Der Wahnsinn nimmt ein Ende - Dietrich Sternberg - E-Book

Der Wahnsinn nimmt ein Ende E-Book

Dietrich Sternberg

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Beschreibung

Der erste trauma-psychologische Roman Deutschlands, eine ungewöhnliche Verarbeitung heikler Menschheitsthemen. Vier gereifte spirituelle Sucher, kriegs- und tropenerfahren als Ärzte und Psychotherapeuten, planen im indischen Ashram ihr Entwicklungsprojekt für Schwarzafrika. Es läuft alles anders als gedacht. Brutale Milizen entführen sie, Misshandlungen und Folter folgen, bis sie gerettet werden und Heilung möglich wird. Ein atemberaubendes Puzzle der wilden Werdegänge einer zerrissenen Nachkriegsgeneration. Hautnahe Ausflüge in die Welt der modernen Traumatherapien. Ein berührendes Kaleidoskop an Konzepten und Einblicken in die Therapiesitzungen des weiblichen Team-Mitgliedes.

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FÜR BEN, MEINEN BRUDER

Keiner von uns kommt hier lebend raus. Also hört auf, Euch wie ein Andenken zu behandeln. Esst leckeres Essen. Spaziert in der Sonne. Springt ins Meer. Sagt die Wahrheit und tragt Euer Herz auf der Zunge. Seid albern. Seid freundlich. Seid komisch. Für nichts Anderes ist Zeit.

Das Zitat wird Sir Anthony Hopkins zugeordnet. Er ist bekannt als genialer Schauspieler in u.a. Das Schweigen der Lämmer (Hannibal Lecter) und zweifacher Oscar-Preisträger.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

TEIL I: WIE ALLES ANFING IT‘S A LONG WAY

IM NEUEN JAHRTAUSEND

HINTER GITTERN

DER RUHRPOTT PRÄGT

I NEED LOVE NOT PAIN

GEHIRNPUDDING

WAS SOLL DAS GANZE?

LET‘S CHANGE THE WORLD

KURDISTAN – AFGHANISTAN

TRIPPING

HEIßE KARIBIK ANAL

IT IS WHAT IT IS UND ES IST GUT GENUG

MALAYSIA

CHAOS

INNENSCHAU

IM SYSTEM WER SCHWEIGT, IST MITSCHULDIG

VIKTORIASEE

AFRIKA

INDIA, MY LOVE ICH WAR‘S NICHT

ENDSTATION NEUKÖLLN

AM ANFANG WAR DAS REDEN

DER RUF DER TROPEN

TEIL II: SHIT HAPPENS

LAGER 1 AFRIKA

ABENDS BEIM COMMANDER

FINGERZEIG

KATER UND QUALEN AM ÄQUATOR

AMINATA

SELF HELP

STILLE & GETÖSE

HIER KOMMT KEINER LEBEND RAUS

BLUTIGE DIAMANTEN

ICH WILL DIESEN WEG ZUENDE GEHN, ICH WEISS, WIR WERDEN DIE SONNE SEHN WENN DIE NACHT AM TIEFSTEN IST, IST DER TAG AM NÄCHSTEN

INS LEBEN KOMMEN

MIT CLARA AM KUDAMM UND WEITERE RESSOURCEN

IBRAHIM‘S STORY

CUTTING

FLUCHTGEDANKEN

DURCH DIE JAHRZEHNTE

HIGH NOON

TEIL III: SHIFT HAPPENS

BEFREIUNG

APRÉS

MUTLU

ALLE ZEIT DER WELT

SESSIONS

BELLA AM STRAND

AUF DER HUT

JUSTIZ

SECOND WIND

TEIL IV: DANKE

DIE SEELE UND MEHR

FRAUENPOWER

DIE WAHL

YIPPIE

DUNKELHEIT

DER SENSENMANN

AUFBRUCH

SCHULD & KONSORTEN

ES GEHT WEITER

AM ENDE IST ALLES GUT – WENN ES NICHT GUT IST, IST ES NOCH NICHT DAS ENDE

WAS AM ENDE ZÄHLT

KID‘S REPUBLIC – WE ARE READY

LAST LECURE

DIE ZWIEBEL

LAND IN SICHT – DIE LANGE REISE IST VORBEI

LIEBE IST DIE ANTWORT

EPILOG

QUELLENANGABEN

PROLOG

Der Apfelbaum mit seiner ausladenden Krone zum Raufklettern war der ideale Rückzugsort in meiner Kindheit. Täglich streunte ich im hinteren Teil des riesigen Gartens herum und thronte stundenlang auf der Spitze dieses Baumes, der meine Phantasie beflügelte. Er war ein Versteck, ein Flugzeug, ein Heiligtum – nur für mich allein. Wenn mir in den ersten Grundschuljahren in der Schule alles zu viel wurde und ich in den Pausen Ruhe und Kraft schöpfen wollte, dann schlich ich mich aus dem Schulhof und rannte schnell nachhause, schlüpfte unbemerkt durch die Gartenpforte und genoss ein paar Minuten das Sitzen auf dem Baum. Dann flitzte ich zurück. Mission completed.

Solche Ressourcen fand ich immer wieder. Als Teil der zerrissenen Nachkriegs-Generation faszinierten mich die dunklen Seiten der menschlichen Existenz. Gleichzeitig lockten die Genüsse und Wohltaten der Welt, die sich mir darboten. Als Chronist tiefer Verletzungen mute ich mir und der Lesergemeinde einiges zu, wobei der Blick immer wieder auf den Wunsch zurückkommt, uns auf der glücklichen Seite des Lebens anzusiedeln.

Unsere Fähigkeit einander zu vernichten entspricht unserer Fähigkeit einander zu heilen (Bessel van der Kolk). Der Moloch des Bösen und Entsetzlichen kann den Urkräften der Heilung nicht standhalten. Kaputt und wieder zurück. Das geht. Wir müssen es nur wollen.

Wir werden den vier männlichen Gestalten von den Nachkriegsjahren aus durch die verschlungenen Achterbahnen ihrer Lebensläufe folgen: Fragmente, Blitzlichter, Vignetten ihrer Suche nach Intensität und neuen Lebensformen. Bis sie sich im Ashram in Indien begegnen, Lehrzeiten durchlaufen, mit den modernen Traumatherapien in Kontakt kommen, diese auszuüben lernen und im Unheil der afrikanischen Wildnis landen.

Vom Apfelbaum durch die Finsternis zum Strand. Wird es zwischendurch zu heftig und krass: weiterblättern. Teil 2 und Teil 3 liefern die Ernte. Der Wahnsinn pausiert, die Wolken ziehen weiter.

TEIL I WIE ALLES ANFING IT‘S A LONG WAY

IM NEUEN JAHRTAUSEND

Endlich tuckerten sie im westafrikanischen Dreiländereck von Guinea, Sierra Leone und Liberia auf Lehmpisten ihrem geplanten Einsatzort entgegen: Peter, Richard, Aaron und seine Freundin Bella mit ihrem kleinen Äffchen Attila auf der Schulter sowie Thomas. Attila würde sehr viel später in anderer Form wiederauftauchen. Sie hatten ihr europäisches Zuhause erst mal beiseitegelegt, um neue Gefilde zu entdecken.

„It`s safe. Keiner will was Böses von uns. Unser Auftrag ist humanitär. Wir haben die UN-Standarten vorne auf den Kotflügeln, Rotes Kreuz und Roter Halbmond an den Seitentüren, Presseabzeichen an der Windschutzscheibe. Wir sind Weißnasen, haben keine Waffen, wenig Geld, keine Diamanten, keine Rolex-Uhren, nur ein paar Kameras. Uns tut keiner was.“

Thomas hatte eine große Klappe riskiert. Überfälle auf den Landstraßen hatte es seit Wochen nicht mehr gegeben. Die Überlandtransporte von Lebens- und Arzneimitteln waren gut durchgekommen. Die Rebellen hatten sich nach Süden zurückgezogen, das ganze Land war kriegsmüde. Sie bekamen Geleitschutz für ihren kleinen Konvoi. Die UNO wollte zwei Land Rover mit je drei Blauhelm-Soldaten aus Bangladesch stellen, die zentrale Militärregierung einen Pick-up mit vier Soldaten vom Spezialkorps und aufmontiertem Maschinengewehr.

Bei der Abfahrt frühmorgens erschienen dann ein Land Rover mit zwei Blauhelmen und ein LKW mit einem der legendären AK-47–Maschinengewehre auf der Ladefläche, in dessen Führerhaus sich drei gelangweilte junge Rekruten räkelten. Nach viel Warterei und Telefonaten wurde es früher Nachmittag und höchste Zeit loszufahren, um noch vor Einbruch der Dunkelheit in dem Provinzkaff beim Tribal Chief aufzutauchen und Freundlichkeiten auszutauschen. Das gehörte zur lokalen Etikette und sollte auch durch eine kleine Spende aufgehübscht werden.

