Der Zauberberg - Thomas Mann - E-Book

Der Zauberberg E-Book

Thomas Mann

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Beschreibung

Der Zauberberg Thomas Mann - Geplant als Novelle, als heiteres Gegenstück zum Tod in Venedig, entstand mit dem Zauberberg einer der großen Romane der klassischen Moderne. Ein kurzer Besuch in einem Davoser Sanatorium wird für den Protagonisten Hans Castorp zu einem siebenjährigen Aufenthalt, der Kurort wird zur Bühne für die europäische Befindlichkeit vor dem Ersten Weltkrieg. Im Juli 1913 begonnen, während des Krieges durch essayistische Arbeiten, vor allem durch die Betrachtungen eines Unpolitischen, unterbrochen, konnte der Roman 1924 abgeschlossen und veröffentlicht werden.

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Thomas Mann
Der Zauberberg

Der Zauberberg - Erster Band

Vorsatz

Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen.

Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts. Es steht jedoch so mit ihr, wie es heute auch mit den Menschen und unter diesen nicht zum wenigsten mit den Geschichtenerzählern steht: sie ist viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen; mit einem Worte: sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, – eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei.

Um aber einen klaren Sachverhalt nicht künstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie vor einer gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt ... Sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht lange vorher. Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter „vorher“ sie spielt? Zudem könnte es sein, daß die unsrige mit dem Märchen auch sonst, ihrer inneren Natur nach, das eine und andre zu schaffen hat.

Wir werden sie ausführlich erzählen, genau und gründlich, – denn wann wäre je die Kurz- oder Langweiligkeit einer Geschichte abhängig gewesen von dem Raum und der Zeit, die sie in Anspruch nahm? Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit, neigen wir vielmehr der Ansicht zu, daß nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei.

Im Handumdrehen also wird der Erzähler mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am besten ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit ihm verstreichen wird, während sie ihn umsponnen hält. Es werden, in Gottes Namen, ja nicht geradezu sieben Jahre sein!

Und somit fangen wir an.

Erstes Kapitel

Ankunft

Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen.

Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhältnis zu einem so kurzen Aufenthalt. Es geht durch mehrerer Herren Länder, bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten.

Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umständlichkeiten. Beim Orte Rorschach, auf schweizerischem Gebiet, vertraut man sich wieder der Eisenbahn, gelangt aber vorderhand nur bis Landquart, einer kleinen Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist. Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewöhnlich zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht enden zu wollen scheint. Denn Station Landquart liegt vergleichsweise noch in mäßiger Höhe; jetzt aber geht es auf wilder, drangvoller Felsenstraße allen Ernstes ins Hochgebirge.

Hans Castorp – dies der Name des jungen Mannes – befand sich allein mit seiner krokodilsledernen Handtasche, einem Geschenk seines Onkels und Pflegevaters, Konsul Tienappel, um auch diesen Namen hier gleich zu nennen, – seinem Wintermantel, der an einem Haken schaukelte, und seiner Plaidrolle in einem kleinen grau gepolsterten Abteil; er saß bei niedergelassenem Fenster, und da der Nachmittag sich mehr und mehr verkühlte, so hatte er, Familiensöhnchen und Zärtling, den Kragen seines modisch weiten, auf Seide gearbeiteten Sommerüberziehers aufgeschlagen. Neben ihm auf der Bank lag ein broschiertes Buch namens „Ocean steamships“, worin er zu Anfang der Reise bisweilen studiert hatte; jetzt aber lag es vernachlässigt da, indes der hereinstreichende Atem der schwer keuchenden Lokomotive seinen Umschlag mit Kohlenpartikeln verunreinigte.

Zwei Reisetage entfernen den Menschen – und gar den jungen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen – seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich auf der Droschkenfahrt zum Bahnhof wohl träumen ließ. Der Raum, der sich drehend und fliehend zwischen ihn und seine Pflanzstätte wälzt, bewährt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit vorbehalten glaubt; von Stunde zu Stunde stellt er innere Veränderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ähnlich sind, aber sie in gewisser Weise übertreffen. Gleich ihr erzeugt er Vergessen; er tut es aber, indem er die Person des Menschen aus ihren Beziehungen löst und ihn in einen freien und ursprünglichen Zustand versetzt, – ja, selbst aus dem Pedanten und Pfahlbürger macht er im Handumdrehen etwas wie einen Vagabunden. Zeit, sagt man, ist Lethe; aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger gründlich wirken, so tut sie es dafür desto rascher.

Dergleichen erfuhr auch Hans Castorp. Er hatte nicht beabsichtigt, diese Reise sonderlich wichtig zu nehmen, sich innerlich auf sie einzulassen. Seine Meinung vielmehr war gewesen, sie rasch abzutun, weil sie abgetan werden mußte, ganz als derselbe zurückzukehren, als der er abgefahren war, und sein Leben genau dort wieder aufzunehmen, wo er es für einen Augenblick hatte liegen lassen müssen. Noch gestern war er völlig in dem gewohnten Gedankenkreise befangen gewesen, hatte sich mit dem jüngst Zurückliegenden, seinem Examen, und dem unmittelbar Bevorstehenden, seinem Eintritt in die Praxis bei Tunder & Wilms (Schiffswerft, Maschinenfabrik und Kesselschmiede), beschäftigt und über die nächsten drei Wochen mit soviel Ungeduld hinweggeblickt, als seine Gemütsart nur immer zuließ. Jetzt aber war ihm doch, als ob die Umstände seine volle Aufmerksamkeit erforderten und als ob es nicht angehe, sie auf die leichte Achsel zu nehmen. Dieses Emporgehobenwerden in Regionen, wo er noch nie geatmet und wo, wie er wußte, völlig ungewohnte, eigentümlich dünne und spärliche Lebensbedingungen herrschten, – es fing an, ihn zu erregen, ihn mit einer gewissen Ängstlichkeit zu erfüllen. Heimat und Ordnung lagen nicht nur weit zurück, sie lagen hauptsächlich klaftertief unter ihm, und noch immer stieg er darüber hinaus. Schwebend zwischen ihnen und dem Unbekannten fragte er sich, wie es ihm dort oben ergehen werde. Vielleicht war es unklug und unzuträglich, daß er, geboren und gewohnt, nur ein paar Meter über dem Meeresspiegel zu atmen, sich plötzlich in diese extremen Gegenden befördern ließ, ohne wenigstens einige Tage an einem Platze von mittlerer Lage verweilt zu haben? Er wünschte, am Ziel zu sein, denn einmal oben, dachte er, würde man leben wie überall und nicht so wie jetzt im Klimmen daran erinnert sein, in welchen unangemessenen Sphären man sich befand. Er sah hinaus: der Zug wand sich gebogen auf schmalem Paß; man sah die vorderen Wagen, sah die Maschine, die in ihrer Mühe braune, grüne und schwarze Rauchmassen ausstieß, die verflatterten. Wasser rauschten in der Tiefe zur Rechten; links strebten dunkle Fichten zwischen Felsblöcken gegen einen steingrauen Himmel empor. Stockfinstere Tunnel kamen, und wenn es wieder Tag wurde, taten weitläufige Abgründe mit Ortschaften in der Tiefe sich auf. Sie schlossen sich, neue Engpässe folgten, mit Schneeresten in ihren Schründen und Spalten. Es gab Aufenthalte an armseligen Bahnhofshäuschen, Kopfstationen, die der Zug in entgegengesetzter Richtung verließ, was verwirrend wirkte, da man nicht mehr wußte, wie man fuhr und sich der Himmelsgegenden nicht länger entsann. Großartige Fernblicke in die heilig-phantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt des Hochgebirges, in das man hinan- und hineinstrebte, eröffneten sich und gingen dem ehrfürchtigen Auge durch Pfadbiegungen wieder verloren. Hans Castorp bedachte, daß er die Zone der Laubbäume unter sich gelassen habe, auch die der Singvögel wohl, wenn ihm recht war, und dieser Gedanke des Aufhörens und der Verarmung bewirkte, daß er, angewandelt von einem leichten Schwindel und Übelbefinden, für zwei Sekunden die Augen mit der Hand bedeckte. Das ging vorüber. Er sah, daß der Aufstieg ein Ende genommen hatte, die Paßhöhe überwunden war. Auf ebener Talsohle rollte der Zug nun bequemer dahin.

Es war gegen acht Uhr, noch hielt sich der Tag. Ein See erschien in landschaftlicher Ferne, seine Flut war grau, und schwarz stiegen Fichtenwälder neben seinen Ufern an den umgebenden Höhen hinan, wurden dünn weiter oben, verloren sich und ließen nebelig-kahles Gestein zurück. Man hielt an einer kleinen Station, es war Davos-Dorf, wie Hans Castorp draußen ausrufen hörte, er würde nun binnen kurzem am Ziele sein. Und plötzlich vernahm er neben sich Joachim Ziemßens Stimme, seines Vetters gemächliche Hamburger Stimme, die sagte: „Tag, du, nun steige nur aus“; und wie er hinaussah, stand unter seinem Fenster Joachim selbst auf dem Perron, in braunem Ulster, ganz ohne Kopfbedeckung und so gesund aussehend wie in seinem Leben noch nicht. Er lachte und sagte wieder:

„Komm nur heraus, du, geniere dich nicht!“

„Ich bin aber noch nicht da“, sagte Hans Castorp verdutzt und noch immer sitzend.

