fragte einmal eine junge, hübsche Berlinerin, wie sie sich Köln vorstellte. »Ach ja, Köln, das liegt wunderschön! Der alte Dom mit den himmelaufragenden Türmen spiegelt sich in den grünen Wellen des Rheines, auf dem die majestätischen Dampfer mit Militärkapellen dahingleiten, umschwärmt von schaukelnden Fischernachen. Vom hohen Drachenfels herab aber grüßt die Lorelei, und die Ruinen uralter Ritterburgen liegen von Moos und Efeu überwachsen auf den Berggipfeln. Eine Drahtseilbahn führt uns bequem hinauf, und wir sehen unterwegs, wie die jugendlichen Winzerinnen auf den Rebenhügeln ein fröhliches Lied singen und den Wein in Tonnen und Flaschen füllen. Und überall trägt man noch die alten, malerischen Trachten, die man leider in Berlin nur noch auf Maskenbällen kennt. Dabei trinken die Kölner immer das edle, feurige Traubenblut und singen dann ihre begeisterten und ergreifenden Karnevalslieder.«
Glücklicherweise bleibt diese junge Dame hübsch in Berlin und malt ihr Ideal in ihren Träumen von Jahr zu Jahr schöner und lieblicher aus. Wenn sie nach Köln käme und dort keine Ritterburgen auf Rebenhügeln träfe, sie würde die Enttäuschung nicht überleben.
Einmal hat der Berliner Verein Rhenania drei Mitglieder nach Köln geschickt, um dort Studien zu machen. Es war spät abends, als sie ankamen. Die letzte halbe Stunde hatten sie immer durchs Fenster geschaut, ob sie keine Weinberge sähen, aber in der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Schon auf dem Bahnhof wunderten sie sich, weil nur Fremde da waren, kein einziger Kölner im Karnevalskostüm. Selbst der Kutscher, der sie zum Hotel fuhr, trug nicht einmal eine bunte Federmütze. So saßen sie denn in dem geschlossenen Wagen und versuchten, in dem Regen, der draußen strömte, etwas von dem bunten Treiben der weinberauschten Bevölkerung zu entdecken. Niemals hätten sie gedacht, dass sich die Kölner durch das schlechte Wetter so in ihrer Festesfreude könnten stören lassen.
In dem Hotelrestaurant verkehrten offenbar auch nur Fremde und einige tranken sogar Bier. Aber die drei Berliner waren nicht so taktlos, in der alten Rebenstadt etwas anderes als Wein zu bestellen. Nach der dritten Flasche gingen sie auf ihre Zimmer und zogen die mitgebrachten Karnevalskostüme an, denn sie wollten sich die Stadt ansehen. Sie sahen nicht die entsetzten Blicke des Portiers, als sie das Haus verließen. Frohen Herzens stiegen sie auf die Straße und stimmten das Quartett an: Strömt herbei, ihr Völkerscharen!
Hätten sie es lieber nicht getan! Wären sie doch ruhig in Berlin geblieben, sie würden heute noch begeisterte Rhenanen sein. Aber so – Es glückte ihnen freilich am nächsten Morgen, ihre Freiheit wieder zu erlangen, auch waren die Hautabschürfungen, die sie auf dem Transport zur Polizei erlitten, nicht so schlimm. Aber niemals überwanden sie die Enttäuschung, als sie die Wahrheit über den Rhein erfuhren, und in Zukunft schlugen sie jeden tot, der noch einmal davon sprach.
Der einzige Mensch, den meines Wissens der Rhein wirklich glücklich gemacht hat, ist mein Freund Schäffer, dem während einer Rheinreise seine Frau durchbrannte. Er schwärmt für den Fluss noch heute.
