Der Verschollene - J. S. Fletcher - E-Book

Der Verschollene E-Book

J.S. Fletcher

0,0
0,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»… ich werde nicht eher ruhen, bis ich den Täter am Galgen sehe …« Richard Malvery, der vor fünf Jahren nach Kanada ausgewandert ist, kehrt in seine Heimatstadt Brychester zurück, eine Kleinstadt in England. Kaum angekommen verschwindet er am selben Tag spurlos. David Blake, ein Freund und Geschäftspartner Malverys, reist nach England, um die Untersuchungen voranzutreiben, er wähnt sich dem Geheimnis um "Malvery Hold" auf der Spur. Dabei muss er feststellen, dass nicht nur das Wetter an der Südküste Englands extrem unangenehme ist. Was ist mit Richard Malvery passiert? Verbrechen, oder nicht Verbrechen, das ist die hier Frage, und J. S. Fletcher macht es bis zum überraschenden Ende wieder spannend. Null Papier Verlag

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 267

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



J. S. Fletcher

Der Verschollene

Kriminalroman

J. S. Fletcher

Der Verschollene

Kriminalroman

(Malvery Hold)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Hans Barbeck EV: Goldmann, Leipzig, 1933 (241 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-954189-99-1

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

die Neu­er­schei­nun­gen aus dem Pro­gramm

Neu­ig­kei­ten über un­se­re Au­to­ren

Vi­deos, Lese- und Hör­pro­ben

at­trak­ti­ve Ge­winn­spie­le, Ak­tio­nen und vie­les mehr

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

1

Das Ho­tel »Zum Kar­di­nals­hut« in Bry­che­s­ter ge­hört zu je­nen Gast­stät­ten, die man nur noch in den äl­tes­ten Städ­ten Eng­lands fin­det. Frü­her wa­ren die großen Ga­sträu­me ge­füllt, in den Stäl­len stampf­ten die Pfer­de, und vor den Tü­ren stan­den Post­wa­gen und Rei­se­fuhr­wer­ke. Aber seit der Ein­füh­rung der Ei­sen­bahn ver­lor das Ho­tel an Be­deu­tung und führ­te nur noch ein Schat­ten­da­sein.

An ei­nem schö­nen Herbst­nach­mit­tag stand der alte Ober­kell­ner, der wie ein ehr­wür­di­ger Kir­chen­die­ner aus­sah, nach­denk­lich in der Haus­tür und sah die Stra­ße hin­un­ter. Auf der an­de­ren Sei­te er­hob sich der ma­je­stä­ti­sche Turm der großen Ka­the­dra­le, in der frü­her ein­mal ein Bi­schof am Haupt­al­tar die Mes­se ge­le­sen hat­te. Dicht da­ne­ben stand das schö­ne alte Markt­kreuz, das zur Zeit der Tu­dors er­rich­tet wor­den war. Es war nur we­nig Ver­kehr auf der Stra­ße. Ein paar Bau­ern­wa­gen roll­ten über das hol­pe­ri­ge Pflas­ter, und hier und dort stan­den Nach­barn zu­sam­men und be­spra­chen die letz­ten Neu­ig­kei­ten.

Der Ober­kell­ner hielt Aus­schau nach dem Ho­te­lom­ni­bus, der je­den Au­gen­blick zu­rück­kom­men muss­te, und er war ge­spannt, ob neue Gäs­te ein­tref­fen wür­den. Trotz sei­ner Jah­re war er noch rüs­tig und lieb­te es durch­aus nicht, un­tä­tig her­um­zu­sit­zen.

Als der Bus schließ­lich vor­fuhr, stieg ein vor­neh­mer jun­ger Herr aus. Er war schlank und hat­te ein son­nen­ge­bräun­tes Ge­sicht. Der Ober­kell­ner hielt ihn für einen Of­fi­zier in Zi­vil, der aus den Ko­lo­ni­en zu­rück­ge­kom­men war, und be­eil­te sich, ihn zu be­grü­ßen.

»Wün­schen Sie ein Zim­mer, mein Herr? Wir ha­ben große, ele­gan­te Räu­me. Vi­el­leicht ein pri­va­tes Wohn­zim­mer und auch ein Feu­er im Ka­min?«

Der Frem­de reich­te dem Ho­tel­die­ner sei­ne Ge­päck­stücke und be­trach­te­te dann das alte, ehr­wür­di­ge Ge­bäu­de.

»Ja, ich neh­me ein Zim­mer, we­nigs­tens für die nächs­te Nacht. Aber vor al­lem möch­te ich –«

»Wil­liam, der Herr möch­te ein Reit­pferd ha­ben.« Der Fah­rer war zu den bei­den ge­tre­ten und un­ter­brach den Frem­den in sei­ner Rede. »Er will nach Mal­ve­ry Hold hin­aus­rei­ten. Am bes­ten ge­ben wir ihm das Pferd des Chefs. Lei­der, Sir«, wand­te er sich an den Frem­den, »hat man heut­zu­ta­ge kei­ne große Aus­wahl mehr in Pfer­den. Alle Welt fährt doch Auto oder Mo­tor­rad. Aber un­ser Chef hat noch ein ed­les, ras­si­ges Tier. Und da er erst mor­gen zu­rück­kommt, wird er nichts da­ge­gen ha­ben, wenn Sie es heu­te be­nüt­zen. Sie sind doch hof­fent­lich ein gu­ter Rei­ter?«

Mr. Bla­ke lä­chel­te be­lus­tigt.

»Dar­über kön­nen Sie be­ru­higt sein«, er­wi­der­te er freund­lich. Sei­ne Stim­me hat­te einen leich­ten ame­ri­ka­ni­schen Ak­zent. »Ich habe schon Pfer­de zu­ge­rit­ten, die Sie in Ihrem Land gar nicht ken­nen. Sie kön­nen mir das Tier ru­hig an­ver­trau­en. Sat­teln Sie es, und füh­ren Sie es her­aus. In­zwi­schen tra­ge ich mich ins Frem­den­buch ein und trin­ke ein Glas Whis­ky-Soda. Ich will dann gleich auf­bre­chen. Drei­zehn Ki­lo­me­ter sag­ten Sie doch?«

»Ja­wohl. In fünf Mi­nu­ten ist al­les be­reit.«

Der Mann ging mit schnel­len Schrit­ten über den ver­las­se­nen Hof zu den Stäl­len, und Mr. Bla­ke folg­te dem Ober­kell­ner ins Haus.