„Doch, du bist da. Dies ist das Dorf. Zum Sanatorium ist es näher von hier. Ich habe ’nen Wagen mit. Gib mal deine Sachen her.“

Und lachend, verwirrt, in der Aufregung der Ankunft und des Wiedersehens reichte Hans Castorp ihm Handtasche und Wintermantel, die Plaidrolle mit Stock und Schirm und schließlich auch „Ocean steamships“ hinaus. Dann lief er über den engen Korridor und sprang auf den Bahnsteig zur eigentlichen und sozusagen nun erst persönlichen Begrüßung mit seinem Vetter, die sich ohne Überschwang, wie zwischen Leuten von kühlen und spröden Sitten, vollzog. Es ist sonderbar zu sagen, aber von jeher hatten sie es vermieden, einander beim Vornamen zu nennen, einzig und allein aus Scheu vor zu großer Herzenswärme. Da sie sich aber doch nicht gut mit Nachnamen anreden konnten, so beschränkten sie sich auf das Du. Das war eingewurzelte Gewohnheit zwischen den Vettern.

Ein Mann in Livree, mit Tressenmütze, sah zu, wie sie einander – der junge Ziemßen in militärischer Haltung – rasch und ein bißchen verlegen die Hände schüttelten, und kam dann heran, um sich Hans Castorps Gepäckschein auszubitten; denn er war der Concierge des Internationalen Sanatoriums „Berghof“ und zeigte sich willens, den großen Koffer des Gastes vom Bahnhof „Platz“ zu holen, indes die Herren direkt mit dem Wagen zum Abendbrot fuhren. Der Mann hinkte auffallend, und so war das erste, was Hans Castorp Joachim Ziemßen fragte:

„Ist das ein Kriegsveteran? Was hinkt er denn so?“

„Ja, danke!“ erwiderte Joachim etwas bitter. „Ein Kriegsveteran! Der hat es im Knie – oder hatte es doch, denn dann hat er sich die Kniescheibe herausnehmen lassen.“

Hans Castorp besann sich so rasch er konnte. „Ja, so!“ sagte er, indem er im Gehen den Kopf hob und sich flüchtig umblickte. „Du wirst mir doch aber nicht weismachen wollen, daß du noch so etwas hast? Du siehst ja aus, als ob du dein Portepee schon hättest und gerade aus dem Manöver kämst.“ Und er sah den Vetter von der Seite an.

Joachim war größer und breiter als er, ein Bild der Jugendkraft und wie für die Uniform geschaffen. Er war von dem sehr braunen Typus, den seine blonde Heimat nicht selten hervorbringt, und seine ohnehin dunkle Gesichtshaut war durch Verbrennung beinahe bronzefarben geworden. Mit seinen großen schwarzen Augen und dem dunklen Schnurrbärtchen über dem vollen, gut geschnittenen Munde wäre er geradezu schön gewesen, wenn er nicht abstehende Ohren gehabt hätte. Sie waren sein einziger Kummer und Lebensschmerz gewesen bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Jetzt hatte er andere Sorgen. Hans Castorp fuhr fort:

„Du kommst doch gleich mit mir hinunter? Ich sehe wirklich kein Hindernis.“

„Gleich mit dir?“ fragte der Vetter und wandte ihm seine großen Augen zu, die immer sanft gewesen waren, in diesen fünf Monaten aber einen etwas müden, ja traurigen Ausdruck angenommen hatten. „Gleich wann?“

„Na, in drei Wochen.“

„Ach so, du fährst wohl schon wieder nach Hause in deinen Gedanken“, antwortete Joachim. „Nun, warte nur, du kommst ja eben erst an. Drei Wochen sind freilich fast nichts für uns hier oben, aber für dich, der du zu Besuch hier bist und überhaupt nur drei Wochen bleiben sollst, für dich ist es doch eine Menge Zeit. Erst akklimatisiere dich mal, das ist gar nicht so leicht, sollst du sehen. Und dann ist das Klima auch nicht das einzig Sonderbare bei uns. Du wirst hier mancherlei Neues sehen, paß auf. Und was du von mir sagst, das geht denn doch nicht so flott mit mir, du, ‚in drei Wochen nach Haus‘, das sind so Ideen von unten. Ich bin ja wohl braun, aber das ist hauptsächlich Schneeverbrennung und hat nicht viel zu bedeuten, wie Behrens auch immer sagt, und bei der letzten Generaluntersuchung hat er gesagt, ein halbes Jahr wird es wohl ziemlich sicher noch dauern.“

„Ein halbes Jahr? Bist du toll?“ rief Hans Castorp. Sie hatten sich eben vor dem Stationsgebäude, das nicht viel mehr als ein Schuppen war, in das gelbe Kabriolett gesetzt, das dort auf steinigem Platze bereit stand, und während die beiden Braunen anzogen, warf sich Hans Castorp empört auf dem harten Kissen herum. „Ein halbes Jahr? du bist ja schon fast ein halbes Jahr hier! Man hat doch nicht so viel Zeit –!“

„Ja, Zeit“, sagte Joachim und nickte mehrmals geradeaus, ohne sich um des Vetters ehrliche Entrüstung zu kümmern. „Die springen hier um mit der menschlichen Zeit, das glaubst du gar nicht. Drei Wochen sind wie ein Tag vor ihnen. Du wirst schon sehen. Du wirst das alles schon lernen“, sagte er und setzte hinzu: „Man ändert hier seine Begriffe.“

Hans Castorp betrachtete ihn unausgesetzt von der Seite.

„Du hast dich aber doch prachtvoll erholt“, sagte er kopfschüttelnd.

„Ja, meinst du?“ antwortete Joachim. „Nicht wahr, ich denke doch auch!“ sagte er und setzte sich höher ins Kissen zurück; doch nahm er gleich wieder eine schrägere Stellung ein. „Es geht mir ja besser“, erklärte er; „aber gesund bin ich eben noch nicht. Links oben, wo früher Rasseln zu hören war, klingt es jetzt nur noch rauh, das ist nicht so schlimm, aber unten ist es noch sehr rauh, und dann sind auch im zweiten Interkostalraum Geräusche.“

„Wie gelehrt du geworden bist“, sagte Hans Castorp.

„Ja, das ist, weiß Gott, eine nette Gelehrsamkeit. Die hätte ich gern im Dienste schon wieder verschwitzt“, erwiderte Joachim. „Aber ich habe noch Sputum“, sagte er mit einem zugleich lässigen und heftigen Achselzucken, das ihm nicht gut zu Gesichte stand, und ließ seinen Vetter etwas sehen, was er aus der ihm zugekehrten Seitentasche seines Ulsters zur Hälfte herauszog und gleich wieder verwahrte: eine flache, geschweifte Flasche aus blauem Glase mit einem Metallverschluß. „Das haben die meisten von uns hier oben“, sagte er. „Es hat auch einen Namen bei uns, so einen Spitznamen, ganz fidel. Du siehst dir die Gegend an?“

Das tat Hans Castorp, und er äußerte: „Großartig!“

„Findest du?“ fragte Joachim.

Sie hatten die unregelmäßig bebaute, der Eisenbahn gleichlaufende Straße ein Stück in der Richtung der Talachse verfolgt, hatten dann nach links hin das schmale Geleise gekreuzt, einen Wasserlauf überquert und trotteten nun auf sanft ansteigendem Fahrweg bewaldeten Hängen entgegen, dorthin, wo auf niedrig vorspringendem Wiesenplateau, die Front südwestlich gewandt, ein langgestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löcherig und porös wirkte wie ein Schwamm, soeben die ersten Lichter aufsteckte. Es dämmerte rasch. Ein leichtes Abendrot, das eine Weile den gleichmäßig bedeckten Himmel belebt hatte, war schon verblichen, und jener farblose, entseelte und traurige Übergangszustand herrschte in der Natur, der dem vollen Einbruch der Nacht unmittelbar vorangeht. Das besiedelte Tal, lang hingestreckt und etwas gewunden, beleuchtete sich nun überall, auf dem Grunde sowohl wie da und dort an den beiderseitigen Lehnen, – an der rechten zumal, die auslud, und an der Baulichkeiten terrassenförmig aufstiegen. Links liefen Pfade die Wiesenhänge hinan und verloren sich in der stumpfen Schwärze der Nadelwälder. Die entfernteren Bergkulissen, hinten am Ausgang, gegen den das Tal sich verjüngte, zeigten ein nüchternes Schieferblau. Da ein Wind sich aufgemacht hatte, wurde die Abendkühle empfindlich.

