Der Zarewitsch - Martin Woletz - E-Book

Der Zarewitsch E-Book

Martin Woletz

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Beschreibung

Der mächtigste Unterweltboss Russlands, Josef Jokov, möchte seine Geschäfte nach Osteuropa ausdehnen. Dazu setzt er seinen jüngeren Sohn Jurij in Bulgarien ein. In einer Kleinstadt in Bulgarien leben die Familie Korelev - Eltern und drei Kinder. Der jüngere Sohn ist Konstantin. Anstatt sich dem Terror durch Jurij wie viele andere zu beugen, entscheiden sich die Korelevs für den Widerstand. Nachdem die Korelevs durch den besten Freund von Konstantin verraten werden, muss die Familie fliehen. Auf der Flucht wird die Familie auseinander gerissen. Konstantins Vater und sein Bruder werden erschossen, seine Mutter und Schwester verschleppt. Konstantin wird mit Illegalen nach Ungarn gebracht. Er flieht nach Österreich und entkommt so einem Massaker. Nach einigen Jahren, Konstantin ist inzwischen Chefinspektor bei einer Abteilung für organisiertes Verbrechen in Wien, wird er in einen eigenartigen Fall verwickelt, der anfangs nur Fragen aufwirft. Zu allem Überfluss gerät er mit seinem Rivalen Christian Spitzer aneinander und sein Chef, Brigadier Locker, übt Druck auf ihn aus. Als Konstantins Zeugen verschwinden oder sterben, weiß er nicht mehr weiter. Da lernt er Sophia kennen und verliebt sich in sie. Nach weiteren Zwischenfällen deuten immer mehr Hinweise darauf hin, dass hinter all dem eine internationale Organisation steht, die möglicherweise von Jurij gelenkt wird. Konstantin versucht internationale Kontakte zu knüpfen und fliegt zu einem Sicherheitskongress nach Istanbul. Dort lernt er einige Kollegen kennen, die seine Vermutung bestätigen. Als neben Spitzer auch noch Sophia überraschend in Istanbul auftauchen, wird es ernst. Konstantin kann Spitzer mithilfe seines türkischen Kollegen als Drogendealer überführen, Sophia wird eifersüchtig, als sie Konstantin mit der wunderschönen Dinara überrascht und einer seiner neuen Kontakte stirbt plötzlich bei den Recherchen.

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Martin Woletz

Der Zarewitsch

Konstantin Korelev in seinem persönlichsten Fall

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Epilog

Impressum neobooks

Eins

Der hübsche junge Mann zuckte zusammen, als das Blut in sein Gesicht spritzte. Der ohrenbetäubende Knall des Schusses hallte in seinem Kopf wider und der Geruch von Schwarzpulver biss ihn scharf in der Nase. Soeben hatte sein Vater, Josef Iwanowitsch Jokov, einen seiner engsten Vertrauten erschossen. Josef Iwanowitsch war der mächtigste Unterweltboss westlich des Urals und hatte gerade erfahren, dass Alexander Poroschenko seine Freundin Olga mit Kokain versorgt hatte. Nicht, dass das Josef Iwanowitsch gestört hätte. Alexander hatte für das Kokain sogar bezahlt. Nein, Josef Iwanowitsch störte, dass Olga auf einer Party in Sofia erzählt hatte, dass sie den Stoff von Alexander bekommen hatte. Dabei war es die oberste Regel unter Jokovs Leuten, dass nichts auf Josef Iwanowitsch als Kriminellen hindeuten durfte. Daher konnte keine Entschuldigung eine solche Aussage wieder gutmachen. Olgas Leiche hatte man am Vortag im Erdgeschoss des Treppenhauses gefunden. Sie war offiziell an einer Überdosis gestorben. Die unzähligen gebrochenen Knochen und das gebrochene Genick wurden auf den Sturz im Drogenwahn aus dem 7. Stock zurückgeführt. Polizeiliche Untersuchungen im Umfeld von Josef Iwanowitsch wurden zu dieser Zeit schnell abgeschlossen.

Jurij Josifowitsch stand zitternd neben seinem Vater und wischte sich langsam mit dem Handrücken über die Wange. Aus dem aufgeplatzten Schädel des Paten von Bulgarien vor ihm quoll immer noch Blut. Es war das erste Mal, dass Jurij zugesehen hatte, wie sein Vater einen Menschen erschoss. Er hatte immer wieder gehört, dass sein Vater brutal sei, doch vor seiner Familie hatte der Pate diese Eigenschaft niemals offen gezeigt. Jurij konnte mit seinem Vater diskutieren, sogar dessen Bitten ablehnen und er wurde deshalb nie geschlagen. Doch mit Alexander hatte sein Vater nicht diskutiert. Josef Iwanowitsch hatte noch gestern mit Alexander gescherzt und mit ihm lachend auf ein paar Wodka-Flaschen geballert. Nun hing Alexanders Körper schlaff auf einem Sessel, ohne dass Alexander geahnt hätte, dass mit dem Ende dieses Treffens auch sein Leben zu Ende sein würde.

"Ich mochte Alexander", sagte Josef Iwanowitsch pathetisch und wischte seine Fingerabdrücke von der Waffe.

"Aber er hat Fehler gemacht. Das kann ich nicht hinnehmen." Er blickte in die Gesichter von sieben Verbrechern. Es waren die mächtigsten und grausamsten Kriminellen in Osteuropa und Russland. Sie kannten keine Skrupel und würden für ein gutes Geschäft ihre engsten Freunde über die Klinge springen lassen. Keiner von ihnen scheute sich vor Erpressung, Drogen, Prostitution oder Mord. Doch im Vergleich zu Josef Iwanowitsch waren sie nur unartige Jungs. Keiner dieser sieben Männer konnte einen Schritt machen, ohne dass Josef Iwanowitsch dazu den Auftrag gegeben hatte. Josef Iwanowitsch hatte nicht nur das Verbrechen unter seiner Kontrolle, er kontrollierte auch weite Kreise der Polizei und Politik. Seine Gehaltsliste war lang. Und sie wurde immer länger.

"Gute Leute sind schwer zu finden. Die Besten kommen immer noch aus der eigenen Familie." Das Nicken von sieben Köpfen war nicht nur eine Bestätigung für Josef Iwanowitsch sondern spiegelte tatsächlich die Meinung der gut gekleideten Männer wieder. Denn alle standen in verwandtschaftlichen Verhältnissen zu Josef Iwanowitsch. Zwei Brüder, zwei Cousins, zwei Söhne und ein Onkel saßen um einen großen Marmortisch, auf dem immer noch reichlich Essen in silbernen Schalen stand, obwohl das großzügige Mahl bereits zu Ende war. Auch Alexander Poroschenko war mit Josef verwandt gewesen. Allerdings nur dritten Grades.

"Aus diesem Grund werde ich meinen Sohn Jurij anstelle von Alexander mit den Aufgaben in Bulgarien betrauen. Er hat bewiesen, dass er seinen Laden in Ordnung halten kann." Der fünfundzwanzigjährige Sohn des russischen Paten hatte mehrere Nachtclubs in Moskau geführt und sich mit Drogen und Prostitution ein nicht unerhebliches Vermögen aufgebaut.

"Ich möchte, dass Dir Oleg hilft, eine neue Route über Bulgarien nach Mitteleuropa aufzumachen. Es gefällt mir nicht, dass wir nur eine Route kontrollieren. Und Oleg hat bewiesen, dass er von diesem Geschäft etwas versteht." Oleg war Josef Iwanowitschs' älterer Sohn und für den Menschenhandel im Unternehmen verantwortlich. Die bisher einzige Route des Syndikats führte über Lettland und Schweden nach Mitteleuropa. Sollte auf dieser Route etwas schief gehen, würden Millionen Dollar und Euro an Einnahmen fehlen. Josef Iwanowitsch war trotz seiner fünfundsechzig Jahre noch immer am planen und aufbauen. Oleg schwieg zu den Ausführungen. Er hatte bereits vor der Besprechung bei seinem Vater gegen diese Entscheidung protestiert, als ihn sein Vater von seinen Plänen unterrichtet hatte - und musste für diesen Protest auf die Hälfte seiner Einnahmen verzichten.

"Das Treffen ist damit beendet. Ihr könnte gehen. Jurij, du bleibst noch." Mit diesen Worten wandte sich der Pate um und blickte durch die hohen Fenster seiner Hochsicherheitsvilla über das verschneite Tiefland. Als die Männer das Zimmer verlassen hatten, fuhr Josef Iwanowitsch fort.

"Ich habe über vierzig Jahre diese Organisation aufgebaut. Es ist ein Familienunternehmen mit einem Umsatz von über zwei Milliarden Dollar jährlich. Doch diese Summe bedeutet nur, dass es Menschen gibt, die für unsere Dienstleistungen bezahlen. So, wie überall auf dieser Welt für Dienst bezahlt wird. Doch die Dinge, die wir den Menschen verkaufen, sind nicht gerne gesehen. Doch das hat mich nie interessiert. Jede Bank, jedes Pharmaunternehmen und jeder Rüstungskonzern muss genauso mit Gesetzen und Politikern fertig werden, wie wir und sind nicht illegaler oder legaler als wir. Es geht immer darum, wie man die Gesetze umgehen kann, um noch mehr Gewinn zu machen und noch mehr Einfluss zu bekommen." Josef drehte sich zu seinem Sohn um.

"Und es geht darum, keine Fehler zu machen, Jurij. Wenn Du Fehler machst, stirbst Du. Und mit Dir unsere Firma."

