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Ein Mann von Scotland Yard fährt in seinem Urlaub mit dem Hund durchs Land und erlebt so allerhand. E. Phillips Oppenheim war ein beliebter Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der vor allem für seine spannenden Kriminalromane wie "Das Geheimnis des Mr. Bernard Brown" bekannt ist. Viele seiner mehr als 100 Romane werden auch heute noch gelesen. Seine Romane und Kurzgeschichten enthalten alle Elemente von blutigen Abenteuern und Intrigen und sind Vorläufer der modernen Spionagefilme. "Nicholas Goade, Detective" ist eine Sammlung von Kurzkrimis über einen Scotland-Yard-Detektiv im Urlaub. Während er mit seinem Hund in seinem alten Auto durch England reist, stolpert er immer wieder über kleine Rätsel. Es handelt sich um eine Mischung aus einem klassischen Polizeirätsel und einer Neuauflage von Sherlock Holmes aus den 1930er Jahren. Goade löst seltsame Fälle durch eine Kombination aus sorgfältiger Detektivarbeit, Intuitionssprüngen und seiner Fähigkeit, Menschen zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren.
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Seitenzahl: 268
Herausgeber
Erik Schreiber
9 mm para bellum 7
Edward Phillips Oppenheim
Detektiv Nicholas Goade
Saphir im Stahl
9 mm para bellum 7
e-book 205
Edward Phillips Oppenheim - Detektiv Nicholas Goade
Erscheinungstermin: 01.11.2023
© Saphir im Stahl Verlag
Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.saphir-im-stahl.de
Titelbild: murder street 2 (1953)
Lektorat: Peter Heller
Vertrieb: neobook
Herausgeber
Erik Schreiber
9 mm para bellum 7
Edward Phillips Oppenheim
Detektiv Nicholas Goade
Saphir im Stahl
1
Am Rande eines der Seitenwege, die in vielen Windungen aus dem Marktstädtchen Bridgeford nach einigen zerstreuten Weilern der Berggegend von Exmoor führen, stand ein Mann, der mit großem Eifer ein schauderhaftes Aquarell malte. Einige Schritte von ihm entfernt, im Schatten einer hohen Hecke, befand sich ein alter Fordwagen; neben dem Mann saß eine kleine, feiste, weiße Hündin von der Sealyhamrasse, die an der Beschäftigung ihres Herrn wenig Gefallen zu finden schien.
Der Mann sah nicht wie ein Künstler aus und war auch keiner. Er hatte einen mächtigen Körperbau, etwas rötliche Gesichtsfarbe, kluge blaue Augen und ein Kinn, das von unbeugsamer Willenskraft zeugte. Man hätte seine Züge beinahe plump nennen können, wenn nicht ein humorvoller Mund diesen Eindruck gemildert hätte. Das volle dunkle Haar war zu dicht, um tadellos geordnet zu sein, und die Finger, die den Pinsel hielten, schienen eher einem Bildhauer als einem Maler zu gehören. Er hieß Nicholas Goade, war achtunddreißig Jahre alt und im Begriff, seinen ersten langen – in etwas eigenartiger Weise verdienten – Urlaub zu genießen, seitdem er in den Dienst der Kriminalpolizei getreten war. Vor einem Monat hatte er eigenhändig einen Verbrecher verhaftet, der fünf Jahre lang der New Yorker und Londoner Polizei Trotz geboten hatte. Die erstere hatte ihn mit einem Scheck auf fünfundzwanzigtausend Dollars, die letztere mit einem Urlaub von sechs Monaten belohnt. Daher die langgeplante Muße.
Der Friede der ersten Stunden dieses sommerlichen Nachmittags wurde plötzlich in seltsamer Weise gestört. Flip, die zuerst bemerkte, dass etwas Ungewöhnliches herannahte, richtete sich mit einem kurzen, warnenden Gebell in die Höhe. Goade wandte den Kopf, hielt die Hand über die Augen und blickte die Straße hinab. Ein Pferd ohne Reiter kam im Galopp auf sie zugelaufen: Mit jeder Sekunde wurde der donnernde Schall seiner Hufe deutlicher vernehmbar. In weiter Ferne, dort, wo der Weg sich wieder zu den Höhen hinaufwand, nachdem er auf eine kurze Strecke hin im Tal verschwunden war, zeigte sich eine kleine Staubwolke. Sonst war in der träumenden Landschaft kein Zeichen von Leben oder Bewegung sichtbar.
Nicholas Goade warf sein kostbares Bild ins Auto und blieb einen Augenblick mitten auf der Straße stehen, ohne sich ganz klar darüber zu sein, was er tun sollte. Er war ein hilfreicher, aber zugleich verständiger Mann und hatte nicht die Absicht, sein Leben aufs Spiel zu setzen oder auch nur eine ernste Verletzung zu riskieren, um ein durchgehendes Pferd anzuhalten, das wahrscheinlich von selbst stehen bleiben würde, sobald es seine Energie erschöpft hatte. Bald erwies sich, dass ein Eingreifen von seiner Seite nicht nötig war. Sobald das Pferd ihn bemerkte, verlangsamte es seinen Lauf, blickte einen Augenblick nervös umher und kam dann im Schritt auf ihn zu. Die zurückgelegten Ohren zeigten, dass es sich von seinem Schreck noch nicht ganz erholt hatte; es war in Schweiß gebadet, und die Steigbügel baumelten an den Weichen, die sich hoben und senkten, hin und her; aber von dem Mann, der vor ihm stand, schien ein beruhigender Einfluss auszugehen. Goade klopfte es auf den nassen Hals, untersuchte die große Strieme an seiner Seite und führte es auf den Rasen neben dem Fahrweg; dann kletterte er in sein Auto und fuhr in der Richtung davon, aus welcher der Ausreißer gekommen war.