»Möch­ten Sie ein Wohn­zim­mer und ein Schlaf­zim­mer ha­ben?« frag­te Wil­liam. »Und na­tür­lich ein klei­nes Feu­er im Ka­min. Die Näch­te sind schon kalt.«

»Ja, las­sen Sie al­les her­rich­ten, bis ich zu­rück­kom­me. Wahr­schein­lich bin ich bald wie­der hier. Wenn ich mei­nen Be­kann­ten tref­fe, brin­ge ich ihn zum Abendes­sen mit.«

»Das Din­ner wird um sie­ben Uhr ser­viert«, er­wi­der­te Wil­liam. – »Wel­chen Na­men darf ich ein­tra­gen?«

»Da­vid Bla­ke, Lone Pine, Al­ber­ta in Ka­na­da, zur Zeit Ho­tel ›Ce­ci­le‹ in Lon­don.«

Der Ober­kell­ner führ­te ihn dann in ein klei­nes Ne­ben­zim­mer, wo ein jun­ges Mäd­chen hin­ter dem Schank­tisch saß und einen Ro­man las.

»Ach, las­sen Sie mir doch mei­nen Re­gen­man­tel hier«, sag­te Bla­ke, als der Ober­kell­ner ge­hen woll­te. »Es ist mög­lich, dass noch ein Schau­er kommt.«

»Heu­te wird es nicht mehr reg­nen«, ent­geg­ne­te Wil­liam, reich­te ihm aber den Man­tel. »Wir be­kom­men nur Re­gen, wenn wir West­wind ha­ben.«

Da­vid Bla­ke lä­chel­te und sah das jun­ge Mäd­chen fra­gend an.

»Kann man sich auf die­sen Wet­ter­pro­phe­ten ver­las­sen?«

»Das kann ich Ih­nen lei­der nicht sa­gen«, er­wi­der­te sie. »Ich bin erst kur­ze Zeit hier. Aber es ist so lang­wei­lig«, füg­te sie mit ei­nem Seuf­zer hin­zu, »dass selbst der Re­gen eine an­ge­neh­me Ab­wechs­lung be­deu­tet.«

»Dann ist also hier nicht viel los?« frag­te Bla­ke. »Ge­ben Sie mir einen Whis­ky-Soda. Wenn Sie noch nicht lan­ge hier sind, ken­nen Sie wohl auch Mr. Richard Mal­ve­ry nicht, der drau­ßen auf Mal­ve­ry Hold wohnt?« Sie ver­nein­te, wand­te sich aber gleich dar­auf an den al­ten Ober­kell­ner, der in die Gast­stu­be zu­rück­kam.

»Ken­nen Sie einen Mr. Richard Mal­ve­ry, Wil­liam?« Wil­liam sah Bla­ke scharf an.

»Den kann­te ich gut. Es ist al­ler­dings schon ei­ni­ge Zeit her. Seit fünf Jah­ren habe ich ihn nicht mehr ge­se­hen.«

Im Hof hör­te man das Ge­trap­pel von Hu­fen, und Bla­ke trank schnell sein Glas aus und eil­te hin­aus. Wohl­ge­fäl­lig be­trach­te­te er den schö­nen Brau­nen und lä­chel­te, als er sei­nen Re­gen­man­tel an­zog und sich in den Sat­tel schwang. Wil­liam war ihm ins Freie ge­folgt. Der Frem­de beug­te sich noch ein­mal zu dem Ober­kell­ner her­ab.

»Dann wis­sen Sie also auch nicht, ob sich Mr. Mal­ve­ry heu­te in Mal­ve­ry Hold auf­hält?« frag­te er lei­se. Wil­liam er­schrak, trat einen Schritt zu­rück und sah Bla­ke fra­gend an.

»Mr. Richard soll­te im Hau­se sei­nes Va­ters sein? Nein, da­von habe ich nichts ge­hört. Wol­len Sie ihn denn dort drau­ßen tref­fen?«

»Ja, ich hof­fe es. Und dann brin­ge ich ihn zum Es­sen ins Ho­tel mit. Der Fah­rer hat mir den Weg schon ge­nau be­schrie­ben.«

Bla­ke be­rühr­te das Pferd leicht mit der Ger­te und ritt da­von. Wil­liam blick­te ihm nach, bis er ihn nicht mehr se­hen konn­te, dann ging er ins Haus zu­rück.

»Ich will Hans hei­ßen«, sag­te er zu sich selbst, »wenn die­ser frem­de Herr heu­te abend Dick Mal­ve­ry mit­bringt.«

*

Da­vid Bla­ke sah sich mehr­mals um, als er auf der gu­ten Stra­ße von Bry­che­s­ter ins Land hin­aus­ritt. Der Kirch­turm wur­de im­mer klei­ner. Die Ge­gend war flach, und erst fünf Ki­lo­me­ter hin­ter der Stadt er­reich­te er eine klei­ne Er­he­bung. Dort hielt er an und ori­en­tier­te sich über die Um­ge­bung, denn sei­ne Au­gen wa­ren ge­wohnt, in die Fer­ne zu se­hen. Hin­ter ihm, im Nor­den, wur­de die Sicht durch eine lan­ge Hü­gel­ket­te ver­sperrt, die sich auch nach Os­ten und Wes­ten er­streck­te, so­weit der Blick reich­te. An ih­rem Fuß lag die Stadt Bry­che­s­ter, de­ren Dä­cher und Tür­me sich scharf von den dun­kel­brau­nen, be­wal­de­ten Hü­geln ab­ho­ben. In der Fer­ne er­blick­te er eine Land­zun­ge, die sich keil­för­mig in die See vor­schob. Die­se Halb­in­sel war flach und nur we­nig be­völ­kert. Nur hier und dort lag, von Ul­men und Bu­chen be­schat­tet, ein ein­zel­nes Ge­höft. Schon Bry­che­s­ter war Bla­ke ziem­lich al­ter­tüm­lich vor­ge­kom­men, aber die Häu­ser auf die­ser welt­ab­ge­schie­de­nen Land­spit­ze er­schie­nen ihm noch al­ters­grau­er als die ehr­wür­di­ge Bi­schofs­stadt. Kopf­schüt­telnd und in Ge­dan­ken ver­sun­ken ritt er wei­ter.

