2,99 €
Die adlige Clara und der bürgerliche Heinrich heiraten gegen den Willen von Claras Vater. Arm, aber verliebt und glücklich lebt das junge Paar versteckt in einer Dachstube. Als ihnen im Winter das Brennholz ausgeht, verfeuern sie die Holztreppe und sind damit abgeschnitten von der Außenwelt. Ihre Lage spitzt sich zu, doch der anbrechende Frühling bringt überraschend Erlösung … Tieck nannte seine 1838 erschienene humorvolle Novelle »eins meiner gelungensten Werkchen«. Mit einem neuem Nachwort und Anmerkungen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 134
Ludwig Tieck
Novelle
Reclam
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962154
1981, 2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2023
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962154-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019629-8
www.reclam.de
Des Lebens Überfluss
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Nachwort
[7]In einem der härtesten Winter war gegen Ende des Februar ein sonderbarer Tumult gewesen, über dessen Entstehung, Fortgang und Beruhigung die seltsamsten und widersprechendsten Gerüchte in der Residenz umliefen. Es ist natürlich, dass, wenn alle Menschen sprechen und erzählen wollen, ohne den Gegenstand ihrer Darstellung zu kennen, auch das Gewöhnliche die Farbe der Fabel annimmt.
In der Vorstadt, die ziemlich bevölkert ist, hatte sich in einer der engsten Straßen das Abenteuer zugetragen. Bald hieß es, ein Verräter und Rebell sei entdeckt und von der Polizei aufgehoben worden, bald, ein Gottesleugner, der, mit andern Atheisten verbrüdert, das Christentum mit seiner Wurzel ausrotten wollen, habe sich nach hartnäckigem Widerstand den Behörden ergeben und sitze nun so lange fest, bis er in der Einsamkeit bessere Grundsätze und Überzeugungen finde. Er habe sich aber vorher noch in seiner Wohnung mit alten Doppelhaken, ja sogar mit einer Kanone verteidigt, und es sei, bevor er sich ergeben, Blut geflossen, so dass das Konsistorium wie das Kriminalgericht wohl auf seine Hinrichtung antragen werde. Ein politischer Schuhmacher wollte wissen, der Verhaftete sei ein Emissär, der als das Haupt vieler geheimen Gesellschaften mit allen Revolutionsmännern Europas in innigster Verbindung stehe; er habe alle Fäden in Paris, London und Spanien wie in den östlichen Provinzen gelenkt, und es sei nahe daran, dass im äußersten Indien eine ungeheure Empörung ausbrechen und sich dann gleich der Cholera nach Europa herüberwälzen werde, um allen Brennstoff in lichte Flammen zu setzen.
[8]So viel war ausgemacht, in einem kleinen Hause hatte es Tumult gegeben, die Polizei war herbeigerufen worden, das Volk hatte gelärmt, angesehene Männer wurden bemerkt, die sich dareinmischten, und nach einiger Zeit war alles wieder ruhig, ohne dass man den Zusammenhang begriff. Im Hause selbst war eine gewisse Zerstörung nicht zu verkennen. Jeder legte sich die Sache aus, wie Laune oder Phantasie sie ihm erklären mochten. Die Zimmerleute und Tischler besserten nachher den Schaden aus.
Ein Mann hatte in diesem Hause gewohnt, den niemand in der Nachbarschaft kannte. War er ein Gelehrter? ein Politiker? ein Einheimischer? ein Fremder? Darüber wusste keiner, selbst der Klügste nicht, einen genügenden Bescheid zu geben.
So viel ist gewiss, dieser unbekannte Mann lebte sehr still und eingezogen, man sah ihn auf keinem Spaziergange, an keinem öffentlichen Orte. Er war noch nicht alt, wohlgebildet, und seine junge Frau, die sich mit ihm dieser Einsamkeit ergeben hatte, durfte man eine Schönheit nennen.
