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Alles hat seinen Preis – doch was, wenn dieser Preis du bist?
Fesselnde Handlung, dunkle Geheimnisse und sinnliche Leidenschaft – eine Liebesgeschichte, der man sich nur schwer entziehen kann
Zurück in ihrer Heimatstadt Philadelphia, hat Hailey Warren einen einfachen Plan: Sie will Zeit mit ihrer Familie verbringen, einen Job finden und ein ruhiges Leben führen. Schnell wird jedoch klar, dass sie das nicht haben wird. Es stellt sich heraus, dass das Familienunternehmen der Warrens hoch verschuldet ist. In seiner Verzweiflung wendet sich Haileys Bruder hilfesuchend an den reichen Geschäftsmann Victor Sharman, doch dieser knüpft seine Hilfe an eine Bedingung. Er wird das Unternehmen retten, wenn er dafür etwas ganz Besonderes bekommt – Hailey.
Um die Firma vor dem Ruin zu bewahren, ist das Mädchen gezwungen, sich auf dieses Spiel einzulassen. Sie muss sich einem Mann stellen, der in Philadelphia nur als der »Teufel« bekannt ist. Doch warum hat Victor Sharman ausgerechnet sie ausgewählt?
Lass dich vom ersten Teil der »Inferno«-Trilogie verführen. Kannst du dem »Teufel« widerstehen?
Die Bestseller-Trilogie aus Polen – jetzt auf Deutsch!
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Seitenzahl: 507
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Es gibt eine Trauer, die man nicht beweinen kann. Eine Trauer, die man niemandem erklären kann und die niemand, selbst wenn man sie erklären könnte, begreifen kann. Diese Trauer lässt sich in nichts transformieren, sie legt sich leise auf die Seele, wie Schnee in einer windstillen Nacht.
Haruki Murakami,Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
PROLOG
Er nannte sie Dämonen, obwohl sie nichts weiter als Ängste, Erinnerungen und Überbleibsel einer verdrängten Vergangenheit waren.
Tagsüber begleiteten sie ihn auf Schritt und Tritt. Sie machten sich schmerzlich bemerkbar, wenn er in den Spiegel sah und sein eigenes Antlitz erblickte. Und nachts. Die Nächte waren am schlimmsten. Alles, was er tagsüber so sehr in Schach zu halten versuchte, stürzte sich nachts auf ihn wie ein hungriges Tier, und er hatte keine Kraft dagegen anzukämpfen.
Der Albtraum sah immer gleich aus: Er begann in einem kleinen, sanft schaukelnden Boot, das irgendwo in der Mitte des schwarzen Wassers eines bewachsenen, längst vergessenen Sees trieb. Schon in diesem Moment wusste er, was als nächstes kommen würde. Unwillkürlich richtete er seinen Blick auf die unbewegliche dunkle Wasseroberfläche. Eine leichte Brise wehte durch sein schwarzes Haar. Sein Atem wurde schwerer und sein Herz schien in seinem rasenden Lauf fast stehen zu bleiben.
Der zarte Nebel, der ihn umgab, sah aus wie Wolken, die vom Himmel heruntergestoßen aufs Wasser gefallen waren.
Seine Hände waren schweißnass, seine Kehle schmerzhaft trocken und seine Lippen rissig. Als er die Lippen vorsichtig öffnete, spürte er, wie seine Haut aufplatzte. Der metallische Geschmack von Blut schien bitter und süß zugleich zu sein. Er schluckte mühsam den Speichel herunter und richtete seinen Blick auf das schwarze Wasser. In der Tiefe sah er einen weißen Umriss, der mit jeder Sekunde mehr und mehr wie eine Hand aussah, die sich ihm entgegenstreckte.
Er fiel auf die Knie. Das Boot schaukelte durch die plötzliche Bewegung, aber das war ihm egal. Er tauchte seine Hände in das kalte, fast eisige Wasser, das die Ärmel seines weißen Hemdes benetzte. Er verzog verzweifelt sein Gesicht, als er versuchte, die ihm entgegengestreckte Hand zu ergreifen. Sie war so blass, dass sie fast unmenschlich wirkte.
Die Gestalt, die ihn leise um Hilfe anflehte, war jedoch zu weit entfernt.
Er stützte sich mit der rechten Hand auf die hölzerne Seite des Bootes und lehnte sich noch weiter vor. Seine Lippen berührten die Oberfläche des Wassers. In diesem Moment begegnete ihm inmitten der Schwärze und Dunkelheit ein Blick: ein Augenpaar, das ihm schmerzlich vertraut war.
Eine blasse Hand umklammerte sein Handgelenk, dünne Finger gruben sich in seine Haut, sodass er nicht mehr zurückkonnte. Plötzlich spürte er einen starken Ruck und wurde in die Tiefe des Wassers hinuntergezogen. Im letzten Moment holte er Luft.
Er war nicht auf die Kälte vorbereitet, die seinen Körper erfasste, als er vollständig in den See eintauchte. Seine Muskeln spannten sich schmerzhaft an, sodass er zunächst nicht in der Lage war, eine Bewegung zu machen, um einen verzweifelten Rettungsversuch zu unternehmen.
Er war am Ertrinken. Er war zu müde, um es zu verhindern.
Die Hand, die sein Handgelenk umfasst hatte, war verschwunden. Er war allein mit der Schwärze um ihn herum. Mit der ohrenbetäubenden Stille. Mit seinem langsam schlagenden Herzen. Er schloss die Augen und ließ seinen Körper in die Tiefe sinken, hinunter in die auf ihn wartende Dunkelheit.