Also ich marschierte weiter über die Horchheimer Höhe (361 Meter über dem Meeresspiegel – ich möchte nur wissen, wie die Leute das gemessen haben!) und langte schon um neun Uhr in Ems an. Mir ist nichts so zuwider wie ein Badeort. Ein bankrotter Hotelier findet einen alten Brunnen und wirft solange faule Eier hinein, bis kein Mensch das Zeug mehr riechen kann, und die Heilquelle fertig ist. Dann tut er sich mit einem Arzt und einem Major als Badedirektor zusammen und sie engagieren Hausknecht, Kellner und Kellnerinnen. Sie füllen das Wasser auf Flaschen, geben Analysen heraus und sorgen durch eine Kurkapelle für die Belustigung des Publikums, das zahlreich herbeiströmt. Wenn sich dann an diesem Orte noch eine russische Prinzessin mit einem andalusischen Hochstapler verlobt, ist der Weltruf des Bades gesichert, und die Direktion kann nicht faule Eier genug erwerben, um das Brunnenwasser in der altbewährten Qualität zu erhalten.
Nein, in Ems hielt ich mich nicht auf. Was ich brauchte, war unverfälschte Natur, Bauernmädchen mit echten Waden und alte moosüberwachsene Schäfer. Aber hier diese Russen und Engländer, die sich ihren Magen mit aufgewärmtem Spülwasser verdarben, das war nicht nach meinem Geschmack. Und dann hatte ich für heute auch noch ein andres Wanderziel, ich wollte nach Dausenau.
Wenn man nämlich von Ems aus die Lahn hinaufgeht, kommt man gar bald in ein uraltes Städtlein, das den Charakter einer längst entschwundenen schönen Zeit bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Merkwürdige Türme und Ruinen alter Festungsmauern stehen verträumt umher zwischen gemütlichen Misthaufen und kostbaren Schweineställen, und die Einwohner machen ein Gesicht, als wären sie die Hüter einer vielhundertjährigen Tradition. Es ist das liebliche Dausenau, dessen Ursprung sich in die Tertiärzeit verliert und das im ganzen Mittelalter als die stärkste Festung drei Meilen im Umkreis berühmt war. Aber das beste und schönste, was Dausenau hat, ist doch das Wirtshaus an der Lahn, von dem man noch singen wird, wenn einmal von der ganzen deutschen Sprache nichts mehr übrig geblieben ist als das bekannte Lied und allenfalls noch der erste Teil des ›Faust‹.
Es war ein schöner, sonniger Frühlingsmorgen. Die Obstblüten hatten das ganze Lahntal weiß und rosa angestrichen, und die Spatzen sangen so laut wie Nachtigallen und freuten sich auf das gute Kirschenjahr. Ich aber hatte wenig Sinn für den Frühling, der die Menschen zu lyrischen Gedichten, Heiratsversprechungen und anderen Dummheiten verleitet. Meine Seele sang das Lied vom Wirtshaus an der Lahn, und ich genoss schon im voraus den Ulrichsteiner Fruchtbranntwein, den mir die berühmte Wirtin in einem traulichen Erkerstübchen vorsetzen würde. Und als nun zwischen verkrüppelten Apfelbäumen der Kirchturm von Dausenau hervortauchte und sie noch meterhoch überragte, da ging es mir wie der Magd in der dritten Strophe, die im Salatgarten saß, »ich könnt' es nicht erwarten«. Und dann stand ich plötzlich still und starrte auf ein Schild mit der einfachen, aber bedeutungsvollen Inschrift: »Zum Wirtshaus an der Lahn.«
Eigentlich hatte ich es mir anders vorgestellt – historischer, poetischer, und vergebens sah ich mich nach all dem Schönen um, womit meine Phantasie dieses Haus so überreichlich ausgestattet hatte. Wäre nicht die Inschrift über der Tür gewesen, nimmer hätte ich geglaubt, dass das jene Stätte war, von der die deutsche Jugend in vorgerückter Stunde so begeistert zu singen pflegt. Das Haus sah aus, als sei es vor einem halben Jahr von einem Maurergesellen gebaut worden, der einmal etwas vom Jugendstil gehört hatte. Und dann diese Plakate. Radfahrerstation. Alkoholfreier Apfelwein. Pferdelotterie. – Nein, es war eine Enttäuschung.
Und das Schlimmste: es fehlte die Wirtin.