„Fuck it, wir fahren los.“

Noch einmal aufschieben war nicht angesagt. Schon dreimal hatten sie gewartet, sich geärgert. Mussten wieder sinnlos am lauwarmen Hotelpool rumhängen. Ihre Projekte wollten sie vor der Regenzeit zumindest ansatzweise beginnen. Die jeweiligen Zentralen und Chefetagen scharrten mit ihren blankgeputzten Schuhen. Die PR-Abteilungen drängelten und verlangten nach bunten, Aufmerksamkeit heischenden Fotos und Mitleid erregenden Berichten. Das Elend der Welt der Kriege und Katastrophen wollte ausgeschlachtet werden. Ihre wichtigen, gut bezahlten Drehsessel mussten sich refinanzieren und weiterdrehen. Kongresse, Geschäftsessen, Veröffentlichungen dürsteten nach Blut, Epidemien und Massakern, Genozid, Intrigen, Beschuldigungen, Aufdeckungen. So frisch wie möglich und nicht geronnen.

Die Teerstraße war hitzeweich und voller kleinkindgroßer Schlaglöcher. Marode LKWs konkurrierten um Platz mit Pferde- und Ochsen-Fuhrwerken, Kolonnen von Menschen vollgepackt mit Waren aller Art auf Köpfen und krummen Rücken. Kreuz und quer schlingernde Motorräder mit ganzen Familien drauf. Das übliche Chaos. Straßensperren, die noch Respekt vor ihren offiziellen Papieren, Stempeln und Ausweisen hatten und ihre Weißnasigkeit nicht in Frage stellten. Trotzdem dauerte es. Die äquatoriale Hitze, der Alkohol, die Neugier, die Wichtigtuerei der Soldaten forderten ihren Tribut. Ein paar Fünfdollar-Scheine gaben dem Ganzen etwas Schmiere und Tempo.

Ein paar Stunden später waren der Teer durch Schotter ersetzt und die Schlaglöcher noch tiefer und ineinander übergehend. Die letzte Straßensperre war spärlich besetzt, die Wachhabenden der Tageszeit gemäß reichlich angetrunken und stoned und impertinent. Sie wollten sie nicht weiterfahren lassen.

„Too dangerous, sorry, no way.“

Richard nutzte die Chance, seinen Kehlkopf zu reinigen und Dampf abzulassen, indem er ein bisschen rumschrie, was gelangweilt in der feuchten, dicken Luft verpuffte. Erst Zehndollar-Scheine brachten den Durchbruch, und es ging weiter.

Auch sie gönnten sich jetzt ein paar Joints. Die Begleitkommandos waren schon länger dabei und halbwegs relaxed. In zwei Stunden würden sie endlich an der Bar des runtergekommenen Provinzhotels abschlaffen, die lokalen Prostituierten begutachten und abwimmeln. Leichten Herzens. Sie wussten um die Bakterien und Viren, die nicht nur durch die Fernfahrer durch die Länder getragen wurden und selbst die minderjährigen Mädchen auf den Barhockern nicht verschonten. In ihren Schulungen hatte es geheißen:

„Don`t drink, don`t drive, don`t date.“

Die Sonne sank tiefer, die Farben intensivierten sich, der Staub verklebte trotz röhrender Klimaanlage alle Hautritzen und -runzeln. Vogelgeräusche wetteiferten mit dem Dröhnen der Motoren. Die Rücken leisteten den Schlägen der abgerockten Stoßdämpfer vergeblichen Widerstand. Die uralten Stoßdämpfer verwechselten Federung mit Weiterleiten der Straßenschäden direkt ins Muskel-Skelett-System. Es tat einfach nur weh.

Das Beste war an Sex zu denken, den Fokus auf die vordere Körperseite zu verlagern. Oder abzustumpfen und an gar nichts zu denken, was wundersamer Weise möglich war. Wegnicken, wieder von unten getreten und geschlagen werden, rausgucken und die träge Landschaftskulisse nach Interessantem abgrasen, was es aber nicht gab. Das kam einem halb komatösen Zustand nahe. Sie fielen in sich zusammen. Ein kleiner Bewusstseinsfunke glimmerte irgendwo.

Der Fahrer sprach seit langem nicht mehr, schien aber einigermaßen wach. Keiner hatte Speichel übrig, um in den Pinkelpausen ein Gespräch oder so was Ähnliches zu initiieren. Alle waren auf Sparmodus, selbst das Urinvolumen schrumpfte auf ein Minimum. Eigentlich war dieses vorwärts zuckeln, dumpf brüten und teilnahmslos leiden gar nicht so unangenehm. Sie ruckelten durch die Wildnis und genossen alle möglichen Arten von Grün der üppiger werdenden Vegetation.

Bis vor ihnen ein riesiger Blitz aufflammte. Der UN-Land Rover mit seinen Blauhelmen verschwand. Knallen und Gedröhn. Schreie. Staubwolken, Staub überall. Es wurde dunkel. Dann Nacht. Tödliche Stille. Man hatte sie erwischt.

Irgendwas bewegte sich unter ihm. Was Weiches und Feuchtwarmes, irgendwas animalisch Unheimliches. Was war hier los? Träumte er? Dann wieder Schwärze.

What-the-fuck, was ist hier los? Peters Verstand kroch wieder an die Oberfläche.

Wo bin ich? Ihm war kotzübel. Wo er seinen Kopf vermutete, hämmerte und schrillte es, als ob ein Hubschrauber in ihm steckte und führungslos trudelte. Die Rotoren schabten von innen am Schädelknochen. Irgendwer hatte ihn in einen engen Sarg gezwängt.

Es wurde etwas heller, und er sah den fleckigen Schritt zwischen den Beinen eines schwarzen Mannes, dessen Hose viel zu weit war. Der stand über ihm und spuckte ihn an. Jemand anderes trat ihm in die Seite. Die merkwürdige Masse unter ihm stöhnte.

„Wo ist Bella?“ Die Stimme kam ihm bekannt vor. Sie ähnelte der von Aaron.

„Da haben wir einen hübschen Fang gemacht. Das bringt richtig cash. Fünf Musungu`s. Der Commander wird`s lieben, besonders das Weibchen. Lebt der Typ da vorne noch?“

„Stech ihn mal an. Dann wirste sehen.“ Ein schrilles Quieken wie auf dem Schlachthof folgte.

Peter war sich nicht sicher, ob er alles richtig verstand. Das Kreisen im Kopf glich jetzt einer Geisterbahn bei Stromausfall. Kontrolle war anders. Er versuchte, sich nach rechts oder links zu drehen. Ging nicht.

Er sagte sich: „Ich scheine zu leben. Atme, atme.“

Irgendwann hob ihn jemand hoch, er schrie vor Schmerzen. Beide Arme brannten wie Kohle im Kamin, wenn gestochert und geblasen wurde. Dann fühlte er was Metallisches unter sich und verlor das Bewusstsein.

HINTER GITTERN

Nach dem großen Krieg, 50-er Jahre Peter

Fahles Herbstlicht fiel durch die Gitterstäbe. Im schwachen Sonnenstrahl tanzten Staubpartikelchen. Die Heizkörper rauschten vor sich hin. Nebenan drangen leise Geräusche aus der kleinen Küche. Dort war auch Zwockel, Peters älterer Bruder, und spielte mit bemalten Holzklötzchen. Vom Gefängnistrakt in Hamburg-Fuhlsbüttel schallte die übliche verzweifelte Kulisse aus Zurufen, Schritten und Befehlen herüber. Es war eng in der Wohnung. Schon der Geburtskanal war eng gewesen, sodass der Geburtshelfer mit der Zange nachgeholfen hatte. Er lag in seiner Babykrippe.

Spätabends klingelte es an der Wohnungstüre. Papa war zurück. Sein beiger Anzug war leicht verknittert, der Frisur-Scheitel gerade wie immer. Die heutigen Exekutionen im Gefängnishof waren bedrückend gewesen, und er fühlte sich matt und müde. Die englische Besatzungsregierung verhielt sich fair, aber die Urteile der Nachkriegsjustiz waren schnell und hart. Ein Geistlicher musste immer dabei sein.

„Herr Pfarrer, heute 16h, 17h und 18h, drei Vollstreckungen. „You`ll come?”

„Yes, Sir.“

Hier im Viertel standen die meisten Häuser noch. Die Arbeiterviertel wie Hamm oder Wilhelmstadt waren kaputt. Hamburg war nicht mehr wiederzuerkennen, hunderttausende Wohnungen zerstört und zigtausend Tote. Die Bombenteppiche hatten die Vergeltung gebracht. In den protzigen Villen in Blankenese und an der Alster residierten nicht mehr Reiche und Nazis, sondern höhere britische Militärs.

Dem Vater war kalt. Die Bilder der Erschießungen waren noch frisch. Ihn gruselte. Den Krieg hatte er überlebt.

Einmal in den fünf Jahren als einfacher Soldat hatte er zur Waffe greifen müssen: Zu Kriegsende begegneten ihm feindliche versprengte Soldaten im Balkan, die er Gewehr im Anschlag verhaftete und ablieferte. In der Truppe war er meist alleine, las viel, schrieb abends. Er war bekannt als Pastor und bekam Aufgaben, wie Tanklaster unter feindlichem Artilleriebeschuss an die Front zu fahren. Als alles vorbei war, schlug er sich mit seinem Kameraden Carlo Zardini, der der kollabierten italienischen Armee entkommen war, in die amerikanisch besetzte Zone durch. Irgendwo fanden sie zwischendurch eine verwaiste Dampflokomotive, die ihnen ein gutes Stück weiterhalf. Carlo konnte gut organisieren. Die Auflösung der Armeen und die Millionen an Vertriebenen überschwemmten Europa. Der Vater fand Unterschlupf bei betuchten Verwandten am Starnberger See.