Um Weihnachten war es, als dieser jugendliche Mann in seinem Stübchen, dicht am Ofen sitzend, also zu seiner Frau redete: »Du weißt, liebste Clara, wie sehr ich den Siebenkäs unsers Jean Paul liebe und verehre; wie dieser sein Humorist sich aber helfen würde, wenn er in unsrer Lage wäre, bleibt mir doch ein Rätsel. Nicht wahr, Liebchen, jetzt sind, so scheint es, alle Mittel erschöpft?«
»Gewiss, Heinrich«, antwortete sie lächelnd und zugleich seufzend; »wenn du aber froh und heiter bleibst, liebster aller Menschen, so kann ich mich in deiner Nähe nicht unglücklich fühlen.«
[9]»Unglück und Glück sind nur leere Worte«, antwortete Heinrich; »als du mir aus dem Hause deiner Eltern folgtest, als du so großmütig um meinetwillen alle Rücksichten fahren ließest: da war unser Schicksal auf unsre Lebenszeit bestimmt. Lieben und leben hieß nun unsre Losung; wie wir leben würden, durfte uns ganz gleichgültig sein. Und so möchte ich noch jetzt aus starkem Herzen fragen: Wer in ganz Europa ist wohl so glücklich, als ich mich mit vollem Recht und aus der ganzen Kraft meines Gefühles nennen darf?«
»Wir entbehren fast alles«, sagte sie, »nur uns selbst nicht, und ich wusste ja, als ich den Bund mit dir schloss, dass du nicht reich warst; dir war es nicht unbekannt, dass ich aus meinem väterlichen Hause nichts mit mir nehmen konnte. So ist die Armut mit unsrer Liebe eins geworden, und dieses Stübchen, unser Gespräch, unser Anblicken und Schauen in des Geliebten Auge ist unser Leben.«
»Richtig!« rief Heinrich aus und sprang auf in seiner Freude, um die Schöne lebhaft zu umarmen; »wie gestört, ewig getrennt, einsam und zerstreut wären wir nun in jenem Schwarm der vornehmen Zirkel, wenn alles in seiner Ordnung vor sich gegangen wäre. Welch Blicken, Sprechen, Handgeben, Denken dort! Man könnte Tiere oder selbst Marionetten so abrichten und eindrechseln, dass sie eben die Komplimente machten und solche Redensarten von sich gäben. So sind wir, mein Schatz, wie Adam und Eva hier in unserm Paradiese, und kein Engel kommt auf den ganz überflüssigen Einfall, uns daraus zu vertreiben.«
»Nur«, sagte sie etwas kleinlaut, »fängt das Holz an, ganz einzugehen, und dieser Winter ist der härteste, den ich bis jetzt noch erlebt habe.«
[10]Heinrich lachte. »Sieh«, rief er, »ich muss aus purer Bosheit lachen, aber es ist darum noch nicht das Lachen der Verzweiflung, sondern einer gewissen Verlegenheit, da ich durchaus nicht weiß, wo ich Geld hernehmen könnte. Aber finden müssen sich die Mittel; denn es ist undenkbar, dass wir erfrieren sollten bei so heißer Liebe, bei so warmem Blut! Pur unmöglich!«
Sie lachte ihn freundlich an und erwiderte: »Wenn ich nur, so wie Lenette, Kleider zum Verkaufe mitgebracht oder überflüssige Messingkannen und Mörser oder kupferne Kessel in unsrer kleinen Wirtschaft umherständen, so wäre leicht Rat zu finden.«
»Jawohl«, sprach er mit übermütigem Ton, »wenn wir Millionärs wären wie jener Siebenkäs, dann wäre es keine Kunst, Holz anzuschaffen und selbst bessere Nahrung.«
Sie sah im Ofen nach, in welchem Brot in Wasser kochte, um so das kärglichste Mittagsmahl herzustellen, welches dann mit einem Nachtisch von weniger Butter beschlossen werden sollte. »Während du«, sagte Heinrich, »die Aufsicht über unsre Küche führst und dem Koch die nötigen Befehle erteilst, werde ich mich zu meinen Studien niedersetzen. Wie gern schriebe ich wieder, wenn mir nicht Dinte, Papier und Feder völlig ausgegangen wären; ich möchte auch wieder einmal etwas lesen, was es auch sei, wenn ich nur noch ein Buch hätte.«
