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Rom. Ein grausamer Doppelmord hat sich neben der Basilica di San Giovanni in Laterano ereignet. Alessandro Ferro, ein bekannter römischer Komponist, liegt tot in einer riesigen Blutlache, eine Pistole in der Hand. Dagegen scheint niemand die junge Frau zu kennen, die nur wenige Meter entfernt von ihm erschossen wurde – mutmaßlich von Alessandro selbst. Commissario Di Bernardo, der zusammen mit seinem Ispettore Roberto Del Pino schon Jahre zuvor in der illustren Musikwelt ermittelt hat, wird mit dem Fall beauftragt. Schon bald gibt es eine Handvoll Verdächtige. Eine von ihnen ist Alessandros Ex-Freundin Elisa – eine Geigerin, die mit Umweltaktivisten sympathisiert, die sich gegen den illegalen Holzhandel starkmachen. Eine andere Spur führt Di Bernardo zu einem römischen Bogenbauer, der die gefährdeten Tropenhölzer quasi mit Gold aufwiegt. Ohne es zu ahnen, betritt Di Bernardo eine Welt, die von Habgier, Existenzängsten und Konkurrenzdruck gleichermaßen regiert wird. Doch wie weit kann man für die eigenen Ziele gehen? Eine Frage, die auch der Commissario sich stellen muss, als die dritte Leiche gefunden wird und alle seine bisherigen Hypothesen zunichte gemacht werden …
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Seitenzahl: 308
Cover
Impressum
Autorin und Klappentext
Titelseite
Buchanfang
Prolog
TAG 1
TAG 2
TAG 3
TAG 4
NACHWORT
Lektorat: Teresa Profanter
Cover: Jürgen Schütz
Covergbild: © i-stock
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-903061-99-6
Printversion: Hardcover, Schutzumschlag
ISBN: 978-3-99120-024-6
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Natasha Korsakova
ist eine internationale Violinistin und Krimiautorin. Die fünfsprachige Künstlerin, die heute im Tessin wohnt, ist als Solistin auf fünf Kontinenten aufgetreten, war Künstlerin des Jahres in Chile und Italien, spielte für Papst Benedikt XVI. im Vatikan vor 10.000 Zuhörern und engagiert sich als Kulturbotschafterin der Umweltschutzorganisation Fondazione Sorella Natura.Ihre beiden Bestseller, Tödliche Sonate – Ein Fall für Commissario Di Bernardo und Römisches Finale, erschienen bei Heyne. Tödliche Sonate wurde inzwischen ins Tschechische und Italienische übersetzt und mit dem begehrten Premio Edoardo Kihlgren sowie dem Magna Grecia Award ausgezeichnet. Bei ihren Lesungen und Buchpräsentationen trägt Natasha Korsakova klassische Violinwerke live vor, die in ihren Romanen eine Rolle spielen.
Klappentext:
Rom. Ein grausamer Doppelmord hat sich neben der Basilica di San Giovanni in Laterano ereignet. Alessandro Ferro, ein bekannter römischer Komponist, liegt tot in einer riesigen Blutlache, eine Pistole in der Hand. Dagegen scheint niemand die junge Frau zu kennen, die nur wenige Meter entfernt von ihm erschossen wurde – mutmaßlich von Alessandro selbst. Commissario Di Bernardo, der zusammen mit seinem Ispettore Roberto Del Pino schon Jahre zuvor in der illustren Musikwelt ermittelt hat, wird mit dem Fall beauftragt. Schon bald gibt es eine Handvoll Verdächtige. Eine von ihnen ist Alessandros Ex-Freundin Elisa – eine Geigerin, die mit Umweltaktivisten sympathisiert, die sich gegen den illegalen Holzhandel starkmachen. Eine andere Spur führt Di Bernardo zu einem römischen Bogenbauer, der die gefährdeten Tropenhölzer quasi mit Gold aufwiegt. Ohne es zu ahnen, betritt Di Bernardo eine Welt, die von Habgier, Existenzängsten und Konkurrenzdruck gleichermaßen regiert wird. Doch wie weit kann man für die eigenen Ziele gehen? Eine Frage, die auch der Commissario sich stellen muss, als die dritte Leiche gefunden wird und alle seine bisherigen Hypothesen zunichte gemacht werden …
Natasha Korsakova
Di Bernardo
Kriminalroman | Septime Verlag
Für meine liebe Mama, Papa, Manrico und Serenella
Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter.