Dass der jetzige Präsident des Obersten Gerichts der britischen Zone 1933 als Jude nach England emigriert war, wusste er nicht. Er wusste auch nicht, dass dessen Schwester 1942 sieben Monate nach ihrer Deportation im KZ Theresienstadt verstorben war. Verniedlichend wurde es Ghetto genannt. Sie war ledig und Frauenrechtlerin und schutzlos. Gestalten wie Göring tönten: Wer Jude ist, bestimme ich. Er wusste auch nicht, dass der englische Jurist und die Ermordete direkte Vorfahren seiner Frau waren. Ihr 1833 geborener Großvater war noch jüdischen Bekenntnisses gewesen.

Über so was wurde geschwiegen. 2013 wurde für die Großtante ein Stolperstein vor ihrem Haus in Berlin-Zehlendorf verlegt. Auf der Todesfallanzeige hatte der Lagerarzt als Todesursache Debilitas cordis – Herzschwäche notiert.

„Papa, spielen!“ Der ältere Sohn heischte nach Aufmerksamkeit. Das Essen war bereit.

„Reinhard, komm essen, es gibt Stampfkartoffeln mit Buttermilch.“ Das war Papas Lieblingsessen aus der Zeit vor der Vertreibung aus Pommern

„Danke, das kann ich jetzt gebrauchen.“ Schon wollte er das Radio anstellen. Brahms war im Programm.

„Reinhard, die Kinder sind dabei. Erst essen.“ Das Essen war schnell reingeschlungen. Er drehte das Radio auf volle Lautstärke. Die Bilder vom Nachmittag verblassten ein wenig, wollten aber nicht ganz verschwinden. Er roch nach Stressschweiß.

Zwei Zigarren später, auf der Couch liegend gepafft, schliefen die Kinder. Beethoven war Brahms bei gleicher Lautstärke gefolgt. Mit den Armen dirigierte er. Judith setzte sich ihm schräg gegenüber. Im Minutentakt wurde es heller im Raum, wenn die Scheinwerfer von den Gefängniswachtürmen an den Fenstern vorbeistreiften. Die Arbeit mit den Zuchthäuslern war herausfordernd. Sie kamen gerne in seine Gottesdienste. Er war freundlich mit ihnen, und es war eine Abwechslung im tristen Alltag.

Wenn er von Agape sprach, der selbstlosen Liebe, der göttlichen Liebe des neuen Testaments, erntete er Grinsen und Lachen. Liebe und Sex waren Synonyme für sie, sie tauschten Witze und ordinäre Zoten aus. Er versuchte, sie auf das Leben nach dem Knast vorzubereiten und gründete einen Unterstützungsverein. Das war Neuland. Gesellschaftliche Unterstützung für die Bösewichte gab es nicht. Der Wiederaufbau des zerstörten Landes und die Eingliederung von Millionen herumirrenden Flüchtlingen und Vertriebenen verschlangen alle Ressourcen.

„Reinhard, wir brauchen eine andere Bleibe mit mehr Platz als hier im Hamburger Knastbereich. Außerdem würdest du als Gemeindepfarrer mehr verdienen.“

„Ja, sobald Harald aus der POW-Haft entlassen wird.“ Sein jüngerer Bruder Harald war immer noch POW, prisoner-of-war, Kriegshäftling.

„Ich habe etliche Briefe an Bischöfe und Gemeinden in der amerikanischen Zone geschrieben. Ich kenne einige Großkopfete, und mein früherer Superintendent aus Pommern hat mir Empfehlungsschreiben für die entsprechenden Kirchengremien ausgestellt.“

Sein Bruder wog nur noch 56 Kilogramm statt seiner 78 Kilogramm vor dem Krieg. Die polnische Militärjustiz hatte ihn 1945 nach der Kapitulation verhaftet. Er war technischer Direktor einer kriegswichtigen Industrieanlage im damaligen Pommern gewesen; sie hatten optische Instrumente für Panzer und Flugzeuge produziert. In der Fabrik hatten auch Zwangsarbeiter geschuftet. Der Strick als Nazi-Kollaborateur war ihm sicher.

Beim Prozess in Warschau sagten Haralds Untergebene für ihn aus, dass er sie immer fair behandelt hätte. Jetzt war die Exekution nicht mehr unausweichlich, aber der Abtransport in ein Kriegsgefangenenlager drohte. Während einer Verhandlungspause im Gericht musste er zur Toilette, kam aber nicht zurück; am Hinterausgang stand ein Taxi für ihn. Ein gefälschter Pass für viele Dollars brachte ihn über die grüne Grenze in die englische Besatzungszone.

Diese Geschichte lieferte Peter ein Modell für eine schwierige Situation im Chaos Afrikas eine Generation später.

Harald wurde wieder verhaftet und landete nach endlosen Verhören im POW-Lager, das vorher ein Nazi-KZ gewesen war.

„Was genau haben Sie in Polen gemacht?“ „Was wussten Sie über die Kriegsverbrechen?“

„Was sagt Ihnen der Begriff Auschwitz? Das war doch ganz in Ihrer Nähe?“

„Wer arbeitete in Ihrer Fabrik?“

Harald wurde zwei Jahre später entlassen und bekam drei Kinder. In seinem weiteren Leben redete er nicht mehr viel. Seine Witwe war eine der freigeistigsten Menschen ihrer Generation; sie war stets neugierig auf neue Ideen und Spiritualität. Die Verteufelung der frühen Atomgegner, die bei den Demonstrationen in Brokdorf ihre Köpfe hinhielten, oder die Stigmatisierung der nach Indien pilgernden Sinnsucher waren ihr ein Gräuel. Sie hatte stets ein offenes, liebevolles Ohr für Peter.

DER RUHRPOTT PRÄGT

50-er / 60-er Jahre Peter

Im Ruhrpott der 50-er Jahre zeichneten sich die Konturen der vielen Zechen wie Scherenschnitte gegen den dunkelblauen Abendhorizont. Die großen Räder für die Aufzüge und Transportbänder bewegten sich träge. Hier hatte Deutschlands Reichtum begonnen. Kohle als fossiler Energieträger hatte die Entwicklung der Schwerindustrie und Stahlverarbeitung ermöglicht. Die Hochöfen standen nie still und spien ihre Höllenfeuer.

Die Familie Krupp hatte für Hitlers Armee die Tötungsmaschinerie gebaut und war steinreich geworden. Thyssen dito. Auch unter Adenauers Wiederaufbau-Renaissance waren sie hochangesehen und wurden aus Steuergeldern subventioniert.

Riesige Dampfwolken türmten sich weißgrau zuhauf. Bunte giftgrüne und schwefelrote Farbmischungen changierten. Alles ging ungehindert in die Atmosphäre. Die Bevölkerung atmete tief auf, und das ganze mit Staub vermischte Gift drang in ihre unschuldigen Lungenbläschen ein. Deutschland produzierte wieder. Später sah Peter ähnliche Dreckschleudern in Ländern wie Indien und China. In den Schwellenländern entstanden im Wochenrhythmus neuartige Toxine. Sie ahmten die entwickelteren Nationen ungehemmt und geist- und gnadenlos nach.

„Wir müssen unsere Wäsche drinnen aufhängen, draußen wird alles voller Ruß“, ärgerte sich Peters Mutter.

„Dafür haben wir aber hier in Mülheim-Ruhr ein neu gebautes Pfarrhaus, einen riesigen Garten, eine Garage mit Volkswagen-Käfer, ein Gemeindehaus nebenan, gutes Gehalt, Telefon gratis.“

„Die Kinder haben schon wieder in den Mülltonnen gewühlt und verschimmeltes Brot gegessen.“

Judith erinnerte sich an die Lager, über die niemand sprach. Ihre Großtante Margarethe hatte man in Theresienstadt ermordet, sie hatte der Unterernährung und den Epidemien keinen Widerstand leisten können. Nach der Bombardierung Münchens hatte Judith im Krankenhaus als urologische Assistenzärztin gearbeitet. Das galt als Schwerstarbeit, und sie hatte Extra-Essensportionen bezogen. Die schlechten Jahre gingen gerade zu Ende. Was davor geschehen war verschwand unter dem Leichentuch des Schweigens. Es gab weniger Bettler im Straßenbild, Nissenhütten aus Lehm und Wellblech verrotteten. Brandneue Kaufhäuser verschandelten die Innenstädte, und man zog reizlose, lieblose und leblose Neubausiedlungen hoch. Die zig-millionen Flüchtlinge bekamen mehr oder weniger neue Lebenschancen.

„Wen laden wir heute zum Essen ein?“, fragte die Mutter.