»Genau, wie Dick es mir be­schrie­ben hat«, dach­te er. »Ein ei­gen­tüm­li­ches Stück Erde – ab­seits von je­dem mensch­li­chen Ver­kehr. Und ein gu­tes Ver­steck, wenn man sich ver­ber­gen muss!«

Fünf Ki­lo­me­ter ritt er eine viel­fach ge­wun­de­ne Stra­ße ent­lang und be­geg­ne­te nur we­ni­gen Leu­ten. Die Fel­der zo­gen sich ein­tö­nig und flach hin, und nur ab und zu tauch­te das stroh­ge­deck­te Dach ei­ner Holz­hüt­te auf. Als er aber in die Nähe der Küs­te kam und die Bran­dung schon von wei­tem hör­te, mach­te die Stra­ße plötz­lich eine Bie­gung, und vor sich sah er eine große Bucht lie­gen, die sich weit ins Land er­streck­te. Es war ge­ra­de Ebbe, und Bla­ke er­blick­te eine wei­te mo­ras­ti­ge Flä­che, die mit See­gras über­zo­gen war. Da­zwi­schen la­gen Trüm­mer al­ter, ver­rot­te­ter Boo­te. Auf der einen Sei­te der Bucht stan­den ein paar schie­fe Häu­ser, die von ei­ner Müh­le über­ragt wur­den. Bla­ke er­kann­te auch die­se Stel­le nach den frü­he­ren Be­schrei­bun­gen sei­nes Freun­des so­fort.

»Das ist die alte Müh­le, von der Dick im­mer sprach. Dann muss also das große, schlos­s­ähn­li­che Haus auf der an­de­ren Sei­te der Bucht Mal­ve­ry Hold sein. Es sieht reich­lich al­ter­tüm­lich aus.«

Durch eine Ul­me­n­al­lee ritt er nun auf das fes­te Stein­haus zu, das aus dem sech­zehn­ten Jahr­hun­dert stamm­te. An man­chen Stel­len war es schon et­was ver­fal­len und ver­wahr­lost, mach­te aber im­mer noch einen ma­le­ri­schen Ein­druck. Als Bla­ke auf das Tor zu­ritt, kam ihm plötz­lich der Ge­dan­ke, dass das Haus leer­ste­hen könn­te, so tot und kalt wirk­te das Gan­ze. Aber aus ei­nem Ka­min stieg eine schwa­che Rauch­säu­le em­por, und nach­dem er an das Ei­chen­tor ge­klopft hat­te, er­schi­en wirk­lich ein al­ter Die­ner, der den Be­su­cher ver­wun­dert an­sah. Aber auch die­ser Mann war Bla­ke nicht fremd; er kann­te ihn schon aus vie­len lus­ti­gen Er­zäh­lun­gen sei­nes Freun­des und Ka­me­ra­den.

»Ist Mr. Richard Mal­ve­ry zu Hau­se?« frag­te er.

Der alte Mann trat einen Schritt zu­rück und hob die Hand, als ob er die Au­gen be­schat­ten woll­te, wäh­rend er zu dem Rei­ter auf­schau­te.

»Mr. Richard?« er­wi­der­te er dann kopf­schüt­telnd. »Frag­ten Sie nach Mr. Richard? Der ist in den letz­ten fünf Jah­ren nicht über die­se Schwel­le ge­kom­men.«

2

Bla­ke sah einen Au­gen­blick schwei­gend auf den son­der­ba­ren Al­ten her­un­ter, der ihm of­fen­bar miss­trau­te. Der Mann mit dem ver­run­zel­ten Ge­sicht trug einen alt­mo­di­schen Rock, der frü­her ein­mal sei­nem Herrn ge­hört ha­ben moch­te. Er hat­te we­der die Tracht ei­nes Haus­meis­ters noch die ei­nes Kut­schers; sie war eine Kom­bi­na­ti­on aus al­lem mög­li­chen.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sag­te Bla­ke plötz­lich. »Sie hei­ßen Ja­kob El­phick. Mr. Richard hat öf­ters von Ih­nen ge­spro­chen.«

Der alte Mann war be­stürzt und warf schnell einen Blick in die ver­las­se­ne, ein­sa­me Hal­le zu­rück, in der nur ein paar alte, wurm­sti­chi­ge Mö­bel stan­den. Es war nie­mand zu se­hen, aber er zog die Tür wei­ter zu.

»Wer sind Sie denn?« frag­te er scharf. »Sie ha­ben Mr. Richards Na­men ge­nannt, aber ich sage Ih­nen, dass man hier in un­se­rer Ge­gend in den letz­ten fünf Jah­ren nichts von ihm ge­se­hen hat.«

»Stimmt das wirk­lich?«

»Er ist in die wei­te Welt ge­gan­gen, und wir wis­sen nicht, wo­hin – er hat nie­mals ge­schrie­ben. Wie kommt es denn, dass Sie nach ihm fra­gen? Wer sind Sie ei­gent­lich?«

Bla­ke stieg lang­sam ab und be­fes­tig­te den Zü­gel sei­nes Pfer­des an dem al­ten Ei­sen­ring an der Tür.

»Ich ken­ne ihn und hoff­te ihn hier zu fin­den. Wenn er nicht da ist, dann möch­te ich gern sei­nen Va­ter, Sir Bri­an, spre­chen. Er lebt doch noch?«

El­phick blieb zwi­schen Bla­ke und der Tür ste­hen und schüt­tel­te den Kopf.

»Ob er lebt? Na­tür­lich lebt der alte Sir Bri­an. Aber er ist ge­lähmt und kann sich nicht be­we­gen. Er wird auch kaum ver­ste­hen, was ein Frem­der zu ihm sagt.«

»Kann ich dann Mr. Richards Schwes­ter spre­chen? Sie hö­ren doch, dass ich alle Fa­mi­li­en­mit­glie­der ken­ne. Sa­gen Sie Miss Mal­ve­ry, dass ein Freund ih­res Bru­ders, der mit ihm zu­sam­men in Al­ber­ta war, sie spre­chen möch­te. Mein Name ist Da­vid Bla­ke.«

Der Alte schüt­tel­te wie­der den Kopf.

»Al­ber­ta?« frag­te er skep­tisch. »Wo liegt denn das?«

»In Ka­na­da«, ent­geg­ne­te Mr. Bla­ke un­ge­dul­dig.

»Aber nun ge­hen Sie schon.«

»Ich kann ja Miss Ra­chel mel­den, dass Sie hier sind, aber da­mit ist noch lan­ge nicht ge­sagt, dass sie Sie emp­fan­gen wird. Heut­zu­ta­ge macht man hier kei­ne Be­su­che mehr. War­ten Sie hier, bis ich wie­der­kom­me. Da­vid Bla­ke ha­ben Sie ge­sagt? Ein Freund von Mr. Richard? Und – Sie glaub­ten, dass er hier wäre? Wie kom­men Sie denn nur dar­auf? Das ist doch der letz­te Platz, wo man ihn su­chen könn­te. Als er das Haus ver­ließ, ging er für im­mer weg.«

»Mel­den Sie mich jetzt end­lich sei­ner Schwes­ter«, sag­te Bla­ke ener­gisch.