»Du musst denken, Liebster«, sagte Clara und sah schalkhaft zu ihm hinüber; »die Gedanken sind dir hoffentlich noch nicht ausgegangen.«
»Liebste Ehefrau«, erwiderte er, »unsre Wirtschaft ist so weitläuftig und groß, dass sie wohl deine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt; zerstreue dich ja nicht, damit [11]nicht unsre ökonomischen Verhältnisse in Verwirrung geraten. Und da ich mich jetzt in meine Bibliothek begebe, so lass mich vor jetzt in Ruhe; denn ich muss meine Kenntnisse erweitern und meinem Geiste Nahrung gönnen.«
»Er ist einzig!« sagte die Frau zu sich selber und lachte fröhlich; »und wie schön er ist!«
»So lese ich denn wieder in meinem Tagebuche«, sprach Heinrich, »das ich ehemals anlegte, und es interessiert mich, rückwärts zu studieren, mit dem Ende anzufangen und mich so nach und nach zu dem Anfange vorzubereiten, damit ich diesen umso besser verstehe. Immer muss alles echte Wissen, alles Kunstwerk und gründliche Denken in einen Kreis zusammenschlagen und Anfang und Ende innigst vereinigen, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt – ein Sinnbild der Ewigkeit, wie andre sagen; ein Symbol des Verstandes und alles Richtigen, wie ich behaupte.«
Er las auf der letzten Seite, aber nur halblaut: »Man hat ein Märchen, dass ein wütender Verbrecher, zum Hungertode verdammt, sich selber nach und nach aufspeiset; im Grunde ist das nur die Fabel des Lebens und eines jeden Menschen. Dort blieb am Ende nur der Magen und das Gebiss übrig, bei uns bleibt die Seele, wie sie das Unbegreifliche nennen. Ich aber habe auch, was das Äußerliche betrifft, in ähnlicher Weise mich abgestreift und abgelebt. Es war beinah lächerlich, dass ich noch einen Frack nebst Zubehör besaß, da ich niemals ausgehe. Am Geburtstage meiner Frau werde ich in Weste und Hemdärmeln vor ihr erscheinen, da es doch unschicklich wäre, bei hoffähigen Leuten in einem ziemlich abgetragenen Überrock Cour zu machen.«
[12]»Hier geht die Seite und das Buch zu Ende«, sagte Heinrich. »Alle Welt sieht ein, dass unsre Fracks eine dumme und geschmacklose Kleidung sind, alle schelten diese Unform, aber keiner macht, so wie ich, Ernst damit, den Plunder ganz abzuschaffen. Ich erfahre nun nicht einmal aus den Zeitungen, ob andre Denkende meinem kühnen Beispiele und Vorgange folgen werden.«
Er schlug um und las die vorige Seite: »Man kann auch ohne Servietten leben. Wenn ich bedenke, wie unsre Lebensweise immer mehr und mehr in Surrogat, Stellvertretung und Lückenbüßerei übergegangen ist, so bekomme ich einen rechten Hass auf unser geiziges und knickerndes Jahrhundert und fasse, da ich es ja haben kann, den Entschluss, in der Weise unsrer viel freigebigern Altvordern zu leben. Diese elenden Servietten sind ja, was selbst die heutigen Engländer noch wissen und verachten, offenbar nur erfunden, um das Tischtuch zu schonen. Ist es also Großmut, das Tischtuch nicht zu achten, so gehe ich darin noch weiter, das Tafeltuch zusamt den Servietten für überflüssig zu erklären. Beides wird verkauft, um vom säubern Tische selbst zu essen, nach Weise der Patriarchen, nach Art der – nun? Welcher Völker? Gleichviel! Essen doch viele Menschen selbst ohne Tisch. Und, wie gesagt, ich treibe dergleichen nicht aus zynischer Sparsamkeit, nach Art des Diogenes, aus dem Hause, sondern im Gegenteil im Gefühl meines Wohlstandes, um nur nicht, wie die jetzige Zeit, aus törichtem Sparen zum Verschwender zu werden.«