Etwas über einen Kilometer weiter, am Rande der Gemeindewiese, die sich an der Straße hinzog, gelangte er an den Ort, von dem das Pferd offenbar fortgelaufen war. Auf dem Rasen hingestreckt lag die regungslose Gestalt eines Mannes in gewöhnlichem Reitanzug; das Gesicht war dem Boden zugekehrt. Goade beugte sich über ihn; obgleich ein furchtbarer Anblick für ihn nichts Ungewohntes war, erschrak er über die Wunden am Kopf und Hals des Mannes. Er kehrte zu seinem Wagen zurück, holte seine Decke und legte sie über die hingestreckte Gestalt, nachdem er noch einen Blick auf sie geworfen hatte. Dann sah er sich mit dem Instinkt, der zu seinem Beruf gehörte, nach Spuren eines Kampfes um, der zwischen Mann und Pferd stattgefunden haben musste. Zu seiner Überraschung war nichts der Art zu sehen. Nirgends war der Rasen aufgewühlt; so weich und nachgiebig er war, er zeigte nur ganz oberflächliche Hufspuren.
Der Schauplatz des Dramas war ein kleiner, von Ginsterbüschen umgebener Raseneinschnitt, den das Pferd vermutlich aus irgendeinem Grunde von der Straße her betreten hatte. Etwa zwanzig Schritte entfernt stand eine kleine Hütte, die wahrscheinlich Hirten eine Zuflucht bot. Nirgends war ein menschliches Wesen oder irgendein Fuhrwerk zu sehen. Goade beugte sich noch einmal über den Toten und befühlte den Körper mit erfahrener Hand. Er war noch warm. Der Tod konnte erst vor wenigen Minuten eingetreten sein. Er vernahm den Klang von Pferdehufen, die sich langsam und zögernd näherten, und drehte sich um. Das Pferd war ihm auf die Anhöhe gefolgt; es blieb einen Augenblick zitternd am Rande der Straße stehen, kam dann langsam näher, stieß ein Wiehern aus und senkte den Kopf, als ob es seinen Herrn, der vor ihm lag, erkannt hätte. Goade betrachtete noch einmal die Strieme an seiner Seite, klopfte freundlich seinen Hals und stieg dann eine kleine Anhöhe hinauf. Das Staubwölkchen auf dem Straßenband, das sich am Berghang dahinzog, war verschwunden. Nach einem Augenblick der Überlegung zog er seine Schuhe aus, führte das Pferd in ruhigem Schritt auf die andere Seite der Straße und begann, den kleinen halbkreisförmigen Rasenplatz, auf dem sich das Unglück ereignet zu haben schien, genauer zu untersuchen. Nach einer Viertelstunde richtete er sich wieder auf und blickte umher. Noch immer ließ sich niemand sehen, dessen Beistand er in Anspruch nehmen konnte, um den Toten fortzuschaffen. Er zog seine Schuhe wieder an und ging auf dem schmalen Fußpfad der kleinen Hütte zu ...
Bald nachdem die kleine Staubwolke auf der Berglehne sich verzogen hatte, lenkte George Unwin seinen Wagen auf die Anfahrt zu seinem kleinen, hübsch gelegenen Landhaus, ließ ihn vor dem Haupteingang halten und zog an der Klingel, um den Chauffeur aus seiner Garage zu rufen. Er zog seine Handschuhe aus und blickte umher, als wollte er sich an der freundlichen Umgebung erfreuen: ein sorgfältig gepflegter Rasenplatz, dahinter eine Koppel; Blumen im Überfluss und überall Zeichen von Wohlstand und Behaglichkeit. Er summte etwas vor sich hin, befühlte die Hinterreifen und gab dem herbeieilenden Chauffeur einige diesbezügliche Anweisungen. Dann nickte er dem Stubenmädchen, das auf sein Klingeln die Tür geöffnet hatte, freundlich zu, legte Hut und Handschuhe auf den Tisch in der Vorhalle und ging, immer noch leise vor sich hinsummend, in der würdig ruhigen Haltung, die er gewöhnlich zeigte, in sein Arbeitszimmer. Nichts in seinem Benehmen hätte verraten können, dass er vor kaum einer Viertelstunde einen rohen Mord begangen hatte.
„Ist die gnädige Frau zu Hause, Rose?“, fragte er.
„Die gnädige Frau ruht, Sir“, antwortete das Mädchen. „Sie bestellte den kleinen Wagen für den Nachmittag, änderte aber ihre Absicht. Sie klagte nach dem Lunch über Kopfweh“.
Der Herr nickte.
„Ich denke, ich nehme einen Whisky und Soda“, sagte er. „Bringen Sie alles her, ich mache es mir selbst zurecht“.