„Vielleicht Prof. Sowieso oder Direktor Dingsbums, die haben gute Verbindungen. Sie sind keine Neureichen oder Subalterne.“ Der alte Hochmut keimte wieder auf.

„Wo wollen wir im Sommer Urlaub machen?“

„Ich fahre im Winter zum Ärztekongress nach Davos und mache gleichzeitig Ski-Urlaub. Der Kleine kommt mit, die Steuerersparnis trägt seine Kosten.“

Es gab schlaflose Nächte, als sich in Korea chinesische und amerikanische Soldaten gegenüberstanden. Kommt ein neuer Krieg, der dritte Weltkrieg? Zahllose Zigaretten, brennender Magen, Kaffeekränzchen, volle Gottesdienste, saugende Gemeindemitglieder prägten die Tage. Ältere Damen mit Dutt auf dem Kopf umschwärmten den Vater: Herr Pfarrer...

Die Großmächte USA und UdSSR erprobten auf den Weiten ihrer Kontinente ober- und unterirdisch neue Nuklearwaffen. Die Weltpresse störte sie kaum dabei. In den späteren Jahrzehnten des Kalten Krieges eskalierte der Wahnsinn, und sie deponierten SS-20-Raketen in der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, und Pershing-Raketen in der Bundesrepublik. Mit diesen Mittelstreckenraketen, die Atomsprengköpfe trugen, bedrohten sie Deutschland als nächsten Hauptkriegsschauplatz. Es gab genug Waffen für einen atomaren Overkill. Der legendäre Rockmusiker Udo Lindenberg sang unermüdlich dagegen an. Andere zogen zu Hunderttausenden vergeblich protestierend durch die Straßen.

„Fliegen wir dieses Mal per Flugzeug in Urlaub?“

„Welches neue Auto sollen wir kaufen?“ Korea war weit weg.

Die Angst äußerte sich in harten Nacken, steifen Rücken, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Bauchschmerzen und Nervosität. Im Ruhrpott wurde gut Geld verdient, viel gegessen und man stellte sich nicht so an. Der Liedermacher Franz Josef Degenhardt hatte die Pseudo-Idylle des etepeteten, überkandidelten Bürgertums besungen: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder...“ Aber genau das wollten sie, das war spannend. Peter wuchs heran.

Die beiden Jungs bestaunten das Lichtspiel der Industrieabgase und flammenden Hochöfen am Abendhimmel. „Komm, lass uns rausgehen.“ Der Größere war gelangweilt. Die Kriegsruinen lockten.

„Da dürfen wir aber nicht rein.“ Der Kleinere zögerte. Ältere Kinder jonglierten auf den wackligen Restmauern, bauten Rutschen aus alten Regenrinnenblechen.

„Wir probieren das mal.“

„Nee, ich habe Schiss, das dürfen wir nicht. Das ist gefährlich. Da sind schon Kinder verschwunden.“ Der Kleinere pisste sich in die Hose.

„Quatsch, das geht, siehste.“ Und schon verschwand der Größere in der Ruine. Andere Kinder folgten ihm. Der Kleinere pisste wieder in die Hose. Stille folgte. Nichts geschah. Dann ein Knistern, gefolgt von metallischem Krachen und viel braun-schwärzlichen Staubwolken. Ratten huschten aus dem verschütteten Keller. Ein Kreischen erscholl, als ob eine Katze überfahren wurde. Peter zuckte und erstarrte. Seine Augen weiteten sich, er schwitzte, seine Schultern krampften. Ein leises Winseln folgte und dann wieder Stille.

Judith und ihre Freundinnen vom Russischkurs saßen im Wohnzimmer am runden Nussbaum-Tisch, tranken ihren dritten Kaffee und rauchten die guten amerikanischen Camel-Zigaretten. In der Ferne hörten sie das Lalülala eines Polizeiwagens.

„Wann fahren wir gemeinsam nach Russland?“

„Da muss man Nyltest-Hemden mitnehmen. Die zahlen dir ein Vermögen dafür.“

„Der Schwarzmarktkurs ist enorm günstig für uns.“

Das Telefon klingelte. Ein Hauptwachmeister war am Apparat: „Keine Sorge. Ihren Kindern ist nichts passiert. Holen Sie sie bitte an der Aktienstraße 130 ab.“

Hochroten Kopfes raste Judith vom Goetheplatz los. Sie nahm verkehrswidrig eine Einbahnstraße in entgegengesetzter Richtung als Abkürzung. Zwei Krankenwagen hielten auf dem Bürgersteig. Die beiden Bengel standen mit einem Polizeibeamten neben dem grünen Polizeiwagen. Die Köpfe gen Boden gerichtet, die Schultern hängend. Das hieß mindestens zwei Wochen Stubenarrest. Nachtisch würde es auch nicht geben. Die Stimmung zuhause war miese, der Vater dröhnte, die Mutter keifte. Sie landeten nach vier Tagen wieder im Garten. Im Haus waren sie nicht aushaltbar mit ihrem Gezänke und gegenseitigem Haare-Ausreißen. Draußen war ihr Geräuschpegel eher zu verkraften. Am Sonntag mussten sie wie üblich mit zum Gottesdienst. Es roch muffig und nach alten Leuten.

„Und wir gedenken der beiden jungen Menschen, die vor einigen Tagen in den Ruinen ums Leben kamen. Gott der Herr hat sie zu sich genommen. Wir stehen mit Entsetzen und Trauer vor der Erkenntnis, sie nie mehr spielen zu sehen und lachen zu hören.“

Mehr Worte folgten. Ringsum erstarrte Gesichter, vereinzeltes Schluchzen.

„Gottes Gnade... jenseits unseres Verstehens... Asche zu Asche, Staub zu Staub... für immer in unseren Herzen... Gottes unerforschlicher Ratschluss... Im Namen des Herrn...“

Die Jungs wollten nur noch raus ins Freie. Sie wollten nix wie weg von den schwarzen Kostümen, Hüten, Pumps-Schuhen, Anzügen, Krawatten, schwitzenden Achselhöhlen, Kölnisch-Wassergetränkten Taschentüchern zum Wegtupfen der Tränen, halb erstickten Klagelauten, all der Ergriffenheit. Es war nicht zum Aushalten.

Sie bauten im hinteren Teil des großen Pfarrhausgartens an ihrer Bude weiter. Die Hütte war richtig groß mit einem Tisch, Bänken und Stühlen. Sie hatten vom letzten Wahlkampf die großen Plakate der Parteien als ideales Baumaterial angeschleppt. Russische Mongolen-Monster auf den CDU-Plakaten warnten vor dem Untergang des Abendlandes. Die von der SPD waren schön rot, die der FDP etwas bunter. Abends saßen die schon älteren Jungs auf dem Dach der Bude, rieben sich ihre vorpubertären Schwänze und behaupteten, da käme vorne etwas Weißes raus. Kam bei Peter aber noch nicht. Im Straßenjargon wurde das Ruhrpott-Basiswissen verkündet:

Eichhörnchen nagt an des Baumes Rinde, der Geile an der Monatsbinde.

Es war erstaunlich, was die Blagen schon wussten, bevor sie in den Kneipen die Klosprüche an den Wänden studieren konnten:

Coca-Cola vor dem Tanz, hebt die Stimmung und den Schw...ung. Cola mit Aroma bringt den Opa auf die Oma.

Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, ist einer der die Köchin vögelt. Hoch in den Lüften schwebt ein Geier, deutlich sieht man seine ...Flügel. Ein Klassiker, an dem sie sich immer wieder hochziehen und kaputtlachen konnten.

Hart ist der Zahn der Bisamratte, doch härter ist die Morgenlatte.

Es gab noch mehr ordinäre Proletensprüche, für die sie zuhause mindestens ein Paar hinter die Löffel bekommen hätten. Wer hätte gedacht, dass solches Basiswissen Peter in Afrika das Leben retten sollte.

In späteren Cancel-Culture-Debatten wären sie in echte Schwierigkeiten geraten. Die Pfarrersbuben sanken verbal tiefer und tiefer ins homophobe, rassistische und ausgrenzende Terrain. Es machte ihnen richtig Spaß, daneben und wild zu sein. In der Schule wurden sie von postfaschistischen Lehrern und Studienräten gegeißelt. Pfarrers Kinder, Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie.

Gerne zitierten einige der Pädagogen Volkes Mund. Auch körperliche Züchtigung, wie an den Koteletten der Schüler zu zwirbeln, hielten diese Lehrer für angemessen. Man war noch voll in den preußischen und nationalsozialistischen Erziehungstraditionen verfangen.

Die treue Anhängerin der Nazis und stramm antisemitische Ärztin Johanna Haarer hatte einen Bestseller der Weimarer Republik, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, geschrieben, und die Nation, von der Kaiserzeit geprägt und vom 1. Weltkrieg gründlich durchtraumatisiert, griff das begeistert auf. Die letzte Auflage erschien 1987. Sie propagierte, Kindern mit ihrem eigensinnigen Geschrei bloß keine Nachgiebigkeit, keine Affenliebe zukommen zu lassen. „Dann, liebe Mutter, werde hart!“ Man sollte alle Wehleidigkeit abstreifen. Sie sabotierte Bindung und Beziehung zur Mutter und unterminierte ein Urvertrauen in die Welt gleich vom Start aus. Nicht Nähe und Liebe wurden genährt, sondern Distanz und Härte gefordert.