»Ja«, meinte der Wirt, »soviel bringt mir das Geschäft gar nicht ein! Ich habe mir jetzt eine Magd angeschafft, einen Garten mit Salat und ein Glöcklein, das auf Verlangen fortwährend zwölf Uhr schlägt, die Soldaten kann man sich leicht dazu denken. Aber eine Frau – ich bin froh, dass ich glücklich Witwer bin. Und eine dicke Person dahinzustellen, nur damit die Gäste, die nichts verzehren, sie nach ihren Familienverhältnissen fragen – wie gesagt, das wirft das Geschäft nicht ab!«
Die biedere Sprache des Wirtes rührte mich, und ich verzehrte soviel, wie eben in mich hineinging. Gestärkt, aber nur halb getröstet, schritt ich dann weiter und überlegte, wie mir das Leben doch immer Enttäuschungen brachte. Das war nun einmal mein Schicksal, aber meinen Idealismus wollte ich mir deshalb doch nicht rauben lassen. Und als ich meine Augen emporschlug, da sah ich vor mir ein Haus, dem ersten grade gegenüber. In stolzer, einfacher Schrift stand da: »Zum historischen Wirtshaus an der Lahn.«
Von meiner Brust löste sich ein Alp. Ich wusste es ja, das andere konnte nicht das richtige sein. Hier aber war das echte Wirtshaus an der Lahn, und mit leuchtenden Augen ging ich hinein, wo der Wirt mich schon zu erwarten schien.
»Sie waren wohl drüben bei der Konkurrenz?«, fragte er und zwinkerte mit den Augen. »Frau, bring' dem Herrn einmal Bier!«
Die Tür vom Nebenzimmer öffnete sich und herein trat das Urbild der Wirtin an der Lahn. Sie mochte wohl dreihundert Pfund wiegen, man sah es ihr an, dass schon unzählige Verse auf sie gedichtet worden waren. Auf eine Einladung setzte sie sich sofort an meinen Tisch und trank auf meine Rechnung für zehn.
Einmal fragte ich: »Wo ist denn eigentlich die Magd?«
»Ich lege keinen Wert auf die Magd und den Salatgarten«, antwortete der Wirt. »Das überlass ich andern. Meine Spezialität ist die Wirtin, die macht mir so leicht keiner nach.«
Der Wirt hatte recht, die Hauptperson in dem ganzen Lied war doch die Wirtin.
Als ich in Seligkeit schwimmend die ehrwürdige Schenke verließ, schwankte ich gegen ein Haus an mit einem ganz zerfallenen und von Regenwürmern vernagten Schild: »Zum echten Wirtshaus an der Lahn«. Staunend stand ich davor. Aber dann kam der Wirt heraus, begrüßte mich freundlich und zog mich ins Innere. Er war ein uralter Greis, und man sah ihm sofort an, dass er echt war.
Alles in diesem Wirtshaus hatte einen uralten Anstrich. Die Wirtin schien seit Jahrhunderten den Fuhrleuten Bier eingeschenkt zu haben. Und wenn diese Magd jemals im Garten auf Soldaten gewartet hatte, dann war es wohl im frühesten Mittelalter gewesen. An den Wänden klebten Fliegenleichen von einer seltsamen, längst ausgestorbenen Art, wie sie jetzt gar nicht mehr vorkommt.
Die Begeisterung gab mir neue Kraft zum Trinken, und ich trank, bis ich den altehrwürdigen Wirt, auf dessen Kopf natürliches Moos wuchs, nur noch in einer grauen Nebelwolke sah. Dann war es mir, als ob ich langsam unter den Tisch versank und durch die Löcher des alten Fußbodens verschwand. Es ist schade, dass ich damals so fest schlief, sonst hätte ich im Keller vielleicht die Urform der jetzt so degenerierten Hausratte entdeckt und wäre berühmt geworden. Aber so angelte der Wirt mich als versteinerte Mumie mit einem Enterhaken wieder herauf, stellte mich unter die Pumpe und hing mich dann zum Trocknen in den Rauchfang auf, bis ich nach einer halben Stunde wieder so ziemlich wusste, wer ich war, und weiter gehen konnte.