Das Mädchen kehrte sofort zurück, und George Unwin mischte sich mit ruhiger Hand seinen Whisky-Soda. Sobald er allein war, goss er sich doppelt so viel Whisky ins Glas und leerte es zur Hälfte auf einen Zug. Dann blieb er stehen und betrachtete sich aufmerksam im Spiegel. Keine Spur von Unordnung war an seinem Anzug oder Gesicht zu sehen; Kragen und Krawatte saßen tadellos. Er war sorgfältig gekleidet, wie es einem geachteten Anwalt mit ausgedehnter Praxis zukam. Die Krawatte beinahe wie ein Stock, so fest; der fleckenlos weiße Kragen etwas höher, als es auf dem Lande Mode war; der Anzug aus dunklem Wollstoff nicht auffallend und von gutem Sitz. Er fuhr fort, sich mit der größten Aufmerksamkeit zu mustern. Das schwarze Haar war nicht verwirrt, die Augen vielleicht ein wenig glänzender als sonst; die gewöhnlich blassen Wangen zeigten eine leise Röte.
Zufrieden mit seiner Musterung trat er an ein Bücherregal, zog aus einer Reihe von Bänden, die den gleichen Gegenstand behandelten, ein Buch hervor, das den Titel „Praktische Verbrecherkunde“ trug, nahm in einem Lehnstuhl Platz und vertiefte sich in den Inhalt. Er begann eifrig in dem Kapitel zu lesen, das er genau kannte: es enthielt das Geständnis eines Verbrechers, der drei Monate lang einen Mord vorbereitet und mit wissenschaftlicher Genauigkeit jede Einzelheit berücksichtigt, aber durch eine seltsame Verkettung von Umständen einen Anhaltspunkt übersehen hatte. Er verschlang die wenigen Seiten, dann schloss er das Buch halb, mit dem Finger an der betreffenden Stelle, und überließ sich seinen Gedanken. Hatte er irgendetwas getan oder versäumt? Schritt für Schritt verfolgte er die Ereignisse des Nachmittags. Er hatte sein Büro in dem nahegelegenen Städtchen allerdings früher als gewöhnlich verlassen, aber während der Sommermonate war das kein seltener Fall. Kein Mensch hatte gesehen, dass er von der Hauptchaussee, die direkt zu seiner Villa führte, abgebogen war, und auch auf dem einsamen Seitenweg, auf dem er den Mann, den er suchte, treffen musste, war er keiner Menschenseele begegnet. Sie waren wenige Schritte von der Unterstandshütte zusammengetroffen, genau wie er es geplant und gewünscht hatte. Er rief sich die kurzen Worte ins Gedächtnis, die sie miteinander gewechselt hatten; wie er dann die jahrelange Heuchelei plötzlich von sich abwarf und die wilde Leidenschaft, die monatelang zurückgedrängt worden war, in tosendem Wortschwall hervorbrach und seinen Arm für die Tat stählte, die er nie vergessen würde. Es war beinahe leichter gewesen, als er erwartet hatte. Selbst ein starker Mann ist nicht so schwer zu töten, wenn er halb betäubt ist.
George Unwin saß in seinem Lehnstuhl und genoss noch einmal den süßen Augenblick der Rache. In diesen Sekunden wilder Lust hatte sich der stumme Hass, der sich lange, lange Monate hindurch so gut verborgen hielt, auf einmal ausgetobt. Er begann im Innern zu frohlocken. Er sagte sich, dass er keinen Fehler gemacht hatte, dass er in Sicherheit war, und dass der stumme nagende Schmerz, den niemand ahnte und der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte, vorbei war. Die neue Qual, der er entgegenging, war noch nicht da.
Man hörte leichte Fußtritte in der Halle, und seine Finger packten den Band, den er in der Hand hielt, fester. Er warf ihn auf den Tisch, als die Tür sich öffnete und seine Frau hereintrat. Er erhob sich halb, als er sie begrüßte. Seine Manieren waren immer korrekt.
„Du bist früh nach Hause gekommen, George“, sagte sie.
Er nickte.
„Im Büro gab es wenig zu tun. Ich hoffe, Rose bringt uns den Tee in den Garten“.
„Gewiss, ich will es ihr sagen“.
Er beobachtete sie verstohlen, als sie an der Klingel stand und auf den Knopf drückte. Sie hatte eine graziöse Gestalt, eine blasse Gesichtsfarbe, aber ungewöhnlich rote Lippen und Augen von unbestimmter Farbe. Sie sah wie eine Ausländerin aus, obwohl sie im Nachbardorf geboren war und den größten Teil ihres Lebens dort verbracht hatte. Er musste an die Legende von Spaniern denken, die sich vor Jahrhunderten in der Nähe angesiedelt hatten. Ohne Zweifel hatte sie fremdes Blut in ihren Adern, er selbst vielleicht auch. An diesem Nachmittag fühlte er sich als Nicht-Engländer, gar nicht wie George Unwin, Esquire, der angesehene Anwalt, Untersheriff der Grafschaft und Inhaber anderer staatlicher Ämter. Diese Legende vom fremden Blut musste auf Wahrheit beruhen, sonst hätte George Unwin, der als Urbild von Beamtenwürde und rechtschaffenem Leben allgemeine Achtung genoss, in diesem Augenblick niemals die wilde Freude empfinden können, die er empfand.