„Nein, ich finde es offen gestanden nicht so überwältigend“, sagte Hans Castorp. „Wo sind denn die Gletscher und Firnen und die gewaltigen Bergesriesen? Diese Dinger sind doch nicht sehr hoch, wie mir scheint.“

„Doch, sie sind hoch“, antwortete Joachim. „Du siehst die Baumgrenze fast überall, sie markiert sich ja auffallend scharf, die Fichten hören auf, und damit hört alles auf, aus ist es, Felsen, wie du bemerkst. Da drüben, rechts von dem Schwarzhorn, dieser Zinke dort, hast du sogar einen Gletscher, siehst du das Blaue noch? Er ist nicht groß, aber es ist ein Gletscher, wie es sich gehört, der Scaletta-Gletscher. Piz Michel und Tinzenhorn in der Lücke, du kannst sie von hier aus nicht sehen, liegen auch immer im Schnee, das ganze Jahr.“

„In ewigem Schnee“, sagte Hans Castorp.

„Ja, ewig, wenn du willst. Doch, hoch ist das alles schon. Aber wir selbst sind scheußlich hoch, mußt du bedenken. Sechzehnhundert Meter über dem Meer. Da kommen die Erhebungen nicht so zur Geltung.“

„Ja, war das eine Kletterei! Mir ist angst und bange geworden, kann ich dir sagen. Sechzehnhundert Meter! Das sind ja annähernd fünftausend Fuß, wenn ich es ausrechne. In meinem Leben war ich noch nicht so hoch.“ Und Hans Castorp nahm neugierig einen tiefen, probenden Atemzug von der fremden Luft. Sie war frisch – und nichts weiter. Sie entbehrte des Duftes, des Inhaltes, der Feuchtigkeit, sie ging leicht ein und sagte der Seele nichts.

„Ausgezeichnet!“ bemerkte er höflich.

„Ja, es ist ja eine berühmte Luft. Übrigens präsentiert sich die Gegend heute abend nicht vorteilhaft. Manchmal nimmt sie sich besser aus, besonders im Schnee. Aber man sieht sich sehr satt an ihr. Wir alle hier oben, kannst du mir glauben, haben sie ganz unaussprechlich satt“, sagte Joachim, und sein Mund wurde von einem Ausdruck des Ekels verzogen, der übertrieben und unbeherrscht wirkte und ihn wiederum nicht gut kleidete.

„Du sprichst so sonderbar“, sagte Hans Castorp.

„Spreche ich sonderbar?“ fragte Joachim mit einer gewissen Besorgnis und wandte sich seinem Vetter zu ...

„Nein, nein, verzeih, es kam mir wohl nur einen Augenblick so vor!“ beeilte sich Hans Castorp zu sagen. Er hatte aber die Wendung „Wir hier oben“ gemeint, die Joachim schon zum dritten- oder viertenmal gebraucht hatte und die ihn auf irgendeine Weise beklemmend und seltsam anmutete.

„Unser Sanatorium liegt noch höher als der Ort, wie du siehst“, fuhr Joachim fort. „Fünfzig Meter. Im Prospekt steht ‚hundert‘, aber es sind bloß fünfzig. Am allerhöchsten liegt das Sanatorium Schatzalp dort drüben, man kann es nicht sehen. Die müssen im Winter ihre Leichen per Bobschlitten herunterbefördern, weil dann die Wege nicht fahrbar sind.“

„Ihre Leichen? Ach so! Na, höre mal!“ rief Hans Castorp. Und plötzlich geriet er ins Lachen, in ein heftiges, unbezwingliches Lachen, das seine Brust erschütterte und sein vom kühlen Wind etwas steifes Gesicht zu einer leise schmerzenden Grimasse verzog. „Auf dem Bobschlitten! Und das erzählst du mir so in aller Gemütsruhe? Du bist ja ganz zynisch geworden in diesen fünf Monaten!“

„Gar nicht zynisch“, antwortete Joachim achselzuckend. „Wieso denn? Das ist den Leichen doch einerlei ... Übrigens kann es wohl sein, daß man zynisch wird hier bei uns. Behrens selbst ist auch so ein alter Zyniker – ein famoses Huhn nebenbei, alter Korpsstudent und glänzender Operateur, wie es scheint, er wird dir gefallen. Dann ist da noch Krokowski, der Assistent – ein ganz gescheutes Etwas. Im Prospekt ist besonders auf seine Tätigkeit hingewiesen. Er treibt nämlich Seelenzergliederung mit den Patienten.“

„Was treibt er? Seelenzergliederung? Das ist ja widerlich!“ rief Hans Castorp, und nun nahm seine Heiterkeit überhand. Er war ihrer gar nicht mehr Herr, nach allem andern hatte die Seelenzergliederung es ihm vollends angetan, und er lachte so sehr, daß die Tränen ihm unter der Hand hervorliefen, mit der er, sich vorbeugend, die Augen bedeckte. Joachim lachte ebenfalls herzlich – es schien ihm wohlzutun –, und so kam es, daß die jungen Leute in großer Aufgeräumtheit aus ihrem Wagen stiegen, der sie zuletzt im Schritt, auf steiler, schleifenförmiger Anfahrt vor das Portal des Internationalen Sanatoriums Berghof getragen hatte.

Nr. 34

Gleich zur Rechten, zwischen Haustor und Windfang, war die Concierge-Loge gelegen, und von dort kam ein Bediensteter von französischem Typus, der, am Telephon sitzend, Zeitungen gelesen hatte, in der grauen Livree des hinkenden Mannes am Bahnhof ihnen entgegen und führte sie durch die wohlbeleuchtete Halle, an deren linker Seite Gesellschaftsräume lagen. Im Vorübergehen blickte Hans Castorp hinein und fand sie leer. Wo denn die Gäste seien, fragte er, und sein Vetter antwortete:

„In der Liegekur. Ich hatte Ausgang heute, weil ich dich abholen wollte. Sonst liege ich auch nach dem Abendbrot auf dem Balkon.“

Es fehlte nicht viel, daß Hans Castorp aufs neue vom Lachen überwältigt wurde.

„Was, ihr liegt noch bei Nacht und Nebel auf dem Balkon?“ fragte er mit wankender Stimme ...

„Ja, das ist Vorschrift. Von acht bis zehn. Aber komm nun, sieh dir dein Zimmer an und wasch’ dir die Hände.“

Sie bestiegen den Lift, dessen elektrisches Triebwerk der Franzose bediente. Im Hinaufgleiten trocknete Hans Castorp sich die Augen.

„Ich bin ganz entzwei und erschöpft vor Lachen“, sagte er und atmete durch den Mund. „Du hast mir soviel tolles Zeug erzählt ... Das mit der Seelenzergliederung war zu stark, das hätte nicht kommen dürfen. Außerdem bin ich doch auch wohl ein bißchen abgespannt von der Reise. Leidest du auch so an kalten Füßen? Gleichzeitig hat man dann so ein heißes Gesicht, das ist unangenehm. Wir essen wohl gleich? Mir scheint, ich habe Hunger. Ißt man denn anständig bei euch hier oben?“

Sie gingen geräuschlos den Kokosläufer des schmalen Korridors entlang. Glocken aus Milchglas sandten von der Decke ein bleiches Licht. Die Wände schimmerten weiß und hart, mit einer lackartigen Ölfarbe überzogen. Eine Krankenschwester zeigte sich irgendwo, in weißer Haube und einen Zwicker auf der Nase, dessen Schnur sie sich hinter das Ohr gelegt hatte. Offenbar war sie protestantischer Konfession, ohne rechte Hingabe an ihren Beruf, neugierig und von Langerweile beunruhigt und belastet. An zwei Stellen des Ganges, auf dem Fußboden vor den weiß lackierten numerierten Türen, standen gewisse Ballons, große, bauchige Gefäße mit kurzen Hälsen, nach deren Bedeutung zu fragen Hans Castorp fürs erste vergaß.

„Hier bist du“, sagte Joachim. „Nummer Vierunddreißig. Rechts bin ich, und links ist ein russisches Ehepaar, – etwas salopp und laut, muß man wohl sagen, aber das war nicht anders zu machen. Nun, was sagst du?“

Die Tür war doppelt, mit Kleiderhaken im inneren Hohlraum. Joachim hatte das Deckenlicht eingeschaltet, und in seiner zitternden Klarheit zeigte das Zimmer sich heiter und friedlich, mit seinen weißen, praktischen Möbeln, seinen ebenfalls weißen, starken, waschbaren Tapeten, seinem reinlichen Linoleum-Fußbodenbelag und den leinenen Vorhängen, die in modernem Geschmacke einfach und lustig bestickt waren. Die Balkontür stand offen; man gewahrte die Lichter des Tals und vernahm eine entfernte Tanzmusik. Der gute Joachim hatte einige Blumen in eine kleine Vase auf die Kommode gestellt, – was eben im zweiten Grase zu finden gewesen war, etwas Schafgarbe und ein paar Glockenblumen, von ihm selbst am Hange gepflückt.

