Der wiedergefundene Freund - Fred Uhlman - E-Book

Der wiedergefundene Freund E-Book

Fred Uhlman

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Beschreibung

Zwei 16jährige Jungen besuchen die gleiche exklusive Schule. Der eine ist Sohn eines Arztes, der andere stammt aus einer reichen Adelsfamilie. Zwischen den beiden entsteht eine innige Freundschaft, ein vollkommenes, magisches Einverständnis. Ein Jahr später ist die Beziehung zerbrochen. Das geschah im Deutschland des Jahres 1933 ...
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Seitenzahl: 84

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Fred Uhlman

Der wiedergefundene Freund

Erzählung

Aus dem Englischen von Felix Berner

Mit einem Vorwort von Arthur Koestler

Diogenes

{5}Vorwort

Als ich vor einigen Jahren Fred Uhlmans Erzählung las, schrieb ich dem Autor (den ich nur durch seinen Ruf als Maler kannte), dass ich sie als kleines (minor) Meisterwerk betrachte. Das Adjektiv bedarf vielleicht einer Erklärung. Es bezog sich nur auf den geringen Umfang des Buches und auf den Eindruck, dass es – obgleich es die hässlichste Tragödie der Menschheitsgeschichte behandelt – in nostalgischen Molltönen (minor key = Moll) geschrieben ist.

Nach Art und Umfang ist es weder ein Roman noch eine Kurzgeschichte. Es handelt sich um eine Novelle, eine literarische Form, die eher auf dem europäischen Kontinent als in den angelsächsischen Ländern zu finden ist. Ihr fehlen die Fülle und Weite des Romans. Dennoch will sie etwas Ganzes sein – ein Roman in Miniatur, im Gegensatz {6}zur Kurzgeschichte, die sich mit einer Episode, einem Ausschnitt des Lebens begnügt. Die Miniaturform gelingt Fred Uhlman bewundernswert, vielleicht weil er als Maler gelernt hat, die Komposition der Größe seiner Leinwand anzupassen, während Schriftsteller bedauerlicherweise über Unmengen von Papier verfügen können.

Es ist dem Autor auch gelungen, seiner Geschichte musikalische Qualität zu verleihen, sie klingt elegisch und lyrisch. »Meine Wunden sind nicht verheilt«, schreibt seine Hauptfigur Hans Schwarz, »und die Erinnerung an Deutschland reibt Salz in sie hinein.« Dennoch sind seine Erinnerungen durchdrungen vom Heimweh nach »den sanften, heiter blauen Hügeln Schwabens, mit Weinbergen und Obstgärten bedeckt und von Burgen bekrönt«, und nach »dem Schwarzwald, dessen dunkle Forsten, duftend nach Pilzen und bernsteinfarbenem Harz, von Forellenbächen durchzogen werden, deren Ufer Sägemühlen säumen«. Er ist aus Deutschland verjagt, seine Eltern sind in den Selbstmord getrieben worden. Dennoch bleibt von der Novelle ein Nachgeschmack wie der Duft eines Landweins in einer dunkelgetäfelten Schenke {7}am Neckar oder am Rhein. Nicht die Heftigkeit Richard Wagners wird hier laut – es ist, als ob Mozart die »Götterdämmerung« umgeformt hätte.

Hunderte dicker Bände sind über die Jahre geschrieben worden, in denen die Herrenrasse ihre Reinheit wahren wollte, indem sie aus Leichen Seifen machte. Ich bin jedoch überzeugt, dass gerade dieses kleine Buch sich auf die Dauer behaupten wird.

London, Juni 1976

Arthur Koestler

{9}Der wiedergefundene Freund

{11}1

Er trat im Januar 1932 in mein Leben. Seither hat er daran teil. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist seit damals verstrichen, mehr als neuntausend Tage gingen dahin, flüchtige, mühsame Tage, entleert durch das Gefühl hoffnungsloser Anstrengung, hoffnungsloser Arbeit – Tage und Jahre, die oft genauso tot waren wie dürre Blätter an einem abgestorbenen Baum.

Ich erinnere mich genau an den Tag und die Stunde, da ich diesen Jungen zum ersten Mal erblickte: Ursache meines größten Glückes und meiner größten Verzweif‌lung. Es war zwei Tage nach meinem sechzehnten Geburtstag, drei Uhr nachmittags an einem grauen, dunklen deutschen Wintertag, im Karl-Alexander-Gymnasium in Stuttgart, Württembergs berühmtester Lateinschule, gegründet 1521, in dem Jahr, da Luther Karl V.{12}gegenüberstand, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Spanien.