El­phick schloss kopf­schüt­telnd die Tür, und Bla­ke hör­te, dass er von in­nen die Rie­gel vor­schob. Er war nun wie­der al­lein und be­trach­te­te das Haus, das in der Nähe viel ver­fal­le­ner und trau­ri­ger wirk­te. Er fühl­te, dass er hier vor ei­nem Ge­heim­nis stand.

Es ver­gin­gen ei­ni­ge Mi­nu­ten, be­vor Ja­kob El­phick wie­der in der Tür er­schi­en.

»Sie kön­nen her­ein­kom­men«, brumm­te er un­freund­lich. »Miss Ra­chel will Sie emp­fan­gen. Aber ge­hen Sie lei­se, Sir Bri­an darf nicht ge­stört wer­den.«

Bla­ke sah sich um, ob das Pferd auch si­cher an­ge­bun­den war, dann folg­te er sei­nem Füh­rer in die ge­räu­mi­ge Stein­hal­le. Es war in dem Raum so kalt wie in ei­nem Kel­ler. Of­fen­bar hat­te seit vie­len Jah­ren in dem großen Ka­min kein Feu­er mehr ge­brannt. Auch das Zim­mer, in das ihn der alte Mann führ­te, war nicht ge­heizt. Die Mö­bel wa­ren aus dunklem Ei­chen­holz, die Stüh­le ge­pols­tert und mit schwe­rem Le­der über­zo­gen. Es schi­en lan­ge nicht ge­lüf­tet wor­den zu sein, denn es herrsch­te eine dump­fe At­mo­sphä­re. Ein paar alte Ge­mäl­de hin­gen an den Wän­den, die Da­men und Her­ren aus der Zeit der Kö­ni­gin Eli­sa­beth zeig­ten. Alte Sil­ber­leuch­ter stan­den auf ei­nem schwe­ren Bü­fett, aber sie wa­ren blind und schwarz. Auf Vor­hän­gen und Gar­di­nen, Ti­schen und Stüh­len lag di­cker Staub. Der Raum glich fast ei­nem Ge­wöl­be. Durch die blei­ver­glas­ten But­zen­schei­ben der Fens­ter konn­te man auf das graue Meer hin­aus­se­hen, wo über bran­den­den Wo­gen die Mö­wen kreis­ten.

Bla­ke wand­te sich um, als er leich­te Schrit­te hör­te. Eine jun­ge Dame stand in der Tür­öff­nung. Bla­ke sah sie mit großem In­ter­es­se an und dach­te an das Bild, das Dick Mal­ve­ry von ihr ent­wor­fen hat­te, als sie ein­mal an ei­nem ein­sa­men La­ger­feu­er sa­ßen. Aber er er­in­ner­te sich auch so­fort dar­an, dass fünf Jah­re ver­flos­sen wa­ren, seit ihr Bru­der sie zu­letzt ge­se­hen hat­te. Ra­chel muss­te jetzt drei- oder vier­und­zwan­zig Jah­re alt sein. Sie war schlank und schön, hat­te aus­drucks­vol­le Züge, dunkles Haar und dunkle Au­gen. Sie sah Richard sehr ähn­lich, aber in ih­rem Blick la­gen Kum­mer und Sor­gen. »Sie fra­gen nach mei­nem Bru­der Richard?« be­gann sie so­fort, nach­dem sie den Frem­den durch ein flüch­ti­ges Kopf­ni­cken be­grüßt hat­te. »Ken­nen Sie ihn denn?«

Bla­ke sah über ihre Schul­ter auf den al­ten Ja­kob, der zö­gernd ste­hen­ge­blie­ben war. Ra­chel Mal­ve­ry dreh­te sich un­ge­dul­dig um.

»Ja­kob, ge­hen Sie hin­aus, und ma­chen Sie die Tür zu«, be­fahl sie.

Als El­phick ver­schwun­den war, wand­te sie sich Bla­ke zu. »Er ist alt und au­ßer­dem arg­wöh­nisch, weil Sie den Na­men mei­nes Bru­ders er­wähnt ha­ben.«

»Wis­sen Sie denn wirk­lich nichts von ihm?«

»Nein, wir ha­ben nichts von ihm ge­hört, seit­dem er vor fast sechs Jah­ren von hier fort­ging. Glaub­ten Sie, dass er hier wäre?«

Bla­ke nahm sei­ne Brief­ta­sche her­aus und blät­ter­te in den Pa­pie­ren.

»Das nahm ich be­stimmt an. Ich will Ih­nen auch er­klä­ren, warum. Dick war zwei Jah­re mit mir zu­sam­men, bis zum letz­ten Ja­nu­ar. Mit der Zeit wur­den wir sehr gute Freun­de, und er er­zähl­te mir viel von sei­ner Hei­mat. Ich über­re­de­te ihn schließ­lich, nach Hau­se zu­rück­zu­keh­ren, und er ver­ließ mich An­fang Fe­bru­ar in Ka­na­da, um die Rei­se nach Bry­che­s­ter an­zu­tre­ten. Ich weiß be­stimmt, dass er sich am 27. Fe­bru­ar die­ses Jah­res in die­ser Stadt auf­ge­hal­ten hat, und ich er­war­te­te na­tür­lich, dass er auch hier­her­kom­men wür­de.«

Ra­chel Mal­ve­ry zeig­te auf einen Stuhl und nahm selbst Platz. Sie be­ob­ach­te­te Bla­ke scharf, aber sie sah noch be­sorg­ter aus als vor­her.

»Wo­her wis­sen Sie denn, dass Richard am 27. Fe­bru­ar in Bry­che­s­ter war?«

»Bit­te, se­hen Sie her. Die­ses Te­le­gramm hat er mir ge­schickt. Es ist am 27. Fe­bru­ar um sechs Uhr abends in Bry­che­s­ter auf­ge­ge­ben. Le­sen Sie selbst: ›Bla­ke, Lone Pine, Al­ber­ta, Ka­na­da. Bin gut in der Hei­mat an­ge­kom­men. Dick.‹ Also muss er doch tat­säch­lich in Bry­che­s­ter ge­we­sen sein.«

Ra­chels Ge­sicht war bleich ge­wor­den, und ihre Hand, die das Te­le­gramm hielt, zit­ter­te.