Er beugte sich über seinen jüngeren Sohn.

"Du hast bis jetzt keine Fehler gemacht, darum bekommst Du einen größeren Teil des Kuchens. Wenn Du klug bist, wirst Du so viel Geld verdienen, wie Du es Dir nie erträumen konntest. Aber Du musst zuerst investieren. In deine Kontakte, in deine Sicherheit. Du musst mit Geld und Blut bezahlen, dann kommst Du weiter. Wer Dir im Weg steht, den musst Du töten. Du musst Deine Gegner töten, hörst Du! Es macht keinen Sinn, Sie zu fangen, zu foltern und zu erpressen. Das lenkt Dich nur ab. Wenn sie für Dich arbeiten, investiere in Sie. Wenn nicht, dann schaff sie Dir für immer aus dem Weg. Dann hast Du wieder einen klaren Kopf für neue Aufgaben." Er machte eine kurze Pause und blickte seinem Sohn scharf in die Augen.

„Du musst auch Deinen Onkel, Deine Tante oder Deinen Bruder töten können, wenn es sein muss.“ Wieder legte der Pate eine kleine Pause ein.

„Oleg ist ein guter Mann, aber er ist gierig. Er investiert nicht in die richtigen Kontakte, weil er dem Geld, das er dafür aufwenden müsste, nachjammert. Wenn Oleg an deiner Seite nicht lernt, was er zu tun hat, dann wird er Bulgarien nicht mehr verlassen. Er hat drei Monate Zeit. Hast Du verstanden Jurij Josifowitsch?"

Jurij sah seinen Vater mit seinen stahlblauen Augen an und nahm einen Zug von seiner Zigarette.

„Ja, ich habe verstanden, Vater." Blutsbande waren wichtig - aber nicht alles. Oleg war gut drei Jahre älter als Jurij und daher früher auf einen sehr einflussreichen und lukrativen Posten in der Firma gekommen. Hatten sie als Kinder noch gemeinsam gespielt, maßen sie sich bereits als Jugendliche mit Waffen und Fäusten. Sie waren wie junge Wölfe, die das Töten spielerisch gelernt hatten. Jurij hatte schon getötet. Einen Kellner, der ihn verraten wollte und einen Journalisten, der ihn in seinem Mistblatt als Verbrecher beschrieben hatte. Doch seinen eigenen Bruder zu töten, war selbst für die Jokovs eine ungewöhnliche Maßnahme. Doch Jurij kannte seinen Vater. Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Keine, die sein Leben nicht dramatisch verändern würde.

Jurij nutzte die nächsten Tage um seinen Umzug vorzubereiten. Er musste seine Klubs absichern, Leute, denen er vertrauen konnte, für die Weiterführung finden. Er musste sich von seinen Mädchen verabschieden, denn er würde keines von ihnen nach Bulgarien mitnehmen. Bei Protesten würde er sich endgültig von der einen oder anderen trennen. Es gab genug Bordelle in Sibirien. Dort konnten sie dann von ihm aus vor die Hunde gehen. Und er musste mit Oleg sprechen.

Josef Iwanowitsch nahm Beziehungen nicht auf die leichte Schulter. In seiner "Branche" war es immer gefährlich, eine Frau oder Kinder an seiner Seite zu haben, da man mit einer Familie erpressbar war. Doch Josef Iwanowitsch wusste, wie er sich absichern konnte. Seine Frau Natascha entstammte einer Familie, die sich mit Betrügereien, Diebstählen und organisiertem Betteln ihren Reichtum ergaunert hatte. Josef Iwanowitsch übernahm das "Unternehmen" der Schwiegereltern und vergab die wichtigsten Positionen an Familienmitglieder. Erst einige Jahre später, als Josef Iwanowitsch die Gewissheit hatte, dass seine neuen Mitarbeiter völlig von ihm abhängig waren, ging er mit Natascha daran, eine eigene Familie zu gründen. Oleg wurde sofort nach seiner Geburt von Dienstboten und Leibwächtern umgeben. Es gab mehrere Versuche, Oleg zu kidnappen und damit den Paten von seinem Thron zu stoßen. Alle Versuche endeten mit dem grausamen Tod der Entführer. Natascha verkraftete die Gewalt und die Sorge um Oleg nur schwer. In ihrer kriminellen Welt hatte sie die Opfer ihrer Betrügereien meistens gar nicht zu Gesicht bekommen. Gewalt war nie nötig gewesen. Seit ihrer Hochzeit mit Josef Iwanowitsch gehörten jedoch Mord und körperliche Gewalt zu ihrem Alltag. Da sich Josef Iwanowitsch nicht sicher war, ob Oleg überleben und sein Nachfolge antreten würde können, beschloss er ein zweites Kind mit Natascha zu zeugen. Natascha versuchte Oleg immer von Gewalt fernzuhalten und ihm eine möglichst angenehme und luxuriöse Kindheit zu bieten. Oleg lernte von Natascha viele lustige Kartentricks, von denen er zu seinem dritten Geburtstag seinem Vater ein gutes Dutzend stolz präsentierte.

Josef Iwanowitsch beobachtete diese Entwicklung mit Argwohn. Betrug und Lüge waren aus seiner Sicht nur ein Mittel zum Zweck, konnten aber keine Organisation zusammenhalten. Für Josef Iwanowitsch war das zu wenig. Betrug und Lüge spalteten Organisationen und Menschen, sie verbanden sie nicht. Es waren Fähigkeiten, die man für den Kampf benutzte, aber nicht, um die eigene Firma zu leiten. Dazu bedurfte es weit mehr. In Josef Iwanowitschs Welt waren Gewalt und Belohnungen die schärfsten Waffen. Angst und Gewalt hielt seine Leute bei der Stange, Belohnungen gab es in Form von Geld oder Autos für besondere Leistungen. Doch Oleg war kein Junge, der Angst verbreiten konnte. Er war klein, ein wenig pummelig als Kind und genoss die Vorzüge von gutem und reichlichem Essen. Er hatte mehr Freude an Gold und Diamanten als an Waffen und sobald er alt genug war, waren junge Mädchen sein liebstes Spielzeug. Oleg war der häufigste Anlass für Streit zwischen Josef Iwanowitsch und Natascha, denn Oleg war aus Josefs Sicht von Natascha zu sehr verwöhnt worden.

Dann kam Jurij zur Welt. Jurij Josifowitsch wurde vor allem von seinem Leibwächter und seinem Vater erzogen. Josef Iwanowitsch achtete streng darauf, dass sein jüngerer Sohn nicht verwöhnt und verhätschelt wurde und sich nicht in nutzlosen Spielereien verlor, wie Oleg. Das führte dazu, dass Jurij Josifowitsch schon sehr bald gelernt hatte, dass er sich alles, was er wollte, erkämpfen musste. Nicht durch Bitten und Kindertränen, Lüge und Betrug, sondern vor allem durch körperliche Gewalt. Er war sportlich und kräftig, dominant und herrschsüchtig. Oleg und er prügelten sich oft. Auch wenn Jurij jünger war, gab es nach Jurijs fünftem Geburtstag keinen Kampf mehr, den er gegen Oleg verlor. Josef Iwanowitsch beobachtete die Entwicklung seiner Söhne mit Sorge. Der Erstgeborene konnte die Thronfolge nicht antreten. Für Josef Iwanowitsch eine Schande. Er schickte Oleg in ein Internat in der Schweiz und anschließend zu einem Wirtschaftsstudium in die Vereinigten Staaten. Jurij blieb in einer Eliteschule in Moskau und absolvierte die Militärakademie. Dank der Kontakte seines Vaters in die militärischen und politischen Kreise, bekam Jurij die allerbeste Ausbildung. Im tiefsten Innersten gab der Patron Natascha die Schuld für Olegs Schwäche. Und Schuldige mussten bestraft werden. Natascha jedoch gewaltsam zu bestrafen, hielt er nicht für ratsam, daher griff er zu einem noch viel brutaleren Mittel. Er trennte sie von Ihrer Familie, indem er seine Schwiegereltern nach Südrussland schickte, um dort die Organisation weiter zu führen. Natascha hing von klein auf sehr an ihrer Mutter und litt stark unter der Trennung. Josef isolierte Natascha im Laufe der nächsten Jahre immer weiter, in dem er auch ihr vertrautes Personal austauschte. Olegs Kindermädchen musste genauso das Anwesen verlassen wie die Köchin, die Natascha quasi in die Ehe mitgebracht hatte.

Oleg hatte die letzten Tage damit verbracht, viel Geld in seine Kontakte zu investieren um dem Vater zu zeigen, dass er aus Fehlern lernen konnte. Als ältester Sohn war Oleg davon ausgegangen, dass er der neue starke Mann der Organisation werden sollte, wenn sein Vater den Stuhl eines Tages räumen würde. Josef Iwanowitsch legte großen Wert auf Loyalität, Durchsetzungsvermögen und gute Manieren. Im Laufe der Zeit merkte Oleg, dass sein Vater wenig Freude mit ihm hatte und ihm die Leitung des Unternehmens vielleicht nicht übertragen würde. Dabei hatte Oleg immer alles versucht, seinen Vater davon zu überzeugen, dass er die Firma übernehmen könnte. So gründete er wenige Wochen nach Beginn des Studiums in den USA ein eigenes kleines Unternehmen und versorgte die Studenten an der Universität mit Drogen und Nutten. Von den Einnahmen kaufte er sich ein Appartement in der Stadt, das er für Partys und die Produktion kleiner schmutziger Videos nutzte. Trotz seines ausschweifenden und kriminellen Lebensstils war Oleg vom Rektor, Professor Dr. Steven Ferguson, nicht von der Universität verwiesen worden.