Der Mensch beherrscht die Natur,
bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.
Albert Schweitzer
Prolog
Im Februar 2012
Sorin fröstelt, sein Blick fälltaus dem Fenster der Wohnung über der Werkstatt. Mit ihren gekalkten Stämmen erinnern die Bäume draußen an knochige Finger, die nach den tief hängenden Wolken greifen. Schnee gab es in diesem Winter nur wenig, und die ganze Hässlichkeit der Siedlung tritt offen zutage. Das verkommene Wartehäuschen der Bushaltestelle gegenüber. Der verbogene Pfosten mit dem Fahrplan, über undüber mit Gekritzel beschmiert. Die morsche Bank, an der eine Planke fehlt. Jene Bank, auf der ein Mann sitzt, dick eingemummt, die graue Mütze tief in die Stirn gezogen, den dritten Morgen jetzt schon. Mehr schlecht als recht verbirgt er sich hinter einer Zeitung und wirft in unregelmäßigen Abständen einen Blick in Richtung Werkstatt.
Sorin reibt sich den Nacken. Er hätte schon lange damit rechnen müssen, seit Jahren schon. Jetzt, da seine Vergangenheit ihn einholt, schreit alles in ihm dagegen an. Er will die Kinder einpacken, Raluca, die Kassette mit dem Schwarzgeld, und fliehen. Nichts wie weg hier! Doch er weiß, sie werden ihn einholen. Das tun sie immer. Und dann …
Seine Kehle verengt sich.
Vielleicht sollte er doch alles aufgeben?
Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Nein, niemals.
Die Nacht über lag er wach und dachte nach. Immer war es jemand anders, der für ihn entschied. Sein Vater. Leva. Raluca. Dieses Mal ist es an ihm, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und die Zukunft seiner Kinder zu retten. Er wird um seinen Besitz kämpfen. Nicht mit körperlichem Einsatz, er weiß, dass er ihnen in dieser Hinsicht unterlegen ist. Doch er hat einen Plan.
Seine Augen verengen sich, während er den Mann anstarrt. Hass, er spürt tiefen Hass. Weil er ihm und seinesgleichen unterlegen ist. Weil sie ihn zwingen, diesen Ort zu verlassen. Seine Werkstatt, die Handvoll Freunde, das Leben, das er sich hier aufgebaut hat. Er wird sie in Richtung Süden locken, zu seinem Holzversteck. Dem falschen. Was wissen sie denn schon! So wird er Zeit gewinnen. Zeit, um mit seiner Familie außer Landes zu fliehen. Zeit, um ihr Überleben sicherzustellen.
»Papa, schnitzt du heute an meinem Holzpferdchen weiter? Wenn du mit der Arbeit fertig bist?«
Er dreht sich um. Seine älteste Tochter steht im Türrahmen und reibt sich die Augen.
Ein scharfer Schmerz durchfährt sein Herz. Er bückt sich, breitet die Arme aus. Sie kommt auf ihn zugelaufen, er drückt sie an sich. Ihr Körper ist noch ganz warm vom Schlaf.
»Versprochen«, flüstert er ihr ins Ohr. »Heute Abend.« Wo immer sie dann sein werden.
Eine Stunde später schließt er die Werkstatt ab und fährt mit seinem Transporter in Richtung Ciineni. Schon bald tauchen die Gipfel der Südkarpaten auf. Wie bläuliche Zacken reihen sie sich aneinander. Immer wieder wandert sein Blick in den Rückspiegel, doch er sieht bloß seine aschblonden Haare, die hochstehen. Die Straße ist leer. Aber nicht lange. Während sich die Landstraße in Serpentinen durch das Zirbinsgebirge windet, sieht er ihn: den schwarzen Dacia Sandero Stepway. Schweiß tritt ihm auf die Stirn, er wischt ihn mit dem Ärmel weg. Alles läuft nach Plan. Und dennoch rast sein Puls.