„Nach der Abnabelung wird das Kind erstmal beiseitegelegt und für vierundzwanzig Stunden in einem abgedunkelten Raum frei von Nahrung und fern der Mutter verwahrt.“

Peters Onkel pflegte die Devise „Dummdreist war der Distelfink, bis er plötzlich eine fing“. Wenn er meinte, seine Aquariumsfische würden nicht parieren, weil sie sich gegenseitig auffraßen (er hatte nichtkompatible Sorten gekauft), dann versohlte er sie mit Glasstäbchen. Seine Neffen behandelte er ähnlich.

Auf alle Fälle dachten die Gören bei ihren fragwürdigen Sprüchen nicht mehr an die beiden Spielkameraden, die in der Ruine umgekommen waren. Die Sandkasten-Freundin seiner Mutter hatte nie Erwartungen an Peter. Sie hatte sechs Kinder alleinerziehend durchgebracht und schuf sich immer Zeit für ihn, wenn er zu Besuch kam. Sie hatte stets Lob für ihn, würdigte seine Entwicklung, seine Gedanken und seine Anwesenheit. Sie hieß Tante Mops. An sie dachte Peter, wenn das Bangen und Beben im afrikanischen

Folterlager ihn zu überwältigen drohte.

I NEED LOVE NOT PAIN

60-er Jahre Aaron

Aarons Bett stand in Türnähe zum Stationsflur der Kinderabteilung im Universitätskrankenhaus in Marburg/Lahn. Links konnte er sechs Betten weiter das Fenster zum Krankenhauspark sehen. Dahinter in der Ferne war der Parkzaun zur Straße hin. Dort meinte er manchmal Mutti zu sehen. Seit sechs Tagen war sie nicht mehr dagewesen. Einmal wöchentlich durfte sie kommen, für eine Stunde. Manche der Jungs sahen ihre Eltern noch seltener.

Die Kortisontabletten hatte er wieder versteckt. Ihm war immer so schlecht geworden davon, und es ging ihm auch nicht besser, sondern zunehmend schlechter. Erst verbarg er sie in der Backentasche, simulierte ein Schlucken für die kontrollierenden Augen der Krankenschwester. Anschließend verschwanden die Tabletten unter einem Taschentuch im Nachtschränkchen, später im Abfalleimer. Keiner der anderen Jungen durfte das mitkriegen, denn es wurde viel gepetzt, um sich bei den Schwestern einzuschleimen.

Es herrschte Kortison-Euphorie unter den Ärzten. Alles konnte damit geheilt werden, dachten nicht wenige Mediziner. Jetzt konnte dieses Hormon der Nebennierenrinde synthetisch hergestellt werden. Es wurde unkritisch eingesetzt.

Gestern Nacht war wieder Terror gewesen. Die etwas älteren vorpubertären Jungens wollten Randale. Aaron war eigentlich viel zu erschöpft, machte aber mit, um nicht selbst ins Schussfeld zu geraten. Das Opfer dieser Nacht war der kleine nierenkranke Bub in seinem Gitterbett. Die Nachtschwester hatte schon klare Linie angesagt:

„Heute Nacht ist Ruhe, sonst gibt‘s echt Ärger.“ Aaron fragte sich, ob er Zoff bekommen würde, wenn er wieder wie so oft seinen Durchfall bedienen und zum Klo rennen musste. Sein Bauch verkrampfte sich in Wellen.

Die Schwester bemerkte beim Rausgehen nicht die feixenden Gesichter. Sie hatten Urin in einem Pott gesammelt und versteckt. Als der Kleine schlief, kippten sie den Pott in seinem Bett aus, drückten den Alarmknopf an seinem Gitter und weckten ihn. Schwester Elsbeth rauschte herein. „So eine Sauerei. Warum meldest du dich nicht früher!“ Der Kleine musste raus auf den kalten, halbdunklen Flur. Er bibberte. Elsbeth bezog das Bett neu, duschte ihn mit eisigem Wasser untenrum ab. Das Licht im Raum ging wieder aus.

„Beim nächsten Mal gibt‘s richtig Senge.“ Sie marschierte raus, die Türe schepperte. Der Kleine wimmerte vor sich hin. Es tat alles weh.

Aarons Mutter wollte ihn aus dem Krankenhaus abholen. Der Aufenthalt war ursprünglich gedacht gewesen, ihn aufzupäppeln.

„Der ist noch nicht entlassungsreif.“

Sie sah ihn nur noch dünner werden. Von den versteckten Kortisontabletten wusste sie nichts. Auch nichts von den vielen Blutentnahmen, bei denen er von vier Schwestern an Armen und Beinen festgehalten werden musste. Er trat und spuckte und fluchte wie ein Bergmann. Er bedrohte sie mit seiner letzten Waffe: „Wenn ihr mich nicht loslasst, pinkele ich euch voll.“

Sein Instinkt sagte ihm: „Das tut mir alles nicht gut“. Wie sollte er heilen, wenn die Tabletten ihn zum Kotzen brachten? Er flehte seine Mutter an, ihn hier rauszuholen.

Sorgfältige Medikamentenprüfungen gab es damals noch nicht. Zulassungsbehörden agierten nur rudimentär. Sowas wie teure Versuche mit Freiwilligen und Doppelblindstudien sollten erst eine halbe Generation später Standard sein. Der Contergan-Skandal kam wenig später. Thalidomid wurde rezeptfrei über den Apothekertresen verkauft. Chefärzte empfahlen es:

„Sie sind schwanger? Schlafen schlecht? Contergan hilft, es ist gefahrlos.“

„Wir haben damit gute Erfahrungen.“

Wenn der Herr Universitätsprofessor und Chefarzt das proklamierte, war das so. Eminenz statt Evidenz nannte man sowas Jahrzehnte später. „Herr Professor weiß, er hat Erfahrung. Außerdem wirkt das Medikament auch beruhigend.“

Contergan ging gewaltig in die Hose. Tausendfache Missbildungen bei den Babys füllten 1961 die Schlagzeilen. Amelie oder Dysmelie mochte schön klingen, bedeutete aber Fehlen von Organen oder Gliedmaßen bei den Neugeborenen, wenn sie nicht sogar tot zur Welt kamen.

Der Mutter-Instinkt sprang an. Sie beharrte auf sofortiger Entlassung aus der Klinik. Um der Sache ein Ende zu machen, unterschrieb sie Entlassung gegen ärztlichen Rat. Sie war selber Ärztin. Hinterher mobilisierte sie ihr Netzwerk an ärztlichen Kollegen, schrieb geharnischte Briefe und legte offiziell Beschwerde bei der Ärztekammer ein. Sie bekam Recht. Wichtiger war ihr, dass ihr schwerkranker Sohn wieder zuhause war.

Er schwächelte dem Krankenhaus entronnen wochenlang im heimatlichen Bett, schied aber allmählich weniger Blut, Scheiße, Schleim und Eiter aus. Wässrige Durchfälle, fast stündlich, auch nachts, ließen ihn ständig Ausschau nach Toiletten halten. Er kannte die Lokalisationen seiner Scheiß-Oasen in- und auswendig. Die häufigen und heftigen Bauchkrämpfe waren das Schlimmste. Diese Koliken zerrissen ihn innerlich und knabberten wie Kakerlaken in seinen Eingeweiden.

Jedes Jahr mehrere Wochen schlapp, müde und appetitlos wie ein verlorenes Vögelchen im Bett zu verbringen, trug wenig zur Lebenslust bei. Etwas älter geworden, konnte er allerdings Vorteile rausschinden. Er täuschte Symptome vor, wenn er die Schule schwänzen wollte. Die Blutbeimengungen auf und in dem Stuhlgang manipulierte er, indem er in seine Fingerkuppen stach, Blutstropfen auf die Kacke träufelte und dann umrührte. Die Eltern krümmten sich vor Sorgen.

Als Student nahm er Kurse in humanistischer Psychologie und begegnete in London dem berühmten US-Psychotherapeuten John Pierrakos (Core Energetics nannte dieser seine Methode), der ihn behandelte und seine Colitis ulcerosa genannten Dickdarmgeschwüre als einen Ruf nach Gott aus der Tiefe heraus bezeichnete. Aaron weinte damals inbrünstig.

Weihnachten war offiziell das Fest der Liebe. Hinter den Kulissen war es ein bizarrer Ausdruck der herrschenden Doppelmoral und Scheinheiligkeit. Im protestantischen Pfarrhaus war es leicht, Illusionen und Maskeraden zu durchschauen. Die kirchlichen Würdenträger verschanzten sich hinter ihren Bibeln und taten so, als wären sie anders und besser als das gemeine Fußvolk. Zuhause waren sie genauso korrekt oder erbärmlich wie ihre treuen Gemeindeschäfchen. Weihnachten war high time. Alle kamen, die Kirchen füllten sich, die Restaurants und Kaufhäuser ebenso. Die Schlachthöfe schoben Sonderschichten. Resultat war das Jahreshoch an Kollekte für die armen, hungernden Kinder in Indien, Afrika und China. Wenn der Herr Pfarrer und der Küster die Ausbeute zur Sakristei brachten, klimperte es. Teile des eingesammelten Geldes verschwanden in den tiefen Taschen des schlechtsitzenden Anzugs des buckligen Küsters. Derselbige war auch Ursache des mysteriösen Schwundes an Abendmahlswein.