»Sie ha­ben recht, es kann nicht an­ders sein«, sag­te sie schnell, »aber –«

»Hier sind noch mehr Be­wei­se«, fiel ihr Bla­ke ins Wort. »Bit­te, be­trach­ten Sie die­se bei­den An­sichts­kar­ten. Auf der einen ist die Ka­the­dra­le von Bry­che­s­ter und auf der an­de­ren das Markt­kreuz ab­ge­bil­det. Bei­de sind in Bry­che­s­ter ab­ge­stem­pelt, und zwar eben­falls am 27. Fe­bru­ar. Er hat sie ei­gen­hän­dig ge­schrie­ben, dar­an ist nicht zu zwei­feln. Auf der einen steht: ›Hier ist al­les noch un­ver­än­der­t‹, und auf der an­de­ren: ›Ich bin eben im Be­griff, nach Mal­ve­ry Hold zu ge­hen‹.«

Ra­chels Hand zit­ter­te noch mehr, als sie die bei­den Kar­ten nahm und auf die Hand­schrift starr­te. Plötz­lich sah sie Bla­ke angst­voll an.

»Wa­rum ist er dann nicht nach Hau­se ge­kom­men?« frag­te sie auf­ge­regt. »Er war doch in Bry­che­s­ter!«

Bla­ke war selbst rat­los. Das Ge­heim­nis, das Mal­ve­ry Hold um­gab, ver­dich­te­te sich im­mer mehr.

»Es ist son­der­bar, dass ihn nie­mand er­kannt hat. Er trug al­ler­dings einen Bart, aber er hat doch si­cher ei­ni­ge sei­ner Freun­de in Bry­che­s­ter auf­ge­sucht.«

Ra­chel Mal­ve­ry lach­te bit­ter auf, und Bla­ke sah sie be­trof­fen an.

»Freun­de! Ich glau­be nicht, dass Richard einen ein­zi­gen Freund in Bry­che­s­ter hat­te.« Plötz­lich hielt sie inne und warf ihm einen prü­fen­den Blick zu. »Wie viel hat er Ih­nen von sei­ner Ver­gan­gen­heit er­zählt?«

»Ich weiß, dass es ihm hier zu­letzt nicht gut ging«, gab Bla­ke zu. »Er hat mir viel da­von er­zählt. Der Bo­den wur­de ihm hier schließ­lich zu heiß, und er muss­te fort­ge­hen, weil er zu­viel Schul­den ge­macht hat­te. Aber er hat ja nun Geld mit­ge­bracht, um all die­se Schul­den zu be­zah­len. Und er hat es auf ehr­li­che Wei­se ver­dient. Ich möch­te nur wis­sen –«

»Was möch­ten Sie wis­sen?«

»Hof­fent­lich ist nicht ir­gen­det­was pas­siert. Es war al­ler­dings nicht sei­ne Ge­wohn­heit, Geld mit sich her­um­zu­tra­gen, aber er war im Be­sitz von zwei­tau­send Pfund, als er sich von mir ver­ab­schie­de­te.«

Ra­chels stei­gen­de Angst drück­te sich in ih­rem blas­sen Ge­sicht aus. Aber ihre Stim­me klang fes­ter, als sie sprach.

»Ich freue mich, dass er sei­ne al­ten Schul­den be­zah­len woll­te. Die Leu­te ha­ben so viel über ihn ge­re­det und so viel Schlech­tes von ihm ge­sagt, und mein Va­ter konn­te nichts da­ge­gen ma­chen. Sie se­hen ja, wie die Din­ge hier bei uns ste­hen. Wir sind arm, wirk­lich arm. Des­halb ist das eine Freu­den­bot­schaft für mich. Ist er auf Ihre Ver­an­las­sung hin nach Hau­se zu­rück­ge­kehrt?«

»Ja. Wir wa­ren zwei Jah­re lang Part­ner, und ich wuss­te, dass er Geld ge­spart hat­te. Ich riet ihm also, nach Hau­se zu ge­hen und all die­se un­an­ge­neh­men Din­ge aus der Welt zu schaf­fen. Ich sag­te ihm, dass der Erbe ei­nes eng­li­schen Barons­ti­tels nicht dau­ernd in der Wild­nis le­ben könn­te. Was mag aus ihm ge­wor­den sein, Miss Mal­ve­ry? In Bry­che­s­ter war er Ende Fe­bru­ar, aber wo­hin ist er dann ge­gan­gen? Eins steht je­den­falls fest. Ich wer­de ihn fin­den – le­ben­dig oder tot.«

»Sie glau­ben doch nicht, dass er tot ist?« rief sie.

»Wir wol­len es nicht hof­fen. Ich wer­de uns bald Ge­wiss­heit ver­schaf­fen. Auch ich bin erst vor ein paar Ta­gen nach Eng­land zu­rück­ge­kom­men – vor kur­z­er Zeit habe ich ein großes Ver­mö­gen ge­erbt. In Lon­don hat­te ich viel mit mei­nen Rechts­an­wäl­ten zu be­spre­chen, aber dann kam ich hier­her, so schnell ich konn­te, um Richard zu be­su­chen. In Bry­che­s­ter wird man doch be­stimmt sei­ne Spur auf­fin­den kön­nen.«

»Was wol­len Sie be­gin­nen? Wir müs­sen na­tür­lich auch et­was un­ter­neh­men; das heißt, ich muss es tun. Mein Va­ter ist ja voll­stän­dig ge­lähmt.«

»Über­las­sen Sie im Au­gen­blick al­les mir. Mei­ne An­we­sen­heit in Lon­don ist zu­nächst nicht mehr not­wen­dig. Ich blei­be gleich in Bry­che­s­ter und stel­le Nach­for­schun­gen an. Auf je­den Fall wis­sen wir, dass Richard zur Post ging, und au­ßer­dem muss er doch die­se An­sichts­kar­ten in ei­nem La­den ge­kauft ha­ben. Si­cher hat er auch sein Geld ir­gend­wo de­po­niert. Ich wer­de mich so­fort dar­an­ma­chen, durch Nach­fra­gen die­sen Punkt zu klä­ren. Kön­nen Sie mir einen gu­ten Rechts­an­walt in der Stadt emp­feh­len, bei dem ich mir Rat ho­len kann?«

»Ich kann Ih­nen nur mei­nen Vet­ter, Mr. Boy­ce Mal­ve­ry, nen­nen. Er ist Rechts­an­walt und No­tar in Bry­che­s­ter. Sein Haus liegt dicht ne­ben der Ka­the­dra­le.«

»Ich habe sei­nen Na­men schon ge­hört. Nun gut. Aber ich wer­de auch ver­su­chen, die Sa­che mit Hil­fe der Po­li­zei zu klä­ren. Darf ich wie­der­kom­men und Ih­nen be­rich­ten, wie es vor­wärts­geht?«

»Selbst­ver­ständ­lich! Sie kön­nen zu je­der Zeit kom­men, die Ih­nen be­liebt. Se­hen Sie selbst –« Sie wink­te ihm plötz­lich, ihr zu fol­gen, führ­te ihn aus dem Zim­mer und ließ ihn durch eine of­fe­ne Tür in einen an­de­ren Raum schau­en. »Das ist mein Va­ter«, sag­te sie lei­se. »Sie se­hen, in welch ei­nem trau­ri­gen Zu­stand er sich be­fin­det.«

Bla­ke späh­te vor­sich­tig in das an­gren­zen­de Zim­mer, wo ein al­ter Mann vor ei­nem hell­bren­nen­den Holz­feu­er saß. Er war in De­cken gehüllt, und sein Kopf zit­ter­te. Bla­ke wand­te sich takt­voll ab und sah Ra­chel mit­füh­lend an.