„Reizend von dir“, sagte Hans Castorp. „Was für ein nettes Zimmer! Hier läßt es sich gut und gern ein paar Wochen hausen.“

„Vorgestern ist hier eine Amerikanerin gestorben“, sagte Joachim. „Behrens meinte gleich, daß sie fertig sein würde, bis du kämest, und daß du das Zimmer dann haben könntest. Ihr Verlobter war bei ihr, englischer Marineoffizier, aber er benahm sich nicht gerade stramm. Jeden Augenblick kam er auf den Korridor hinaus, um zu weinen, ganz wie ein kleiner Junge. Und dann rieb er sich die Backen mit Cold-cream ein, weil er rasiert war und die Tränen ihn da so brannten. Vorgestern abend hatte die Amerikanerin noch zwei Blutstürze ersten Ranges, und damit war Schluß. Aber sie ist schon seit gestern morgen fort, und dann haben sie hier natürlich gründlich ausgeräuchert, mit Formalin, weißt du, das soll so gut sein für solche Zwecke.“

Hans Castorp nahm diese Erzählung mit einer angeregten Zerstreutheit auf. Mit zurückgezogenen Ärmeln vor dem geräumigen Waschbecken stehend, dessen Nickelhähne im elektrischen Lichte blitzten, warf er kaum einen flüchtigen Blick zu der weißmetallenen, reinlich bedeckten Bettstatt hinüber.

„Ausgeräuchert, das ist famos“, sagte er gesprächig und etwas ungereimt, indem er sich die Hände wusch und trocknete. „Ja, Methylaldehyd, das hält die stärkste Bakterie nicht aus, – H₂CO, aber es sticht in die Nase, nicht? Selbstverständlich ist strengste Sauberkeit eine Grundbedingung ...“ Er sagte „Selbstvers-tändlich“ mit dem getrennten st, während sein Vetter sich, seit er Student war, die verbreitetere Aussprache angewöhnt hatte, und fuhr mit großer Geläufigkeit fort: „Was ich noch sagen wollte ... Wahrscheinlich hatte der Marineoffizier sich mit dem Sicherheitsapparat rasiert, möchte ich annehmen, man macht sich doch leichter wund mit den Dingern, als mit einem gut abgezogenen Messer, das ist wenigstens meine Erfahrung, ich gebrauche abwechselnd eins und das andere ... Na, und auf der gereizten Haut tut das Salzwasser natürlich weh, da war er wohl vom Dienst her gewöhnt, Cold-cream anzuwenden, es fällt mir nichts auf daran ...“ Und er plauderte weiter, sagte, daß er zweihundert Stück von Maria Mancini – seiner Zigarre – im Koffer habe, – die Revision sei höchst gemütlich gewesen – und richtete Grüße von verschiedenen Personen in der Heimat aus. „Wird hier denn nicht geheizt?“ rief er plötzlich und lief zu den Röhren, um die Hände daran zu legen ...

„Nein, wir werden hier ziemlich kühl gehalten“, antwortete Joachim. „Da muß es anders kommen, bis im August die Zentralheizung angezündet wird.“

„August, August!“ sagte Hans Castorp. „Aber mich friert! Mich friert abscheulich, nämlich am Körper, denn im Gesicht bin ich auffallend echauffiert, – da, fühle doch mal, wie ich brenne!“

Diese Zumutung, man solle sein Gesicht befühlen, paßte ganz und gar nicht zu Hans Castorps Natur und berührte ihn selber peinlich. Joachim ging auch nicht darauf ein, sondern sagte nur:

„Das ist die Luft und hat nichts zu sagen. Behrens selbst hat den ganzen Tag blaue Backen. Manche gewöhnen sich nie. Na, go on, wir kriegen sonst nichts mehr zu essen.“

Draußen zeigte sich wieder die Krankenschwester, kurzsichtig und neugierig nach ihnen spähend. Aber im ersten Stockwerk blieb Hans Castorp plötzlich stehen, festgebannt von einem vollkommen gräßlichen Geräusch, das in geringer Entfernung hinter einer Biegung des Korridors vernehmlich wurde, einem Geräusch, nicht laut, aber so ausgemacht abscheulicher Art, daß Hans Castorp eine Grimasse schnitt und seinen Vetter mit erweiterten Augen ansah. Es war Husten, offenbar, – eines Mannes Husten; aber ein Husten, der keinem anderen ähnelte, den Hans Castorp jemals gehört hatte, ja, mit dem verglichen jeder andere ihm bekannte Husten eine prächtige und gesunde Lebensäußerung gewesen war, – ein Husten ganz ohne Lust und Liebe, der nicht in richtigen Stößen geschah, sondern nur wie ein schauerlich kraftloses Wühlen im Brei organischer Auflösung klang.

„Ja,“ sagte Joachim, „da sieht es böse aus. Ein österreichischer Aristokrat, weißt du, eleganter Mann und ganz wie zum Herrenreiter geboren. Und nun steht es so mit ihm. Aber er geht noch herum.“

Während sie ihren Weg fortsetzten, sprach Hans Castorp angelegentlich über den Husten des Herrenreiters. „Du mußt bedenken,“ sagte er, „daß ich dergleichen nie gehört habe, daß es mir völlig neu ist, da macht es natürlich Eindruck auf mich. Es gibt so vielerlei Husten, trockenen und losen, und der lose ist eher noch vorteilhafter, wie man allgemein sagt, und besser, als wenn man so bellt. Als ich in meiner Jugend („in meiner Jugend“ sagte er) Bräune hatte, da bellte ich wie ein Wolf, und sie waren alle froh, als es locker wurde, ich kann mich noch dran erinnern. Aber so ein Husten, wie dieser, war noch nicht da, für mich wenigstens nicht, – das ist ja gar kein lebendiger Husten mehr. Er ist nicht trocken, aber lose kann man ihn auch nicht nennen, das ist noch längst nicht das Wort. Es ist ja gerade, als ob man dabei in den Menschen hineinsähe, wie es da aussieht, – alles ein Matsch und Schlamm ...“

„Na,“ sagte Joachim, „ich höre es ja jeden Tag, du brauchst es mir nicht zu beschreiben.“

Aber Hans Castorp konnte sich gar nicht über den vernommenen Husten beruhigen, er versicherte wiederholt, daß man förmlich dabei in den Herrenreiter hineinsähe, und als sie das Restaurant betraten, hatten seine reisemüden Augen einen erregten Glanz.

Im Restaurant

Im Restaurant war es hell, elegant und gemütlich. Es lag gleich rechts an der Halle, den Konversationsräumen gegenüber, und wurde, wie Joachim erklärte, hauptsächlich von neu angekommenen, außer der Zeit speisenden Gästen, und von solchen, die Besuch hatten, benutzt. Aber auch Geburtstage und bevorstehende Abreisen wurden dort festlich begangen, sowie günstige Ergebnisse von Generaluntersuchungen. Manchmal gehe es hoch her im Restaurant, sagte Joachim; auch Champagner werde serviert. Jetzt saß niemand als eine einzelne etwa dreißigjährige Dame darin, die in einem Buche las, aber dabei vor sich hin summte und mit dem Mittelfinger der linken Hand immerfort leicht auf das Tischtuch klopfte. Als die jungen Leute sich niedergelassen hatten, wechselte sie den Platz, um ihnen den Rücken zuzuwenden. Sie sei menschenscheu, erklärte Joachim leise, und esse immer mit einem Buche im Restaurant. Man wollte wissen, daß sie schon als ganz junges Mädchen in Lungensanatorien eingetreten sei und seitdem nicht mehr in der Welt gelebt habe.

„Nun, dann bist du ja noch ein junger Anfänger gegen sie mit deinen fünf Monaten und wirst es noch sein, wenn du ein Jahr auf dem Buckel hast“, sagte Hans Castorp zu seinem Vetter; worauf Joachim mit jenem Achselzucken, das ihm früher nicht eigen gewesen war, zur Menukarte griff.

Sie hatten den erhöhten Tisch am Fenster genommen, den hübschesten Platz. An dem cremefarbenen Vorhang saßen sie einander gegenüber, die Gesichter beglüht vom Schein des rot umhüllten elektrischen Tischlämpchens. Hans Castorp faltete seine frisch gewaschenen Hände und rieb sie behaglich-erwartungsvoll aneinander, wie er zu tun pflegte, wenn er sich zu Tische setzte, – vielleicht weil seine Vorfahren vor der Suppe gebetet hatten. Ein freundliches, gaumig sprechendes Mädchen in schwarzem Kleide mit weißer Schürze und einem großen Gesicht von überaus gesunder Farbe bediente sie, und zu seiner großen Heiterkeit ließ Hans Castorp sich belehren, daß man die Kellnerinnen hier „Saaltöchter“ nenne. Sie bestellten eine Flasche Gruaud Larose bei ihr, die Hans Castorp noch einmal fortschickte, um sie besser temperieren zu lassen. Das Essen war vorzüglich. Es gab Spargelsuppe, gefüllte Tomaten, Braten mit vielerlei Zutat, eine besonders gut bereitete süße Speise, eine Käseplatte und Obst. Hans Castorp aß sehr stark, obgleich sein Appetit sich nicht als so lebhaft erwies, wie er geglaubt hatte. Aber er war gewohnt, viel zu essen, auch wenn er keinen Hunger hatte, und zwar aus Selbstachtung.