„Ich dachte, du wolltest ausfahren“, bemerkte er.
„Ich fahre nicht jeden Nachmittag aus“, erwiderte sie leichthin.
Eine Lüge, sagte er sich. Er wusste, schon seit einer Reihe von Tagen, alles über ihre Picknicks im Grünen, die kleinen Fahrten in den Wald, nach der telefonischen Anfrage in seinem Büro, um zu wissen, was er vorhätte. Er wusste sehr gut, warum er sie an diesem Nachmittag zu Hause gefunden hatte. Von dem Nebenanschluss in seinem Büro hatte er hören können, wie sie bei den Schreibern anfragte, und wie diese ihr die Antwort gaben, die seiner Anweisung entsprach: „Mr. Unwin wird früh nach Hause kommen“. Er hatte sie an diesem Nachmittag fernhalten müssen. Ob sie es jemals erraten würde?
Im Schatten des Zedernbaumes schenkte sie ihm Tee ein, und sie sprachen von gleichgültigen Dingen, ihren Nachbarn, dem kommenden Tennisturnier, einem Gartenfest, das in den nächsten Tagen stattfinden sollte. Dann ließ er, ohne dass seine Stimme zitterte, den Namen des Mannes fallen, der tot hingestreckt an der Landstraße lag.
„Hast du in den letzten Tagen Sir Michael gesehen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wie sollte ich? Er kommt sehr selten, wenn du nicht da bist“.
„Lügnerin!“, dachte er bei sich selbst und sah sie mit einem neuen, seltsamen Interesse an. Eine so vollendete Täuschung gehörte an sich in die Wissenschaft, die seit Jahren sein Steckenpferd war. Was für eine Verbrecherin aus ihr hätte werden können! Wenn er nicht durch reinen Zufall ihr Geheimnis entdeckt hätte, wäre er vielleicht selbst ihr Opfer geworden. Eine Frau, die so zu lügen verstand, konnte auch töten.
„Wollen wir zum Heuschlag hinuntergehen?“, schlug er vor. „Crask meint, dass wir eine gute Ernte haben werden“.
Er ging an ihrer Seite und rauchte die Zigarette, die er sich immer nach dem Tee anzuzünden pflegte, die einzige Zigarette, die bis zum Dinner reichen musste. Wieder sprachen sie von gleichgültigen Gegenständen, in freundlichem Ton und ohne dass sich ein Mangel an Interesse bemerkbar machte. Niemand hätte erraten, dass zwischen ihnen eine Mauer war, die Mauer, die er von Tag zu Tag mit wachsender Verzweiflung hatte steigen sehen. Während sie ihr kleines Besitztum durchschritten in dem sie, wie ihm einfiel, den Rest ihres Lebens zusammen verbringen sollten, blickte er über die Anfahrt hinweg die Straße hinab. Der Briefträger kam und ging, ohne eine Nachricht zu bringen, ein Bäcker lieferte Brot ab, ein befreundeter Motorfahrer winkte beim Vorbeifahren einen Gruß zu. Es war ja eine einsame Stelle, auf der der Ermordete lag!
Langsam und mit Überlegung zog er sich zum Dinner um, während seine Augen das Bild im Spiegel studierten. Er hatte ein langes, mageres, nicht unsympathisches Gesicht, obwohl die Wangen ein wenig eingefallen waren – nicht das Gesicht eines Mörders, dachte er beim Binden seiner Krawatte. Das würde keiner von ihm glauben. Nun, keiner würde es jemals erfahren. Ein finsteres Lächeln spielte um seine Lippen, als er an die Zukunft dachte, an die Würde, mit der er all die verschiedenen Amtspflichten erfüllen würde, als hochgeachteter Mann, der vielleicht in seinem Verkehr mit den Menschen ein wenig streng und steif war, bei dem aber gewiss keiner das Temperament, die Leidenschaft, den Mut geargwöhnt hätte, der einen Mann zur Mordwaffe greifen lässt. Wohl jeder hätte bei dem Gedanken gelacht, dass er zu jener unheimlichen kleinen Schar zählte, die aufs Schafott gehörte, das manche schon bestiegen hatten, während andere ihm entgangen waren. Und doch zählte er zu ihnen, aber keiner würde es jemals erfahren.
Beim Essen und nachher packte George Unwin der Teufel. Er bestellte Champagner, sprach mit seiner Frau, wie er seit Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen hatte, seitdem er Verdacht geschöpft hatte, seitdem er wusste. Er bemerkte, dass ihr Unbehagen wuchs, und dass sie dabei immer schöner wurde. Dann gingen sie zusammen in den Garten. Er umfasste sie und ergriff ihre Hand. Trotz des warmen Juniabends schienen ihre Finger ihm eiskalt. Sie lauschten dem Flöten einer Nachtigall. Er fühlte, wie sie zitterte. Die Lust des Folterers erwachte in ihm. Er empfand keine Freude daran, sie an sich zu drücken, den widerstrebenden Lippen einen Kuss zu entreißen, und doch spielte er den Verliebten und weidete sich an ihrer Qual. Sie versuchte, ins Haus zu flüchten, aber er folgte ihr in ihren kleinen Salon.