»Ja, ich ver­ste­he. Ich ver­spre­che Ih­nen, al­les zu tun, was in mei­nen Kräf­ten steht. Mor­gen kom­me ich wie­der.«

Ra­chel Mal­ve­ry be­glei­te­te ihn bis zum Hau­stor und sah ihm nach, als er da­von­ritt. Am Ende des Fahr­wegs, der zum Schloss führ­te, wand­te sich Bla­ke noch ein­mal um und schau­te zu­rück. Er hat­te in sei­nem Le­ben schon man­chen ein­sa­men, halb­ver­fal­le­nen Platz ge­se­hen, aber Mal­ve­ry Hold glich mehr ei­ner Rui­ne als ei­ner mensch­li­chen Wohn­stät­te.

3

Be­vor Bla­ke das Ende der Zu­fahrts­s­tra­ße er­reicht hat­te, schlüpf­te Ja­kob El­phick plötz­lich hin­ter ei­nem Ho­lun­der­busch her­vor und streck­te die Hand aus, um ihn an­zu­hal­ten. In Ge­sicht und Stim­me des Al­ten drück­te sich größ­te Er­re­gung aus.

»Ich habe ei­ni­ges von dem ge­hört, was Sie zu un­se­rer jun­gen Lady sag­ten«, be­gann er und gab da­mit ohne wei­te­res zu, dass er hin­ter der Tür ge­lauscht hat­te. »Se­hen Sie, ich muss auf al­les ach­ten, denn au­ßer mir ist nie­mand hier, der noch sorgt. Sie ist doch nur ein jun­ges Mäd­chen, und es sind kei­ne Män­ner mehr in der Fa­mi­lie. Sie sag­ten, dass Richard im ver­gan­ge­nen Fe­bru­ar in Bry­che­s­ter war. Stimmt das wirk­lich?«

Bla­ke blick­te den al­ten Die­ner prü­fend an, be­vor er ant­wor­te­te, und er er­kann­te, dass El­phick nicht aus blo­ßer Neu­gier­de frag­te.

»Sie kön­nen es mir glau­ben, er war dort.«

»Dann hat man ihn um­ge­bracht – er­mor­det! Ja, das ist der rich­ti­ge Aus­druck. Man hat ihn er­mor­det! Schon seit den Ta­gen sei­ner Kind­heit liegt ein Fluch auf ihm. Er­mor­det! Und man könn­te sa­gen, vor der Tür sei­nes Va­ter­hau­ses.«

Bei­na­he pack­te Bla­ke ein un­er­klär­li­ches Furcht­ge­fühl, als er sich von dem er­reg­ten Ge­sicht des al­ten Man­nes ab­wand­te und über die ein­sa­me Bucht schau­te, die sich vor ihm aus­dehn­te. Ein dunkles Schick­sal schi­en über die­ser Ge­gend zu las­ten. Wäh­rend sei­ner kur­z­en Un­ter­re­dung mit Ra­chel hat­te sich die­ser Ein­druck sei­ner be­mäch­tigt, und Ja­kob El­phicks düs­te­re Wor­te ver­tief­ten ihn noch mehr.

»Wer hät­te ihn denn er­mor­den sol­len?« frag­te er nach ei­nem kur­z­en Schwei­gen. »Ich weiß wohl, dass ihm hier der Bo­den un­ter den Fü­ßen brann­te, be­vor er fort­ging, aber ich hat­te nie den Ein­druck, dass je­mand ihn so hass­te, dass er ei­ner sol­chen Tat fä­hig ge­we­sen wäre.«

»Sie ha­ben ihn um­ge­bracht«, sag­te El­phick halb­laut zu sich selbst.

»Ich wer­de die Sa­che der Po­li­zei an­zei­gen, und au­ßer­dem su­che ich Boy­ce Mal­ve­ry auf.«

Ein son­der­ba­rer Aus­druck trat in das Ge­sicht des Al­ten, und ehe Bla­ke sich ver­sah, war El­phick wie­der im Ge­büsch ver­schwun­den und ant­wor­te­te auf sei­nen Ruf nicht mehr.

»Son­der­bar!« dach­te Bla­ke. »Ha­ben ihn mei­ne Wor­te so er­schreckt? Hier ist al­les so selt­sam und un­wirk­lich, und je eher ich die Po­li­zei be­nach­rich­ti­ge, de­sto bes­ser wird es sein. Hier müs­sen ener­gi­sche Maß­nah­men ge­trof­fen wer­den.«

*

Als er nach Bry­che­s­ter zu­rück­kam, hat­te er noch eine Stun­de Zeit bis zum Abendes­sen. Er frag­te des­halb so­fort nach der Po­li­zei­haupt­wa­che. Sie war nicht weit ent­fernt, und bald dar­auf saß er dem Po­li­zei­kom­missar Ather­ton in des­sen Büro ge­gen­über. Er leg­te ihm den gan­zen Sach­ver­halt dar und er­zähl­te auch von sei­nem Be­such in Mal­ve­ry Hold.

»Das ist ein son­der­ba­rer Fall«, er­wi­der­te Ather­ton, als er al­les ge­hört hat­te. »Und Sie sa­gen, dass er Geld be­saß?«

»Er hat­te un­ge­fähr zwei­tau­send Pfund, als er aus Ka­na­da ab­reis­te. Aber na­tür­lich hat er die nicht in der Ta­sche mit sich her­um­ge­tra­gen; sie la­gen auf der Ca­na­di­an Bank of Com­mer­ce.«

»Die hat in Lon­don eine Zw­eignie­der­las­sung. Da kann man leicht fest­stel­len, ob er eine grö­ße­re Sum­me bei sich hat­te, als er nach Bry­che­s­ter kam, wenn er wirk­lich hier ge­we­sen ist.«

»Wie hät­te er sonst das Te­le­gramm und die Post­kar­ten schi­cken kön­nen?«

»Könn­te das nicht ein an­de­rer ge­tan ha­ben, der be­stimm­te Grün­de da­für hat­te?«

»Aber auf den Kar­ten se­hen Sie doch sei­ne ei­ge­ne Hand­schrift! Er war un­be­dingt hier!«