Joachim tat den Gerichten nicht viel Ehre an. Er hatte die Küche satt, sagte er, das hätten sie alle hier oben, und es sei Brauch, auf das Essen zu schimpfen; denn wenn man hier ewig und drei Tage sitze ... Dagegen trank er mit Vergnügen, ja mit einer gewissen Hingebung von dem Wein, und gab unter sorgfältiger Vermeidung allzu gefühlvoller Wendungen wiederholt seiner Genugtuung Ausdruck, daß jemand da sei, mit dem man ein vernünftiges Wort reden könne.

„Ja, es ist brillant, daß du gekommen bist!“ sagte er, und seine gemächliche Stimme war bewegt. „Ich kann wohl sagen, es ist für mich geradezu ein Ereignis. Das ist doch einmal eine Abwechslung, – ich meine, es ist ein Einschnitt, eine Gliederung in dem ewigen, grenzenlosen Einerlei ...“

„Aber die Zeit muß euch eigentlich schnell hier vergehen“, meinte Hans Castorp.

„Schnell und langsam, wie du nun willst“, antwortete Joachim. „Sie vergeht überhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben, – nein, das ist es nicht“, sagte er kopfschüttelnd und griff wieder zum Glase.

Auch Hans Castorp trank, obgleich sein Gesicht nun wie Feuer brannte. Aber am Körper war ihm noch immer kalt, und eine besondere freudige und doch etwas quälende Unruhe war in seinen Gliedern. Seine Worte überhasteten sich, er versprach sich des öfteren und ging mit einer wegwerfenden Handbewegung darüber hin. Übrigens war auch Joachim in belebter Stimmung, und um so freier und aufgeräumter ging ihr Gespräch, als die summende, pochende Dame ganz plötzlich aufgestanden und davongegangen war. Sie gestikulierten beim Essen mit den Gabeln, machten, einen Bissen in der Backe, wichtige Mienen, lachten, nickten, hoben die Schultern und hatten noch nicht ordentlich hinuntergeschluckt, wenn sie schon weitersprachen. Joachim wollte von Hamburg hören und hatte das Gespräch auf die geplante Elbregulierung gebracht.

„Epochal!“ sagte Hans Castorp. „Epochal für die Entwicklung unserer Schiffahrt, – gar nicht zu überschätzen. Wir setzen fünfzig Millionen als sofortige einmalige Ausgabe dafür ins Budget, und du kannst überzeugt sein, wir wissen genau, was wir tun.“

Übrigens sprang er, bei aller Wichtigkeit, die er der Elbregulierung beimaß, gleich wieder ab von diesem Thema und verlangte, daß Joachim ihm Weiteres von dem Leben „hier oben“ und von den Gästen erzähle, was auch bereitwillig geschah, da Joachim froh war, sich erleichtern und mitteilen zu können. Das von den Leichen, die man die Bob-Bahn hinuntersandte, mußte er wiederholen und noch einmal ausdrücklich versichern, daß es auf Wahrheit beruhe. Da Hans Castorp wieder vom Lachen ergriffen wurde, lachte auch er, was er herzlich zu genießen schien, und ließ andere komische Dinge hören, um der Ausgelassenheit Nahrung zu geben. Eine Dame sitze mit ihm am Tische, namens Frau Stöhr, ziemlich krank übrigens, eine Musikersgattin aus Cannstatt, – die sei das Ungebildetste, was ihm jemals vorgekommen. „Desinfiszieren“ sage sie, – aber in vollstem Ernst. Und den Assistenten Krokowski nenne sie den „Fomulus“. Das müsse man nun hinunterschlucken, ohne das Gesicht zu verziehen. Außerdem sei sie klatschsüchtig, wie übrigens die meisten hier oben, und einer anderen Dame, Frau Iltis, sage sie nach, sie trage ein „Sterilett“. „Sterilett nennt sie das, – das ist doch unbezahlbar!“ Und halb liegend, gegen die Lehnen ihrer Stühle zurückgeworfen, lachten sie so sehr, daß ihnen der Leib bebte und sie fast gleichzeitig Schluckauf bekamen.

Zwischendurch betrübte Joachim sich und gedachte seines Loses.

„Ja, da sitzen wir nun und lachen,“ sagte er mit schmerzendem Gesicht und zuweilen von den Erschütterungen seines Zwerchfelles unterbrochen; „und dabei ist gar nicht abzusehen, wann ich hier wegkomme, denn wenn Behrens sagt: noch ein halbes Jahr, dann ist es knapp gerechnet, man muß sich auf mehr gefaßt machen. Aber es ist doch hart, sage mal selbst, ob es nicht traurig für mich ist. Da war ich nun schon genommen, und im nächsten Monat könnte ich meine Offiziersprüfung machen. Und nun lungere ich hier herum mit dem Thermometer im Mund und zähle die Schnitzer von dieser ungebildeten Frau Stöhr und versäume die Zeit. Ein Jahr spielt solch eine Rolle in unserem Alter, es bringt im Leben unten so viele Veränderungen und Fortschritte mit sich. Und ich muß hier stagnieren wie ein Wasserloch, – ja, ganz wie ein fauliger Tümpel, es ist gar kein zu krasser Vergleich ...“

Sonderbarerweise antwortete Hans Castorp hierauf nur mit der Frage, ob man hier eigentlich Porter bekommen könne, und als sein Vetter ihn etwas erstaunt betrachtete, sah er, daß jener im Einschlafen begriffen war, – eigentlich schlief er schon.

„Aber du schläfst ja!“ sagte Joachim. „Komm, es ist Zeit, zu Bett zu gehen, für uns beide.“

„Es ist überhaupt keine Zeit“, sagte Hans Castorp mit schwerer Zunge. Aber er ging doch mit, etwas gebückt und steifbeinig, wie ein Mensch, der von Müdigkeit förmlich zu Boden gezogen wird, – nahm sich jedoch gewaltsam zusammen, als er in der nur noch matt erleuchteten Halle Joachim sagen hörte:

„Da sitzt Krokowski. Ich muß dich, glaube ich, rasch noch vorstellen.“

Dr. Krokowski saß im Hellen, am Kamin des einen Konversationszimmers, gleich bei der offenen Schiebetür, und las eine Zeitung. Er stand auf, als die jungen Leute auf ihn zutraten und Joachim in militärischer Haltung sagte:

„Darf ich Ihnen, bitte, meinen Vetter Castorp aus Hamburg vorstellen, Herr Doktor. Er ist eben erst angekommen.“

Dr. Krokowski begrüßte den neuen Hausgenossen mit einer gewissen heiteren, stämmigen und aufmunternden Herzhaftigkeit, als wollte er andeuten, daß Aug in Auge mit ihm jede Befangenheit überflüssig und einzig fröhliches Vertrauen am Platze sei. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, breitschultrig, fett, bedeutend kleiner als die beiden, die vor ihm standen, so daß er den Kopf schräg zurücklegen mußte, um ihnen ins Gesicht zu sehen, – und außerordentlich bleich, von durchscheinender, ja phosphoreszierender Blässe, die noch gehoben wurde durch die dunkle Glut seiner Augen, die Schwärze seiner Brauen und seines ziemlich langen, in zwei Spitzen auslaufenden Vollbartes, der bereits ein paar weiße Fäden zeigte. Er trug einen schwarzen, zweireihigen, schon etwas abgenutzten Sakkoanzug, schwarze, durchbrochene, sandalenartige Halbschuhe zu dicken, grauwollenen Socken und einen weich überfallenden Halskragen, wie Hans Castorp ihn bis dahin nur bei einem Photographen in Danzig gesehen hatte und welcher der Erscheinung Dr. Krokowskis in der Tat ein ateliermäßiges Gepräge verlieh. Herzlich lächelnd, so daß in seinem Barte die gelblichen Zähne sichtbar wurden, schüttelte er dem jungen Manne die Hand, indem er mit baritonaler Stimme und etwas fremdländisch schleppenden Akzenten sagte:

„Seien Sie uns willkommen, Herr Castorp! Möchten Sie sich rasch einleben und sich wohlfühlen in unserer Mitte. Sie kommen zu uns als Patient, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“

Es war rührend zu sehen, wie Hans Castorp arbeitete, um sich artig zu erweisen und seiner Schläfrigkeit Herr zu werden. Er ärgerte sich, so schlecht in Form zu sein und sah mit dem mißtrauischen Selbstbewußtsein junger Leute in dem Lächeln und dem aufmunternden Wesen des Assistenten Zeichen nachsichtigen Spottes. Er antwortete, indem er von den drei Wochen sprach, auch seines Examens erwähnte und hinzufügte, daß er, gottlob, ganz gesund sei.

„Wahrhaftig?“ fragte Dr. Krokowski, indem er seinen Kopf wie neckend schräg vorwärts stieß und sein Lächeln verstärkte ... „Aber dann sind Sie eine höchst studierenswerte Erscheinung! Mir ist nämlich ein ganz gesunder Mensch noch nicht vorgekommen. Was für ein Examen haben Sie abgelegt, wenn die Frage erlaubt ist?“

„Ich bin Ingenieur, Herr Doktor“, antwortete Hans Castorp mit bescheidener Würde.