Der Grund dafür war aber nicht in den erpresserischen Videos aus Olegs Appartement zu finden sondern in den großzügigen Spenden seines Vaters an die Universität und den Pensionsfonds der Polizei. Die Videos zu verwenden hatte Josef Iwanowitsch seinem Sohn untersagt. Oleg verstand damals nicht, warum sein Vater so viel Geld zum Fenster hinauswarf. Er selbst hätte sich diese Leute durch Erpressung und Gewalt gefügig gemacht und somit nicht nur Geld gespart, sondern noch Geld verdient. Er hatte schon mehrere Filme von hochgestellten Persönlichkeiten der Stadt in seinem Bankschließfach. Somit war der Studienabschluss nur eine Formsache gewesen.

Als Oleg aus dem Ausland zurückkam, betraute ihn sein Vater mit der Aufgabe, eine Route für den Menschenschmuggel aufzubauen. Oleg gelang es wider Erwarten sehr gut, diesen Geschäftszweig aufzubauen. Doch Oleg war gierig, hatte seine Lehren aus dem USA-Abenteuer nicht gezogen und kein Geld in seine Kontakte investiert. Oleg versuchte die Kosten so gering als möglich zu halten und gegebenenfalls mit Erpressung die Organisation zu führen. Die Loyalität seiner Männer zu ihm war vergleichsweise gering. Das führte zu manch gefährlicher Situation mit Grenzbeamten, Polizisten und sogar seinem eigenen Personal. In einigen Fällen musste letztendlich sein Vater mit aller Härte und unglaublicher Brutalität eingreifen. Und Oleg musste sich von seinem Vater wieder belehren lassen. Zur Strafe brannte Josef Iwanowitsch die Stadtwohnung seines Sohnes ab, wobei Oleg großflächige Brandwunden davontrug, die ihn sein Leben lang entstellten.

Bevor er nun begann seinem Bruder unter die Arme zu greifen, bekamen Grenzoffiziere, örtliche Polizeichefs und Politiker unverhoffte Prämien von Oleg. Nun endlich versuchte er seinem Vater zu zeigen, dass er gelernt hatte und hoffte, dass es noch nicht zu spät war, um seinem Vater einmal nachzufolgen. Oleg sicherte seine Route ab, auf der er junge Mädchen aus Russland und Asien für die europäischen Bordelle genauso schleuste, wie Familien und politische Flüchtlinge. Für ein paar tausend Dollar pro Kopf wurden diese Menschen wie Tiere über Lettland oder Kaliningrad mit der Fähre nach Schweden gebracht. Von dort ging es mit Lastwägen, dem Zug oder wieder per Schiff nach Deutschland, Polen oder Holland. Das größte Problem für Olegs Organisation lag darin, die Spuren jener Flüchtlinge, die nicht für die Zwangsarbeit im Bordell oder anderen Betrieben geeignet waren, so zu verwischen, dass sie den Ermittlern keine Hinweise über die Einzelheiten der Flucht geben konnten, die Olegs Organisation schaden konnten.

Als Jurij in die kalten Augen seines Vaters blickte, sah er keine Regung darin. Er hatte von seinem Vater gerade den Auftrag bekommen, seinen Bruder zu töten, wenn dieser wieder Scheiße bauen sollte. Diese bizarre Situation hinterließ bei Jurij tiefe Spuren. Er war in einer gewalttätigen Welt groß geworden. Doch an diesem Tag, als sein Vater vor seinen Augen Alexander erschossen und ihm den Mordauftrag für Oleg gegeben hatte, verlor er den letzten Rest seines Gewissens.

Die Datscha der Jokovs lag rund achtzig Kilometer außerhalb von Moskau und war früher der Herrschaftssitz eines russischen Grafen gewesen. Weitläufige Ländereien, Stallungen und ein eigener Golfplatz sowie mehrere Nebengebäude gehörten zu dem Landsitz. Das Haupthaus verfügte über mehr als vierzig Zimmer und Säle. Das Mobiliar war antik, aber sonst hätte man glauben können in einem Technologieforschungslabor zu stehen. Alarm- und Kommunikationssysteme, Verteidigungsanlagen und ein Heer an bewaffneten Männern machten die ehemalige Touristenattraktion zu einer uneinnehmbaren Festung. Jurij hatte das Anwesen für die Jagd, seine Kampfsportausbildung und den Keller für Verhöre genutzt. Für ihn, wie für seinen Vater stand immer die Zweckmäßigkeit der Anlage im Vordergrund. Die Kristallluster, antiken Möbel, Teppiche und der Goldstuck aus der Zeit Katharinas II. sowie die goldverzierten Handläufe waren nur dazu da, um Besucher zu blenden und abzulenken, die zu bestimmten Anlässen auf die Jokov-Datscha kamen. Und während er und sein Vater, Natascha und Oleg zwischen goldverzierten Portraits und silbernen Saucieren ihre Mahlzeiten einnahmen, verbluteten ihre Gegner in der Folterkammer der grauen und kalten Kellerräume. Jurij beendete die Ausbildung an der Militärakademie, als sein Vater feststellte, dass Jurijs Kampfausbildung keine weiteren Fortschritte machte. Den Rang eines Leutnants erhielt er trotzdem. Jurij bekam die Verantwortung für die Clubs in Moskau übertragen, die als Tarnung für Drogengeschäfte, Anlaufstelle für Rekruten und zur Geldwäsche dienten. Auch die Prostituierten kamen zur Einschulung in Jurijs Clubs. Schon bald erkannte man Jurijs Handschrift. Die Clubs wurden immer größer, bunter und greller. Sie waren luxuriös und zogen eine Menge prominentes Publikum an. Doch hinter der glamourösen Fassade wurde in schalldichten Räumen gedealt, Geld gewaschen, geprügelt und getötet.

Jurij traf Oleg in seinem Club am Leninskiy Prospekt um zehn Uhr abends. Wie gewöhnlich war der Club voll und niemand achtete auf die drei Männer, die mit mehreren jungen hübschen Damen in einem Extrazimmer verschwanden. Jurij breitete die Arme aus und drückte seinen Bruder fest an sich. Er freute sich wirklich Oleg zu sehen. Sie setzten sich, ließen sich von den Damen verwöhnen und plauderten ungeniert über ihre Geschäfte. Oleg nippte am Champagner und führte seinen kleinen Bruder in die Geheimnisse der Schlepperei ein. Er genoss es, Jurij belehren zu können, denn er wusste, dass Jurij ihrem Vater näher stand als er. Jurij trank seinen Beluga-Wodka, blickte Oleg konzentriert an und man hatte den Eindruck, dass er wirklich aufmerksam den Belehrungen seines Bruders folgte.

Nach drei Stunden, inzwischen hatte ihm Oleg alles darüber erzählt, wie sein Geschäft funktionierte und wo die Gefahren und Schwierigkeiten waren, leerte Jurij die letzten Tropfen seiner Wodkaflasche in den schweren Tumbler. Er schickte seinen Leibwächter hinaus, um ihm eine neue Flasche zu bringen. Als nächstes wies er die jungen Damen an, sich die Nase zu pudern. Nun war er mit Oleg alleine in seinem Büro. Oleg ließ den Korken der dritten Flasche just in dem Moment knallen, in dem ihn ein stechender Schmerz in der Stirn durchzuckte. Noch ehe er sich darüber wundern konnte, rann ihm bereits sein eigenes Blut über die Nase. Darüber klaffte ein kleines schwarzes Loch in seiner Stirn. Die Champagnerflasche fiel zu Boden, doch der schwere rot-goldene Teppich dämpfte den Aufprall. Jurij blickte Oleg noch immer konzentriert an. Sein Bruder saß zusammengesunken im weichen, schwarzen Lederfauteuil. Josef Iwanowitsch würde über den Tod seines ältesten Sohnes sehr traurig sein. Aber er würde Jurij glauben, dass Oleg einen Fehler zu viel gemacht und damit das ganze Unternehmen gefährdet hatte. Nur wegen Natascha machte sich Jurij Sorgen. Ihre Mutter würde sich nicht so einfach damit zufrieden geben, dass Oleg durch einen Unbekannten ausgerechnet in Jurijs Club getötet wurde. Jurij wollte seiner Mutter diese Geschichte erzählen. Natascha war zu sensibel um die Wahrheit zu verstehen. Josef Iwanowitsch würde offiziell Rache schwören einen Täter finden. Wahrscheinlich die Makarov-Brüder. Die Makarov-Brüder gehörten zu einer Organisation, die Josef Iwanowitsch das Nuttengeschäft im Norden abnehmen wollte und Oleg schon mehrfach Probleme gemacht hatte. Jurij stand auf, verließ das Extrazimmer und befahl dem Leibwächter das Zimmer zu reinigen. Als er auf der Straße stand, zündete er sich eine Zigarette an, sog den Rauch tief in seine Lungen und blickte die Straße hinunter. Immer wieder sah er in Gedanken die Szene vor sich, als er seinen Bruder erschoss. Er hatte einen Plan und er hatte auch das Einverständnis seines Vaters für den Mord an Oleg gehabt. Es war notwendig gewesen, um das Familienunternehmen zu schützen. Und dennoch kam er sich irgendwie schuldig vor. Jurij hatte keine Zeit um lange zu trauern. Er musste jetzt seinen Eltern die traurige Nachricht von Olegs Tod überbringen.