Er bedauerte nicht allzu viele Dinge in seinem Leben. In diesem Moment konnte er sich auf nichts anderes konzentrieren als auf die Stille um ihn herum. Sie war eine Art Trost. Die Welt schien stillzustehen, oder war er vielleicht kein Teil mehr von ihr? Vielleicht war hier, unter Wasser und in der Stille der Dunkelheit, nichts mehr wirklich von Bedeutung?
Er hob seine schweren Augenlider. Ein schwaches Leuchten durchbrach die kalte Wasseroberfläche. Ein kaum wahrnehmbarer, aber sichtbarer Umriss zeichnete sich im grellen Licht ab. Es war eine schlanke Hand mit gespreizten, dünnen Fingern. Sie kam auf ihn zu, zerschnitt die Dunkelheit und zerriss die Stille.
Er war sich nicht sicher, ob er Erleichterung oder Angst empfand, als er die Hand sah. Er spürte jedoch einen Hauch von Wärme, als sie sein Handgelenk ergriff und ihn ins Licht zog. Die Helligkeit zwang ihn dazu, die Augen zusammenzukneifen. Als er einen Moment später seine Augen öffnete, war er weder ertrunken, noch stand er in einem Boot, sondern mitten auf einem hellen Schulflur.
Wasser tropfte von seinen durchnässten Kleidern und fiel auf den Fußboden. Er ließ seinen Blick über die Reihen der orangefarbenen, hohen Spinde gleiten, die sich an den Wänden entlang bis zu den geschlossenen Doppeltüren am Ende des Ganges erstreckten.
Sein Atem wurde ruhiger und sein Herz schlug in einem gleichmäßigen Rhythmus. Er ließ seine Schultern erleichtert nach unten fallen, als er tief seufzte. Erst dann bemerkte er, dass noch immer etwas Warmes sein Handgelenk umfasste.
Er drehte langsam seinen Kopf. Er betrachtete die Gestalt, die neben ihm stand: eine Frau, oder eher ein Mädchen, einen Kopf kleiner als er, zierlich, in ein weißes, bodenlanges Kleid gehüllt. Ihr Gesicht wurde von einer Kaskade langer, schwarzer Haare verdeckt. Ihr Blick war irgendwo in die Ferne gerichtet, vielleicht auf die Tür oder auf das, was sich dahinter befand.
Er öffnete vorsichtig seine Lippen. Er wollte sie fragen, wer sie war, aber bevor er das tun konnte, drehte sie ihren Kopf zu ihm.
Er erschauderte vor Überraschung und Entsetzen. Die Gestalt hatte kein Gesicht: weder Augen noch Mund. Es war nur eine blasse, leere Masse.
Er machte einen ruckartigen Schritt zurück, aber nur einen, denn die schlanke, zierliche Hand umklammerte sein Handgelenk fester und ließ ihn nicht entkommen.
Victor schreckte auf und schnappte nach Luft. Die Luft, die den Raum erfüllte, war angenehm frisch. Der Schlaf war so abrupt beendet worden, dass er es nicht einmal mehr schaffte, seine Müdigkeit hinter sich zulassen.
Er öffnete seine Augen und sein Blick fiel auf die dunkle Decke. Es war noch Nacht, denn durch die halb zugezogenen Jalousien kroch nur die Dunkelheit ins Schlafzimmer. Er drehte seinen Kopf zur Seite. Seine Wange schmiegte sich an das kühle Kissen. Dann sah er auf die digitale Uhr, die auf dem Nachttisch stand. Sie zeigte 4:36 Uhr an. Er hatte drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten geschlafen. Weniger als in der letzten Nacht und wahrscheinlich mehr als in der nächsten.
Als er die Augen wieder schloss und sich danach sehnte, in den Schulflur zurückzukehren, um das Gesicht des Mädchens erneut zu sehen, war alles, was er sah, Dunkelheit.
KAPITEL 1
Die Frauen lächelten ihn immer auf dieselbe Art und Weise an: ein wenig schüchtern und mit einem Funkeln in den Augen. Es war, als ob sie sich für die Gedanken schämten, die ihnen plötzlich in den Sinn kamen, wenn sie jemandem wie Victor Sharman gegenüberstanden.
Das war das Lächeln, das Nina ihm zuwarf, als er kurz vor sieben Uhr morgens in der Zentrale von Sharman Enterprises eintraf.
Mit einer schüchternen Handbewegung strich sie ihr langes, blondes Haar zurück, das ihr über die Schulter fiel, als sie sich aufrichtete. Dann legte sie beide Hände auf die helle Schreibtischplatte und beugte sich leicht vor. Sie war gekleidet wie die meisten Sekretärinnen in der Firma: enger schwarzer Rock und makellose weiße Bluse.
»Guten Morgen, Mr Sharman«, flötete sie, und ihre vollen, roten Lippen lächelten ihn freundlich an. »Es wurden vor dem Lunch keine Meetings angesetzt, aber am frühen Morgen ist hier ein junger Mann vorbeigekommen«, informierte sie ihn und deutete mit einer Handbewegung auf die weißen Ledersofas, die an der Wand standen.
Victor Sharman betrachtete den schlanken, dunkelhaarigen Mann. Er war vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als er selbst, aber sein blasses, ergrautes Gesicht trug zu seiner Ernsthaftigkeit bei.
»Ich habe ihm gesagt, dass es unwahrscheinlich sei, dass Sie für jemanden wie ihn, der unangemeldet vorbeikommt, Zeit haben werden, aber ...«
»Schon okay, Nina«, warf er ein.