„Ah, Ingenieur!“ Und Dr. Krokowskis Lächeln zog sich gleichsam zurück, büßte an Kraft und Herzlichkeit für den Augenblick etwas ein. „Das ist wacker. Und Sie werden hier also keinerlei ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen, weder in körperlicher noch in psychischer Hinsicht?“

„Nein, ich danke tausendmal!“ sagte Hans Castorp und wäre fast einen Schritt zurückgewichen.

Da brach das Lächeln Dr. Krokowskis wieder siegreich hervor, und indem er dem jungen Manne aufs neue die Hand schüttelte, rief er mit lauter Stimme:

„Nun, so schlafen Sie denn wohl, Herr Castorp, – im Vollgefühl Ihrer untadeligen Gesundheit! Schlafen Sie wohl und auf Wiedersehn!“ – Damit entließ er die jungen Leute und setzte sich wieder zu seiner Zeitung nieder.

Der Aufzug hatte keine Bedienung mehr, und so legten sie zu Fuß die Treppen zurück, schweigend und etwas verwirrt von der Begegnung mit Dr. Krokowski. Joachim begleitete Hans Castorp auf Nummer Vierunddreißig, wo der Hinkende das Gepäck des Ankömmlings richtig eingeliefert hatte, und sie plauderten noch eine Viertelstunde, während Hans Castorp Nacht- und Waschzeug auspackte und eine dicke, milde Zigarette dazu rauchte. Zur Zigarre kam er heute nicht mehr, was ihm wunderlich und außerordentlich erschien.

„Er sieht sehr bedeutend aus“, sagte er, indem er beim Sprechen den eingeatmeten Rauch hervorsprudelte. „Wachsbleich ist er. Aber mit seiner Chaussure, höre mal, da steht es scheußlich. Grauwollene Socken und dann diese Sandalen. War er zum Schluß eigentlich beleidigt?“

„Er ist etwas empfindlich“, gab Joachim zu. „Du hättest die ärztliche Behandlung nicht so brüsk zurückweisen sollen, wenigstens nicht die psychische. Er sieht es nicht gern, wenn man sich dem entzieht. Auf mich ist er auch nicht besonders zu sprechen, weil ich ihm nicht genug anvertraue. Aber dann und wann erzähl ich ihm doch einen Traum, damit er was zu zergliedern hat.“

„Nun, dann hab ich ihn eben vor den Kopf gestoßen“, sagte Hans Castorp verdrießlich; denn es machte ihn unzufrieden mit sich selbst, jemanden gekränkt zu haben, und so kam denn die Müdigkeit auch mit erneuter Stärke über ihn.

„Gute Nacht“, sagte er. „Ich falle um.“

„Um acht hole ich dich zum Frühstück“, sagte Joachim und ging.

Hans Castorp machte nur flüchtige Nachttoilette. Der Schlaf übermannte ihn, kaum daß er das Nachttischlämpchen gelöscht hatte, aber er schreckte noch einmal auf, da er sich erinnerte, daß in diesem Bette vorgestern jemand gestorben sei. „Es wird nicht das erstemal gewesen sein“, sagte er zu sich, als könne ihm das zur Beruhigung dienen. „Es ist eben ein Totenbett, ein gewöhnliches Totenbett.“ Und er schlief ein.

Aber sobald er eingeschlafen war, begann er zu träumen und träumte fast unaufhörlich bis zum anderen Morgen. Hauptsächlich sah er Joachim Ziemßen in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schräge Bahn hinabfahren. Er war so phosphoreszierend bleich wie Dr. Krokowski, und vorneauf saß der Herrenreiter, der sehr unbestimmt aussah, wie jemand, den man lediglich hat husten hören, und lenkte. „Das ist uns doch ganz einerlei, – uns hier oben“, sagte der verrenkte Joachim, und dann war er es, nicht der Herrenreiter, der so grauenhaft breiig hustete. Darüber mußte Hans Castorp bitterlich weinen und sah ein, daß er in die Apotheke laufen müsse, um sich Cold-cream zu besorgen. Aber am Wege saß Frau Iltis mit einer spitzen Schnauze und hielt etwas in der Hand, was offenbar ihr „Sterilett“ sein sollte, aber nichts weiter war als ein Sicherheits-Rasierapparat. Das machte Hans Castorp nun wieder lachen, und so wurde er zwischen verschiedenen Gemütsbewegungen hin und her geworfen, bis der Morgen durch seine halboffene Balkontür graute und ihn weckte.

Zweites Kapitel

Von der Taufschale und vom Großvater in zwiefacher Gestalt

Hans Castorp bewahrte an sein eigentliches Elternhaus nur blasse Erinnerungen; er hatte Vater und Mutter kaum recht gekannt. Sie starben weg in der kurzen Frist zwischen seinem fünften und siebenten Lebensjahr, zuerst die Mutter, vollkommen überraschend und in Erwartung ihrer Niederkunft, an einer Gefäßverstopfung infolge von Nervenentzündung, einer Embolie, wie Dr. Heidekind es bezeichnete, die augenblicklich Herzlähmung verursachte, – sie lachte eben, im Bette sitzend, es sah so aus, als ob sie vor Lachen umfiele, und dennoch tat sie es nur, weil sie tot war. Das war nicht leicht zu verstehen für Hans Hermann Castorp, den Vater, und da er sehr innig an seiner Frau gehangen hatte, auch seinerseits nicht der Stärkste war, so wußte er nicht darüber hinwegzukommen. Sein Geist war verstört und geschmälert seitdem; in seiner Benommenheit beging er geschäftliche Fehler, so daß die Firma Castorp & Sohn empfindliche Verluste erlitt; im übernächsten Frühjahr holte er sich bei einer Speicherinspektion am windigen Hafen die Lungenentzündung, und da sein erschüttertes Herz das hohe Fieber nicht aushielt, so starb er trotz aller Sorgfalt, die Dr. Heidekind an ihn wandte, binnen fünf Tagen und folgte seiner Frau unter ansehnlicher Beteiligung der Bürgerschaft ins Castorpsche Erbbegräbnis nach, das auf dem St. Katharinenkirchhof sehr schön, mit Blick auf den Botanischen Garten, gelegen war.

Sein Vater, der Senator, überlebte ihn, wenn auch nur um ein weniges, und die kurze Zeitspanne, bis er auch starb – übrigens gleichfalls an einer Lungenentzündung, und zwar unter großen Kämpfen und Qualen, denn zum Unterschiede von seinem Sohn war Hans Lorenz Castorp eine schwer zu fällende, im Leben zäh wurzelnde Natur – diese Zeitspanne also, es waren nur anderthalb Jahre, verlebte der verwaiste Hans Castorp in seines Großvaters Hause, einem zu Anfang des abgelaufenen Jahrhunderts auf schmalem Grundstück im Geschmack des nordischen Klassizismus erbauten, in einer trüben Wetterfarbe gestrichenen Haus an der Esplanade, mit Halbsäulen zu beiden Seiten der Eingangstür, in der Mitte des um fünf Stufen aufgetreppten Erdgeschosses, und zwei Obergeschossen außer der Beletage, wo die Fenster bis zu den Fußböden hinuntergezogen und mit gegossenen Eisengittern versehen waren.

Hier lagen ausschließlich Repräsentationsräume, eingerechnet das helle, mit Stuck verzierte Eßzimmer, dessen drei weinrot verhangene Fenster auf das rückwärtige Gärtchen blickten, und wo während der achtzehn Monate Großvater und Enkel alltäglich um 4 Uhr allein miteinander zu Mittag aßen, bedient von dem alten Fiete mit den Ohrringen und den silbernen Knöpfen am Frack, der zu diesem Frack eine ebensolche battistene Halsbinde trug, wie der Hausherr selbst, auch auf ganz ähnliche Art das rasierte Kinn darin barg, und den der Großvater duzte, indem er plattdeutsch mit ihm sprach; nicht scherzender Weise – er war ohne humoristischen Zug –, sondern in aller Sachlichkeit und weil er es überhaupt mit Leuten aus dem Volk, mit Speicherarbeitern, Postboten, Kutschern und Dienstboten so hielt. Hans Castorp hörte es gern, und sehr gern hörte er auch, wie Fiete antwortete, ebenfalls platt, indem er sich beim Servieren von links hinter seinem Herrn herumbeugte, um ihm in das rechte Ohr zu sprechen, auf dem der Senator bedeutend besser hörte als auf dem linken. Der Alte verstand und nickte und aß weiter, sehr aufrecht zwischen der hohen Mahagonilehne des Stuhles und dem Tisch, kaum über den Teller gebeugt, und der Enkel, ihm gegenüber, betrachtete still, mit tiefer und unbewußter Aufmerksamkeit, die knappen, gepflegten Bewegungen, mit denen die schönen, weißen, mageren alten Hände des Großvaters mit den gewölbten, spitz zulaufenden Nägeln und dem grünen Wappenring auf dem rechten Zeigefinger einen Bissen aus Fleisch, Gemüse und Kartoffeln auf der Gabelspitze anordneten und unter einem leichten Entgegenneigen des Kopfes zum Munde führten. Hans Castorp sah auf seine eigenen, noch ungeschickten Hände und fühlte darin die Möglichkeit vorgebildet, späterhin ebenso wie der Großvater Messer und Gabel zu halten und zu bewegen.