Die Pfarrersbuben mussten mindestens eine der zahlreichen Weihnachtspredigten absitzen. Jedermann war ergriffen und beseelt. Das hielt für einige Stunden. Alternde Kirchgängerinnen tätschelten den Burschen die Köpfe: „Kommt er denn nun eher nach dem Papa, oder ähnelt er mehr der Mama?“ Entweichen war kaum möglich, das grausige Zeremoniell erbarmungslos. Noch als Erwachsener zuckte Aaron zusammen, wenn ihm jemand über den Kopf strich.

Zurück im Pfarrhaus gab es endlich Futter. Beten oder gar gemeinsames Singen ersparten sie sich. Geschenke waren der einzige Trost. Gefangen in der friedvollen Weihnacht war heimliches Entrinnen nicht vor Mitternacht denkbar. Es hing immer dräuende, erstickende Spannung in der Luft. Die Schwere des Seins verlangte nach Entladung. Die knallharte, rülpsende Realität auf der einen Seite und der huld- und salbungsvolle Schein auf der anderen Seite bildeten ein unheilvolles, explosives Gemisch. Mit dem rasanten Anschwellen ihrer pubertären Hormonspiegel vernetzten sich zusätzliche Gehirnsynapsen, nicht immer friedensstiftend. Frust und Häme blieben nicht aus. Sie wussten die Knöpfe zu drücken.

„Papa, wie findest Du das? Den Spruch: Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten.“

Der monarchistisch-konservativ geprägte Vater lebte ein bisschen auf: „Ist was dran. Die verkaufen Deutschland.“

Der Sohn feixte: „Das geht aber weiter: Wer hatte Recht – Karl Liebknecht.“ Und schon schäumte der Vater, und die Abendmahls-Idylle war vorbei.

Weihnachten war gefühlsbetont. Junkies wurden rückfällig und rannten zum Dealer. Der Schlamassel kochte überall hoch. Im Jargon der moderneren Therapeuten, deren aus den USA importierte Methoden im Nachkriegs-Deutschland Furore machten, hieß es betont locker:

Shove your feelings up your ass and leave them there. That‘s the place where they belong to. They belong to the belly and the shit and not to your mind. Schiebt euch eure Gefühle in den Hintern. Da gehören sie hin. Sie gehören zum Bauch und der Scheiße und nicht in euren Verstand.

Glücklicherweise gab es später in der Therapiewelt auch ausgefeiltere Ansagen.

Wohin nur mit der unter der Oberfläche rumorenden Gefühlsbrühe? Das war kein Tanz auf dem Vulkan, eher ein hilfloses Torkeln auf dem Moor. Ostern war entspannter. Riesige Trompeten, Posaunen und andere Blech-Blasinstrumente weckten sie morgens, wenn das Orchester den Gottesdienst im benachbarten Garten des Gemeindehauses einleitete. Außerdem konnte man schon kurze Hosen tragen, und die kühle Brise umfächelte die Beine.

Nach und nach kam wieder Spannendes in Aarons Leben. Er fand Freunde der Art, die eigentlich verboten war. Seine Eltern achteten sehr auf guten Umgang. Die Jungs taten all die Dinge, vor denen sie gewarnt worden waren. Nächtliche Randalierereien, Steine in Fenster leerstehender Bürohäuser schmeißen, sich nachts aus der Wohnung eines Freundes abseilen, um herumzustreunen. Präpubertär dünnen Mädchen mit langen Zöpfen unter die Röcke schielen. So ging das alles seinen schönen Weg mit dem Thema Überleben und seinem chronischen Darmleiden. Immer begleitet von der schwelenden Frage, was als Nächstes passieren würde.

Seine ersten guten sexuellen Ekstasen, die er nicht alleine und manuell fabrizieren musste, geschahen um die Abiturzeit in einem kleinen abgeschirmten Eckchen eines Dachgeschosses. Das alte Fachwerkhaus stand in den verwinkelten Gassen der mittelalterlichen Altstadt des Universitätsstädtchens. Dort konnten, wenn überhaupt, nur kleine Volkswagen oder Fahrräder passieren.

Sein Bruder und er hatten einen kleinen, zwei mal vier Meter großen Verschlag auf dem Dachboden des zweihundert Jahre alten Gebäudes gemietet. Sie brauchten eine freie Zone für ihre hedonistischen Eskapaden. Aus dem kleinen Fenster sah man über die Dächer und Hinterhöfe der anderen Häuser, die sich um die Kulisse des Rathauses mit seinem Glockenturm duckten. Sie hockten unter den schrägen Wänden. Die Türe konnten sie von innen verrammeln. Sie nannten es den Stall, berühmt-berüchtigt unter den einschlägigen Freunden aus der Schüler- und Studentenszene der kleinen Stadt. Sie polsterten ihn von oben bis unten mit Matratzen und Kissen. Einige Spiegel schmückten das Ganze. Die Aschenbecher reichten kaum aus für die vielen verbrauchten Filter ihrer Joints. Nebenan wohnten in einem weiteren Verschlag, den man euphemistisch als Dachwohnung deklariert hatte, ein uraltes Mütterchen mit ihrem psychisch kranken Alkoholiker-Sohn, der ab und zu krakeelte, wenn ihm die Musik und das Gegeiere von nebenan auf den Keks gingen.

Let It Be, der berühmte Song der Beatles, wurde zur Dauerbeschallung: When I find myself in times of trouble, Mother Mary comes to me – speaking words of wisdom, let it be...

And when the broken hearted people living in the world agree – There will be an answer, let it be...

For though they may be parted, there is still a chance that they will see – There will be an answer, let it be... Whisper words of wisdom, let it be...

Hier konnte der Jungmann mit seiner frischen fünfzehnjährigen ersten Liebe munter Petting machen. Das hatte er in den Flower-Power Jahren als Austauschschüler in England gesehen, wo Knutschen und Streicheln öffentlich unter den jungen Menschen zelebriert wurden. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, weil er die Prüderie der Adenauer-Republik erlitt, wo schon Händchenhalten einem sexuellen Akt gleichgestellt wurde. Von Küssen außerhalb des Ehebettes ganz zu schweigen.

Voll im Saft mussten die drängenden Testosteronschübe abgearbeitet werden. Das war die stetige Tagesaufgabe dieser und späterer Zeiten. Herz und Hoden flossen ständig über. Langsam und voller Geduld pirschte er sich immer wieder an das Subjekt seiner unerträglich leichten Liebe heran. Ihr konnte niemand das Wasser reichen. Als später einmal eine Freundin sich angeberisch als the best handjob of the world anpries, wusste er schmunzelnd, dass das jemand anderes gewesen war.

Aaron hatte Witterung aufgenommen. Er ahnte, dass auf diesem Planeten mehr zu holen war.

GEHIRNPUDDING

60-er Jahre

Peter

Auf der alljährlichen Konfirmanden-Fahrt nach Holland durften Peter und sein älterer Bruder mitkommen.

„Lass uns dieses Mal mit dem Auto hinter dem Bus mit all den lärmenden jungen Leuten fahren.“ Auf der Rückfahrt im dämmernden Nieselregen waren sie klamm, müde und ausgelutscht von dem anstrengenden Tag mit den touristischen Besichtigungen. Die Pappelallee war eng und zweispurig. Jeder wollte schnell nachhause, rechtzeitig zum Tatort im Fernsehen.

Weiter vorne tauchte ein Pulk von Autos am Straßenrand auf, dunkle Gestalten standen um etwas kleines Zusammengeschrumpeltes am Boden herum. Sie hielten an.

„Ihr bleibt im Wagen. Keinen Mucks!“

Bedrückte Gesichter und Gemurmel der Herumstehenden. Zwischen ihren Beinen hindurch war sowas wie ein Ball mit Haaren und Pudding dran klebend zu sehen. Daran hing ein kleiner Körper. Das Flüstern und Raunen ging in lautere Stimmen über. Alles erschien durchs beschlagene Autofenster unscharf und verschwommen. Peter würde ähnlich Grausiges noch öfter sehen müssen.

Die Zeit schien zu gerinnen. Dann war die Mutter durchs Seitenfenster zu hören.

„Das Kind muss sofort in die Klinik.“

Sie wandte sich zu den Leuten hinter sich:

„Wenn Ihnen Ihre feinen Autopolster zu schade sind... Wir haben hier selbst kleine Kinder im Wagen. Wer passt auf die auf, bis wir zurück sind? Sollen die auch noch überfahren werden?“

Die Eltern fuhren mit dem Opfer auf der Rückbank ihres Autos weg. Die Kinder stiegen in ein anderes Auto zu Leuten, die nicht mit ihnen sprachen. Am nächsten Morgen hörten sie unten im Hausflur die Mutter telefonieren.