»Es sieht al­ler­dings so aus. Aber nun kom­me ich auf et­was an­de­res. Mr. Richard Mal­ve­ry war doch so gut be­kannt in Bry­che­s­ter, dass er nicht hier­her­ge­kom­men sein kann, ohne ge­se­hen zu wer­den. Er muss­te doch zum Bei­spiel zur Post ge­hen, um das Te­le­gramm ab­zu­schi­cken. Die Post­kar­ten muss­te er in ei­nem La­den kau­fen, und bei sei­ner An­kunft muss­te er sich auf dem Bahn­hof zei­gen. Alle Post- und Ei­sen­bahn­be­am­ten und alle Ge­schäfts­leu­te hät­ten Richard Mal­ve­ry selbst nach ei­ner lang­jäh­ri­gen Ab­we­sen­heit so­fort wie­der­er­kannt. Und wenn ihn ei­ner ge­se­hen hät­te, wäre die Nach­richt von sei­ner Rück­kehr in ei­ner Vier­tel­stun­de im gan­zen Ort ver­brei­tet ge­we­sen!«

»Er hat­te sich aber einen Voll­bart ste­hen las­sen und sah nicht mehr jung, son­dern ge­reift und männ­lich aus. Wenn man fünf Jah­re in den wil­den Ge­gen­den Ka­na­das zu­bringt, ver­än­dert man sich schon ein we­nig. Und er führ­te ein rau­es Le­ben, be­vor er Teil­ha­ber auf mei­ner Farm wur­de.«

»Nun, das mag zu­tref­fen. Mor­gen früh te­le­gra­fie­re ich so­fort an die Nie­der­las­sung der Ca­na­di­an Bank of Com­mer­ce in Lon­don, und hier for­sche ich nach, ob ei­ner der Be­am­ten oder sonst je­mand Dick Mal­ve­ry ge­se­hen hat. Aber –«

Er zuck­te die Schul­tern und mach­te eine vage Hand­be­we­gung.

»Aber wenn das al­les ge­sche­hen ist«, nahm Bla­ke den un­aus­ge­spro­che­nen Ge­dan­ken auf, »dann sind wir wahr­schein­lich nicht viel klü­ger. Wir wis­sen dann im­mer noch nicht, wo er ist. Aus die­ser einen Post­kar­te ist je­den­falls deut­lich zu er­se­hen, dass er die Ab­sicht hat­te, nach Hau­se zu ge­hen. Aber dort ist er nicht an­ge­kom­men. Vi­el­leicht ist es das bes­te, wenn ich eine Be­loh­nung aus­set­ze. Dann be­kom­men wir si­cher ir­gend­wel­che Nach­rich­ten über ihn. Selbst wenn man nicht wuss­te, wer er war, muss man doch den ver­meint­li­chen Frem­den ge­se­hen ha­ben. Was mei­nen Sie dazu? Wäre es nicht gut, mor­gen früh eine Be­kannt­ma­chung in der Stadt an­schla­gen zu las­sen und dar­in die Be­loh­nung zu ver­spre­chen?«

»Das kos­tet aber Geld«, mein­te Ather­ton zö­gernd.

»Und wenn tat­säch­lich ein Ver­bre­chen vor­lie­gen soll­te, er­reicht man nur et­was, wenn man eine grö­ße­re Sum­me aus­setzt. Sonst kommt nichts her­aus.«

»Ich wer­de nichts un­ver­sucht las­sen, um Dick Mal­ve­ry zu fin­den«, er­wi­der­te Bla­ke fest ent­schlos­sen. »Ich bin reich; ich habe vor kur­z­er Zeit ein großes Ver­mö­gen ge­erbt. Es kommt mir auf Geld nicht an.« Er nahm sei­ne Brief­ta­sche her­aus. »Hier sind hun­dert Pfund, das wird fürs ers­te ge­nug sein. Las­sen Sie den An­schlag dru­cken.«

»Das ist ein prak­ti­scher Vor­schlag.« Ather­ton ver­schloss die Bank­no­ten in ei­ner Schub­la­de. »Zu­nächst schrei­be ich Ih­nen eine Quit­tung aus, und mor­gen früh kön­nen Sie den An­schlag schon über­all le­sen. Aber sei­en Sie nicht ent­täuscht, wenn wir da­mit kei­nen Er­folg ha­ben. Wenn Ja­kob El­phick mit sei­ner Ver­mu­tung recht ha­ben soll­te, dann ist das Ver­bre­chen si­cher in größ­ter Heim­lich­keit aus­ge­führt wor­den.«

»Wer könn­te denn als Tä­ter in Fra­ge kom­men? Hat­te er über­haupt sol­che Tod­fein­de?«

Der Po­li­zei­kom­missar lehn­te sich in sei­nen Stuhl zu­rück.

»Ich kann ge­ra­de nicht sa­gen, dass er Fein­de hat­te«, ent­geg­ne­te er nach­denk­lich. »Aber er hat hier ein ziem­lich wil­des Le­ben ge­führt und vie­le böse Strei­che be­gan­gen. Er war auch in Lie­bes­hän­del ver­wi­ckelt, und als er da­mals ver­schwand, ging all­ge­mein das Gerücht, dass es ihm schlecht ge­gan­gen wäre, wenn ein ge­wis­ser Ju­dah Clent ihn ge­fasst hät­te. Die­ser Ju­dah Clent ist ein See­mann, und sei­ne Schwes­ter Gil­li­an ist von Richard Mal­ve­ry schlecht be­han­delt wor­den. Ju­dah war un­ter­wegs, als Richard fort­ging, sonst hät­te es da­mals schon einen Zu­sam­men­stoß ge­ge­ben. Vi­el­leicht –«

Ather­ton be­en­de­te den Satz nicht und sah sei­nen Be­su­cher viel­sa­gend an.