Er steckte die Hände in die Taschen seiner schwarzen Anzughose und ging erhobenen Hauptes voran. Nina hatte recht: Um ihn persönlich zu treffen, reichte es nicht aus, einfach die Schwelle des Unternehmens zu überschreiten. Victor Sharman hasste es, seine Zeit mit Leuten zu verschwenden, die ihm nicht das bieten konnten, was er haben wollte.
Als er etwa zwei Meter vor der weißen Couch stehen blieb, hob der dunkelhaarige Mann den Kopf und sprang, als er ihn sah, eilig auf.
Victor erkannte ihn sofort, obwohl sich der Schatten der Niederlage auf dem Gesicht des Neuankömmlings abzeichnete und seine gesamte Gestalt seltsam gebückt erscheinen ließ.
»Wir werden uns in meinem Büro unterhalten«, verkündete er knapp.
Das Büro befand sich in der obersten Etage des Wolkenkratzers von Sharman Enterprises. Durch die großen Fenster konnte man hinunter auf die belebten Straßen von Philadelphia sehen, die von leichtem Regen und morgendlichem Nebel durchzogen waren.
Victor wandte sich dem breiten, dunklen Schreibtisch zu. Direkt hinter ihm, auf einem der beiden mit schwarzem Leder bezogenen Sessel, saß ein leicht gebeugter Thomas Warren – ein Narr, der alles haben könnte, wenn er es denn nur wollte.
Als Victor vor fünf Jahren Sharman Enterprises gründete, war die Warren Company seine größte Konkurrenz gewesen. Edward Warren, der Gründer des Unternehmens, machte jedoch einen großen Fehler: Er überschrieb den Großteil der Aktien auf seinen Sohn, der das Familienerbe daraufhin mit sich in den Abgrund gerissen hatte.
Von dem Moment an, als die Probleme der Warren Company zum ersten Mal ans Licht kamen, wusste Victor, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Er wartete nur darauf, dass Thomas wie ein geprügelter Hund vor ihm stehen würde und bereit wäre, eine Menge zu opfern, um das zu retten, was er durch seine eigene Dummheit kaputt gemacht hatte.
»Ich verschwende wirklich nicht gerne Zeit mit unnötigen Formalitäten«, sagte er kurz und korrigierte die Manschettenknöpfe, die unter den Ärmeln seines schwarzen Jacketts hervorschauten. »Lass uns also zur Sache kommen. Wie ich vermute, wissen wir beide, was Sinn und Zweck deines Besuchs ist.«
Thomas Warren senkte den Blick und krümmte sich noch mehr zusammen.
Victor schob seinen Stuhl zurück, setzte sich darauf und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. Dann ließ er seinen Blick durch das Büro schweifen: dunkelgraue Wände und eine schwere Holztür.
»Du bist hier aufgetaucht und willst mich bitten, die Schulden deines Unternehmens aufzukaufen, bevor du gezwungen bist, Konkurs anzumelden – was natürlich sowohl dir als auch deinen Eltern die Existenzgrundlage entziehen würde.«
Sein Gesprächspartner nickte und verzog dabei das Gesicht. Thomas richtete seinen Blick auf seine Hände, die er zusammenpresste, um ihr Zittern zu verbergen.
»Ich kann nicht zulassen, dass meine Familie das Unternehmen verliert«, antwortete er.
Victor verfolgte seine Bewegungen: jedes Zucken, jede nervöse Geste.
»Meine Hilfe hat ihren Preis.«
»Ich werde alles tun«, versicherte Thomas hastig und hob den Kopf.
Victors Mundwinkel zuckten und formten ein freudloses Lächeln.
»Wirklich, Thomas?« Er hob eine dunkle Augenbraue. »Alles?«
Der Mann nickte unsicher und fragte dann:
»Was ist der Preis?«
Victor trat zurück und neigte den Kopf zur Seite, um das Gesicht von Thomas Warren genauer zu betrachten. Dann lächelte er mit einer seltsamen, unpassenden Zufriedenheit. Wie der Teufel, der gerade eine weitere verirrte Seele gefunden hatte ...
Hailey hatte immer Pech gehabt.
Als sie zwölf Jahre alt wurde, stellte sich heraus, dass sie aufgrund einer Handgelenksverletzung ihr geliebtes Volleyballspiel aufgeben musste. An ihrem sechzehnten Geburtstag verstauchte sie sich den Knöchel und musste ihren Traum von einer Skireise begraben, für die sie monatelang in einem Getränkemarkt gearbeitet und Geld gespart hatte.
Und jetzt, obwohl sie vor wenigen Wochen vierundzwanzig Jahre alt geworden war, hatte sie sich auf dem Flughafen verirrt wie ein kleines Kind, das in einem unachtsamen Moment die Hand seiner Mutter losgelassen hatte.
Sie umklammerte den Griff ihres kleinen Koffers und drehte sich um die eigene Achse. Das letzte Mal stand sie an dieser Stelle vor fast fünf Jahren, als sie sich schluchzend von ihren Eltern verabschiedet hatte, um an ihrer Traumuniversität zu studieren. Der Philadephia International Airport hatte sich seitdem beträchtlich vergrößert, sodass sie beim Aussteigen mit den anderen Passagieren nicht das fühlte, was sie hätte fühlen sollen – die grenzenlose Freude, nach Hause zurückzukehren. Sie fühlte sich an diesem Ort seltsam fremd.
Sie war natürlich glücklich, weil sie ihre Liebsten wirklich vermisst hatte. Allerdings wurde sie auch von einer Angst begleitet, deren Ursache sie nicht genau benennen konnte. Vielleicht ahnte sie irgendwo in ihrem Herzen, dass sie sich in den fünf Jahren ihrer Abwesenheit so sehr verändert hatte, dass sie möglicherweise nicht mehr in diese einst vertraute Welt passte.