Sein Vater stand wie versteinert am Fenster und blickte in die tiefschwarze Nacht. Noch in der gleichen Nacht würden die Makarov-Brüder sterben. Damit war für ihn die Angelegenheit vom Tisch. Seine Mutter begann leise zu schluchzen bis sie schlussendlich zusammenbrach. Natascha hatte insgeheim gehofft, durch Oleg aus der ganzen Gewalt herauszukommen und vielleicht irgendwo untertauchen zu können. Sie hatte sich vorgestellt, dass Oleg ihr die Flucht ermöglichen und über seine Route nach Skandinavien und sie vielleicht weiter in die Vereinigten Staaten bringen zu können. Sie wollte Oleg sogar überreden mit Ihr zu gehen. Sie hatte ihre eigene Zukunft auf Oleg aufgebaut! Natascha waren die Makarov-Brüder egal. Ihre eigene Zukunft starb in Jurijs Club in einem weichen, schwarzen Lederfauteuil.

In der gleichen Nacht, in der sein Bruder Oleg und die Makarov-Brüder starben und somit in das Familienunternehmen wieder Ruhe einkehrte, reiste Jurij nach Bulgarien ab.

Innerhalb von wenigen Wochen hatte er das Land unter Kontrolle und beherrschte den Drogen- und Menschenhandel sowie die Prostitution. In den folgenden Jahren perfektionierte Jurij seine Grausamkeit. Treue oder Tod wurde zu seinem Motto. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn und musste sterben. Und viele Menschen starben in den nächsten Jahren. Nachdem er sich in Sofia nicht mehr sicher genug fühlte, verlegte er sein Hauptquartier nach Plovdiv, baute sich ein Netz von Informanten und Agenten auf. Polizei und Miliz waren machtlos, mussten ihm weichen oder standen auf seiner Gehaltsliste.

Wie es sein Vater gewünscht hatte, hatte Jurij eine zweite Route für den Drogen- und Menschenschmuggel nach Mitteleuropa aufgebaut. Diese war weit lukrativer und sicherer als die nördliche Route. Für wen er keine Verwendung im Bestimmungsland hatte, der kam dort nie an. Jurijs Schergen entledigten sich der Illegalen an vorher vereinbarten Orten. Es war ein sicheres Geschäft, denn niemand vermisste sie und niemand stellte Fragen. Das Geschäft blühte auf und Jurij war am Höhepunkt seiner Macht angekommen.

Inzwischen war Josef Iwanowitsch fast siebzig Jahre alt. Natascha hatte er nach Olegs Tod in ein Sanatorium bringen lassen. Wenige Wochen später war sie gestorben.

Zwei

Ich saß am Küchentisch und dachte an die Schreie. Mein Blick war auf den braunschwarzen Kreisel in meiner weißen Kaffeetasse gerichtet während ich abwesend mit einem kleinen zerkratzten Löffel darin umrührte. Neben der schlichten Kaffeetasse lag die aufgeschlagene Tageszeitung auf der grünen Tischfläche. Ich hatte die Schlagzeilen des Tages überflogen und war bei einem Artikel über den Aufgriff von Flüchtlingen im Grenzgebiet hängen geblieben. Ich hatte Schwierigkeiten mich zu konzentrieren. Der Einsatz der vergangenen Nacht hatte deutliche Spuren hinterlassen. Mein Blick glitt in die Ferne meiner Erinnerung und plötzlich hörte ich diese verdammten Schreie wieder.

Wir lebten in einer ruhigen Straße am Stadtrand von Plovdiv in Bulgarien. Ich war noch ein Junge. Mein Vater war ein schwer arbeitender Mann gewesen, ehe sich die Situation in unserer Heimat zugespitzt hatte. Er war bei der Miliz und hätte nur noch vier Jahre bis zu seiner Pensionierung gehabt. Meine Mutter war in einer Metallfabrik am Stadtrand am Fließband beschäftigt. Uns ging es für damalige Verhältnisse gut. Bis die Wirtschaft völlig zusammenbrach.

Meine Mutter verlor ihre Arbeit und wurde krank. Die wohlhabenden Menschen, wie der Direktor der Metallfabrik oder einige Stadträte und der Bankdirektor flohen in einer Nacht- und Nebelaktion und überließen die Stadt ihrem Schicksal. Nicht jedoch ohne sich vorher noch die Taschen mit Geld vollzustopfen. Die Metallfabrik war fast der einzige Arbeitgeber und von den Einnahmen durch die Fabrik bestritt die Stadt den größten Teil ihres Budgets. Damals war mit der Hilfe vom Staat nicht zu rechnen. Viele kleinere Städte gingen in dieser Zeit Bankrott und die Menschen versuchten entweder in der Hauptstadt ihr Glück oder schlossen sich Schleppern an, die sie in den Westen bringen wollten. Verbrecher nahmen das Ruder in die Hand. Banden aus dem Ausland, vor allem aus Russland und der Ukraine, versuchten die Situation für sich zu nutzen und lieferten sich untereinander erbitterte Kämpfe. Es war der junge Jurij Jokov, der am Ende den blutigen Unterweltkrieg für sich entschied. Zuerst mischte sich die Miliz nicht ein, denn es war in ihrem Interesse, dass sich die Banden selbst eliminierten.

Doch als der Bandenkrieg vorüber war, wurden die Bewohner Opfer von Jokovs Verbrechern und immer öfter mussten mein Vater und seine Kollegen eingreifen. Doch auf Dauer hatten sie keine Chance. Die Kriminellen waren der örtlichen Miliz zahlenmäßig überlegen und hatten die besseren Waffen. Die Polizisten mussten klein beigeben, wenn sie und ihre Familien in diesem Kampf nicht sterben wollten. Unterstützung aus der Hauptstadt oder vom Militär war nicht zu erwarten. Die Menschen lebten in Angst. Sie wurden erpresst und bestohlen. Die wenigen übergebliebenen einheimischen Geschäftsleute mussten Schutzgeld zahlen. Einige, wie der Bäcker und der Schneider in unserem Viertel, weigerten sich zu zahlen. Sie verschwanden über Nacht und niemand hat sie je wieder gefunden. Immer mehr Menschen verließen meine Heimatstadt.

Doch die Meisten wussten, dass es in nächster Zeit nirgendwo in Bulgarien genug Arbeit und Frieden für einen Neuanfang geben würde. Immer mehr wollten Bulgarien verlassen und nach Westeuropa oder gar nach Amerika auswandern. Jokovs Schlepperbande nutzte die Not der Menschen aus und nahm Ihnen für die Flucht in den Westen ihr letztes Hab und Gut ab. Terror und Einschüchterung regierten nun vor unserer Haustüre.

Ich war zwölf Jahre alt als ich zum ersten Mal diese Schreie hörte. Zuerst waren sie noch weit entfernt. Doch als ich eines Abends nach Hause ging, sah ich einen schwarzen großen Wagen vor einem schmalen dreistöckigen Haus stehen. Vor dem Auto standen zwei Männer in schwarzen Lederjacken an die Motorhaube gelehnt. Sie rauchten und unterhielten sich. Ab und zu lachte einer von Ihnen, als ob sie sich gegenseitig Witze erzählten. Im Erdgeschoß des Hauses befand sich ein Friseursalon. Das Licht brannte und aus der offenen Tür konnte ich laute Stimmen hören. Und diese Schreie! Ich spürte, dass hier etwas vor sich ging, das ich nicht sehen sollte. Bevor mich die beiden Männer am Wagen entdecken konnten, wechselte ich auf die andere Straßenseite. Ich fühlte immer stärker, dass ich einen Bogen um das riesige schwarze Auto und die beiden kräftigen Männer machen sollte. Im Schatten der Hausmauer schlich ich die Straße entlang und lugte immer wieder zum Friseurgeschäft hinüber. Durch die Auslage konnte ich noch zwei Männer in schwarzen Lederjacken erkennen, die mit Stöcken und Fäusten auf einen Mann im Geschäft einschlugen. Ein dritter Mann war von hinten über die Friseurin gebeugt, die immer wieder laut aufschrie. Es schien mir, als würde der Mann die Frau in den Rücken treten. Immer wieder schob er seinen Körper wuchtig vor und zurück. Mit der einen Hand drückte er die hübsche junge Frau nach unten, mit der anderen zog er sie an den Haaren zu sich zurück. Die Frau schrie und weinte, der Mann röchelte nur noch und hustete flach.

Ich erfuhr erst am nächsten Tag von meinem Vater, dass sich der Friseur geweigert hatte, sein Schutzgeld zu bezahlen. Er hatte es diesen Monat nicht geschafft, die verlangte Summe zusammen zu bekommen, denn für einen eleganten Haarschnitt hatte kaum mehr jemand Geld übrig. Sowohl der Friseur als auch sein Frau wurden von den Schlägern vergewaltigt und brutal misshandelt - als Abschreckung für andere, die nicht zahlen wollten oder konnten. An diesem Tag hörte ich auch den Namen Jokov das erste Mal. Jokovs Organisation wurde immer brutaler. Sie erpresste nicht mehr nur die Geschäftsleute, sondern schreckte nun auch vor ganz normalen Menschen, nicht einmal mehr Frauen, Kindern und Alten zurück.