Der Verfolger kommtzügig näher, heftet sich an seine Stoßstange. Sorin hält sich rechts, als ahnte er nichts und wollte den schnelleren Hintermann vorbeilassen. Inzwischen schwitzt er wie ein Schwein. Da kommt der Forstweg in Sicht! Ein Meter noch, ein weiterer, dann biegt er scharf rechts ab und bremst. Der Wagen gerät ins Schlingern, rumpelt auf dem abschüssigen Weg. Links und rechts ragen schlanke Tannen auf. Knapp dreihundert Meter weiter biegt Sorin links ab und kommt schließlich vor einem unscheinbaren Schuppen zum Stehen. Als er aussteigt, greift die Kälte der Berge nach ihm und kühlt sein schweißnasses Gesicht. Tief atmet er den harzigen Geruch ein. Er muss Ruhe bewahren, seine Rolle spielen.
Als sich Motorengeräusche nähern, dreht er sich um, tut erschrocken. Es sind zwei, ein großer Schlägertyp und der Vermummte, sie springen aus dem Wagen. Der Größere reißt ihn zu Boden, fixiert seine Arme auf dem Rücken. Seine Wange wird aufgeschürft, Staub gerät in die Wunde, es brennt. Der Vermummte macht sich an seinen Taschen zu schaffen. Findet den Schlüssel zum Schuppen, eilt die Stufen hinauf, schiebt ihn ins Schloss. Die metallene Tür schabt kreischend über den Betonboden.
»Schau dir das an!«, ruft der Vermummte und gibt ein dreckiges Lachen von sich. »Hier sind wir richtig!«
Wenn er wüsste, denkt Sorin.
Der Große lässt ihn los, verpasst ihm einen Tritt gegen den Kopf und folgt seinem Kumpan. Diese Narren.
Sorin setzt sichmühsam auf, kämpft gegen den Schwindel an. Sein Kopf schmerzt, aber das ist es wert. Er musst bloß diese Scharade zu Ende spielen.
Da kommt der Große auf ihn zu, ein hämisches Grinsen im Gesicht.
»Hast gedacht, du könntest deinen Schatz hier vor uns verstecken, was?« Speicheltröpfchen treffen Sorins Wange, er widersteht dem Impuls, sie wegzuwischen.
Gib dich verzweifelt, raunt ihm eine innere Stimme zu. Tu so, als wolltest du feilschen.
Er legt sich die Worte zurecht, als ihn ein schwerer Schlag am Kopf trifft, dann noch einer und noch einer. Ein Schrei entfährt ihm. Er fälltzurück auf den Boden, rappelt sich mühsam wieder auf und stützt sich auf den Händen ab.
»Lasst uns in …«, setzt er an. Da katapultiert ihn ein harter Tritt gegen den Hinterkopf auf die Betonstufen. Der Schmerz raubt ihm den Atem.
Wehren, du musst dich wehren!, schreit die Stimme in seinem Kopf. Er holt mit schlaffer Hand aus, schlägt zu, trifft nur Luft. Er kann keinen klaren Gedanken fassen. Als ein weiterer Tritt auf seiner Schläfe landet, sackt er in sich zusammen. Die folgenden Schläge fühlt er kaum mehr.
Am Rande seines Bewusstseins bekommt er mit, wie sie ihn auf den Fahrersitz seines Transporters hieven.
Was haben die vor?, begehrt die Stimme in seinem Innern auf; sie scheint weit weg, so weit weg. Er meint zu spüren, wie er sich bewegt, ein sanftes Schaukeln nur, dann eine Kurve. EineTür wird zugeschlagen. Der Wagen nimmt jetzt Fahrt auf, wird immer schneller.
Übelkeit steigt in ihm auf. Mühsam öffnet er die geschwollenen Augen, sieht die Tannen, erahnt den Abgrund vor ihm. Sein Herz schlägt heftig.
Bremsen, du musst bremsen!, kreischt die Stimme in seinem Innern. Aber seine Füße gehorchen ihm nicht. Verzweifelt umschließt seine Rechte die Handbremse, will sie mit einem Ruck anziehen. Doch ihm fehlt die Kraft. Der Wagen rollt über die Kante des Abhangs, segelt einen unwirklichen Moment lang hinab. Dann zieht ihn die Schwerkraft hinunter. Er hört, wie Bäume splittern, hört ein Krachen, ein Tosen …
Wenigstens haben sie nicht gekriegt, was sie wollen, denkt er noch, als der Wagen sich überschlägt. Livias Gesicht taucht vor ihm auf, er will es festhalten. Doch es verschwimmt, verwandelt sich in das von Leva. Leva!