Auf schreckliche Weise wurde sie aus ihrer Angst erlöst. Er wusste, was das unerwartete Klingeln zu dieser späten Stunde zu bedeuten hatte. Erriet sie, dass irgendetwas geschehen war? Ihre Augen leuchteten seltsam, als sie die schweren Tritte in der Hall hörte. Rose stürzte mit ernster Miene ins Zimmer.
„Der Polizeiwachtmeister möchte Sie sprechen, Sir“, meldete sie.
Auch jetzt wollte er seine Frau nicht schonen. Flammende Bosheit verzehrte ihn.
„Bitten Sie den Wachtmeister herein“, befahl er in gleichgültigem Ton.
Der Wachtmeister erschien, ein großer Mann, der aufgeregt und schweißbedeckt hereintrat. Er begrüßte Unwin mit der tiefen Hochachtung, die dem Hauptvertreter des Gesetzes zukam. Dann blickte er auf Mrs. Unwin und machte verstohlene Zeichen.
„Was gibt es, Wachtmeister?“, fragte Unwin. „Erzählen Sie“.
„Eine ganz schlimme Sache“, erwiderte der Mann und drehte seine Mütze hin und her. „Ich dachte, die gnädige Frau möchte es vielleicht nicht hören“.
Sie lehnte sich auf ihrem Sessel vor.
„Sprechen Sie ruhig, Wachtmeister“, sagte sie dringend.
„Ein schwerer, schrecklicher Unfall ist geschehen“.
„Jemand verletzt?“, fragte Unwin.
„Wer ist es?“, flüsterte seine Frau.
„Sir Michael“, kam es ernst von den Lippen des Mannes. „Er scheint auf einem Spazierritt verunglückt zu sein“.
„Ernstlich verletzt?“, fragte Unwin.
Der Sergeant schüttelte den Kopf.
„Er war mausetot, als man ihn fand, Sir. Ein Tourist aus London hat über eine Stunde bei der Leiche gesessen und dort gewartet, bis jemand vorüberkam. Es war drüben am Cudfieldweg, wo selten einer hinkommt“.
George Unwin hielt ein Glas Wasser an die Lippen seiner Frau, aber sie wies es zurück. Sie war totenblass, ließ aber keine Anzeichen einer Ohnmacht sehen.
„Sie meinen, dass er tot ist, Wachtmeister?“
„Er ist tot“, sagte der Mann mit Widerstreben. „Und das ist furchtbar für uns alle, einen besseren Menschen und Gutsherrn hat es nie gegeben. Er muss auf den Kopf gestürzt sein, glaubt man, und sein Brauner ist wild geworden und hat ihn mit dem Huf getroffen, während er am Boden lag“.
„Das ist eine furchtbare Nachricht“, sagte George Unwin und war über den feierlichen Ton seiner eigenen Stimme erstaunt. „Wo hat man die Leiche hingebracht?“
„Ich bin gerade deshalb hergekommen, um Ihre Wünsche zu erfahren, Mr. Unwin. Ein Bauernwagen kam vorbei, und sie brachten ihn nach dem Roten Ochsen in Cudfield und legten ihn dort ins Gastzimmer. Der Inspektor schickte mich sofort her, um zu erfahren, ob Sie einen besonderen Wunsch betreffs der Untersuchung haben, oder ob sie dort stattfinden könnte“.
Eine Sekunde lang hätte Unwin beinahe seine Selbstbeherrschung verloren. Seltsam, bei seinem vorzüglichen Gedächtnis, seinem Sinn für Einzelheiten, bei der sorgfältigen Überlegung alles dessen, was geschehen war, was geschehen könnte, hatte er eins vergessen, er war der Coroner, der Vorsitzende der Leichenschaukommission, und es war seine Pflicht, diesen Mann beerdigen zu lassen!
Aber als er sprach, geschah es ohne Zaudern, obwohl er seine eigene Stimme kaum wiedererkannte. Sie schien ihm aus weiter Ferne zu kommen.
„Die Leiche bleibt am besten da, wo sie ist“, ordnete er an. „Die Untersuchung kann im Gasthaus stattfinden“.
Der Wachtmeister verabschiedete sich und wurde von dem Mädchen in die Küche geleitet, um eine Erfrischung zu sich zu nehmen. George Unwin und seine Frau blieben allein im Zimmer. Es schien in den letzten Minuten plötzlich dunkler geworden zu sein. Unwin wollte die Lampe anzünden. Ein leiser Schrei seiner Frau hielt ihn davon zurück.
„Nicht, George! Ich kann es nicht vertragen. Hör zu! Dreh' dich hierher. Ich will dein Gesicht sehen“.
Er drehte sich um, ohne zu zögern, mit Überlegung. Ihre Augen trafen sich: In ihrem Blick flammte eine leidenschaftliche, hysterische Frage, doch sein Gesicht blieb eine Maske.
„Du wusstest es?“, stammelte sie.
„Du bist nicht recht gescheit“, antwortete er. „Wie wäre das möglich? Und warum hätte ich es dir die ganze Zeit verheimlicht?“
Sie sagte nichts weiter und blickte von ihm weg. Ihre Augen schienen durch die Wände zu sehen, und in ihrem Gesicht lag ein Grauen, das ihn wider seinen Willen erschreckte. Mit einem Gefühl des Unbehagens ging er auf und ab.