Ich lebte gerne in dem Haus am Stadtrand. Es war aus Holz gebaut und manche Latten waren schon erheblich verwittert. Ich erinnerte mich, dass Vater, mein großer Bruder Plamen und ich schon viele Holzlatten getauscht, die Löcher geflickt und die Außenwände in einem schönen hellen Grün angemalt hatten. Seit dieser Zeit war Grün meine Lieblingsfarbe. Das Grün des Grases hatte ich am liebsten. An der Rückseite des Hauses befand sich eine kleine Terrasse, auf der einige Holzstühle standen, die Vater und ich gebaut hatten. Früher hatten wir im Sommer auf der Terrasse gekocht. Am liebsten aß ich Bob-Tschorba, eine mit Paprika geschärfte Bohnensuppe, Gjuwetsch oder Kavarma, ein Eintopf in vielen Varianten, der in einem Tongefäß zubereitet wird. Dann saßen Mutter, meine Schwester Radka und ich auf den Stühlen und bereiteten gemeinsam das Essen zu. Als Kind war ich selten in der Stadt. Ich hatte im Haus und im Garten alles, was ich mir zum Spielen wünschte. Pflanzen, Holz, Werkzeug - alles, womit Kinder ihrer Phantasie freien Lauf lassen konnten. Ich bastelte mit Vater und Plamen, kochte mit Radka und Mutter und spielte mit meinem besten Freund Simeon Räuber und Gendarm. Wenn Simeon und ich im Haus spielten, versteckten wir oft kleine Steine, die der andere dann mithilfe kleiner Rätsel, die wir auf kleine weiße Zettel kritzelten, finden musste. Simeon neigte dazu, zu schwindeln und wenn ich den Stein fast gefunden hatte, lenkte er mich ab um den Stein erneut zu verstecken.

Ich stand von meinem Stuhl auf und schlurfte in den eleganten Hausschuhen und im Schlafmantel zum Toaster. Ich schob zwei rechteckige Scheiben Roggentoast in die Schlitze und drückte den Schieber nach unten. Mein Blick war auf den Fussboden gerichtet. Ich hatte den Boden am vergangenen Wochenende mit einer Politur eingelassen. Der helle Parkettboden glänzte in der Morgensonne.

Anders als der Boden in dem kleinen grünen Haus damals. Der war dunkelbraun gewesen, fast schwarz, und hatte schon einige Risse. Die Holzdielen waren ganz glatt gehobelt von den tausenden Schritten und Tritten, die in fast siebzig Jahren darauf und darüber getreten hatten. In dem Haus hatten schon meine Großeltern gewohnt. Doch die waren sehr früh gestorben und Vater hatte das Haus übernommen. Vater wollte den Boden herrichten lassen, doch dazu kam er nicht mehr. Er sagte immer, dass dafür später genug Zeit sein würde. Wir hatten nie gedacht, dass es uns einmal so schlecht gehen könnte, dass wir kein Geld mehr für ein bisschen Bauholz haben würden. Unter dem Bretterboden waren einige Löcher und eines davon diente uns als Tresor. Es war ein Familiengeheimnis.

Doch nun waren Vater und Mutter damit beschäftigt die fünf Mäuler mit dem wenigen Geld, das Vater nach dem Zusammenbruch erhielt, zu stopfen. Im Winter oder an verregneten Tagen saß ich die meiste Zeit am Küchentisch und beobachtete das Treiben durch die weißen Spitzenvorhänge im Garten und auf der Straße vor dem Haus. An der Küchenwand hingen zwei Regale, auf denen verbeulte Blechdosen mit Mehl, Zucker, Salz und Zwiebeln standen. In der Ecke neben dem Fenster prangte der schwere gusseiserne Herd, der nicht nur zum Essen kochen diente sondern auch den Großteil des Hauses beheizte. Neben dem Herd stand ein wackeliger Holzschemel, auf dem meine Mutter gerne saß, wenn sie Kartoffeln, Rüben oder Karotten schälte. Vor allem im Winter, wenn es draußen stürmte und der Schnee sich türmte, blieb sie manchmal den ganzen Tag auf diesem Stuhl sitzen, wärmte sich und kochte das Essen. Neben dem Waschbecken ragte ein großer Schrank bis fast zur Decke, in dem sie das Geschirr, die Gläser und das Besteck aufbewahrten und in einer kleinen liebevoll verzierten Holztruhe neben dem Schrank lag fein säuberlich gewaschen und gebügelt die gute Tischwäsche für die Feiertage.

Der Toast sprang aus den Schlitzen. Ich legte die heißen Scheiben auf einen Teller. Dann nahm ich Butter und Erdbeermarmelade aus dem Kühlschrank und trug alles zum Küchentisch. Für ein Frühstück wie dieses hätte ich als Junge viel gegeben.

Wenn ich früher zu großen Hunger hatte, ging ich in das Wohnzimmer, setzte mich auf den Boden und drehte den Fernseher auf. Heute kam es mir eigenartig vor, dass wir zwar manchmal nicht genug zu essen aber einen Fernsehapparat hatten. Wenn ich mich auf die Geschichten im Fernseher konzentrierte, war der Hunger wieder weg. Ich versuchte mir jedes Wort und jedes Detail sofort zu merken und manchmal konnte ich noch viele Wochen später winzige Details oder auch ganze Passagen aus den Sendungen wiedergeben. Die Korelevs waren eine der ersten Familien in ihrem Viertel gewesen, die einen Fernseher bekommen hatten. Eines Tages war Vater mit dem Gerät in der Haustür gestanden und hatte über das ganze Gesicht gestrahlt. Er hatte eine Serie von Einbrüchen aufgeklärt und der Besitzer eines der betroffenen Geschäfte hatte ihm zum Dank dafür einen nagelneuen Fernsehapparat geschenkt. Es war das erste Mal, dass Vater gegen Jokovs Organisation etwas unternehmen musste und gewinnen konnte. Viele Menschen hielten Vater danach für einen Helden und oft kamen fremde Menschen zu unserem Haus um uns Obst, Fleisch oder andere Dinge zu schenken.

Doch oft hatten wir nur ein Stück schwarzes Brot und ein paar Rüben für den ganzen Tag zur Verfügung. Wir hätten natürlich im Garten Obst und Gemüse anbauen können. Wir hatten auch damit begonnen Salat, Karotten, Radieschen, Gurken und Kartoffeln zu pflanzen. Einige Zeit später standen plötzlich drei bedrohlich wirkende Männer in schwarzen Lederjacken in unserem Garten. Als ich diese Männer sah, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich erinnerte mich an jenen Abend ein paar Monate davor, an dem ich am Friseursalon vorbeigeschlichen war. Vater und Mutter waren gerade dabei, Kartoffeln zu ernten um sie am Abend mit ein paar Karotten und Kräutern zu einem schmackhaften Eintopf zu verkochen. Die Männer sprachen kurz mit ihnen. Dann nahmen sie ihnen Schaufel und Hacke aus der Hand und verwüsteten damit den Gemüsegarten. Es war mein erster direkter Kontakt mit Jokovs Männern. Vater hatte Mutter ins Haus geschickt. Sie sollte nicht mit ansehen müssen, wie die Männer wüteten. Außerdem wusste Vater, was diese Bastarde vielen Frauen angetan hatten. Er wollte Mutter aus dem Blickfeld der Verbrecher haben. Vater aber blieb stehen, wo er war. Ich sah durch das Fenster, wie die Männer im Garten tobten, aber Vater zuckte mit keiner Wimper. Er blickte starr auf das Haus, als ginge ihn die ganze Aktion nichts an. Zweimal trafen die Schläger Vater mit der Schaufel am Bein, doch auch das schien er nicht zu spüren. Als die Männer alles zerstört hatten, warfen sie die Gartengeräte vor Vaters Füße und verließen den Garten. Jokov wollte die Bewohner zwingen in seinen Läden zu kaufen. Jeder, der versuchte sich selbst zu versorgen, bekam Besuch von den Männern des „Zarewitschs“, wie er sich mittlerweile nannte. Nachdem nun auch wir Besuch bekommen hatten, mussten auch wir die meisten unserer Lebensmittel in seinen Läden kaufen. Selbstverständlich zu überhöhten Preisen und in schlechter Qualität. Das führte dazu, dass wir manches Mal sogar hungern mussten. Wir wurden anfällig für Krankheiten. Mutter hatte am meisten unter den Entbehrungen zu leiden, doch auch Vater wirkte nach wenigen Monaten ausgezehrt. Natürlich gaben die Eltern zuerst uns Kindern und nahmen sich nur, was übrig blieb. Doch das war nie genug.

Ich stand auf um ein Messer aus der Küchenlade zu holen. Auch nach so langer Zeit waren die Bilder in meinem Kopf frisch. Ich hatte nichts vergessen. Es fiel mir leicht, mir Dinge zu merken. Manches hätte ich lieber vergessen. Vielleicht war das ein Fehler von mir, dass ich alles bis ins Detail verfolgte, mich überall hineinbohrte, bis es nichts mehr zu finden gab. Nur so war es mir möglich, mich festzulegen, einen Weg zu finden, ein Ziel zu erreichen. Bevor ich mich für eine Lösung entschied, musste ich möglichst alles wissen, was es zu diesem Thema zu wissen gab. Das war wie ein Zwang. Ich stand vor der geöffneten Bestecklade und blickte auf die funkelnden Dessertmesser. Ich nahm eines heraus und ging zu meinem Platz zurück.