»Du hast es getroffen«, sagte die Gattin lächelnd; »aber damals lebten wir von dem Erlös dieser überflüssigen Sachen doch noch verschwenderisch. Oft sogar hatten wir zwei Schüsseln.«
[13]Jetzt setzten sich die beiden Gatten zum dürftigsten Mahle nieder. Wer sie gesehen, hätte sie für beneidenswert halten müssen, so fröhlich, ja ausgelassen waren sie an der einfachen Tafel. Als die Brotsuppe verzehrt war, holte Clara mit schalkhafter Miene einen verdeckten Teller aus dem Ofen und setzte dem überraschten Gatten noch einige Kartoffeln vor. »Sieh!« rief dieser, »das heißt einem, wenn man sich an den vielen Büchern satt studiert hat, eine heimliche Freude machen! Dieser gute Erdapfel hat mit zu der großen Umwälzung von Europa beigetragen. Der Held Walter Raleigh soll leben!« – Sie stießen mit den Wassergläsern an, und Heinrich sah nach, ob der Enthusiasmus auch nicht einen Riss im Glase verursacht habe. »Um diese ungeheure Künstlichkeit«, sagte er dann, »um diese Einrichtung mit unsern alltäglichen Gläsern würden uns die reichsten Fürsten des Altertums beneidet haben. Es muss langweilig sein, aus einem goldenen Pokal zu trinken, vollends so schönes, klares, gesundes Wasser. Aber in unsern Gläsern schwebt die erfrischende Welle so heiter durchsichtig, so eins mit dem Becher, dass man wirklich versucht wird, zu glauben, man genieße den flüssig gewordenen Äther selbst. – Unsre Mahlzeit ist geschlossen; umarmen wir uns.«
»Wir können auch zur Abwechselung«, sagte sie, »unsre Stühle an das Fenster rücken.«
»Platz genug haben wir ja«, sagte der Mann, »eine wahre Rennbahn, wenn ich an die Käfige denke, die der elfte Ludwig für seine Verdächtigen bauen ließ. Es ist unglaublich, wie viel Glück schon darin liegt, dass man Arm und Fuß nach Gutdünken erheben kann. Zwar sind wir immer noch, wenn ich an die Wünsche denke, die unser Geist in manchen Stunden fasst, angekettet: Die Psyche ist in die [14]Leimrute, die uns klebend hält und von der wir nicht losflattern können, weiß der Himmel wie, hineingesprungen, und wir und Rute sind nun so eins, dass wir zuweilen das Gefängnis für unser besseres Selbst halten.«
»Nicht so tiefsinnig«, sagte Clara und fasste seine schön geformte Hand mit ihren zarten und schlanken Fingern; »sieh lieber, mit wie sonderbaren Eisblumen der Frost unsre Fenster ausgeschmückt hat. Meine Tante wollte immer behaupten, durch diese mit dickem Eis überzogenen Gläser werde das Zimmer wärmer, als wenn die Scheiben frei wären.«
»Es ist nicht unmöglich«, sagte Heinrich; »doch möchte ich auf diesen Glauben hin das Heizen nicht unterlassen. Am Ende könnten die Fenster von Eisschollen so dick werden, dass sie uns die Stube verengten, und so wüchse uns um die Haut her jener berühmte Eispalast in Petersburg. Wir wollen aber lieber bürgerlich und nicht wie die Fürsten leben.«
»Wie wunderbar«, rief Clara, »sind doch diese Blumen gezeichnet, wie mannigfaltig! Man glaubt sie alle schon in der Wirklichkeit gesehen zu haben, so wenig man sie auch namhaft zu machen weiß. Und sieh nur, die eine verdeckt oft die andere, und die großartigen Blätter scheinen noch nachzuwachsen, indem wir darüber sprechen.«