„Du nimmst dir die Sache sehr zu Herzen, Julia“, sagte er. „Gewiss, er war ein alter Freund und Nachbar, aber wir sahen ihn schließlich doch nur selten“.
Sie gab keine Antwort. In ihrem Schweigen lag etwas, das sein Herz zum ersten Mal vor eisiger Furcht erzittern ließ ...
Noch niemals hatte George Unwin Gesetz und Recht mit mehr Würde und Wichtigkeit vertreten, als bei dieser Untersuchung, die er von Amts wegen leitete. In dem kleinen Zimmer, wohin die irdischen Überreste des Verunglückten gebracht worden waren, zog er mit eigener Hand das Tuch von dem blassen Gesicht und erklärte, mit dem Gerichtsarzt an seiner Seite, die Art der Verletzungen. Als er nachher seinen Sitz am oberen Ende des langen Tisches im Gastzimmer eingenommen hatte, schien seine ernste, sympathische Stimme in einem neuen Klang von menschlichem Mitgefühl zu vibrieren.
„Das ist ein Fall, meine Herren“, sagte er mit einem Blick auf die kleine Versammlung – fünf Landwirte, ein Wildhüter, ein pensionierter Schullehrer, ein Landarbeiter und einige Händler aus dem Dorf – „der Ihnen, glaube ich, keine Schwierigkeiten machen wird. Der Arzt wird Ihnen sagen, dass die Verletzungen, denen unser geliebter und verehrter Nachbar erlegen ist, zweifellos von dem Hufeisen eines Pferdes herrühren. Auf welche Weise Sir Michael zu Fall kam, werden wir leider nie erfahren, aber es ist höchst wahrscheinlich, dass sein Pferd strauchelte, dass beide stürzten und dann ein Hufschlag ihn traf, während das Tier wieder aufspringen wollte, ohne dass irgendeine Bosheit von seiner Seite dabei im Spiele war. Aber das wird immer eine bloße Vermutung bleiben. Es ist einer jener schrecklichen Unglücksfälle, die sich bisweilen ereignen und die wir nie vollkommen erklären können. Wir erwarteten, hier den Herrn als Zeugen zu finden, der die Leiche entdeckt hat, aber ich glaube, er wird kaum mehr Licht auf das Geschehene werfen können. Ihr Beschluss wird natürlich ›Unglücksfall mit tödlichem Ausgang‹ lauten, und ich bin überzeugt, dass Sie ihm die üblichen Beileidsbezeigungen an die Angehörigen des Verstorbenen hinzufügen werden“.
Ein leises Murmeln der Zustimmung folgte diesen Worten.
„Sicher ist es ein Unglücksfall“, bemerkte einer der Landwirte, „ein schrecklicher, grausamer Zufall, obwohl mir rätselhaft bleibt, wie Sir Michael aus dem Sattel geworfen werden konnte. Er war ein hervorragender Reiter“.
„Wahrscheinlich geschah es so“, bemerkte Unwin, „dass das Tier plötzlich vor etwas auf dem Wege scheute und zur Seite sprang, auf den kleinen Rasenplatz hinauf, auf dem die Leiche gefunden wurde. Er liegt etwas höher als die Straße – dabei stolperte es und stürzte. Der beste Reiter ist machtlos, wenn das Pferd strauchelt“.
„Das ist richtig, Sir“, stimmte ein anderer Landwirt bei.
„Wo ist der Herr, der die Leiche gefunden hat? Wir möchten ihn gerne sehen“, bemerkte jemand.
„Er ist zur Untersuchung geladen worden“, erklärte Unwin, „und wir haben, wie Sie wissen, zehn Minuten auf ihn gewartet. Da er uns nichts Neues zu sagen haben kann, hielt ich es nicht für nötig, die Untersuchung zu vertagen. Aber wenn Sie das wünschen, meine Herren, so kann es leicht geschehen. Ich fürchte nur, Sie dann gerade in der Erntezeit noch einen Nachmittag in Anspruch nehmen zu müssen“.
Draußen ertönte das dumpfe Tuten einer Autohupe. George Unwin sah auf: Ihm schien es wie eine finstere Vorbedeutung. Aber äußerlich blieb er vollkommen ruhig.
„Vielleicht der Zeuge, den wir vermisst haben“, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Einen Augenblick blieb es still; dann klopfte jemand an die Tür, die ein Polizeiwachtmeister öffnete. Nicholas Goade trat ein; ihm folgte ein großer, schlanker Mann von militärischem Aussehen.
„Der Polizeidirektor“, flüsterte ein Landwirt seinem Nachbar zu und gab ihm einen leisen Stoß. „Was will der hier?“
Der Coroner begrüßte die Ankömmlinge mit würdiger Haltung und ließ ihnen Stühle bringen.
„Wir hatten auf Ihre Zeugenaussage gehofft, Sir“, wandte er sich an Nicholas Goade. „Sie waren zu halb drei geladen worden“.