Neben uns wohnte mein bester Freund Simeon. Sein Vater hatte sich mit den Verbrechern arrangiert und war zum Informanten geworden. Als die Verbrecher schließlich auch von uns Schutzgeld verlangten, verriet Simeon seinem Vater, dass unter den Dielen in unserer Küche ein Geheimfach war. Ich hatte Simeon einmal davon erzählt. Ich wusste damals nicht genau, was da drinnen war. Ich bot ihm an unseren Tresor zu nutzen, falls Simeon einmal etwas verstecken wollte. Ich hatte meinem besten Freund helfen wollen und dann verriet er uns! Wieder tauchte ein Bild in meinem Kopf auf, detailliert, wie wenn es gerade geschehen würde.

Eines Abends bog ich in meine Straße ein und blieb wie versteinert stehen. Vor unserem Haus stand ein großer schwarzer Wagen, wie ich ihn vor dem Friseursalon schon einmal gesehen hatte. Zwei Männer mit schwarzen Lederjacken lehnten auf der Motorhaube und rauchten genüsslich eine Zigarette. Ich ging langsam den Zäunen entlang auf die Männer und den Wagen zu. Bevor sie mich entdeckten, kletterte ich rasch über einen Gartenzaun und rannte durch die Gärten bis zu unserem Haus. Dann schlich ich mich an die Terrassentür heran. Der Schweiß war mir auf der Stirn gestanden und in meinem Kopf tauchten wieder die Bilder vom Friseur und dessen Frau auf. Ich hatte Angst davor, Vater blutend zwischen den Schlägern zu sehen und Mutter weinend und schreiend in der Gewalt eines anderen schwarzgekleideten Verbrechers. Dann lugte ich vorsichtig um den Türstock und sah, dass Mutter neben dem Herd saß und weinte. Vater stand einen Schritt vor ihr und hatte eine blutende Wunde an der Stirn. Drei schwarze Männer standen in unserer Küche. Von Plamen und Radka war nichts zu sehen. Sie waren wahrscheinlich unterwegs auf der Suche nach Essbarem. Die Männer brüllten meine Eltern an und schlugen Vater immer wieder ins Gesicht. Dann hörte ich, wie sie nach dem Geheimfach fragten. Sie sagten, sie hätten von einem Nachbarn gehört, dass ein Geheimfach im Haus sein musste. Ein Blitz fuhr durch meinen Körper! Ich bekam erneut einen Schweißausbruch und meine Finger verkrampften sich vor Zorn. Simeon! Ich hatte selbst nur durch Zufall von dem Geheimfach erfahren. Ich war mir sicher, dass weder Vater noch Mutter ahnten, dass ich von diesem Versteck etwas wusste.

Ich wollte Vater und Mutter irgendwie helfen, doch ich konnte nichts tun. In diesem Moment drehte Vater seinen Kopf und sah mich direkt an ohne, dass die Männer davon etwas mitbekamen. In Vaters Blick lagen Sorge, Trotz und Kampflust. Und noch etwas las ich aus dem Augen meines Vater: Ich sollte ruhig sein und verschwinden.

Selbst in scheinbar ausweglosen Situationen wie dieser war Vater immer stark gewesen. Er hatte sich niemals einschüchtern lassen, nie Angst gezeigt oder gar resigniert. Mutter war nicht ganz so stark. Sie hatte Angst um ihren Mann und die Kinder, doch niemals um das Haus, Geld oder sonstige Dinge. Und diese Angst konnte man in ihrem Gesicht entdecken. Ich musste tatenlos mit ansehen, wie die Männer den Dielenboden aufrissen und das Geheimfach plünderten - ein paar Dokumente und Mutters letzter Schmuck waren darin. Kaum mehr etwas von Wert, denn das Meiste hatten wir bereits zu Geld machen müssen, um Lebensmittel zu kaufen. Vater hatte das Versteck verraten, um seine Familie zu schützen. Unser Leben für ein bisschen Geld zu riskieren, wäre Vater nie in den Sinn gekommen. Doch Vater hatte nicht damit gerechnet, dass es schlimmer kommen würde.

Da waren sie! Die Schreie meiner Mutter. Mir wurde plötzlich glühend heiß und meine Hände klammerten sich fest um den Griff des Buttermessers. Ich schwitzte stark und der Schweiß rann über mein Gesicht. Mein ganzer Körper war auf einmal schweißgebadet. Laut und deutlich hörte ich meine Mutter schreien! Ich hörte sie immer wieder. Selbst im Schlaf. Immer noch, fast jede Nacht. Ganz deutlich. Ich wünschte mir diese Schreie endlich vergessen zu können!

Ich presste die Butter unbewusst so fest auf den Toast, dass er zerbrach und an meiner linken Handfläche kleben blieb. Ich hatte mir in den letzten Jahren immer wieder einzureden versucht, dass damals jeder um sein Überleben kämpfte. Jeder musste seinen ganz eigenen Weg finden, um am Leben zu bleiben und nicht als namenloses Opfer zu verrecken. Das traf nicht nur auf uns zu, das traf auch auf Simeon zu. Ich hatte wirklich versucht, Simeon vor mir selbst zu verteidigen. Dass auch er nur überleben wollte. Aber eben nicht so stark war wie etwa mein Vater. Dass es keine Absicht von ihm war. Dass er eben nicht anders konnte. Doch ich konnte seinen Verrat nicht akzeptieren. Und Simeon hatte uns verraten. Schon als Kind konnte ich bei Verrat nicht über meinen Schatten springen.

Ich war ein kräftiger, intelligenter Junge mit schwarzen Haaren, grünblauen Augen und einer von bereits nur wenigen Sonnenstrahlen braunen Haut. Ich galt als nett und wohlerzogen. Ein lieber, hübscher Junge. Doch so hübsch und lieb ich auch bis zu jenem Tag gewesen sein mochte, dieser Verrat veränderte mich. Wegen dieses Verrats musste Mutter schreien und weinen und Vater verlor fast den Verstand. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich wütend, dachte an Vergeltung und beschloss Rache für meine Familie zu nehmen. Simeon musste dafür büßen. Ich dachte lange nach und spielte viele, nein – ich spielte alle Möglichkeiten zur Rache durch. Ich hatte Simeon seit dem Verrat nicht mehr gesehen. Simeon war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Doch dann fand ich ihn in der Nähe des Bahnhofs, als er mir mit einem Paket Schokolade und einer Stange Zigaretten entgegenkam. Möglicherweise war das sogar der Lohn für den Verrat an uns. Simeon wollte flüchten als er mich sah. Doch ich war schneller. Ich jagte Simeon. Ich jagte ihn so, wie ein Wolf einen Hasen jagte. Ich holte ihn ein, verpasste ihm einen Faustschlag und ließ ihn entkommen. Ich gab ihm einen kleinen Vorsprung, jagte ihn, fing ihn, schlug wieder auf ihn ein und ließ ihn wieder kurz entkommen. Auf diese Weise verfolgte ich ihn durch die Stadt. Ich stellte ihn dort, wo viele Menschen waren, wo uns jeder sehen konnte, verdrosch ihn und schrie dabei laut:

„Verräter! Du dreckiger Verräter!"

Das machte ich über eine Stunde lang. Bis Simeon nicht mehr konnte. Bis mein bester Freund blutend und weinend mit zerfetztem Hemd und halb heruntergezogener, angepinkelter Hose vor mir im Dreck lag. Doch auch meine Kräfte waren verbraucht. Ich war müde, meine Finger und Arme taten weh und mein Magen knurrte. Ich stand über meinem einstmals besten Freund, der zu einem dreckigen, miesen Verräter geworden war und hatte mir meine ganze Wut war aus dem Leib geprügelt. Ich war mir sicher gewesen, dass mir diese Hasenjagd Genugtuung geben würde. Doch auch wenn Simeon jetzt vor mir im Dreck wimmerte, nichts davon konnte gutmachen, was Simeon meiner Familie angetan hatte. Es war kein Triumph. Ich fühlte mich leer und alleine. Ich war noch ein halbes Kind und hatte gerade meinen besten Freund verloren.

Von diesem Tag an änderte sich meine Welt grundlegend. Jokovs Männer sah ich nun nahezu täglich. Unsere Straße stand jetzt unter deren Beobachtung. Das hinterließ auch in unserer Familie Spuren. Wir konnten nicht mehr so tun, als ginge uns das alles nichts mehr an. Wir mussten Farbe bekennen. Entweder wechselten wir wie Simeon auf Jokovs Seite oder wir mussten ihn bekämpfen. Dazwischen gab es nichts.

Wir entschieden uns für den Widerstand, versuchten dennoch nicht aufzufallen und den Schlägern keinen Grund zu geben, ihre gefürchteten Einschüchterungsaktionen gegen uns weiter durchzuführen. Neu war auch, dass Vater und Plamen oft erst spät in der Nacht nach Hause kamen. Als Plamen achtzehn Jahre alt wurde, trat er der Miliz bei. Gegen Mutters Willen. Sie hatte verständlicherweise Angst. Vater und Plamen gingen nach dem Dienst ins Kaffeehaus. Was dort genau geschah, wusste ich nicht. Das erfuhr ich erst einige Monate später.

Es kam immer öfter zu kleinen Zwischenfällen zwischen den Widerständlern und Jokovs Organisation. Ab und zu ging einer von Jokovs schwarzen Wägen in Flammen auf. Ein anderes Mal gab es Brandanschläge gegen Lokale und Treffpunkte von Jokovs Männern. Aber es erfolgten auch direkte Angriffe gegen Jokovs Männer. Widerstand formierte sich und das blieb nicht ohne Folgen. Der Zarewitsch ließ für jedes zerstörte Auto ein Wohnhaus in Flammen aufgehen, für jede Attacke gegen einen seiner Männer starb ein Milizionär. Der Widerstand konnte nur bestehen, weil jede Beute, die gemacht wurde direkt an die Bevölkerung zurückfloss. Ohne diese Robin-Hood-Taktik wären sie alle verraten worden.