»Ob wohl«, fragte Heinrich, »die Botaniker schon diese Flora beobachtet, abgezeichnet und in ihre gelehrten Bücher übertragen haben? Ob diese Blumen und Blätter nach gewissen Regeln wiederkehren oder sich phantastisch immer neu verwandeln? Dein Hauch, dein süßer Atem hat diese Blumengeister oder Revenants einer erloschenen Vorzeit hervorgerufen, und so wie du süß und lieblich [15]denkst und phantasierst, so zeichnet ein humoristischer Genius deine Einfälle und Fühlungen hier in Blumenphantomen und Gespenstern wie mit Leichenschrift in einem vergänglichen Stammbuche auf, und ich lese hier, wie du mir treu und ergeben bist, wie du an mich denkst, obgleich ich neben dir sitze.«
»Sehr galant! mein verehrter Herr«, versetzte sie sehr freundlich; »Sie könnten in der Weise diese Eisblumen lehr- und sinnreich erklären, wie wir zu Umrissen der Shakespeare’schen Stücke zu gelehrte und elegante Erläuterungen besitzen.«
»Still, mein Herz!« erwiderte der Gatte, »kommen wir nicht in jene Gegend, und nenne mich auch nicht einmal im Scherze Sie. – Ich werde mein Tagebuch jetzt nach unserem Festmahl noch etwas rückwärts studieren. Diese Monologe belehren mich schon jetzt über mich selbst, wie viel mehr müssen sie es künftig in meinem Alter tun. Kann ein Tagebuch etwas andres als Monologe enthalten? Doch, ein recht großer Künstlergeist könnte ein solches dialogisch denken und schreiben. Wir vernehmen aber nur gar zu selten diese zweite Stimme in uns selbst. Natürlich! Gibt es unter Tausenden doch kaum einen, der in der Wirklichkeit den Verständigen und dessen Antworten vernimmt, wenn sie anders lauten, als der Sprechende sich die seinigen und seine Fragen angewöhnt hat.«
»Sehr wahr«, bemerkte Clara, »und darum ist in ihrer höchsten Weihe die Ehe erfunden. Das Weib hat in ihrer Liebe immer jene zweite, antwortende Stimme oder den richtigen Gegenruf des Geistes. Und glaube mir, was ihr so oft in euerm männlichen Übermut unsre Dummheit oder Kurzsichtigkeit benennt oder Mangel an Philosophie, [16]Unfähigkeit, in die Wirklichkeit einzudringen, und dergleichen Phrasen mehr, das ist, wie oft, der echte Geisterdialog, die Ergänzung oder der harmonische Einklang in euer Seelengeheimnis. Aber freilich, die meisten Männer erfreuen sich nur eines nachhallenden Echos und nennen das Naturlaut, Seelenklang, was nur nachbetender oder nachbuchstabierter Schall unverstandener Floskeln ist. Oft ist das sogar ihr Ideal der Weiblichkeit, in welches sie sich sterblich verlieben.«
»Engel! Himmel!« rief in Begeisterung der junge Gatte; »ja, wir verstehen uns; unsre Liebe ist die wahre Ehe, und du erhellst und ergänzest die Gegend in mir, wo sich der Mangel oder die Dunkelheit kundtut. Wenn es Orakel gibt, so darf es auch an Sinn und Gehör nicht fehlen, sie zu vernehmen und zu deuten.«
Eine lange Umarmung endigte und erläuterte dieses Gespräch. »Der Kuss«, sagte Heinrich, »ist auch ein solches Orakel. Sollte es wohl schon Menschen gegeben haben, die sich bei einem recht innigen Kusse etwas Verständiges haben denken können?«
Clara lachte laut, ward dann plötzlich ernsthaft und sagte etwas kleinlaut, ja selbst im Tone des Mitleids: »Ja, ja, so verfahren wir mit Domestiken und Haushältern, Reitknechten und Stallmeistern, denen wir doch oft so viel zu verdanken haben. Sind wir in geistiger oder gar in übermütiger Aufregung, so verachten und verlachen wir sie. Mein Vater sprang einmal mit seinem schwarzen Hengst über einen breiten Graben, und als alle Welt ihn bewunderte und die Damen in die Hände klatschten, stand ein alter Stallmeister in der Nähe, und nur er schüttelte bedenklich mit dem Kopfe. Der Mann war steif und linkisch, mit seinem [17]langen Zopfe und der roten Nase komisch anzuschauen. ›Nun, Ihr?‹ fuhr ihn mein heftiger Vater an; ›gibt’s wieder zu hofmeistern?‹ Der steilrechte