»Hailey!«
Sie schaute sich um, suchte nach einem bekannten Gesicht unter den Leuten, die eilig an ihr vorbeigingen, aber bevor sie es finden konnte, fiel ihr schon jemand um den Hals. Unerwartet tauchte ein heller Lockenkopf vor ihr auf.
Meggie umarmte sie mit aller Kraft, als wolle sie damit all die verpassten gemeinsamen Momente aufholen. Hailey erwiderte die Umarmung mit einem Lachen. Sie hatte sie wirklich vermisst.
»Oh, wow.« Die Blondine entließ sie aus ihrer Umarmung und trat einen Schritt zurück. Sie hatte immer noch ihre schlanken Hände auf Haileys Armen liegen und fixierte sie mit ihren braunen Augen. »Du siehst auf jeden Fall besser aus als ich, und ich glaube nicht, dass mir das besonders gut gefällt«, murmelte sie gespielt empört.
An diesem Tag hatte Hailey auf Jogginghose oder Jeans verzichtet und sich für ein lockeres grünes Kleid, weiße Turnschuhe und Socken in zwei verschiedenen Farben entschieden. Gerade als sie darauf hinweisen wollte, dass Meggie in dem enganliegenden schwarzen Rock und einem leichten Pullover ebenfalls hinreißend aussah, verlor ihre Freundin den Kampf und flüsterte mit Tränen in den Augen:
»Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich freue, dass du wieder da bist. Ich habe dich so sehr vermisst.« Sie zog Hailey wieder an sich und umarmte sie fest.
Hailey lachte leise, dann löste sie sich sanft von ihr und sah Meggie an.
»Ich habe dich auch vermisst, Meg«, gestand sie.
»Okay, lass uns von hier verschwinden, bevor ich völlig durchdrehe«, lachte Meggie und beugte sich vor, um nach Haileys Koffer zu greifen. Dann packte sie die Brünette am Arm und zog sie zum Ausgang. »Deine Eltern können es kaum erwarten, dich zu sehen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, bestätigte Hailey lachend. Sie hatte ihre Eltern seit über fünf Monaten nicht mehr gesehen, seitdem sie sie das letzte Mal in New York besucht hatten. »Ich habe mit Thomas gesprochen, bevor ich losgeflogen bin. Er meinte, dass Mum alle meine Lieblingsgerichte kochen würde.« Sie zögerte, als sie eine leichte Grimasse auf dem Gesicht ihrer Freundin bemerkte. »Entschuldige.«
Sie verließen das Flughafengebäude, nachdem sie durch die Schiebetüren gegangen waren, und Meggie blieb stehen. Ein kühler Wind zerzauste ihre hellen Locken und zauberte eine gewisse Zufriedenheit auf ihr Gesicht. Doch hinter ihren braunen Augen verbarg sich auch Traurigkeit.
»Es ist in Ordnung«, versicherte sie. »Nur weil ich mich von deinem Bruder getrennt habe, heißt das noch lange nicht, dass sein Name verboten ist, oder?«
Hailey warf einen Blick auf das Profil ihrer Freundin, als diese den Kopf drehte, wahrscheinlich auf der Suche nach ihrem geliebten weißen Fiat 500. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie wütend sie gewesen war, als sie Meggie und Thomas beim Knutschen auf dem Rücksitz seines Autos erwischt hatte. Ihre zehn Jahre währende Freundschaft wurde damals auf eine harte Probe gestellt. Hailey hatte sich von den beiden Menschen, die ihr am nächsten standen, verraten gefühlt. Meggie hingegen liebte sowohl Thomas als auch ihre beste Freundin zu sehr, um sich für einen der beiden entscheiden zu können.
Die Zeit heilte alle Wunden. Die Mädchen konnten nicht lange so tun, als ob es ihnen getrennt voneinander besser ginge als zusammen. Obwohl es anfangs sehr schwierig war, akzeptierte Hailey schließlich, dass ihre beste Freundin und ihr älterer Bruder mehr verband als nur eine dumme Teenagerschwärmerei. Als sie vor ein paar Jahren ihre Heimatstadt verließ, war sie beruhigt, dass Thomas, der nur allzu gern in Schwierigkeiten geriet, in Meggies Obhut sein würde.
»Alles in Ordnung, Meg?«, fragte sie, was die Blondine dazu veranlasste, ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen. Seit ihrer Trennung hatten sie keinen Moment Zeit für ein ehrliches Gespräch gehabt. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum ...«
»So ist das Leben manchmal«, antwortete Meggie schnell, ging auf die Autoreihen zu und zog Haileys Koffer hinter sich her. »Menschen streiten und versöhnen sich, lieben sich und hören auf, sich zu lieben.« Sie hielt inne und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Es tut mir leid, Sonnenschein, aber ich bin nicht so eine hoffnungslose Romantikerin wie du.« Sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie sich auf ihr Auto zubewegte, das sie irgendwo in der Ferne entdeckt hatte.
»Ich bin überhaupt keine hoffnungslose Ro...«
»Oh, Halt!«, rief sie, während Hailey ihr folgte und sich vorsichtig zwischen zwei zu dicht stehenden Autos hindurchzwängte. »Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie du Romanzen über One Direction geschrieben hast?«
»Damals war ich vierzehn«, murmelte Hailey, die schließlich auch Meggies weißen Fiat entdeckte. »Und ich wusste nicht, dass es bei einer Beziehung nicht nur darum geht, dass ein Junge dir Blumen schenkt und du ihm das Trikot seiner Lieblingsfußballmannschaft kaufst.«
Sie blieb in der Mitte des Parkplatzes stehen und wandte ihr Gesicht den Strahlen der Sonne zu. Sie holte tief Luft und sah sich langsam um. In der Ferne konnte sie die Umrisse von Wolkenkratzern erkennen.