So lange hat er nicht mehr an Rom gedacht …
Und die Welt dreht sich ein letztes Mal.
TAG 1
1
Rom, im April 2023
Livia schloss die Tür der Bogenbauerwerkstatt ab, während sie mit der anderen Hand versuchte, den Regenschirm aufzuspannen. Eine Bö zerrte an dem Gestänge und bog es um, Regentropfen prasselten wie Nadelstiche in ihren Nacken. Rasch streifte sie sich die Kapuze über. Nach einem kurzen Kampf mit dem widerspenstigen Schirm gab sie auf, steckte ihn in die Umhängetasche und stapfte los.
Rom, Anfang April. Das hatte sie sich anders vorgestellt. Vieles hatte sie sich anders vorgestellt, hier, zu Hause, in ihrem Leben.
Der Wind ließ die Schöße ihrer viel zu großen Jacke flattern. Fröstelnd zog sie die Seitenteile übereinander und vergrub sich darin. Als sie die Via Corfinio erreichte, zögerte sie kurz. Es dämmerte bereits, der Weg durch den Park, der sich hinter der alten Stadtmauer erstreckte, war ihr um diese Zeit nicht geheuer. Dabei liebte sie die Gegend bei Tag, das Aufeinandertreffen von Antike und Gegenwart, von alter und neuer Welt. All die Touristinnen und Touristen aus Kanada, den USA, all die Paare, die dort im Sonnenschein picknickten. Für einen Moment blitzte die Erinnerung an zu Hause auf. An ihn … Wie er versprochen hatte, immer für sie da zu sein. Sie zu heiraten. Wie sie bis zuletzt auf ihn gewartet hatte, Abend für Abend, auch wenn ihre Mutter, sogar ihre jüngere Schwester längst voller Häme darauf beharrt hatten, dass er nicht mehr kommen würde. Sie hatten recht behalten. Die Wucht der Enttäuschung ließ sie innehalten, ihr wurde schlecht.
Ihre Mutter hatte sich gar nicht mehr eingekriegt vor Gier, als sie von Livias Chance erfahren hatte, nach Rom zu gehen und gutes Geld zu verdienen. So viel Geld! Das Angebot war aus dem Nichts gekommen, von Vlad, einem der übelsten »Freunde«. Livia hatte Angst gehabt, dass sich alles als Betrug herausstellen würde, es sich in Wirklichkeit um eine Arbeit als Tänzerin, Barfrau oder Schlimmeres handelte. Sie hatte partout nicht gehen wollen. Dann aber doch.
Sie lief nun schneller, um den Erinnerungen zu entkommen. Als sie nach einigen Minuten die Piazza di San Giovanni erreichte, verlangsamte sie ihre Schritte. Das schmiedeeiserne Tor der alten Basilika stand offen, wie eine Einladung. Ein Lichtschimmer drang heraus und mit ihm eine Melodie, die ihr vage bekannt vorkam. Gespielt von einer Violine, von einer Orgel begleitet.
In der Bogenbauerwerkstatt schauten immer wieder Geigerinnen und Geiger vorbei, bekannte, berühmte sogar. Sie fachsimpelten mit dem Meister, probierten neue Bögen aus und zauberten Melodien aus ihren Instrumenten. Livia kannte die Komponisten nicht, woher auch. Aber die Musik berührte sie, ließ Gefühle und Bilder in ihr entstehen. So wie jetzt. Als stünde sie an einem Fenster, an dessen Scheibe Regentropfen hinabperlten, während am Horizont bereits die Sonne durch die Wolken brach.
Kurz entschlossen kletterte sie über das Absperrgitter und näherte sich dem Portal der Kirche. Das Licht der Straßenlaternen brach sich in den Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster. Gebannt lauschte sie der Geigenstimme und spürte einen Widerhall in ihrem Inneren. Tränen traten ihr in die Augen. Wer das Stück geschrieben hatte, kannte Schmerz, Hoffnung, auch Glück. Und zugleich war da eine Ordnung in der Musik, so als würde eine Stimme sagen: Alles wird gut.