An dem nächsten Haus hatte man ein zehn Meter langes Schild angebracht, das nach rechts und links über die nächsten Schweineställe hinüber ragte. Die Inschrift aber lautete: »Erstes und ältestes Wirtshaus an der Lahn«.
Der Wirt zeigte mir hier den historischen Tisch, an dem das berühmte Lied gedichtet worden war, und dann auch ein uraltes Stammbuch, vielleicht das älteste der Welt. Leute, deren Jahreszahlen wir als Schüler schaudernd auswendig lernten, hatten sich hier verewigt. Schon Karl der Große und Philipp der Kahle schienen mit Vorliebe in dieser Schenke eingekehrt zu sein, und man sah an ihrer Unterschrift, dass sie schon bei Lebzeiten ihre Beinamen besaßen. Martin Luther, Barbarossa und der Schinderhannes hatten hier zusammen Skat gespielt und ein Gedicht verfasst, aus dem später Schiller ganze Sätze in bedenklichster Weise in seine Dramen herübernahm. Was mich am meisten frappierte, war die Entdeckung, dass die verschiedenen Handschriften eine Erfindung der neuesten Zeit sind. Alle die großen Männer, die man heute zu Theaterstücken oder wenigstens zu Denkmälern verwendet, schrieben eine und dieselbe Handschrift. Ich sagte das auch dem Wirt.
»Ja«, meinte dieser. »Mir ist das auch schon aufgefallen. Ich schreibe nämlich genau so.«
Erfüllt von der ehrfurchtsvollen Stimmung, die ein Blick in die Seelen großer Männer stets in mir erweckt, ging ich weiter und stand gar bald still vor dem »Garantiert Originalwirtshaus an der Lahn«. Schon wieder eins! Offenbar schwebte ein Geheimnis über diesem Ort, und ich schwur mir, der Teufel sollte mich holen, wenn ich nicht herauskriegte, welches das richtige war.
Das nächste war das »Einzigste Wirtshaus an der Lahn« – offenbar eine etwas kühne Behauptung. Dann kam ein »Vegetarisches Wirtshaus an der Lahn«, eins, das vor Nachahmungen warnte, und schließlich noch sechs oder sieben andere, deren Titel ich vergessen habe. Waren noch mehr Häuser in Dausenau gewesen, dann hätte es auch noch mehr Wirtshäuser an der Lahn gegeben.
Aber da stand noch ein einziges Häuslein etwas abseits im Gebüsch. Es war ganz mit Reblaub überwachsen und blitzte nur so vor Sauberkeit. »Es wird kein Wirtshaus sein!«, dachte ich. »Es sieht zu hübsch und zu niedlich aus.« Doch als ich näher kam, da bemerkte ich ein blankes Schild: »Zum neuen Wirtshaus an der Lahn«. Und am Fenster hing ein Plakat: »Soeben eröffnet. Zum Besuch ladet ein die junge Wirtin«.
Und hier kehrte ich fröhlich ein und vergaß bei der jungen Wirtin das alte, das echte, das historische und das Originalwirtshaus. Ich weiß jetzt, auf welche Wirtschaft das Lied gedichtet worden ist, aber es war doch ein Stück Arbeit, es herauszufinden.
Der schiefe Turm von Dausenau. Quer durch den letzten, deutschen Urwald, oder wie die Sonne im Norden stand. Ein Kapitel über die Burgführer. Die Geschichte vom boshaften Türschloss, die besonders auch Hundefänger interessieren wird.
Man soll nicht alles erzählen, was man auf der Reise erlebt. Manches ist nicht interessant genug für das große Publikum, manches aber erregt Anstoß bei empfindsam veranlagten Menschen. Und man weiß nie, was Anstoß erregt und was Leuten, die es gewohnt sind, bei jungen Wirtinnen einzukehren, als abgestandenes Zeug erscheint. Jedenfalls nahm ich am nächsten Morgen von meiner jungen Wirtin einen recht gerührten Abschied, und als ich draußen auf der Dorfstraße stand, da fühlte ich, dass ich ein Stück meines Herzens bei ihr gelassen hatte.