„Ich bitte sehr um Entschuldigung“, lautete die ruhige Antwort. „Es war mir halb vier gesagt worden. Jedenfalls ...“
Er brach ab und wandte sich an seinen Begleiter. Der Polizeidirektor flüsterte Unwin etwas ins Ohr, und einige Augenblicke herrschte Stille in dem Zimmer. Unwin nickte ein- oder zweimal zustimmend mit dem Kopf, während er zuhörte. Einmal fuhr er leicht auf und warf einen Blick auf Goade. Sonst verriet sein Gesicht nicht die leiseste Erregung. Endlich wandte er sich an die Geschworenen.
„Meine Herren“, sagte er, „Captain Faulkener hat mir hier einige Tatsachen unterbreitet, die, denk' ich, untersucht werden müssen. Er weist darauf hin, dass Sie keine Gelegenheit gehabt haben, den Schauplatz dieses schrecklichen Unglücks zu besuchen. Ich muss sagen, dass ich es persönlich kaum für nötig hielt, aber da Captain Faulkener anderer Meinung ist, so werde ich Sie, fürchte ich, noch einmal bemühen müssen. Würde es Ihnen morgen Nachmittag passen?“
Alle stimmten zu.
„Dann setzen wir also morgen fest“, entschied Unwin. „Für Fahrgelegenheit soll gesorgt werden: Um zwei Uhr werden Autos hier vor dem Gasthaus warten. Passt Ihnen das auch, Captain Faulkener?“
„Vortrefflich“, erwiderte der Polizeidirektor. „Es tut mir leid, Unwin, überhaupt in die Sache eingreifen zu müssen. Der Fall scheint ja ganz klar zu sein, aber ein oder zwei Punkte von untergeordneter Bedeutung sollten doch, glaub' ich, lieber aufgeklärt werden. Wir müssen auf unsern Freund hier, Mr. Goade, Rücksicht nehmen“.
„Es ist mein Wunsch“, schloss George Unwin mit einer leichten, würdevollen Verbeugung, „diese Verhandlungen in streng gesetzlicher Weise zu führen und jede Hypothese zu berücksichtigen, die Sie aufstellen könnten, meine Herren. Ich brauche die Anwesenden nicht länger aufzuhalten. Die Untersuchung ist auf morgen zwei Uhr nachmittags vertagt“.
George Unwin hatte an diesem Tage nichts mehr in seinem Büro in Market Bridgeford zu tun, aber nach der Sitzung lenkte er seine Schritte doch dorthin, statt nach Hause zu gehen. Er erledigte gleichgültige Geschäfte und blieb in seinem Privatzimmer sitzen, bis der letzte Schreiber mit einem Räuspern der Entschuldigung ihn daran zu erinnern wagte, dass es Zeit wäre, das Büro zu schließen.
Sein Auto stand im Hof des Hotels zur Krone. Er trat in die Gaststube, wo alle Anwesenden ihn respektvoll grüßten und trank ein Glas alten Sherry. In dem kleinen Kreis war er eine bedeutende Persönlichkeit und wurde als solche behandelt. Gegenstand des allgemeinen Interesses war natürlich die vertagte Untersuchung. Als man darauf zu sprechen kam, winkte er mit einer geringschätzigen Handbewegung ab.
„Erst nach dem morgigen Tage“, sagte er, „können wir über die Sache reden. Bis dahin ›sub judice‹. Sie verstehen?“
Kein Mensch verstand, aber alle nickten feierlich. Er zündete sich eine Zigarette an und verließ das Gasthaus, während alle ihm freundliche Abschiedsworte zuriefen; gehörte er doch zu den Honoratioren in der Grafschaft.
Kurz vor der Abendmahlzeit traf er zu Hause ein. Wieder stand er vor dem Spiegel und prüfte sein Gesicht beim Umbinden der Krawatte. War es eine Einbildung oder hatte er wirklich Schatten unter den Augen? Es war ein anstrengender Tag gewesen und diese plötzliche Unterbrechung der Sitzung war, gelinde gesagt, beunruhigend. Er hätte es gerne gesehen, dass der Beschluss „Tod durch Unfall“ sicher unter den Akten stände.
Julia kam spät zum Essen – sie schien im Garten gewesen zu sein. Ging sie ihm aus dem Wege? Während der Mahlzeit sprachen sie nur von der Hitze, der Heuernte, von den Rosen. Nachher fühlte er sich plötzlich müde. Er hatte nicht mehr Energie genug, durch den Garten zu wandern, noch die Bosheit, den Folterer zu spielen. Er saß auf einem Stuhl unter dem Zedernbaum und schlürfte seinen Kaffee. Seine Frau setzte sich nach kurzem Zaudern an seine Seite. Aber erst als es dunkel wurde, fand sie einige Worte.
„Ist alles vorbei?“, fragte sie.
„Nein“, antwortete er. „Die Untersuchung ist vertagt“.
Er hörte, wie sie schnell Atem holte – der scharfe Laut unterbrach die tiefe Stille.
„Vertagt? Warum?“
Er klopfte die Asche von seiner Zigarette.
„Faulkener, der Polizeidirektor, kam mit dem Mann, der die Leiche gefunden hat, gerade in dem Augenblick, als die Geschworenen ihren Beschluss fassen wollten. Faulkener hielt es für besser, einen Lokaltermin zu bestimmen. Er findet morgen Nachmittag statt“.
„Wer ist dieser Mann, der ihn gefunden hat?“, fragte sie.