Livia ballte die Hände. Das würde es auch!
Die Instrumente verklangen, sie hätte ewig hier stehen können, in der Hoffnung auf eine Zugabe. Doch ihre Füße wurden kalt. Sie wandte sich ab und wollte soeben wieder über das Absperrgitter klettern, als sie eilige Schritte hörte. Unwillkürlich drehte sie sich um. Ein Schatten bewegte sich hektisch auf den Kirchenausgang zu. Was war da los?
Im diffusen Licht der Straßenlaternen bekam der Schatten ein Gesicht, es war verzerrt. Vor Ärger? Oder Angst?
Livias Gedanken rasten. Sie sollte besser von hier verschwinden! Doch ihre Füße bewegten sich nicht vom Fleck. Wie hypnotisiert starrte sie auf den Schatten. Das Gesicht gehörte einem Mann, jetzt rief er ihr etwas zu. Livia verstand ihn nicht. Da bekam der Schatten ein zweites Gesicht.
Sie wurde starr vor Schock. Weg, du musst hier weg!, schrien ihre Gedanken. Mit einem Mal schien sich die Zeit auszudehnen. Livia meinte, eine Waffe zu sehen, hob die Hände. Da zerriss ein scharfer Schmerz ihre Brust. Ungläubig starrte sie an sich herab. Versuchte zu schreien, zu atmen, irgendwie … doch ihre Lungen gehorchten ihr nicht. Wieder und wieder schnappte sie nach Luft, vergebens! Panik erfasste sie. Atmen, sie musste doch nur atmen!
Blut trat aus ihrem Mund, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Ihre Hände krampften sich um ihren Bauch. Livia fiel nach hinten. Schlug auf das Kopfsteinpflaster, an diesem Tag so kalt und nass.
2
»Und dann habe ich den Rippenspreizer angesetzt und den Brustkorb eröffnet. Dieses Knacken, wie ich das Geräusch liebe! Und wisst ihr was? Dieser Widerling hatte doch tatsächlich ein Herz!«, rief Isabella Nardi und versenkte ihr Messer voller Begeisterung im Ossobuco.
Dionisio Di Bernardo schob den Teller mit den Koteletts Agrodolce von sich. Die neue Rechtsmedizinerin hatte einen beherzten Stil, wenn man das so nennen wollte. Auch wenn die Kollegen lachten, konnte er mit solchen Äußerungen nichts anfangen. Im Stillen sehnte er den Tag herbei, an dem ihr Kollege Fabio Ricci zurückkehrte und Isabella zurück nach Varese ging, wo sie eine Professur innehatte. Nicht, dass fachlich etwas an der Ärztin auszusetzen wäre, im Gegenteil. Dass der jüngste Fall nach zweieinhalb Wochen abgeschlossen worden war, hatten sie definitiv ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken. Ricci aber war deutlich zurückhaltender, wenn es um Details seiner Arbeit ging, stets darauf bedacht, die Würde der Toten zu wahren. Doch es half ja nichts. Nach dem furchtbaren Erdbeben in der Türkei und in Syrien hatte er sich für drei Monate freistellen lassen, um im Katastrophengebiet bei der Identifikation der Toten zu helfen. »Damit die Überlebenden Gewissheit haben«, hatte er gesagt, und Di Bernardo schätzte ihn dafür nur umso mehr. Wie es aussah, würde er also noch einen weiteren Monat mit Isabella vorliebnehmen müssen. Überhaupt war ihre kleine Truppe derzeit ziemlich reduziert. Enrico Borghese, der Questore, erholte sich gerade von einer Hüftoperation und hatte zu ihrer aller Freude seine Reha verlängert. Nicht, dass er kein erfahrener Chef gewesen wäre. Aber er war nun mal nicht der beliebteste. Auch wenn er längst das Rentenalter erreicht hatte, schien er hinter seinem Schreibtisch regelrecht festgenietet zu sein. Ganz vecchia scuola, war er immer schön darauf bedacht, bloß keinen Staub aufzuwirbeln, was Prominente aus Politik und Kirche betraf. Seine Abwesenheit erlaubte es Di Bernardo, sein Team so zu führen, wie er wollte. Zum Beispiel, indem er Nachbesprechungen kurzerhand in die gemütliche Taverne um die Ecke der Questura verlegte. So wie auch jetzt, an diesem Freitagabend.