„Wie? Sie können keine Auskunft geben? Verbinden Sie mich sofort mit dem ärztlichen Direktor.“

„Ja, Herr Kollege, wir haben gestern das kleine Mädchen mit dem offenen Schädel selbst in Ihr Krankenhaus gefahren, da der Rettungswagen nicht verfügbar war – wie schrecklich. Sie hat es also nicht geschafft.“

Alljährlich gab es Treffen der Landsmannschaft der Pommern, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem jetzigen Polen durch die Sowjetarmee Vertriebenen. Solche Exilantentreffen begegneten Peter immer wieder. Vertriebene und Geflüchtete gab es unter verschiedenen Vorzeichen und Konstellationen in allen Epochen der Menschheitsgeschichte.

Das Beste an diesen Pommerntreffen waren die riesigen Tüten voller Süssigkeiten, von denen die Pfarrerskinder meist mehrere abstaubten. Das war ihr Programm für die langatmige Veranstaltung. Der Herr Pfarrer, Teil der pommerschen Exilprominenz, hielt donnernde Reden und versetzte das Publikum in Wallung. Er beschwor Bilder von seinen Fahrten auf Frachtern über die Ostsee in Richtung Skandinavien, bei denen er die heimatlichen Lichter vom Meeresufer herüberschimmern sah. Aus der satten Ferne des dickbäuchigen Westdeutschlands trauerte man den verlorenen Landgütern und Bauernhöfen nach.

Die Kinder trieben sich herum, plünderten ihre Tüten, die Erwachsenen bekamen glänzend schimmernde Augen.

Maykäfer flieg! Der Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pommerland, und Pommerland ist abgebrannt. (Version von 1800)

Vom Krieg und den folgenden schlechten Zeiten schwieg man, erzählte rührende Anekdoten über die Gefallenen und Vermissten, und schließlich war ja nicht alles schlecht gewesen, man denke nur an die Autobahnen, und dass es keine Arbeitslosen mehr gegeben hatte.

Hochkarätige Persönlichkeiten gingen im Pfarrhaus ein und aus. Dem Staatsminister Gerhard Jahn, der in der gleichen Stadt lebte und der evangelischen Kirche nahestand, wurde hofiert, damit er dem älteren Sohn bei der Karriereplanung zur Seite stünde, Jurisprudenz zu studieren und später eine Diplomatenlaufbahn einzuschlagen. Der Präsident des Deutschen Bundestages Dr. Eugen Gerstenmaier wurde eingeladen. Er war als Mitglied des Widerstandes im Kreisauer Kreis in Pläne zum Attentat auf Hitler eingeweiht gewesen, und die Nazis hatten ihn verhaftet. Er unterstützte aber auch die Wiederbewaffnung Deutschlands. So wurde die Brut früh indoktriniert. Der Kirchenpräsident der evangelischen Kirche Spaniens, Gutierrez-Marin, schwadronierte beim Abendessen, wie er zu Fuß Luther-Bibeln über die Pyrenäen ins faschistische Franco-Spanien geschmuggelt hatte.

Man war stolz auf Peters Patenonkel, seines Zeichens langjähriger Staatssekretär im Post-Ministerium, und auf seine reiche Patentante, die ein Konsortium von Brot- und Kuchenfabriken ihr Eigen nannte. Peter lernte schon als Pimpf viel über die Bourgeoisie, über Doppelmoral und Heuchelei und über die Menschen, die sich hinter den Talaren, Titeln und sozialen Masken verbargen. Das faszinierte und stieß ihn gleichzeitig ab, wenn er die Intrigen, Lügen und Machtspiele mitbekam. Er lernte, sich da durchzulavieren. Diese Expertise half beim Poker um sein Leben nach der Katastrophe in Afrika.

Schnecke, der Schäferhund seiner Lieblingstante aus München, stand ihm bei seinen zahlreichen Besuchen treu zur Seite. Schnecke war einfach da. Schnecke stellte keine inquisitorischen Fragen. Da musste er sich um nichts einen Kopf machen. Sie wusste, was sein Gefühlshaushalt brauchte. Schnecke war definitiv eine Ressource.

WAS SOLL DAS GANZE?

60-er/70-er Jahre

Richard

Er hatte keine Freunde. Außer Heinz. Der war auch acht Jahre alt. Richard war das jüngere Anhängsel der Bande seines drei Jahre älteren Bruders. Beim Fußballspielen war er eher Ziel des Balles, den er öfters in die Fresse bekam, als aktiver Mitspieler. Er war zu klein, zu doof und zu langsam. Heinz wollte nur Sexspielchen. Zum Beispiel ins Arschloch gucken, versteckt unter der herabhängenden Decke des Gartentischs. Heinz wollte Melken spielen. Das war Richard auf Dauer zu eklig.

Die Mutter machte sich wohl Sorgen. Jedenfalls fand sie eine andere Mutter, deren Sohn auch schüchtern war und auch nicht wusste, wie das geht mit Freundschaftschliessen. Die Buben wurden zusammengesteckt und spielten miteinander. Dieser Freund wurde als „der Brave“ betitelt. Der Brave litt noch Jahre später unter diesem Namen. Er konnte dieses Nomen est Omen irgendwann abschütteln und wurde ein renommierter Künstler.

Zuhause beim Mittagstisch bekamen viele ihre Spottnamen. Die „Kanzelschwalbe“, heimliche Verehrerin des Herrn Pfarrers, die ihm zu allen Predigten oder selbst zu Beerdigungen nachreiste, wurde zur „Dicken Tante“. Das führte zum Eklat, als Richard einmal beim Kaffeeklatsch mehr Süßigkeiten einforderte, sie nicht bekam und rausposaunte: „Dann bekomme ich das eben von der dicken Tante.“ Sie saß neben ihm.

Um aus der Isolation rauszukommen, bot sich Revolte an. Wenn schon nicht kräftig und laut, dann halfen verschwiegene Aktionen, Druck abzubauen. Wie Hundekacke beim Hausmeister des Gymnasiums auf den Schuhabtreter vor seiner Wohnung zu schmieren. Es eskalierte. Immer wieder konfiszierte Richard den Briefkastenschlüssel, um Beschwerdebriefe seiner Lehrer abzufangen.

„Am vergangenen Freitag ist mir Ihr Sohn im Unterricht sehr unangenehm aufgefallen, dass er durch Verwunderungslaute, die kindlich-naiv klingen sollten, meinen Vortrag begleitete. Zur Rede gestellt, behauptete er, nur gestöhnt zu haben. Die Klasse quittierte diese Rede mit Heiterkeit, so wie sie auch vorher bereit war, bei seiner scheinbaren Bewunderung den Unfug mitzumachen. Da Ihr Sohn Ermahnungen reumütig aufnimmt, aber sehr bald vergisst, wie wir Lehrer es leider oft erfahren mussten, habe ich ihn mit eine Stunde Arrest bestraft. Mit freundlichem Gruß, Ihr sehr ergebener...“

„Da ihr Sohn trotz wiederholter Ermahnungen den Religionsunterricht störte, wurde ihm eine Stunde Arrest zudiktiert. Hochachtungsvoll...“

„Das Verhalten Ihres Sohnes ist Gegenstand einer Klassenkonferenz gewesen. Nach Einträgen ins Klassenbuch ist er nun mit zwei Stunden Arrest bestraft worden. Diese Strafe soll ihm zeigen, dass die Schule mit Nachdruck von ihm verlangt, sich besser in Zucht zu nehmen. Bei einem weiteren Eintrag ist mit der Androhung der Verweisung zu rechnen.“

„Der Schüler stört.“

„Der Schüler isst während der Stunde.“

„Das Verhalten Ihres Sohnes hat leider wieder einmal Anlass zu einem Disziplinareintrag gegeben. Nachdem die milde Behandlung seine Einstellung nicht geändert zu haben scheint, waren Klassen- und Gesamtkonferenz übereinstimmend der Ansicht, dass nur noch die Androhung der Verweisung von der Schule eine Wirkung auf ihn haben könnte. Sie wurde beschlossen und vor der Klasse mitgeteilt. Er muss sich grundsätzlich ändern, wenn er Wert darauflegt, auf dieser Schule sein Abitur zu machen. Es liegt völlig an ihm, was geschehen wird. Mit milder Behandlung kann er nicht mehr rechnen, nachdem er es nun zum zweiten Mal in aufeinanderfolgenden Jahren zur Androhung der Verweisung gebracht hat.“

An einem nassen nebligen Herbsttag kündigte er auf dem Schulhof an: „Morgen findet die angesagte Griechisch-Klassenarbeit nicht statt.“

Wie denn das? Abends lieh er sich von Bekannten aus einer anderen Schule ein Fahrrad aus. Wie bei James Bond sollte seine Identität nicht anhand des Fahrzeugs erkennbar werden. Er radelte zur Wohnung des Griechischlehrers. Er war natürlich vermummt und hatte ein Messer dabei, um die Autoreifen des Lehrers aufzuschlitzen – dann wäre nix mit Klassenarbeit am nächsten Tag zur ersten Stunde. Das Auto stand aber nicht an seinem gewohnten Parkplatz. Den hatte er vorher ausgekundschaftet. Scheiße. All der Aufwand umsonst.