„Sein Name war, wenn ich mich recht entsinne, Nicholas Goade. Er gab sich für einen Künstler aus“.
Ein Wetterleuchten zuckte am Himmel auf. Sie stieß einen leisen Schrei aus.
„Ich glaube, es gibt ein Gewitter“, flüsterte sie.
„Ja“, stimmte er bei, „sollen wir hineingehen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Sag' mir“, flüsterte sie, „was hat diese Vertagung eigentlich zu bedeuten?“
Ihre Augen trafen sich. Ihm schien, dass in diesem schrecklichen Augenblick jeder das Geheimnis des andern kannte.
„Einfach verlorene Zeit“, sagte er kurz. „Über Sir Michaels Tod wird man nie mehr erfahren, als schon jetzt bekannt ist“.
Lange Zeit saß sie schweigend da. Am Himmel zog eine langgestreckte, zerrissene schwarze Wolke dahin. Wieder leuchtete es auf, und diesmal folgte ein dumpfes Donnerrollen. Schwere Regentropfen fielen herab. Er erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen.
„Komm!“, sagte er in drängendem Ton. „Schnell! Du weißt, du fürchtest dich vor den Blitzen“.
Sie wich noch weiter auf ihrem Sitz zurück, und er wusste, dass sie sich nicht mehr vor den Blitzen fürchtete. Er wandte sich ab und verließ sie. Der Regen, der auf ihr dünnes Abendkleid fiel, durchnässte sie bis auf die Haut. Sobald er nicht mehr zu sehen war, erhob sie sich und ging durch die Hintertür ins Haus ...
Der einsame Landweg bot ein ganz verändertes Bild, als am folgenden Nachmittag vier Automobile die Anhöhe hinaufkeuchten und vor dem halbkreisförmigen Rasenstück hielten. Ein Dutzend Polizisten hielten einen Strick, der einige fünfzig Quadratmeter der Gemeindewiese, mit dem Schuppen, einschloss. Die Geschworenen standen umher, ohne recht zu wissen, was sie tun sollten. Sie blickten auf den Rasen, verstanden aber noch nicht, zu welchem Zweck man sie dahingebracht hatte. Captain Faulkener nahm George Unwin beim Arm und zog ihn ein wenig beiseite.
„Bevor wir fortfahren, Unwin“, sagte er, „möchte ich Ihnen lieber ein paar Worte über die ganze Angelegenheit sagen. Unser Freund Goade hier, der zufällig auf diese Sache stieß, ist ein bekannter Detektiv von Scotland Yard – nebenbei gesagt, der Mann, der die Belohnung von fünfundzwanzigtausend Dollars für Ned Bullivants Verhaftung erhielt. Er hat mich gestern früh aufgesucht und meine Aufmerksamkeit auf gewisse Tatsachen gelenkt. Ich muss gestehen, dass ich zuerst geneigt war, seine Hypothese für lächerlich zu halten. Aber zum Schluss hat er mich bekehrt“.
„Und was wäre seine Hypothese?“, fragte George Unwin in etwas förmlichem Ton.
„Zunächst“, fuhr der andere fort, „zeigen die Wunden an Sir Michaels Kopf eine recht eigenartige Form. Wie Mr. Goade bemerkte, scheinen sie allerdings von einem Pferdehuf herzurühren, aber nicht von dessen Hinterseite. Er hat die Ginsterbüsche der Umgebung gründlich untersuchen lassen, und einer von den Leuten, die ich hergeschickt hatte, entdeckte ein verlorenes Hufeisen: Es zeigte an einer Stelle Blutspuren, die genau auf die tödliche Wunde passen. Man fand das Hufeisen in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritt – Sie verstehen, soweit kann ein Mensch es vom Schauplatz des Unfalles geworfen haben“.
„Sie haben das Hufeisen?“
„Jawohl. Es soll den Geschworenen vorgelegt werden. Ferner ist, wie Goade bemerkt hat, der Rasen nirgends aufgewühlt, wie es doch beim Aufspringen eines gestürzten Pferdes geschehen sein müsste. Auf der anderen Seite sind deutlich zwei Paar Fußspuren zu sehen. Außerdem ist bekannt, dass Sir Michael niemals seine Reitpeitsche benutzte, und doch trägt sein Pferd heute noch – ich hab' es im Stall gesehen – an der einen Seite eine gewaltige Strieme“.
„Noch etwas?“
Der Polizeidirektor nickte ernst.
„Während Goade hier wartete, durchsuchte er sorgfältig den ganzen Platz. Sie sehen den kleinen Schuppen?“
Unwin blickte flüchtig hin.
„Nun, und ...?“
„Dort, unter einem Stein“, fuhr der Polizeidirektor fort, „fand er dies“.
Er reichte ihm einen Zettel. Die Worte, die darauf geschrieben waren, tanzten vor Unwins Augen. Angstschweiß trat auf seine Stirn. Er starrte auf die hingekritzelten Buchstaben, auf sein eigenes Briefpapier und rang mit einem Entsetzen, das ihn zu überwältigen drohte. Die zarte Handschrift war ihm nur zu gut bekannt. Die vier Worte enthielten sein Todesurteil.
„Vorsicht! George hat Verdacht“.