Ich erinnere mich an jede Einzelheit: an das Klassenzimmer mit seinen schweren Bänken und Tischen, an den sauren, dumpfen Geruch von vierzig feuchten Wintermänteln, an die Pfützen aus geschmolzenem Schnee, an die braungelben Streifen an den grauen Wänden, wo vor der Revolution die Bilder Kaiser Wilhelms und des württembergischen Königs gehangen hatten. Ich brauche nur die Augen zu schließen, und schon sehe ich die Rücken meiner Schulkameraden vor mir, von denen viele in der Steppe Russlands oder im Wüstensand von El Alamein zugrunde gingen. Noch immer höre ich die müde, enttäuschte Stimme von Herrn Zimmermann, der, lebenslänglich zum Lehren verurteilt, sein Schicksal in trauriger Ergebenheit trug – ein Mann mit bleichem Gesicht, ergrauendem Haar, ergrauendem Schnurr- und Spitzbart, der durch seinen auf der Nasenspitze sitzenden Zwicker in die Welt hineinblickte wie ein herrenloser Hund auf Futtersuche. Wahrscheinlich war er kaum älter als fünfzig Jahre, aber uns kam er vor wie ein Achtzigjähriger. Wir verachteten ihn, weil {13}er freundlich und sanft war und nach armen Leuten roch – seine Zweizimmerwohnung war sicher ohne Bad – und weil er in einem oft geflickten, grünlich schillernden Anzug steckte, den er im Herbst und den ganzen langen Winter über trug (für Frühjahr und Sommer besaß er einen zweiten Anzug). Wir behandelten ihn verächtlich und mitunter grausam, mit jener feigen Grausamkeit, mit der viele gesunde Jungen die Schwachen, Alten und Wehrlosen abtun.

Es begann dunkel zu werden, doch noch nicht dunkel genug, um das Licht anzuknipsen. Durch das Fenster konnte ich noch deutlich die Garnisonskirche erkennen, einen hässlichen Bau aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, den jetzt der Schnee verschönte, welcher die in den bleiernen Himmel ragenden Zwillingstürme bedeckte. Schön waren auch die weißen Hügel, die meine Heimatstadt umschlossen, Hügel, hinter denen die Welt zu enden schien und das Geheimnis begann. Ich saß zwischen Schlaf und Wachen, dösend, träumend, und riss mir ab und zu ein Haar aus, um nicht ganz einzuschlafen. Da klopf‌te es an die Tür, und noch ehe unser Lehrer »Herein« sagen {14}konnte, stand schon Professor Klett, unser Direktor, im Zimmer. Aber niemand achtete weiter auf den netten kleinen Mann, aller Augen hefteten sich auf den Fremden, der ihm folgte, wie Phaidon dem Sokrates gefolgt sein mag.

Wir starrten ihn an wie ein Gespenst. Was uns in Bann schlug, mehr als alles andere, mehr als seine Selbstsicherheit, sein aristokratisches Aussehen, mehr als der Anflug eines leicht hochmütigen Lächelns, war seine Eleganz. So wie wir angezogen waren, waren wir alle ein trauriger Anblick. Für die meisten Mütter war als Schulkleidung alles gut genug, was von derber, haltbarer Art war. Da uns Mädchen noch kaum interessierten, machte es uns nichts aus, in praktische, strapazierfähige Jacken und kurze Hosen oder Breeches gesteckt zu werden, von denen man beim Kauf erwartete, dass sie halten würden, bis wir aus ihnen herausgewachsen waren.

Aber bei diesem war das ganz anders. Er trug lange Hosen mit Bügelfalten, tadellos geschnitten, sichtlich nicht von der Stange gekauft wie unsere. Sein Anzug sah teuer aus: hellgrau mit Fischgrätenmuster und höchstwahrscheinlich englischer {15}Herkunft. Er trug ein blassblaues Hemd und einen dunkelblauen Binder mit kleinen weißen Tupfen – ein deutlicher Kontrast zu unseren schmutzigen und speckigen Krawattenstricken, falls wir nicht offene Hemdkragen bevorzugten.

Obwohl wir jeden Ansatz zur Eleganz für weibisch hielten, blickten wir unwillkürlich voll Neid auf dieses Bild vornehmen Selbstbewusstseins.