Dann wollte er wenigstens eine Fensterscheibe der Wohnung im ersten Stock einschmeißen. Leider waren seine Arme nicht kräftig genug. Die Versuche, die Steine an ihr Ziel zu bringen, machten gehörig Lärm, der Pauker guckte zum Fenster hinaus. Er sah einen Vermummten, der noch mit verstellter Stimme „Arschloch“ schrie und davon radelte. Nix wie weg.

Zuhause wartete an der Haustüre schon der Vater.

„Dein Lehrer hat angerufen“, presste er heraus. „Wo warst du?“

„Bisschen spazieren gegangen.“

„Hör auf zu lügen.“

„Was soll das denn jetzt?“

„Du hast beinahe ein Baby ermordet. Unter dem Fenster beim Lehrer, wo du Steine hochgeworfen hast, steht die Babykrippe.“

Er leugnete eisern. Die sofortige Gegenüberstellung am Tatort hielt er durch. Wie es James Bond getan hätte. Ein Mitschüler hatte ihn verpfiffen. Auch hatte jemand seine Prahlereien auf dem Pausenhof am nächsten Schultag der Lehrerschaft kolportiert.

Der schlimmste Hund im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant.

Imponiergehabe und Image-Aufbauen taten kurzfristig gut. Fresse-Halten und Nicht-erwischt-werden beherrschte er noch nicht. Sein präpubertäres Gehirn waberte in morastigen Gefilden. Der Schuldspruch seines Vaters blieb hängen wie Kletten im Haar: „Du bist eine Schande für die ganze Familie.“ Es endete mit dem Abmeldeschein: „Er verlässt die Anstalt, um eine andere Anstalt zu besuchen.“

Ein Lehrer hatte ihm noch zugeflüstert: „Das Leben ist kein Penis. Es ist immer hart.“

Seine innere Stimme hatte dagegengehalten: „Ihr könnt mich alle mal.“

Nach dem Rauswurf aus dem ehrwürdigen humanistischen Gymnasium erbarmte sich die anthroposophische Waldorfschule seiner. Dort erlernte er das Spinnen eines Wollfadens aus Schafwolle und anderes. Eurythmie als Bewegungskunst war im Zeitalter der Rolling Stones und Beatles der Oberhammer; Pubertierenden die Eurythmie nahezubringen – ein schwieriges Geschäft. In wallenden, aquarellfarbenen, seidenen Gewändern sollten sie mit Körpergesten Buchstaben darstellen und durch den Raum schweben. Auf diesen schwiemligen Krampf hatten sie Nullbock.

Es mussten weitere Aktionen gelebt werden, das innere Drängen war nicht aufzuhalten. In den Lehrerkonferenzen sorgte er regelmäßig für Themen. Mit ihnen verbündete SDS-Studenten (linksradikaler Bund außerhalb der parlamentarischen Opposition) unterhielten sie per Megaphon in den Schulpausen mit Nachrichten aus den Lehrerkonferenzen, in denen sie durchgekaut wurden. Unbekannte hatten Mikrophone ins Lehrerzimmer geschmuggelt und interne Gespräche aufgenommen. Das brachte ihm eine Strafanzeige ein, aber es gab keine Beweise.

Nachts diskutierten sie mit den Soziologie- und Politologiestudenten, für die sie Rekrutierungsmaterial für die kommende kommunistische Revolution zur Diktatur des Proletariats waren. Sie blickten jetzt voll durch. Sie wussten, wo‘s langging. Sie drohten mit Sprengung der Abi-Feier. Sie waren wer. Sie waren die 3-er-Gang. Er, Gerlinde, die missratene Tochter aus höherem Hause aus Bonn, und Andrea (Andrea ohne s) aus Rom hatten sich zu Klassen- und Schulsprechern wählen lassen. Gegen alle Lehren und Regeln von wegen anthroposophischer Einmütigkeit hatten sie demokratische Wahlen durchgesetzt. Das war ein Novum. Sie kühlten ihr Mütchen. Andrea war kampferprobt; die deutsche Schule in Rom hatte ihn gefeuert, nachdem er sich aus politischen Gründen am Eisentor des Vatikangeländes angekettet hatte. Er war Mitglied einer obskuren, linksradikalen Untergrundorganisation, irgendwas vor Gründung der bewaffneten terroristischen Roten Brigaden. Auf Wachsmatrizen druckten sie Flugblätter mit ihren Durchblicker-Parolen. Die frisch geweißten Wände der Schule bebten unter ihren Sprühdosen. Sie durften wieder vor Gericht erscheinen wegen Beleidigung der Lehrer in Pamphleten unter Pseudonymen.

Richard hatte dazugelernt. Fresse halten. Autoritäten waren grundsätzlich Spießer und „Systemlinge“. Drogen waren hochinteressant. Endlich Freiheit. Auch mit den Mädchen ging‘s aufwärts. Die erste Liebe war der reinste Wahnsinn, leider nicht nackt. Joints wurden zur alltäglichen Normalität. Im Anarcho-Club hatte der Chef eine Knarre unterm Tresen. Sperrstunde, nicht mit uns! Er schaffte es durchs Abitur, wo ihn seine ehemaligen Lehrer aus dem Gymnasium extern prüften. Er wurde Jahrgangsbester.

Sie hatten die biedere, strickende, eurythmisierende Schule aufgemischt. Die Abi-Feier fiel aus.

Es prickelte und gärte. Aber er wohnte noch zuhause. Der Vater war inzwischen verstorben. Der Schock saß tief. Er war in Schottland gewesen, mit der Familie seines Austauschschülers aus England. Es schüttete Bindfäden, als sie ankamen. Das Feuer im großen Kamin brannte, es war kühl; spätabends kam ein Postbote mit einem Telegramm. Er hörte ihn im Hausflur sagen:

„His father died.“ Von da an war er ein einziger Muskelpanzer, sprach über Wochen nur das Nötigste. Er reiste noch in der Nacht ab, alleine im Schlafwagen nach London, und saß Stunden später im Flugzeug nach Hause. Der beste Freund seines Vaters holte ihn am Flugplatz ab und ermahnte ihn: „Brich nicht die Brücken hinter dir ab.“

Er hatte gehört und im Fernsehen gesehen, was in Berlin so abging. Es gab Kommunen mit freiem Sex, selbstgebastelten Bomben und Brandzündern (Molotow-Cocktails). Autos der Reichen wurden abgefackelt, die Haschrebellen als Vorläufer der bewaffneten Extremisten machten von sich reden. Drugs & Rock`n Roll, vor allem Sex. Nix wie hin. Abtauchen in den Berliner Sumpf. Er entdeckte die Krankheit der Berliner Studentenszene: Das Leben musste durchproblematisiert werden. Alles brauchte Erklärungen; Tiefgründigkeit war ganz wichtig. Dieser destruktiven Zwanghaftigkeit fehlte das Gegengewicht lockeren Lachens und eines liebevollen Umgangs. Das-Haar-in-der-Suppe zu sehen und in allem nur das Negative zu ahnen, nahmen überhand. Drama-Energie, Negativitäts-Bias (was für ein Wort!) und der keimende Dogmatismus in der Alternativkultur nagten an ihm. Es klemmte.

Eigentlich wollte er nur Kuscheln, ein Mädchen lieben, Freunde haben, Sinn finden. Es gab aber hauptsächlich tiefschürfende Diskussionen, bedeutungsschwangere Mienen, Grübeln, Langeweile, wechselnde Beziehungen oder meist gar keine. Unerfüllte Leidenschaften.

„Unter den Talaren (der Professoren), Muff von 1000 Jahren.“

„Arbeitermacht, Arbeitermacht, haut den Kapitalisten in die Fresse, dass es kracht.“

Fragwürdige Dogmen schwirrten durch die jungen Gehirne und immer wieder das große Fragezeichen: Was soll das Ganze? Den Verlockungen der Bourgeoisie galt es unbedingten Widerstand entgegenzusetzen. Was das genau sein sollte, entschieden die Idole und Köpfe der jeweiligen Subkulturen und Splittergruppen.

In der Nachbar-WG trafen sie sich regelmäßig zum ausgedehnten Frühstück gegen 15h.

„Leute, heute Nacht ging bei mir die Post ab. Im 'Dschungel ' habe ich dann doch noch 'nen Kerl aufgerissen, so gegen fünf Uhr morgens. In dessen Fabriketage stand neben unserer Matratze ein Spruch mit Filzstift an der Wand: Hier hat Bommi Baumann geschlafen“, erzählte die junge Soziologiestudentin. Voller Stolz heischte sie nach Anerkennung. B.B. war ein Held der linksradikalen Subkultur. Gewalt gegen Sachen wie Autos-Abflammen war ihr Handwerk. Wenn dann Kollateralschäden an Menschen auftraten, war das halt so. Solche Begriffe kannte man von der US-Armee bei ihren Überfällen auf Länder der sog. Dritten Welt wie Vietnam. Im Krieg fallen auch Späne.

Gegen den Strom zu schwimmen, Unbekanntes zu wagen – das törnte Richard an.

LET‘S CHANGE THE WORLD