Aber gottseidank, mein Herz ist groß, und ich habe schon manches Stück verloren, ohne dass es mir irgend etwas geschadet hat. Während ich also Dausenau verließ, zählte ich noch einmal die Wirtshäuser an der Lahn. Dabei entdeckte ich zwei neue, die ich merkwürdigerweise gestern ganz übersehen hatte, vielleicht waren sie über Nacht erst angelangt. Zuerst wollte ich auch in diesen letzten beiden einkehren – der Vollständigkeit halber, aber glücklicherweise unterließ ich es denn doch zum Schluss, ich hätte sonst leicht noch einmal die ganze Rundreise von vorne begonnen.
Ganz am Ausgang des Dorfes aber stieß ich auf eine Sehenswürdigkeit, die in Deutschland noch viel zu wenig bekannt ist. Ich meine den schiefen Turm von Dausenau, den ich am Abend vorher in meiner Bierstimmung für grade angesehen hatte, und der im übrigen im Jahre 1348 von Karl IV. errichtet wurde. In jener fernen Zeit des Altertums müssen die Leute in Deutschland rein gar nichts zu tun gehabt haben, denn überall, wo man hinkommt, haben sie alte Burgruinen, Aussichtstürme und dergleichen aufgebaut, so dass das Reisen, weil man doch alles gesehen haben muss, sehr beschwerlich wird. Dieser schiefe Turm sah im allgemeinen ganz imponierend aus, nur in einer Art gefiel er mir nicht. Kaum war ich nämlich oben, da fing es auch schon an zu regnen, und ein Mann spannte unten seinen Regenschirm auf. Aber ich war der Situation vollständig gewachsen, ich dichtete sofort den Schüttelreim:
»Wenn's regnet, steig auf schiefe Türme,
Dann siehst du in der Tiefe Schirme!«
und verließ stolz das Lokal, worauf sich das Wetter bald wieder aufheiterte.
Die Lahn ist ein schöner Fluss, aber sie hat zu viele Windungen, und man weiß nie, ob man sich auf dem linken oder auf dem rechten Ufer befindet. Stundenlang kann man die unglaublichsten Wege gehen, aber ein Blick auf die Landkarte zeigt einem, dass man sich noch genau auf demselben braunmarkierten Fleck befindet.
Überhaupt die Landkarten – haben Sie schon einmal einen Menschen gesehen, der sich darauf zurecht findet? Ich nicht. Schon auf der Schule hatte ich einen leidenschaftlichen Hass gegen diese buntgefärbten Karten, von denen ich heute noch nicht einsehe, warum es Leute gibt, die sie als Zimmerschmuck verwenden. Es gab zwar in meiner Jugend überhaupt keinen Unterrichtsgegenstand, bei dem meine Lehrer mir nicht versicherten, ich sei der Nagel zu ihrem Sarge – einer schrieb es mir sogar ins Zeugnis – aber mein Geographielehrer behauptete es sogar noch lange nach seinem Tode, und ich will dem Mann wenigstens in diesem Punkte nicht unbedingt Unrecht geben.
In der letzten Zeit haben sich meine geographischen Kenntnisse übrigens etwas gebessert, hauptsächlich durch die vielen Vulkanausbrüche, Kriege und Aufstände, die vorgekommen sind. Ich glaube, dass alle diese Naturereignisse von den verschiedenen Regierungen ausdrücklich dazu arrangiert werden, dass die Leute, die davon lesen, mehr Geographie in den Leib bekommen. Die Sorgfalt, mit der man jedes Mal einen anderen Punkt der Erde auswählt, ist anerkennenswert, und so weiß denn jetzt jeder Bauer in Asien und in Afrika besser Bescheid als in dem eigenen Dorf, in dem er aufgewachsen ist.