Eine andere Frage war, ob er je dazu gelangen würde, sein Kinn in einer solchen Binde zu bergen, wie sie die geräumige Öffnung des sonderbar geformten, mit den scharfen Spitzen die Wangen streifenden Halskragens des Großvaters ausfüllte. Denn dazu mußte man so alt sein wie dieser, und schon heute trug außer ihm und seinem alten Fiete weit und breit niemand mehr solche Binden und Kragen. Das war schade, denn dem kleinen Hans Castorp gefiel es besonders wohl, wie der Großvater das Kinn in die hohe, schneeweiße Binde lehnte; noch in der Erinnerung, als er erwachsen war, gefiel es ihm ausgezeichnet: es lag etwas darin, was er aus dem Grund seines Wesens billigte.

Wenn sie fertig gegessen und ihre Servietten zusammengelegt, gerollt und in die silbernen Ringe gesteckt hatten, ein Geschäft, mit dem Hans Castorp damals nicht leicht zu Rande kam, da die Servietten so groß waren wie kleine Tischtücher, so stand der Senator vor dem Stuhle auf, den Fiete hinter ihm wegzog, und ging mit schlürfenden Schritten ins „Kabinett“ hinüber, um sich seine Zigarre zu holen; und zuweilen folgte der Enkel ihm dorthin.

Dieses „Kabinett“ war dadurch entstanden, daß man das Eßzimmer dreifenstrig gemacht und durch die ganze Breite des Hauses gelegt hatte, weshalb nicht, wie sonst bei diesem Haustypus, Raum für drei Salons, sondern nur für zwei übriggeblieben war, von denen jedoch der eine, senkrecht zum Eßsaal gelegene, mit nur einem Fenster nach der Straße, unverhältnismäßig tief ausgefallen wäre. Darum hatte man etwa den vierten Teil seiner Länge von ihm abgesondert, eben das „Kabinett“, einen schmalen Raum mit Oberlicht, dämmerig und nur mit wenigen Gegenständen ausgestattet: einer Etagere, auf der des Senators Zigarrenschrank stand, einem Spieltisch, dessen Schublade anziehende Dinge enthielt: Whistkarten, Spielmarken, kleine Markierbrettchen mit aufklappbaren Zähnchen, eine Schiefertafel nebst Kreidegriffeln, papierne Zigarrenspitzen und anderes mehr; endlich mit einem Rokoko-Glasschrank aus Palisanderholz in der Ecke, hinter dessen Scheiben gelbseidene Vorhänge gespannt waren.

„Großpapa“, konnte der kleine Hans Castorp im Kabinett wohl sagen, indem er sich auf die Zehenspitzen erhob und zu dem Ohr des Alten emporstrebte, „zeig mir doch, bitte, die Taufschale!“

Und der Großvater, der ohnedies den Schoß seines langen und weichen Gehrocks vom Beinkleid zurückgerafft und sein Schlüsselbund aus der Tasche gezogen hatte, öffnete damit den Glasschrank, aus dessen Innerem es dem Knaben eigentümlich angenehm und merkwürdig entgegenduftete. Es waren allerlei außer Gebrauch befindliche und eben darum fesselnde Gegenstände darin aufbewahrt: ein Paar geschweifte silberne Armleuchter, ein zerbrochenes Barometer mit figürlicher Holzschnitzerei, ein Album mit Daguerreotypien, ein Likörkasten aus Zedernholz, ein kleiner Türke, hart anzufassen unter seinem buntseidenen Anzug, mit einem Uhrwerk im Leibe, das ihn dereinst befähigt hatte, über den Tisch zu laufen, nun aber schon lange den Dienst versagte, ein altertümliches Schiffsmodell und ganz zu unterst sogar eine Rattenfalle. Der Alte aber nahm von einem mittleren Fach eine stark angelaufene runde silberne Schale, die auf einem ebenfalls silbernen Teller stand, und wies beide Stücke dem Knaben vor, indem er sie voneinander nahm und unter schon oft gegebenen Erklärungen einzeln hin und her wandte.

Becken und Teller gehörten ursprünglich nicht zueinander, wie man wohl sah, und wie sich der Kleine aufs neue belehren ließ; doch seien sie, sagte der Großvater, seit rund hundert Jahren, nämlich seit Anschaffung des Beckens, im Gebrauche vereinigt. Die Schale war schön, von einfacher, edler Gestalt, geformt von dem strengen Geschmack der Frühzeit des letzten Jahrhunderts. Glatt und gediegen, ruhte sie auf rundem Fuße und war innen vergoldet; doch war das Gold von der Zeit schon zum gelblichen Schimmer verblichen. Als einziger Zierat lief ein erhabener Kranz von Rosen und zackigen Blättern um ihren oberen Rand. Den Teller angehend, so war sein weit höheres Alter ihm von der Innenseite abzulesen. „Sechzehnhundertundfünfzig“ stand dort in verschnörkelten Ziffern, und allerlei krause Gravierungen umrahmten die Zahl, ausgeführt in der „modernen Manier“ von damals, schwülstig-willkürlich, Wappen und Arabesken, die halb Stern und halb Blume waren. Auf der Rückseite aber fanden sich in wechselnder Schriftart die Namen der Häupter einpunktiert, die im Gange der Zeit des Stückes Inhaber gewesen: Es waren ihrer schon sieben, versehen mit der Jahreszahl der Erb-Übernahme, und der Alte in der Binde wies mit dem beringten Zeigefinger den Enkel auf jeden einzelnen hin. Der Name des Vaters war da, der des Großvaters selbst und der des Urgroßvaters, und dann verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Vorsilbe „Ur“ im Munde des Erklärers, und der Junge lauschte seitwärts geneigten Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-träumerisch sich festsehenden Augen und andächtig-schläfrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur-Ur, – diesen dunklen Laut der Gruft und der Zeitverschüttung, welcher dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusammenhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Leben und dem tief Versunkenen ausdrückte und ganz eigentümlich auf ihn einwirkte: nämlich so, wie es auf seinem Gesichte sich ausdrückte. Er meinte modrig-kühle Luft, die Luft der Katharinenkirche oder der Michaeliskrypte zu atmen bei diesem Laut, den Anhauch von Orten zu spüren, an denen man, den Hut in der Hand, in eine gewisse, ehrerbietig vorwärts wiegende Gangart ohne Benutzung der Stiefelabsätze verfällt; auch die abgeschiedene, gefriedete Stille solcher hallender Orte glaubte er zu hören; geistliche Empfindungen mischten sich mit denen des Todes und der Geschichte beim Klang jener dumpfen Silbe, und dies alles mutete den Knaben irgendwie wohltuend an, ja, es mochte wohl sein, daß er um des Lautes willen, um ihn zu hören und nachzusprechen, gebeten hatte, die Taufschale wieder einmal betrachten zu dürfen.

Dann stellte der Großvater das Gefäß auf den Teller zurück und ließ den Kleinen in die glatte, leicht goldige Höhlung sehen, die aufschimmerte von dem einfallenden Oberlicht.

„Nun sind es bald acht Jahre,“ sagte er, „daß wir dich darüber hielten und daß das Wasser, mit dem du getauft wurdest, da hinein floß ... Küster Lassen von St. Jacobi goß es unserem guten Pastor Bugenhagen in die hohle Hand, und von da lief es über deinen Schopf hier in die Schale. Aber wir hatten es gewärmt, damit du nicht erschrecken und nicht weinen solltest, und das tatst du auch nicht, sondern im Gegenteil, du hattest vorher geschrien, so daß Bugenhagen es nicht leicht gehabt hatte mit seiner Rede, aber als das Wasser kam, da wurdest du still, und das war die Achtung vor dem heiligen Sakrament, wollen wir hoffen. Und vierundvierzig Jahre sind es in den nächsten Tagen, da war dein seliger Vater der Täufling, und von seinem Kopf floß das Wasser hier hinein. Das war hier im Haus, seinem Elternhaus, drüben im Saal, vor dem mittleren Fenster, und es war noch der alte Pastor Hesekiel, der ihn taufte, derselbe, den die Franzosen als jungen Menschen beinahe erschossen hätten, weil er gegen ihre Räubereien und Brandschatzungen gepredigt hatte, – der ist nun auch schon lange, lange bei Gott. Aber vor fünfundsiebenzig Jahren, da war ich es selber, den sie tauften, auch da im Saal, und meinen Kopf hielten sie über die Schale hier, wie sie da auf dem Teller steht, und der Geistliche sprach dieselben Worte wie bei dir und deinem Vater, und ebenso floß das warme, klare Wasser von meinem Haar (es war nicht viel mehr damals, als ich jetzt auf dem Kopfe habe) da in das goldene Becken hinein.“

Der Kleine blickte empor auf des Großvaters schmales Greisenhaupt, das eben wieder über die Schale geneigt war, wie zu der längst verflossenen Stunde, von der er erzählte, und ein schon erprobtes Gefühl kam ihn an, die sonderbare, halb träumerische, halb beängstigende Empfindung eines zugleich Ziehenden und Stehenden, eines wechselnden Bleibens, das Wiederkehr und schwindelige Einerleiheit war, – eine Empfindung, die ihm von früheren Gelegenheiten her bekannt war, und von der wieder berührt zu werden er erwartet und gewünscht hatte: sie war es zum Teil, um derentwillen ihm die Vorzeigung des stehend wandernden Erbstücks angelegen gewesen war.