Professor Klett steuerte geradewegs Herrn Zimmermann an, flüsterte ihm etwas ins Ohr und verschwand wieder, ohne dass wir dies recht bemerkten, denn nach wie vor konzentrierten sich unsere Blicke auf den Neuankömmling. Er stand bewegungslos und gelassen, ohne irgendein Anzeichen von Nervosität oder Schüchternheit. Irgendwie sah er älter aus als wir, erwachsener; man konnte kaum glauben, dass er nichts anderes war als ein neuer Klassenkamerad. Es hätte uns nicht überrascht, wäre er so still und geheimnisvoll verschwunden, wie er hereingekommen war.

Herr Zimmermann schob seinen Zwicker höher auf die Nase, musterte mit seinen müden Augen das Klassenzimmer, entdeckte einen leeren Platz unmittelbar vor mir, stieg von seinem Katheder {16}und geleitete zu aller Erstaunen den Neuen zu diesem Sitz. Dann, mit einem leichten Neigen des Kopfes, als hätte er sich verbeugen wollen, es aber nicht so recht gewagt, bewegte er sich langsam rückwärts, den Fremden nicht aus den Augen lassend. Während er sich auf seinen Stuhl setzte, wandte er sich an ihn: »Sagen Sie mir bitte Ihren Vor- und Zunamen, Ihr Geburtsdatum und Ihren Geburtsort.«

Der junge Mann stand auf: »Graf von Hohenfels, Konradin, geboren am 19. Januar 1916, Burg Hohenfels, Württemberg.« Dann setzte er sich.

{17}2

Ich starrte auf den seltsamen Jungen, der genauso alt war wie ich, als käme er von einem fremden Stern. Nicht weil er ein Graf war. Die paar in meiner Klasse mit einem »von« vor ihrem Namen schienen sich nicht von uns anderen zu unterscheiden, von den Söhnen von Kauf‌leuten, Bankangestellten, Pfarrern, Schneidern oder Eisenbahnbeamten. Da gab es einen Freiherrn von Gall, einen armen, mickrigen Burschen, Sohn eines Offiziers im Ruhestand, der seinen Kindern gerade noch Margarine bieten konnte. Auch einen Baron von Waldeslust hatten wir; sein Vater besaß eine Burg in der Nähe von Wimpfen am Neckar; einer seiner Vorfahren war geadelt worden für Dienste zweifelhafter Art, die er dem Herzog Eberhard Ludwig geleistet hatte. Wir verfügten sogar über einen Prinzen: Hubertus von {18}Schleim-Gleim-Lichtenheim, aber der war so blöde, dass selbst seine fürstliche Abkunft ihn nicht vor dem Gespött der Klasse rettete.

Mit diesem hier war das jedoch anders. Die Hohenfels gehörten zu unserer Geschichte. Ihre Burg auf der Schwäbischen Alb, irgendwo zwischen Hohenstaufen, Teck und Hohenzollern, lag zwar in Trümmern, die Türme waren zerstört und die Höhe selbst war kahl, aber der Ruhm des Geschlechts war nicht verblasst. Seine Taten waren mir so vertraut wie die Hannibals und die Cäsars oder des Scipio Africanus.

Hildebrandt von Hohenfels starb 1190, als er Kaiser Barbarossa aus der reißenden Strömung des Saleph zu retten suchte. Anno von Hohenfels war der Freund Friedrichs II. – des glanzvollsten aller Staufer, »Stupor mundi« genannt – und half ihm bei der Abfassung seines Buches »Über die Falkenjagd«. Nach seinem Tod im Jahr 1247 zu Salerno in den Armen des Kaisers wurde er in einem von vier Löwen getragenen Porphyr-Sarkophag in Catania beigesetzt. Friedrich von Hohenfels starb 1525 in der Schlacht von Pavia, nachdem er König Franz I. von Frankreich gefangen genommen hatte; er fand seine letzte {19}Ruhestätte im Kloster Hirsau. Waldemar von Hohenfels fiel 1813 in der Schlacht von Leipzig. Zwei Brüder, Fritz und Ulrich, ließen 1870 bei Champigny ihr Leben, zuerst der jüngere, dann der ältere bei dem Versuch, den Bruder aus dem Gefecht zu tragen. Auch bei Verdun fiel ein Friedrich von Hohenfels.