»Sie den­ken dar­an, dass die bei­den in der Nacht nach Richards Rück­kehr an­ein­an­der­ge­ra­ten sein könn­ten?«. »Ganz recht. Ich muss fest­stel­len, wo Ju­dah Clent da­mals war. Die­se Cl­ents sind ganz merk­wür­di­ge Leu­te. Nie­mand weiß, was man von der Mut­ter, dem Sohn oder der Toch­ter hal­ten soll.«

»Woh­nen sie in Bry­che­s­ter?«

»Nein, sie hau­sen an der großen Bucht, an der man kurz vor Mal­ve­ry Hold vor­bei­kommt. Ich wer­de mich un­ter der Hand er­kun­di­gen. Aber es könn­te ja auch eine an­de­re Lö­sung ge­ben. Vi­el­leicht war Richard Mal­ve­ry so un­vor­sich­tig, eine große Sum­me mit­zu­neh­men und sie acht­los zu zei­gen. Es könn­te ihm je­mand nach­ge­schli­chen sein, um sich das Geld an­zu­eig­nen. Die Ge­gend zwi­schen Bry­che­s­ter und Mal­ve­ry Hold ist ein­sam, und die Fe­bruar­näch­te sind dun­kel. Auf je­den Fall müs­sen wir auch die­se Mög­lich­keit im Auge be­hal­ten.« »Ge­wiss. Wir wer­den noch an vie­les den­ken müs­sen. Wenn Sie sich mit mir in Ver­bin­dung set­zen wol­len oder mich brau­chen – ich bin im ›Kar­di­nals­hut‹ ab­ge­stie­gen, und ich will so lan­ge dort blei­ben, bis wir die Sa­che auf­ge­klärt ha­ben.«

Bla­ke ver­ab­schie­de­te sich. Ather­ton blieb noch eine Wei­le nach­denk­lich sit­zen, dann er­hob er sich und ver­ließ sein Büro, um Mr. Boy­ce Mal­ve­ry auf­zu­su­chen.

4

Po­li­zei­kom­missar Ather­ton ging auf ei­nes der al­ten Häu­ser zu, die in der Nähe der Ka­the­dra­le la­gen. Es war von ei­ner ho­hen Mau­er um­frie­det und von ei­nem Gar­ten um­ge­ben. Der gan­ze Platz hat­te et­was fei­er­lich Erns­tes, und der Lärm des All­tags schi­en nicht bis hier­her zu drin­gen. Un­ter dem Schutz die­ser al­ters­grau­en Mau­ern fühl­te man sich si­cher und ge­bor­gen. Un­be­wusst nah­men auch die Be­woh­ner die­ser Häu­ser et­was von dem Cha­rak­ter ih­rer Um­ge­bung an und zeich­ne­ten sich durch Ernst und Wür­de in Spra­che und Hal­tung aus. Bei den an­de­ren Bür­gern der Stadt gal­ten die Leu­te, die hier wohn­ten, als eine Art Ari­sto­kra­ten. Ru­hig und still war es auch in dem alt­mo­di­schen Wohn­zim­mer, in dem Mr. Boy­ce Mal­ve­ry mit sei­ner Mut­ter und de­ren Ge­sell­schaf­te­rin, Miss Hes­ter Pryn­ne, saß. Mrs. Mal­ve­ry strick­te, Miss Pryn­ne hat­te eine Hand­ar­beit im Schoß, und Mr. Boy­ce Mal­ve­ry las die Ti­mes. Ge­le­gent­lich sah er zu den bei­den Da­men hin­über und las ih­nen Ab­schnit­te aus der Zei­tung vor, die sie in­ter­es­sier­ten.

Ather­ton ver­kehr­te häu­fig in die­ser Fa­mi­lie. Als er ein­trat, hat­te er, wie schon so oft, den Ein­druck, dass die Leu­te in die­sem Raum aus­ge­zeich­net zu der al­ten Ein­rich­tung pass­ten. Mrs. Mal­ve­ry war eine große, auf­rech­te Frau, die sich trotz ih­rer Jah­re sehr gut ge­hal­ten hat­te. Sie hat­te einen ener­gi­schen Blick, und ihr schwar­zes Haar zeig­te nur we­ni­ge graue Fä­den. Miss Pryn­ne war ein hüb­sches jun­ges Mäd­chen, sah aber et­was scheu und furcht­sam aus. Sie hat­te ein stil­les und zu­rück­hal­ten­des We­sen. Und Boy­ce Mal­ve­ry trug einen schwar­zen Geh­rock, der eher der Mode der neun­zi­ger Jah­re als der heu­ti­gen ent­sprach. Er war etwa vier­zig Jah­re alt, hat­te schon seit lan­gem einen kah­len Kopf und hielt sich nicht ganz ge­ra­de. Eine un­ge­sun­de, graue Ge­sichts­far­be ließ sei­ne ver­trock­ne­ten Züge noch äl­ter er­schei­nen. Er war ein ru­hi­ger, re­ser­vier­ter und klu­ger Mann. Nie­mand wuss­te das bes­ser als Ather­ton.

Der Be­am­te fühl­te sich hier zu Hau­se und be­grüß­te die An­we­sen­den in fa­mi­li­ärer Wei­se. Dann nahm er auf dem Stuhl Platz, den ihm Mrs. Mal­ve­ry an­bot. »Sie kom­men ge­ra­de recht zu ei­ner Par­tie Whist,1 Cap­tain Ather­ton«, sag­te sie. »Ich war schon in Sor­ge, ob Sie über­haupt er­schei­nen wür­den.«

Der Kom­missar lä­chel­te und sah Boy­ce Mal­ve­ry an. »Ich weiß nicht, ob das heu­te abend ge­hen wird, denn ich kom­me ei­gent­lich in amt­li­cher Ei­gen­schaft. Die Sa­che ist nicht be­son­ders ei­lig und auch nicht ge­heim, denn mor­gen früh wer­den es alle Leu­te in der Stadt wis­sen. Aber da es auch Sie an­geht, woll­te ich es Ih­nen doch er­zäh­len. Ich habe Nach­rich­ten über Ihren Vet­ter er­hal­ten, Boy­ce.«

Mrs. Mal­ve­ry ließ ihr Strick­zeug in den Schoß sin­ken. Miss Pryn­ne, die den Kar­ten­tisch zu­recht­set­zen woll­te, blieb ste­hen und warf über die Schul­tern der al­ten Dame einen Blick auf Mr. Ather­ton. Hät­ten die an­de­ren drei sie in die­sem Au­gen­blick an­ge­se­hen, so wäre es ih­nen nicht ent­gan­gen, dass sie plötz­lich blass wur­de. Aber Mrs. Mal­ve­ry be­merk­te ge­ra­de zu ih­rem Ent­set­zen, dass sie eine Ma­sche hat­te fal­len las­sen. Ather­ton sah den No­tar an, aber der las noch schnell sei­nen Ar­ti­kel in der Ti­mes zu Ende. Dann schau­te er mit gleich­gül­ti­gem Ge­sicht auf.

»Sie ha­ben et­was von ihm ge­hört?« frag­te er in sei­ner lang­sa­men und et­was nä­seln­den Art. »Das ist ja in­ter­essant. Von wel­chem mei­ner Vet­tern spre­chen Sie denn ei­gent­lich?«

»Das wis­sen Sie doch ge­nau! Na­tür­lich von Richard!« Boy­ce nahm sei­ne Bril­le ab und leg­te sie auf die Zei­tung.

»Neu­ig­kei­ten von Richard? Nun, ich bin sehr be­gie­rig.«