Er lehnte sich zurück, streckte den Rücken durch. Der letzte Fall hatte es in sich gehabt. Ein Tierquäler war erhängt aufgefunden worden, am Ende hatten sie gleich drei Täter verhaften müssen.
Roberto Del Pino, sein junger Ispettore, taxierte seinen Teller. »Schon satt, Capo? Oder hat Ihnen was den Appetit verdorben?«
Di Bernardo rollte die Augen. Del Pino pflegte das Image des ewig hungrigen Kollegen, der sich mehr um eine stete Kalorienzufuhr sorgte als um seine Karriere. Di Bernardo hatte ihn in den siebeneinhalb Jahren, die sie jetzt schon Seite an Seite arbeiteten, jedoch mittlerweile durchschaut. DelPino fühlte sich am sichersten in der Rolle despagliaccio, des ewigen Clowns. Dass er dabei regelmäßig unterschätzt wurde, was seine kriminalistischen Fähigkeiten betraf, war ihnen schon bei einigen Ermittlungen zugutegekommen. Nur was seinen fragwürdigen Modegeschmack betraf, war Di Bernardo nicht sicher, ob es Kalkül war oder eine eigenwillige Interpretation der stilvollen italienischen Herrenmode. Heute trug Del Pino mal wieder rote Socken unter der engen, knöchellangen Anzughose, wie Di Bernardo mit einem Blick nach unten feststellte.
»Da war ein Bild im GQ«, sagte Roberto, während er emsig Spaghetti auf seine Gabel drehte. »Rote Socken sind in.«
Di Bernardo brummte. Sicher hatte das Model im GQ keine ausgelatschten Sneakers in Schmutzigweiß dazu getragen.
Isabella Nardi schilderte weiterhin mit Begeisterung die Obduktion des Mörders, der bei einem Unfall mit seinem Fluchtwagen ums Leben gekommen war. »Also, was da alles im Magen war«, sagte sie.
Federica Giglioli, die Chefin der Spurensicherung, die ihre Augen und Ohren wie immer überall hatte, beugte sich zu Isabella und meinte verschwörerisch: »Nicht so detailliert, meine Liebe. Unsere Kollegen sind ein bisschen zimperlich, wenn es um Innereien geht.«
»Nichts gegen Kutteln«, widersprach Del Pino kauend. »Alla fiorentina.« Er schürzte die Lippen, führte Daumen und Zeigefinger zum Mund und deutete einen Kuss an. »Vorzüglich.«
»Nichts für mich.« Isabella schüttelte den Kopf. »Seit ich mal bei einem Erstickungsopfer so einen zähen Streifen Pansen aus der Kehle gezogen habe … Da lobe ich mir ein gutes Frikassee.«
Di Bernardo wurde der Kragen zu eng, er lockerte seine ockerfarbene Krawatte mit dem Ritteremblem. »Themenwechsel«, bat er mit leidender Stimme, und alle lachten.
»Wo steckt eigentlich Sergio?«, fragte Federica.
»Der muss noch ein paar Fälle aufarbeiten, hat er gesagt. Seit er von der Sitte zum politischen Verbrechen versetzt werden soll, hängt er sich so richtig rein«, meinte Riccardo Magno, ihr Digitalexperte. Wie Del Pino war er gebürtiger Römer, und wie er legte er wenig bis keinen Wert auf sein Äußeres. Di Bernardo konnte sich nicht erinnern, ob er je etwas anderes als ein schwarzes T-Shirt getragen hatte. Heute hatte er die dunklen Haare mit einem roten Zopfgummi zusammengebunden. Passend zu Del Pinos Socken, könnte man sagen.
»So kurz vor dem Wochenende?«, überlegte Federica, spießte einen gegrillten Austernpilz auf die Gabel und träufelte Zitronensaft darauf.
»Sag’s nicht«, murmelte Anna Cantoni und kreuzte die Finger.
»Was soll sie nicht sagen?« Die Rechtsmedizinerin blickte fragend in die Runde.