Meggie legte den Koffer in den kleinen Kofferraum hinein und sah ihre Freundin an.
»Können wir losfahren oder brauchst du noch fünf Minuten?« Sie lachte und schüttelte den Kopf.
Hailey schenkte ihr ein warmes, aufrichtiges Lächeln. Plötzlich fühlte sie sich so, wie sie sich fühlen sollte: als wäre sie nach einer sehr langen und anstrengenden Reise nach Hause gekommen.
Als der weiße Fiat auf eine der Hauptstraßen von Philadelphia einbog und sich in den morgendlichen Verkehr einreihte, schaute Hailey aus dem Fenster. Sie entdeckte einige Orte wieder, die sie noch aus ihrer Schulzeit kannte: einen alten Buchladen, ein Antiquitätengeschäft und ein Mehrfamilienhaus, auf dessen Balkonen immer bunte Blumentöpfe standen.
Sie bedauerte sehr, dass sie ihre Heimatstadt während ihrer fünfjährigen Studienzeit nur dreimal besuchen konnte. Studium und Arbeit hatten jedoch den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch genommen, und das Leben in New York hatte sie ein Vermögen gekostet. Da sie unabhängig sein wollte und die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern nicht akzeptierte, war sie gezwungen, doppelt so viel zu arbeiten.
Ihre Gedanken schweiften an New York ab, als der Fiat an einer Kreuzung hielt. Zwischen den in den Himmel ragenden Gebäuden entdeckte sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte: ein hoher Wolkenkratzer aus schwarzem Glas mit einem einfachen weißen Schild an der Spitze. Aufgrund der Entfernung konnte sie nicht erkennen, was auf dem Schild stand.
Meggie hupte das Auto vor ihnen an, stieß einen leisen Fluch aus und schüttelte dann missbilligend den Kopf. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Hailey.
»Was siehst du dir an?« Sie beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Ah, das ist Sharman Enterprises. Du kennst bestimmt Victor Sharman, oder? Er ist mit uns zur Schule gegangen. Ich glaube, er war in seinem letzten Schuljahr, als wir in die Highschool kamen.« Sie legte ihre Stirn in Falten. »Oder hat er damals seinen Abschluss gemacht?« Sie schaltete in den ersten Gang und fuhr hinter den langsam fahrenden Autos her.
»Nein«, gab Hailey zu. »Ich kann mich nicht daran erinnern, diesen Namen schon einmal gehört zu haben.«
»Du wirst ihn oft hören, jetzt wo du wieder in Philadelphia bist, Sonnenschein.«
»Warum?«, sie drehte ihren Kopf und sah Meggie an. »Dieser Sharman, ist er eine Art Berühmtheit hier?«
Die Freundin lachte leise und schüttelte erneut den Kopf. Sie schaltete in einen höheren Gang. Der Verkehr begann sich langsam zu lichten, als sie auf eine der weniger befahrenen Straßen abbogen.
»Ja und nein«, antwortete sie. »Jeder weiß, wer er ist, aber nur wenige wissen wirklich etwas Genaueres über ihn.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist stinkreich, sein Unternehmen ist auf dem Weg nach oben. Es ist, als ob er eine Art Firmengott wäre oder zumindest einen sechsten Sinn hätte.«
»Vielleicht hat er einfach nur Glück?« Hailey schaute wieder aus dem Fenster. Das hohe schwarze Gebäude wurde nun jedoch von anderen Wolkenkratzern verdeckt, als Meggie in den Vorort fuhr.
»Gewiss. Jemand, der Geld hat, reich ist und in so kurzer Zeit so erfolgreich ist, muss verdammt viel Glück haben.« Sie seufzte nachdenklich. »Ich könnte auch ein bisschen davon gebrauchen.«
»Hey, ich glaube, es läuft gar nicht so schlecht bei dir, oder?« Hailey schaute sie aufmunternd an. »Ich habe die Bewertungen im Internet gelesen. Dein Café hat einen guten Ruf, Meg.«
»Ja, ich denke schon.« antwortete sie und sah sich um.
Das Haus von Haileys Familie lag ungefähr in der Mitte der Straße, die sie entlangfuhren, und sah genauso aus wie die anderen Häuser in der Gegend. Meggie konnte es nicht von den anderen weißen Gebäuden mit schwarzen Schrägdächern unterscheiden.
»Ich werde morgen im Café vorbeischauen und deinen berühmten Erdnussbutter-Latte probieren.«
»Unbedingt!« Meggie lächelte, als sie schließlich einen großen bunten Topf mit Sonnenblumen, den Lieblingsblumen von Haileys Mutter, auf einer der Veranden entdeckte. Sie hielt den Wagen direkt am Bürgersteig an und stellte den Motor ab.
»Danke, Meg.« Hailey öffnete die Beifahrertür.
»Kein Problem. Du schuldest mir zehn Dollar«, verkündete diese. »War ein Scherz.«
Die Brünette schüttelte den Kopf und stieg aus dem Auto aus. Sie nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum, stellte ihn auf den Bürgersteig und ging zur Fahrertür, als Meggie die Fensterscheibe herunterließ.
»Wir müssen wirklich eine Menge nachholen.«
»Wir werden feiern, wenn ich einen Job gefunden habe, okay?« antwortete Hailey.