Mit achtzehn Jahren beschloss ich auch zur Miliz zu gehen. Ich hatte ein Gespräch zwischen Plamen und Vater belauscht und wusste daher, dass die Miliz und die Widerstandsbewegung eng miteinander zusammenarbeiteten. Jokovs Männern war natürlich bekannt, dass die Korelevs bei der Miliz waren. Aber sie wusste nicht, dass wir auch die Anführer des aktiven Widerstandes waren. Als Milizionäre schauten wir tagsüber weg, wenn Jokovs Männer ihre Verbrechen verübten. Als Widerstandskämpfer jagten wir sie in der Nacht und fügten Ihnen Schaden zu, wo wir nur konnten. Dieses Doppelleben war unsere Überlebensgarantie. An meinem ersten Arbeitstag weihte mich Vater in das Geheimnis ein. Als Zentrale der Widerständler diente das Kaffeehaus, in dem Informationen und Waffen weitergeleitet wurden. Über mehrere Jahre gelang es uns, Jokov zu schaden. Wir raubten Ihnen Waffen und Geld, stahlen Drogen und Fahrzeuge und töteten einige Männer des Zarewitschs. Wir wurden ihm so lästig, dass sich schließlich Jokov höchstpersönlich einschaltete und zum Gegenschlag ausholte. Er fiel in einen Blutrausch, tötete Männer und Frauen, die er für Widerstandskämpfer hielt, ohne mit der Wimper zu zucken und schaffte es schließlich, den Widerstand zu brechen. Durch diese Racheaktionen quittierten einige unserer Kollegen den Dienst bei der Miliz, weil es für sie und ihre Familien zu gefährlich wurde. Der eine oder andere wechselte sogar die Seiten, ließ sich bestechen oder von den Banden als Spitzel oder Schläger anheuern. Wieder kam in mir dieses Gefühl des Verraten werden auf wie damals bei Simeon. Aber diesmal ging es nicht nur um Geld oder Schmuck sondern ums nackte Überleben. Die Miliz in unserer Heimatstadt stellte für die Verbrecher kaum mehr eine ernstzunehmende Gefahr dar. Sie bestand nahezu nur noch aus uns und unseren besten Freunden. Damit war für den Zarewitsch auch klar, dass wir zu seinen Feinden gehörten. Und damit wuchs auch die Gefahr für uns täglich. Nach den nächsten erfolgreichen Coups des Widerstandes lag eine eigenartige Stille über der Stadt. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Für Jokov waren die Korelevs zum Ärgernis geworden. Und nun begann Jurij Josifowitsch Jokov uns gezielt zu jagen.

Drei

An einem glühend heißen Augusttag, nach Sonnenuntergang, packten wir die wenigen Dinge zusammen, die noch wichtig waren und wanderten zu Onkel Stanimir. Vater hatte beschlossen, Plovdiv zu verlassen. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis uns der Zarewitsch gefunden hätte. Onkel Stanimir wohnte in einem Dorf, das rund fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt lag. Von dort waren es nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze im Süden.

In dieser Nacht ging die halbe Stadt in Flammen auf und die meisten Widerstandskämpfer und Milizsoldaten wurden getötet. Der Zarewitsch führte einen vernichtenden Schlag aus. Jokovs Männer stellten uns in unserem Unterschlupf, Gott alleine weiß, woher er diesen Tipp bekam. Zuerst wurde Vater von einer Maschinengewehrsalve getötet. Dann starb Onkel Stanimir durch einen Schuss in den Hinterkopf. Plamen wurde gefangen genommen und verschleppt. Ich war bei Mutter und Radka geblieben, aber wir hatten keine Chance. Doch anstatt uns gleich umzubringen oder in die Stadt zu schleppen, luden uns die Männer auf Lastwägen. Ich musste in einen Sattelzug einsteigen, der über eine doppelte Wand verfügte. Ich wurde durch die Tür in den Hohlraum gestoßen, stolperte und krachte mit dem Kopf gegen die Wand. Der Aufprall war so heftig, dass ich das Bewusstsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rücken. Mein Kopf pochte und es dröhnte ohrenbetäubend. Ich konnte meine Hand vor Augen nicht sehen. Es stank nach Urin, Schweiß und Benzin und ich rief nach Mutter und Radka. Doch es antwortete niemand. Ich versuchte mich aufzurichten. Der Sattelzug schwankte und mein Kopf tat so weh, dass mir die Knie versagten. Außer mir waren noch rund ein Dutzend Frauen und Kinder in dem kaum zehn Quadratmeter kleinen Raum. Niemand konnte mir sagen, was mit Mutter und Radka geschehen war. Niemand wusste, wo sie waren oder wie lange wir schon unterwegs waren. Der Lastwagen blieb kurz stehen, die Türe blieb verschlossen. Wir mussten unseren Bedürfnissen in diesem Verschlag nachgehen und so wurde der Gestank immer unerträglicher. Wir lagen mehr über- als nebeneinander am verschmutzten Boden und dösten vor uns hin. Wir hatten seit vielen Stunden nichts mehr zu trinken oder essen bekommen und waren am Ende unserer Kräfte.

Ich wusch mir die Reste des Toasts von den Händen. Jokov! Es gab viele Menschen, die ich nicht mochte. Aber Jokov hasste ich. Seinetwegen war ich wieder bei der Polizei. Seinetwegen verzichtete ich auf ein geregeltes Leben. Seinetwegen gab ich mich mit Kollegen ab, die ich normalerweise schon längst abgeschossen hätte. Dieser Mann war schuld am Tod meiner Eltern und der Familie meines Onkels. Er hatte den Befehl gegeben uns zu jagen und zu töten. Doch mich hatte er nicht bekommen. Meine Leiche lag nicht in seinem Keller. Der Zarewitsch hatte mich gejagt, aber nicht bekommen! Dann hatte ich begonnen, ihn zu jagen. Doch ich hatte keine Spur von ihm gefunden. Ich hatte gehofft, ein Stachel in Jokovs Fleisch zu sein. Doch nichts geschah. Wir hatten uns aus den Augen verloren. Ich war bloß eine Unachtsamkeit gewesen, die ihm unterlaufen war. Hier in Österreich, war er nicht an mich herangekommen. Und ich auch nicht an ihn. Wir hatten uns gegenseitig, aber es gab kein Schlachtfeld. Ich hatte mich lange Jahre nach diesem Kampf gesehnt. Meine Mutter und meine Schwester waren immer noch verschwunden. Ohne jede Spur. Nur von Jokov hätte ich etwas erfahren können. Doch auch Jokov schien mich nicht mehr zu verfolgen. Wir waren wie zwei Boxer, die keinen Ring zum Kämpfen hatten. Mittlerweile schien es mir sogar, dass Jokov gar nicht mehr kämpfen wollte. Und ich nicht kämpfen durfte, weil ich ihn nicht finden konnte. Jedes Mal, wenn mir ein Schlepper ins Netz ging, hoffte ich, dass es einer von Jokovs Männern war. Doch bisher hatte ich kein Glück. Wir erwischten nur die kleinen Fische. Das war frustrierend und begann mich immer herz- und gefühlloser gegenüber Menschen zu machen.

Ich stand im dunkelgrünen Schlafanzug in der Küche und starrte auf die Krümel in der Abwasch. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich das Frühstück völlig ausgeblendet hatte. Nachdenklich griff ich nach dem Henkel der Kaffeetasse und schlürfte an dem nur noch lauwarmen Filterkaffee. Ich trank zwar Filterkaffee, doch kaufte ich immer ganze Kaffeebohnen, die ich erst kurz vor dem Trinken in die Kaffeemühle warf. Immer eine kleine Handvoll Bohnen pro Frühstück. Den Rest der Bohnen verwahrte ich gut verschlossen in einer Blechdose, die ich auf einem Flohmarkt entdeckt hatte, im Kühlschrank. Die Verkäuferin im Geschäft um die Ecke hatte mir einmal diesen Rat gegeben und ich fand, dass sich diese Methode sehr vernünftig anhörte. Ich hasste es, Lebensmittel wegwerfen zu müssen, nur weil man zu viel gekocht hatte oder die Lebensmittel falsch lagerte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Mutter früher einmal Gemüse, Obst oder Fleisch weggeschmissen hatte. Sie war sehr gut darin, fast jeden Bestandteil einer Frucht oder eines Tieres zu einem leckeren Essen zu verarbeiten. Und sie hatte Lebensmittel auch in Blechdosen aufbewahrt.