In Oberndorf an der Lahn fragte ich einen Wirt, bei dem ich eine gute Flasche Wein getrunken hatte, nach einem Wege über die Berge bis Balduinstein, und er erklärte mir einen, der über den berühmten Götepunkt führte. Göte muss ein furchtbar vielseitiger Mensch gewesen sein, nach all den Götehäusern, Götebünden und Götearchiven zu urteilen, die er gegründet hat. Aber die Götepunkte wenigstens hätte er sollen links liegen lassen, denn wenn Sie glauben, dass er nur aus harmloser Poeteneitelkeit jeden vorspringenden und unersteiglichen Felsen rechts und links von der Lahn erklettert hat, um dort seine Flagge aufzuhissen und den Punkt nach seinem Namen zu benennen, dann kennen Sie Göten schlecht. Der Mann mag sich ja wohl etwas darauf eingebildet haben und an die Reklame für seine jetzt mit Recht veralteten Bücher gedacht haben, aber in der Hauptsache war es pure Bosheit von ihm, und ich möchte wissen, wie viele Beinbrüche unschuldiger Touristen auf das Konto dieses noch immer von einzelnen hochgeschätzten Dichters zu setzen sind.
Doch ich sollte Glück haben und den berühmten Götepunkt nie erreichen, denn der Wirt sagte mir, ich könnte auch dahin einen Fußweg durch den Wald einschlagen und dadurch ein großes Stück abschneiden. Ich hatte meine Bedenken gegen seinen Vorschlag, ich weiß aus vielen Erfahrungen, was mir passiert, wenn ich einen Weg abschneide. Aber der Wirt zeigte mir alles so genau auf meiner Karte, und es war so einfach, dass ich mich schämte, dem guten Mann nicht zu glauben, und ich tat ihm seinen Willen.
Ach, es war wirklich ein schöner Weg, voll tiefer Stille und Waldesfrieden, und ich denke, heute noch mit verklärten Augen an ihn zurück. Aber mit einem Male hörte er plötzlich auf, irgend jemand hatte die Fortsetzung abgehackt, gestohlen und vielleicht anderswo verwendet. Jedenfalls versank ich, nachdem ich zunächst meine Person auf einem Kartoffelacker mit einem Zentner Lehmboden beschwert hatte, in einem geologisch vielleicht ganz interessanten Moor und rettete mich schließlich in ein schwarzes Walddickicht hinein. Passieren konnte mir ja nichts, denn ein Blick auf die Karte zeigte mir, dass ich während der ganzen Zeit stets über einen 300 Meter hohen, kahlen Granitfelsen gewandert war, und darum handelte es sich auch bei dem Dickicht, das ich jetzt durchschritt, sicher nur um einen schmalen Streifen.
Lieber Leser, sind Sie schon einmal in Ihrem Leben unversehens in einen Urwald hineingeraten? Sie sagen nein, Sie lassen sich ja auch von den sogenannten Wissenschaftlern vorschwindeln, so was gäbe es in Deutschland nicht mehr. Aber jedenfalls – das erfuhr ich heute – ein Stück von solch einem Urwald musste sich jedenfalls irgendwie vor dem zerstörenden Einfluss der Kultur gerettet haben und lag nun hier unbekannt und unerforscht in seiner ganzen ursprünglichen Wildheit da. In diesem Stück Urwald steckte ich mitten drin.
Ich weiß es noch ganz gut. Harmlos fing es an mit haushohen Farnen und Schlinggewächsen, mit seltsamen großen Mistkäfern, die mich erstaunt anstarrten, denn sie hatten noch nie einen Menschen gesehen. Dann aber kamen Riesenbestien, die sonst überall seit der Eiszeit ausgestorben sind, Mastodonte, deren Fußstapfen allein einen Morgen im Umfang maßen, Mammuttiere mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen, und sogar das berühmte, furchtbare Einhorn, welches sonst nur noch in drei ausgestopften Exemplaren im amerikanischen Barnummuseum vorkommt. Kurz, es war einmal ganz was anderes.
Ich schlug natürlich tot, was mir in den Weg kam, ich musste ja diesen unkultivierten Bestien zeigen, dass jetzt ein Kulturmensch erschienen war. Aber leider konnte ich sonst nichts für die Wissenschaft tun und keine Leichen mitnehmen, ich hatte schon genug an meinem eignen Leichnam zu schleppen, und als die Sache endlich anfing langweilig zu werden, da wurde ich energisch. Ich verzichtete auf die Laufbahn eines berühmten Entdeckers und suchte mir einen Ausweg aus diesem wilden Urwald.