»Oh nein, Sonnenschein, ich werde erst einmal mit dir deinen Geburtstag nachfeiern. Ich weiß, dass es ein bisschen zu spät dafür ist, da du ihn schon vor drei Wochen gefeiert hast, aber es ist nicht meine Schuld, dass du dich entschieden hast, am anderen Ende der USA zu studieren.«
Hailey lachte leise.
»Bist du sicher, dass du nicht mit reinkommen möchtest?«, fragte sie. »Meine Eltern würden sich bestimmt freuen, dich zu sehen, Meg.«
»Ein anderes Mal«, versicherte sie. »Grüß sie von mir, okay?«
»Ja, sicher.« Hailey trat einen Schritt zurück und packte den Griff des Koffers. »Nochmals vielen Dank. Wir sehen uns morgen.« Sie wandte sich um und ging den gepflasterten Weg entlang, der auf beiden Seiten von einem grünen, perfekt getrimmten Rasen begrenzt wurde.
»Hailey!« Meggie steckte ihren Kopf aus dem Auto und das Mädchen schaute zu ihrer Freundin. »Willkommen zu Hause!«
Kurz darauf war der Wagen zwischen den identisch aussehenden weißen Einfamilienhäusern verschwunden. Hailey holte tief Luft und ging auf die Holzveranda zu. Bevor sie jedoch auch nur die Hälfte der Strecke geschafft hatte, schwang schon die Haustür auf und ihre Mutter trat heraus.
Sie sah genauso aus wie an dem Tag, als Hailey ihre Heimatstadt verlassen hatte. Obwohl mehr als fünf Jahre vergangen waren und Kris Warren bald ihren einundfünfzigsten Geburtstag feiern würde, wirkte sie immer noch erstaunlich jung. Von Natur aus war sie klein und schlank, mit einem eher zierlichen Körperbau. Ihr langes, dunkles Haar hatte sie wie üblich zu einem hohen Dutt hochgesteckt. Sie ließ ein paar Strähnen über ihr helles, strahlendes Gesicht fallen.
»Hailey!« Sie breitete ihre Arme aus und machte eine Bewegung in Richtung ihrer Tochter.
Wenige Sekunden später fielen sich die beiden Frauen in die Arme und kämpften mit den Tränen. Hailey entdeckte ihren Vater im Eingang des Hauses, der amüsiert den Kopf schüttelte.
»Bei Gott, du erwürgst sie ja!« seufzte er und stieg die zweistufige Treppe hinunter.
Er trug ein helles Hemd und eine schwarze Anzughose, in der er noch größer wirkte als er tatsächlich war. Er war immer noch ein gutaussehender Mann, mit einem stark ausgeprägten Kiefer und einem sanften Blick, aber Hailey bemerkte eine Veränderung an ihm. Sein schwarzes Haar war leicht ergraut, was ihn etwas älter machte, obwohl er immer noch jünger aussah, als es sein Geburtsdatum vermuten ließ.
Sie löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter und fiel kurz darauf in die Arme ihres Vaters. Edward Warren lachte dieses leise, beruhigende Lachen, das seine Tochter schon als Kind geliebt hatte.
Erst in diesem Moment wurde Hailey bewusst, wie sehr sie das Lachen ihres Vaters, die Umarmungen ihrer Mutter und ihr Zuhause vermisst hatte.
Ein Leben in New York war wahrscheinlich der Traum vieler junger Menschen, Träume sind jedoch manchmal auch mit Enttäuschungen verbunden. Das Leben in dieser scheinbar märchenhaften Stadt hatte sich als große Herausforderung erwiesen. Man hatte ständig das Gefühl, an einem nicht enden wollenden Marathon teilzunehmen. Nichts freute Hailey also mehr, als zu wissen, dass sie hier in Philadelphia wenigstens einen Moment innehalten konnte.
Ihr Vater musterte sie von oben bis unten mit einem aufmerksamen Blick. Dann lächelte er noch ein wenig breiter: »Willkommen zu Hause, mein Schatz.«
»Du musst sehr hungrig sein!«, warf Kris ein und fasste ihre Tochter am Arm. Kurz darauf waren sie auf dem Weg zur Veranda. »Ich habe deine Lieblingsgerichte zubereitet: Lachs, Nudeln mit Brokkoli und Käseauflauf.«
Hailey warf einen Blick über die Schulter zu ihrem Vater, der belustigt den Kopf schüttelte und sich ihren Koffer schnappte. Als sie wieder ihre Mutter ansah, befand sie sich auch schon im Haus der Familie. Bevor sie sich umsehen konnte, wurde sie ins Wohnzimmer gezogen.
»Ich werde dir in der Küche helfen, Mum.«
»Ich will nichts davon hören!«, protestierte diese und setzte ihre Tochter an den runden Esstisch. »Du musst dich nach deiner Reise ausruhen«, verkündete sie. Sie ging an ihrem Mann vorbei und verschwand dann in den Tiefen des Hauses.
»Ich rate dir um unser aller Willen, auf sie zu hören.« Ihr Vater stellte den Koffer auf dem Boden ab, direkt neben einer alten, antiken Kommode. »Sie hat sich seit dem Morgengrauen auf deine Rückkehr vorbereitet.« Mit einem Seufzer ließ er sich auf einen der Stühle sinken. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. »Als ich ihr angeboten habe, die Nudeln zu kochen, hat sie mich praktisch vor die Tür gesetzt und gesagt, ich solle spazieren gehen.« Er schüttelte amüsiert den Kopf. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr wir dich vermisst haben.«
Hailey antwortete nur mit einem Nicken. Als sie den eher spontanen Entschluss gefasst hatte, so weit weg von zu Hause zu studieren, hatten ihre Eltern diese Entscheidung nur schwer akzeptieren können. Am Ende taten sie jedoch, was alle guten Eltern tun: Sie schoben ihre Sorgen beiseite und unterstützten ihre Tochter ohne Vorbehalte.