Die Fluchtroute aus dem Osten über Griechenland, das zerfallene Jugoslawien und Ungarn war eine der beliebtesten Routen für Jokovs Schlepper geworden. An den Grenzen gab es selten Probleme. Andere Routen führten über die baltischen Staaten und Skandinavien. Der Lastwagen, in dem ich mich damals befand, fuhr bis in die Nähe von Sopron in Ungarn. Dort mussten wir aussteigen. Zwei Männer verbanden uns die Augen und gemeinsam mussten wir in einer Reihe durch den Wald gehen, eine Hand auf die Schulter des Vordermannes gelegt. Doch es war kein richtiger Weg, eher ein schlecht ausgetretener Pfad und viele stolperten, stürzten oder zerkratzten sich Beine, Arme und das Gesicht an den Ästen, die in den Pfad ragten. Dann durften wir die Augenbinde wieder abnehmen und standen vor einem gut getarnten Holzverschlag inmitten eines düsteren und dichten Mischwalds. Einer der Männer erklärte uns, dass wir uns in einem militärischen Sperrgebiet befänden und es noch dutzende scharfer Tretminen in dem Waldstück gäbe. Doch hinter dem Wald sei gleich die Grenze nach Österreich. Und damit es niemand auf eigene Faust versuche, über die Grenze zu kommen, hätte man ihnen die Augen verbunden. Wir sollten uns ruhig verhalten und warten, bis jemand käme und uns über einen sicheren Weg durch das Minenfeld über die Grenze begleiten würde. Das werde noch am gleichen Abend sein. Wir sollten uns ruhig verhalten, damit wir unser Versteck nicht verrieten. Sollte es jemand auf eigene Faust versuchen, so wäre das zum Schaden aller und die Aktion wäre gestorben. Damit hatten sie die meisten von uns ausreichend eingeschüchtert und gegeneinander misstrauisch gemacht. Ich sah mich um, fand weder Mutter noch Radka. Ich fragte einen der Wächter nach ihnen, doch ich bekam keine Antwort. Würden Sie später kommen? Oder nahmen Sie einen anderen Weg über die Grenze? Ich konnte mir nicht erklären, warum mich der Zarewitsch am Leben gelassen und mit den anderen nach Österreich bringen wollte. Was hatte er vor? Und was mit den durchwegs älteren Frauen und kleinen Kindern? Wir saßen zusammen gepfercht in dem Verschlag. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über die Holzstämme und blieb bei einigen Einkerbungen hängen. Ich beugte mich vor um zu erkennen, was das war, doch es war zu dunkel. Ich tastete wieder nach den Kerben und merkte, dass es ein Wort war. Es war in kyrillischer Schrift geschrieben.

"Flieht!" stand hier ins Holz geritzt! Was hatte das zu bedeuten? Dichtes Unterholz und ein dichter Baumbestand erlaubten uns keine klare Orientierung. Nur spärlich fiel noch Licht durch die Ritzen in dem Holzkäfig. Wir warteten lange. Doch niemand kam. Ich überlegte wieder. Dachte nach. Grübelte. Und entschied mich. Ich ging los, ohne dass es jemand bemerkte. Ich saß mit dem Rücken an eine der Holzlatten gelehnt und grub unbemerkt eine kleine Grube um das untere Ende der Holzlatte zu lockern. Es dauerte lange, bis sich die Latte bewegt hatte. Nun konnte man kaum noch die eigene Hand vor Augen erkennen und immer noch war niemand aufgetaucht um uns weiterzuführen. Ich drückte gegen die Holzlatte und rollte mich lautlos durch die Öffnung. Dann lief ich einige Schritte in den Wald, stolperte über Äste und Büsche und hockte mich hinter einen Baum. Das war der gefährlichste Teil des Unternehmens gewesen, hatte ich mir ausgerechnet. In der Abenddämmerung hatte ich immer wieder verschiedene Tiere im Wald gehört. Mit jedem Laut, den ich aus dem Wald gehört hatte, war mir die Geschichte von den Minen immer unglaubwürdiger vorgekommen. Ich hatte niemandem etwas von meinem Verdacht erzählt. Sollte ich mich doch irren und der Wald war vermint, dann würde es nur mich treffen. Außerdem hätten womöglich andere Flüchtlinge den Fluchtversuch verhindert. Wenn ich am nächsten Morgen verschwunden wäre, wären die anderen vielleicht auch darauf kommen, dass die Schlepper sie hier mitten im Wald im Stich gelassen hatten. Sie waren mit allen Ersparnissen untergetaucht und hatten die Gruppe schutzlos der Polizei oder dem Militär ausgeliefert, die sie wieder zurück nach Bulgarien schicken würden. In die Hände Jokovs. Bei diesem Gedanken hatte ich mich entschlossen, aus dem Versteck auszubrechen und die Flucht alleine fortzusetzen. Zurück in Bulgarien wäre ich Jokovs Männern schutzlos ausgeliefert. Ich hoffte nur, dass Mutter und Radka ebenfalls hatten fliehen können. Ich hoffte von Österreich aus Mutter und Radka finden zu können. Doch es sollte alles anders kommen.

Ich saß unter einem Baum und lauschte. Ich hörte den Wind, wie er durch die Äste fuhr und ein gespenstisches Rauschen und Pfeifen erzeugte. Ich blickte nach oben und versuchte die Sterne am Himmel oder den Mond zu entdecken. Doch es waren Wolken aufgezogen und die Umgebung versank in einem tiefen alles verschlingenden Schwarz. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt sicher, dass es keine Tretminen im Wald gab und stand langsam auf. Bevor ich losging, dachte ich noch einmal an meine Familie und redete mir ein, dass sie sehr stolz auf mich gewesen wäre, wenn ich es nach Österreich geschafft hätte. Ich war vielleicht der einzige Korelev, der jetzt noch Jokov zur Strecke bringen konnte. Gerade als ich den ersten Schritt machen wollte, hörte ich ein Motorengeräusch. Die Schlepper waren zurückgekommen und ich überlegte kurz, ob ich umkehren sollte. Doch die gelogene Geschichte mit den Tretminen ging mir nicht aus dem Kopf und so kauerte ich mich wieder hin und richtete meine Augen auf den Lichtkegel eines Geländewagens, der auf das Versteck zufuhr. Sollten sie uns jetzt weiter transportieren, so würde ich mich unbemerkt wieder in die Gruppe drängen.

Der Wagen blieb stehen und die Scheinwerfer strahlten den Holzverschlag direkt an. Ich sah von meinem Versteck aus, wie zwei Männer aus dem Wagen stiegen. Sie trugen schwarze Lederjacken. Ich erstarrte. Einer von ihnen öffnete den Verschlag und befahl den Flüchtlingen herauszukommen. Sie stellten sich vor der Hütte auf und warteten auf weitere Anweisungen. Die Männer gingen hinter den Geländewagen und eine Zeitlang sah ich nur die Holzhütte und die kleine Gruppe davor, wie auf einer Bühne stehen, bereit ihre Szene zu spielen. Was dann kam war schlimmer als alles, was ich bisher gesehen hatte. Schlimmer als mein Freund Simeon, als er blutend vor mir im Straßendreck lag, schlimmer als der Friseurladen und sogar schlimmer als die Schreie meiner Mutter.

Ich musste mich an den Küchentisch setzen und wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Ich blickte in die Zeitung um mich abzulenken. Die Erinnerung an meine Flucht hatte ich bis heute nicht restlos verarbeiten können. Sie war schuld an meiner Gefühlskälte und an meiner Kompromissunfähigkeit. Frauen und Mädchen, die ich danach kennengelernt hatte, warfen mir vor, ich sei hartherzig und egoistisch. Ich würde über Leichen gehen, wenn ich mein Ziel erreichen wolle. Ich hatte diese Vorwürfe lange nicht verstanden. Für mich war es selbstverständlich, dass ich mir Ziele setzte und diese unter allen Umständen zu erreichen versuchte. Wozu wären Ziele sonst gut, wenn man sie bei den ersten Schwierigkeiten umformulieren oder gar aufgeben würde? Das ist nicht gefühlskalt oder egoistisch, sondern stark und konsequent! Und wenn irgendjemand das nicht verstehen konnte, dann war es besser mir aus dem Weg zu gehen! Ich hätte die Flucht nicht geschafft, wenn ich den Schwierigkeiten damals aus dem Weg gegangen wäre oder irgendjemandem außer meiner Familie vertraut hätte. Doch es musste irgendetwas Wahres an diesen Vorwürfen sein, denn die meiste Zeit lebte und arbeitete ich alleine. Ohne Partner im Leben und ohne Partner im Beruf.

Ich war in Gedanken schon fast bei meinen gescheiterten Beziehungen angelangt, als mir meine Erinnerung einen Streich spielte und wieder in das kleine Waldstück an der österreichischen Grenze zurückkehrte.

Ich hörte ein Geräusch, wie wenn Luftballons zerplatzten. Rasche kurze Knaller. Unheimlich schnelle und viele Platzer. Die Gruppe vor dem Versteck, in dem ich noch vor wenigen Minuten selbst gewartet hatte, auf ihrer grell beleuchteten Bühne, begann zu schreien und zu zucken. Es sah einen Moment so aus als würden sie zu einem eigenwilligen Rhythmus tanzen. Einige versuchten weg zu laufen oder sich hinter dem Verschlag in Sicherheit bringen. Doch keiner von ihnen schaffte es. Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei und die Flüchtlinge tot. Die Männer in den schwarzen Lederjacken hatten sie eiskalt mit schallgedämpften Maschinenpistolen erschossen. Ich war wie versteinert hinter seinem Baum versteckt und begriff nicht, was hier vor sich gegangen war. Ich wollte schreien, mein Magen drehte sich um, Tränen traten mir in die Augen. Sämtliche Kraft schien meinen Körper zu verlassen. Erst allmählich wurde mir klar, dass keiner der Flüchtlinge, die bis hier her gekommen waren, jemals den Westen gesehen hatten. Und es würde auch niemandem, der dieser Bande vertraute, die Flucht gelingen. Dieser Wald war ein einziges Massengrab!