Prüfte der junge Mann sich später, so fand er, daß das Bild seines Ältervaters sich ihm viel tiefer, deutlicher und bedeutender eingeprägt hatte als das seiner Eltern: was möglicherweise auf Sympathie und physischer Sonderverwandtschaft beruhte, denn der Enkel sah dem Großvater ähnlich, soweit eben ein rosiger Milchbart einem gebleichten und starren Siebziger ähnlich sehen kann. Hauptsächlich aber war es doch wohl für den Alten bezeichnend, der ohne Frage die eigentliche Charakterfigur, die malerische Persönlichkeit in der Familie gewesen war.

Im öffentlichen Sinne gesprochen, so war die Zeit über Hans Lorenz Castorps Wesen und Willensmeinungen schon lange vor seinem Abscheiden hinweggegangen. Er war ein hochchristlicher Herr gewesen, von der reformierten Gemeinde, streng herkömmlich gesinnt, auf aristokratische Einengung des gesellschaftlichen Kreises, in dem man regierungsfähig war, so hartnäckig bedacht, als lebte er im vierzehnten Jahrhundert, wo das Handwerkertum gegen den zähen Widerstand des altfreien Patriziertums sich Sitz und Stimme im städtischen Rat zu erobern begonnen hatte, und für das Neue zu schwer zu haben. Sein Wirken war in Jahrzehnte eines heftigen Aufschwungs und vielfältiger Umwälzungen gefallen, Jahrzehnte des Fortschritts in Gewaltmärschen, die an den öffentlichen Opfer- und Wagemut beständig so hohe Anforderungen gestellt hatten. An ihm aber, dem alten Castorp, das wußte Gott, hatte es nicht gelegen, wenn der Geist der Neuzeit die weit bekannten, glänzenden Siege gefeiert hatte. Er hatte auf Vätersitte und alte Institutionen weit mehr gehalten als auf halsbrecherische Hafenerweiterungen und gottlose Großstadt-Alfanzereien, hatte gebremst und abgewiegelt, wo er nur konnte, und wäre es nach ihm gegangen, so sah es in der Verwaltung noch heutigentages so idyllisch-altfränkisch aus wie seinerzeit in seinem eigenen Kontor.

So stellte der Alte, zu seinen Lebzeiten und nachher, sich dem bürgerlichen Auge dar, und wenn der kleine Hans Castorp auch nichts von Staatsangelegenheiten verstand, so machte sein still anschauendes Kinderauge im wesentlichen doch ganz dieselben Wahrnehmungen, – wortlose und also unkritische, vielmehr nur lebensvolle Wahrnehmungen, die übrigens auch später, als bewußtes Erinnerungsbild, ihr wort- und zergliederungsfeindliches, schlechthin bejahendes Gepräge durchaus bewahrten. Wie gesagt, war da Sympathie im Spiele, jene ein Glied überspringende Nächstverbundenheit und Wesensverwandtschaft, die nichts Seltenes ist. Kinder und Enkel schauen an, um zu bewundern, und sie bewundern, um zu lernen und auszubilden, was erblicherweise in ihnen vorgebildet liegt.

Senator Castorp war hager und hochgewachsen. Die Jahre hatten ihm Rücken und Nacken gekrümmt, aber er suchte die Krümmung durch Gegendruck auszugleichen, wobei sein Mund, dessen Lippen nicht mehr von Zähnen gehalten wurden, sondern unmittelbar auf dem leeren Zahnfleisch ruhten (denn sein Gebiß legte er nur zum Essen an), sich auf würdig-mühsame Art nach unten zog, und hierdurch eben, wie auch wohl als Mittel gegen eine beginnende Unfestigkeit des Kopfes, kam die ehrenstreng aufgeruckte Haltung und Kinnstütze zustande, die dem kleinen Hans Castorp so zusagte.

Er liebte die Dose – es war eine längliche, mit Gold eingelegte Schildpattdose, die er handhabte, – und benutzte aus diesem Grunde rote Taschentücher, deren Zipfel ihm aus der hinteren Tasche seines Gehrocks zu hängen pflegte. War das eine heitere Schwäche in seiner Erscheinung, so wirkte sie doch durchaus als Alterslizenz, als eine Nachlässigkeit, wie die Betagtheit sie sich entweder bewußt und jovialerweise gestattet oder in ehrwürdiger Unbewußtheit mit sich bringt; und jedenfalls blieb sie die einzige, die Hans Castorps kindlicher Scharfblick je an des Großvaters Äußerem gewahrte. Für den Siebenjährigen aber sowohl wie später in der Erinnerung des Herangewachsenen war die alltägliche Erscheinung des Alten nicht seine eigentliche und wirkliche. In eigentlicher Wirklichkeit sah er noch anders, weit schöner und richtiger aus, als gewöhnlich, – nämlich so, wie er auf einem Gemälde, einem lebensgroßen Bildnis erschien, das früher im elterlichen Wohnzimmer gehangen hatte und dann zusammen mit dem kleinen Hans Castorp an die Esplanade übergesiedelt war, wo es seinen Platz über dem großen rotseidenen Sofa im Empfangszimmer erhalten hatte.

Es zeigte Hans Lorenz Castorp in seiner Amtstracht als Ratsherrn der Stadt – dieser ernsten, ja frommen Bürgertracht eines verschollenen Jahrhunderts, die ein zugleich gravitätisches und verwegenes Gemeinwesen durch die Zeiten mitgeführt und in pomphaftem Gebrauch erhalten hatte, um zeremoniellerweise die Vergangenheit zur Gegenwart, die Gegenwart zur Vergangenheit zu machen und den steten Zusammenhang der Dinge, die ehrwürdige Sicherheit ihrer Handlungsunterschrift zu bekunden. Senator Castorp stand da in ganzer Figur, auf rötlich gepflastertem Boden, in einer Pfeiler- und Spitzbogen-Perspektive. Er stand, das Kinn gesenkt, den Mund nach unten gezogen, die blauen, sinnig blickenden Augen mit den Tränensäcken darunter ins Weite gerichtet, in dem schwarzen und mehr als knielangen, talarartigen Überrock, der, vorne offen, am Rande und Saume eine breite Pelzverbrämung zeigte. Aus weiten, hochgepufften und bordierten Oberärmeln kamen engere Unterärmel von schlichtem Tuch hervor, und Spitzenmanschetten bedeckten die Hände bis zu den Knöcheln. Die schlanken Greisenbeine staken in schwarzseidenen Strümpfen, die Füße in Schuhen mit silbernen Schnallen. Um den Hals aber lag ihm die breite, gestärkte und vielfach gefältete Tellerkrause, vorn niedergedrückt und an den Seiten aufwärts geschwungen, unter welcher hervor zum Überfluß noch ein gefältetes Batistjabot auf die Weste hing. Unter dem Arme trug er den altertümlichen Hut mit breiter Krempe, dessen Kopf sich nach oben verjüngte.

Es war ein vortreffliches Bild, von namhafter Künstlerhand geschaffen, mit gutem Geschmack in dem altmeisterlichen Stile gehalten, den der Gegenstand nahelegte, und in dem Beschauer allerlei spanisch-niederländisch-spätmittelalterliche Vorstellungen weckend. Der kleine Hans Castorp hatte es oft betrachtet, nicht mit Kunstverstand natürlich, aber doch mit einem gewissen allgemeineren und sogar eindringlichen Verstande; und obgleich er den Großvater so, wie die Leinwand ihn darstellte, in Person nur ein einziges Mal, bei einer feierlichen Auffahrt am Rathaus, und auch da nur flüchtig gesehen hatte, konnte er, wie wir sagten, nicht umhin, diese seine bildhafte Erscheinung als seine eigentliche und wirkliche zu empfinden und in dem Großvater des Alltags sozusagen einen Interims-Großvater, einen behelfsweise und nur unvollkommen angepaßten zu erblicken. Denn das Abweichende und Wunderliche in dieser seiner Alltagserscheinung beruhte offenbar auf solcher unvollkommenen, vielleicht etwas ungeschickten Anpassung, es waren nicht ganz zu tilgende Reste und Andeutungen seiner reinen und wahren Gestalt. So waren die Vatermörder, die hohe weiße Binde altmodisch; aber unmöglich war diese Bezeichnung anwendbar auf das bewunderungswürdige Kleidungsstück, wovon jene nur die Interimsandeutung bildeten, nämlich auf die spanische Krause. Und ebenso verhielt es sich mit dem unüblich geschweiften Zylinder, den der Großvater auf der Straße trug, und dem in höherer Wirklichkeit der breitkrempige Filzhut des Gemäldes entsprach; mit dem langen und faltigen Gehrock, als dessen Urbild und Eigentlichkeit dem kleinen Hans Castorp der bordierte, pelzverbrämte Talar erschien.