Das war eine der vielen Sachen, für die sie ihren Eltern sehr dankbar war.
»Wo ist Thomas?«, fragte sie.
»Er sollte bald hier sein.« Kris kehrte ins Wohnzimmer zurück und hielt eine duftende Auflaufform in den Händen.
»Er ist zu einem Treffen ins Stadtzentrum gefahren.« Edward warf seiner Frau einen Blick zu, während er ihr den Auflauf abnahm und ihn in der Mitte des Tisches abstellte.
»Es scheint ihm gut zu gehen, nicht wahr?«
Obwohl es viele Leute überraschte, protestierte Hailey nicht, als ihr zwei Jahre älterer Bruder die Hälfte des Familienunternehmens übernahm. Sie hatte immer gewusst, dass die Warren Company in Thomas‘ Händen besser aufgehoben war als in ihren.
»Ja«, antwortete ihr Vater. »Ziemlich.«
Seine Worte wurden durch das Zuschlagen einer Tür unterbrochen.
Hailey drehte den Kopf und im Eingang des Wohnzimmers erschien Thomas. Er war immer noch ein attraktiver Mann mit sanften Gesichtszügen und strahlenden grünen Augen. Trotzdem bemerkte sie in den wenigen Sekunden, in denen sie ihren Bruder ansah, viele Veränderungen an ihm. War es die etwas zu blasse Haut oder die angespannte Körperhaltung? Oder vielleicht das freudlose Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien, als er seine jüngere Schwester sah? Ihr Blick ging noch tiefer, doch auf der Suche nach etwas Vertrautem fand sie etwas Anderes: Leere und Traurigkeit.
»Willst du nicht Hallo sagen?«, fragte er und zog eine dunkle Augenbraue hoch.
Das Mädchen nickte, sprang auf und fiel ihrem Bruder um den Hals. Er umarmte sie fest und hob ihre zierliche Gestalt leicht hoch.
Als ihre Turnschuhe wieder die Holzdielen berührten, sah sie Thomas an und zwinkerte ihm zu, wobei sie sich ein kleines Schmunzeln nicht verbergen konnte:
»Du hast abgenommen.«
»Und du bist an den Hüften gewachsen, Schwesterherz«, schnaubte er amüsiert, was Haileys Lächeln noch verbreiterte. Plötzlich war wieder der Thomas da, den sie kannte.
»Das Essen wird kalt!« Ihre Mutter seufzte schwer.
Thomas und Hailey tauschten mehrdeutige Blicke aus und setzten sich dann an den Tisch, so wie früher, als sie gemeinsam frühstückten, bevor sie zur Schule oder zur Arbeit gingen.
Kris nahm den Teller ihrer Tochter und belud ihn mit einer großen Portion Auflauf.
»Bist du mit nur einem Koffer zurückgekommen?«, fragte der Vater.
»Die übrigen Sachen sollten Anfang nächster Woche per Spedition eintreffen.«
»Wir haben so viel nachzuholen!«, warf Kris ein und nahm ihrem Sohn den Teller ab.
Thomas seufzte, als sie ihm eine große Portion Essen vorsetzte, bevor er überhaupt hätte protestieren können.
»Ich habe Tante Julie versprochen, dass wir sie und Onkel Jon besuchen werden, und dann müssen wir ...«
»Wir sollten ihr eine Pause gönnen, Schatz«, unterbrach Edward sie ruhig. »Ich bin sicher, sie ist müde.«
»Entschuldige bitte.« Seine Frau schüttelte den Kopf. »Du hast viel gelernt und viele Prüfungen hinter dir. Ich habe das völlig vergessen. Ruh dich so lange aus, wie du möchtest.«
»Eigentlich«, Hailey ließ ihren Blick über ihre Familie schweifen, »möchte ich so schnell wie möglich einen Job finden. Es gibt derzeit nur wenige Stellenanzeigen auf dem Markt, also werde ich mich vielleicht zunächst auf unser Unternehmen konzentrieren. Ihr könntet doch sicherlich Hilfe gebrauchen.«
Ihre Worte verursachten eine bedrückende Stille am Tisch.
»Wenn ihr das nicht wollt, suche ich mir etwas anderes«, wehrte sie ab und war überrascht von dem Ausdruck, der sich für einen Moment auf dem Gesicht ihres Vaters abzeichnete.
»Das ist nicht der Punkt, Liebes«, seufzte er. »Es ist nur ...«
»Dein Vater will damit sagen, dass du dir eine Pause gönnen solltest«, warf ihre Mutter ein und schaute Edward, der die Schultern hängen ließ, eindringlich an.
Thomas presste die Lippen zusammen und schob das Essen auf seinem Teller hin und her. Seine Gesichtszüge waren angespannt.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Hailey stirnrunzelnd.
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Kris etwas zu schnell. »Iss, bevor es kalt wird.«
»Mum«, drängte sie und spürte, wie die Angst langsam in ihr hochstieg. Ihre Stimme zitterte. Sie sah zu ihrem Vater, der sich mit den Fingern durch sein kurzes Haar fuhr, und dann zu Thomas. »Wenn ihr mir etwas verschweigt ...«
»Du kannst nicht für die Firma arbeiten, Hailey«, antwortete Thomas. Dann hob er den Kopf und warf ihr einen müden Blick zu. »Weil sie praktisch nicht mehr existiert.«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem verzerrten Lächeln. In der ersten Sekunde hielt sie die Worte ihres Bruders für einen schlechten Scherz. Erst nach einem Moment, als sich niemand bemühte, die Situation aufzuklären, murmelte sie:
»Das verstehe ich nicht.«
»Die Warren Company ist verschuldet.« Thomas‘ Stimme war seltsam hohl und streng. »Wir sind kurz vor der Insolvenz.«
»Thomas«, seufzte Kris.
»Sie sollte es wissen«, sagte dieser und sah Hailey immer noch an. »Ich weiß, dass du dir deine Rückkehr anders vorgestellt hast, Schwesterherz. Aber die Dinge sind in letzter Zeit nicht gut für uns gelaufen.«
Hailey sah ihren Vater an, der wortlos den Blick senkte. Sie schluckte ihre Überraschung nur mit Mühe hinunter.
»Ich habe ein paar Ersparnisse«, verkündete sie. »Ich kann ...«
»Wir haben eine halbe Million Dollar Schulden«, erklärte Thomas und ließ damit den Plan, der sich gerade im Kopf des Mädchens geformt hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
Hailey sackte zusammen. Einerseits wollte sie fragen, warum ihre Familie sie nicht früher darüber informiert hatte, andererseits wusste sie, dass dies nicht der beste Zeitpunkt für Vorwürfe war.
»Sicherlich gibt es einen Ausweg.«
»Die Bank hat einer Ratenzahlung nicht zugestimmt, wir werden keinen Kredit bekommen und es gibt keine Möglichkeit, die Rückzahlung der Rückstände aufzuschieben.«
Hailey schloss für einen Moment die Augen. Plötzlich breitete sich ein starker Schmerz in ihren Schläfen aus und vertrieb den Frieden, von dem sie so lange geträumt hatte. Als sie ihre Augenlider hob, begegnete sie dem Blick ihres Vaters. Sie antwortete selbstbewusst:
»Das kriegen wir schon hin.« Ihr Blick wanderte zu ihrer Mutter und dann zu Thomas. »Gemeinsam. Ich bin mir sicher, dass wir es gemeinsam schaffen werden.« Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich werde mit Meggie sprechen. Vielleicht bekomme ich einen Kredit.«
»Du hast keinen Job, Hailey«, seufzte Tom. »Und wir haben keine Zeit«, fügte er hinzu. »Wenn wir die Schulden nicht bis Ende der Woche begleichen, wird das Unternehmen versteigert und für einen symbolischen Preis verkauft«.
»Es kann gar nichts mehr getan werden?«, fragte sie. Ihre Stimme glich einem leisen Wimmern.
Im selben Moment, in dem er sie ansah, richtete auch sie ihren Blick auf Thomas. Sie bemerkte, dass sich die Lippen ihres Bruders leicht öffneten, um sich dann nach einem Moment wortlos wieder zu schließen. Die Muskeln seines Kiefers zuckten.
»Worum geht es?«, fragte sie. »Tom!«
Der junge Mann seufzte, ignorierte den tadelnden Blick seiner Mutter und sagte leise:
»Als sich die Bank schließlich geweigert hat, eine Einigung mit uns zu erzielen, habe ich beschlossen, den Ereignissen, die ohnehin eintreten würden, ein wenig vorzugreifen. Sharman Enterprises kauft hauptsächlich Anteile an gescheiterten Unternehmen auf und verkauft sie dann mit Gewinn weiter. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich auch die Warren Company aufkaufen würden, und so habe ich mich gleich heute Morgen mit Victor Sharman getroffen.« Er schwieg einen Moment lang und runzelte die Stirn.
In Haileys Kopf hallten Meggies Worte wider, als sie an dem riesigen Gebäude aus schwarzem Glas vorbeigefahren waren.
Victor Sharman, wiederholte sie und spürte das Gewicht dieses Namens.
»Er hat sich bereiterklärt, die Schulden der Warren Company zu übernehmen.« Thomas richtete seinen Blick auf den leeren Raum vor ihm. »Ich habe abgelehnt.«
»Warum?«, Hailey zuckte zusammen.
»Es gibt also leider keine Möglichkeit mehr.«
»Warum hast du das Angebot abgelehnt?«, wiederholte sie und spürte, wie ihr Herz heftig schlug. »Wenn es die einzige Chance ist, sollten wir darüber diskutieren.«
»Er will dich.« Thomas‘ Stimme klang kalt.
Kris Warren riss ihren Kopf hoch. Ihr Mann schloss die Augen und seufzte schwer. Hailey erstarrte mit leicht geöffneten Lippen. Sie wollte laut loslachen, merkte aber schnell, dass das, was ihr Bruder gesagt hatte, kein Scherz war.
»Was soll das heißen?«
»Er sagte, er würde unsere Firma retten, wenn du seine Frau wirst«, erklärte er, als ob er selbst nicht an die Wahrheit seiner Worte glaubte. Er drehte langsam den Kopf und sah Hailey an. »Deshalb habe ich Nein gesagt.«
Sie hatte das Gefühl, als würde plötzlich etwas Schweres auf ihre Schultern fallen und sie nach unten ziehen, an einen Ort, an dem der ersehnte Seelenfrieden nicht auf sie wartete.
»Uns fällt schon etwas ein«, versicherte ihre Mutter mit schwacher Stimme. »Selbst wenn wir nicht ...« Sie verzog ihr Gesicht. »Alles wird gut werden.«
Hailey atmete tief und lange ein. Sie sah ihren Vater an und fragte dann:
»Kann ich mir dein Auto ausleihen?«