»Anna ist abergläubisch«, erklärte Federica grinsend. »Immer wenn jemand ›Wochenende‹ sagt, beschwört er damit angeblich einen neuen Fall herauf.«
»Mach dich nur über mich lustig. Wie war das denn neulich mit dem Mord an dem kalifornischen Touristen? Oder vor zwei Jahren, die Sache mit der Deutschen …«
»Hast recht, Aberglaube kann man das wirklich nicht nennen, das ist ja statistisch gesehen schon relevant«, witzelte Del Pino und schob die Speckstückchen auf die Gabel, die er sich immer bis zum Schluss aufhob.
»Was ist eigentlich aus deinem Fünfzigerjahre-Tick geworden?«, fragte Riccardo und musterte Anna. »Du siehst irgendwie anders aus.«
Gespielt empört verzog diese das Gesicht. »Das war doch kein Tick, das war gelebte Geschichte. Inzwischen bin ich bei den Siebzigern angekommen. Sonntag ist Flohmarkt in Ripa. Mal schauen, was ich da finde.«
Anna Cantoni war ihr Organisationstalent gewesen, bis Borghese sie für sich rekrutiert hatte. Noch so ein positiver Nebeneffekt seiner verlängerten Reha. Di Bernardo hatte Anna am Tag von Borgheses Hüftoperation zurück in sein Team geholt, sie war unverzichtbar. Auch wenn das psychedelische Muster ihres Kleides in den Augen stach.
Er ließ den Blick über die Runde schweifen. Seine squadra. Seine Kolleginnen und Kollegen, mehr noch, seine Freunde. Seit sein Sohn für zwei Auslandssemester nach Wien gegangen war, war ihm klar geworden, wie viel sie ihm bedeuteten. Jahrelang hatte er sich vorgemacht, dass er sich abgrenzen, Beruf und Privatleben trennen könnte. Währenddessen hatten Roberto, Federica und die anderen sich einen Weg unter seinen Schutzwällen hindurchgegraben und sich ganz nah an seinem Herzen eingenistet. Ihre Hartnäckigkeit wärmte ihn, doch sie jagte ihm zugleich eine Heidenangst ein. Auch wenn Rom nicht Kalabrien war …
Seine Gedanken schweiften wie so oft zu Giovanni, seinem engsten Freund, der in Reggio di Calabria durch eine Autobombe ums Leben gekommen war, während sie dort gemeinsam im Dienst gewesen waren. Die Schuld des Überlebenden hatte ihn in den Monaten danach zerfressen. Düster waren seine Gedanken gewesen, so düster. Federicas Lachen holte ihn in die Gegenwart zurück. Wenn ihr etwas zustieße oder Roberto … Nicht auszudenken!
»Ganz schön käselastig«, ächzte Anna und schob den Pizzateller von sich. »Will jemand den Rest? Roberto?«
»Klar doch«, sagte Del Pino eifrig und langte über den Tisch. Kurz besann er sich, schaute in die Runde, doch keiner machte Anstalten, ihm die Pizza streitig zu machen. Er rollte sie zusammen und biss hinein – seinen Worten zufolge die effektivste Form, möglichst viel möglichst schnell zu vertilgen. Fett rann an seinen Fingern herab.
Di Bernardo konnte den Blick nicht abwenden. Die Faszination des Schreckens nannte man das wohl. Im nächsten Moment läutete sein Telefon. Die Kollegen von der Streife.
Sein Blick ging unwillkürlich zu Anna, die nur die Brauen hochzog.
»Pronto?«
In dem allgegenwärtigen Lärm des Restaurants hatte er Mühe, den Polizisten am anderen Ende zu verstehen. Er hielt sich das freie Ohr zu. Dann atmete er tief durch. »Terribile. Bin unterwegs«, sagte er und beendete das Gespräch.
»Schießerei vor der Basilica di San Giovanni, zwei Tote. Ich brauche euch alle.« Er warf Del Pino die Autoschlüssel zu, zog die Kreditkarte aus der Tasche, drückte sie Anna in die Hand und meinte: »Auf meine Rechnung. Geben Sie bitte Granata Bescheid, er soll zum Tatort kommen. Und Andrea Mazzini auch. Federica wird ein zweites Team benötigen … Alles Weitere dann, wenn ich vor Ort bin.«
»Hab’s ja gesagt«, murmelte sie nur, dann war er schon aus der Tür und sprintete hinter Del Pino über die Via Genova zur Questura, wo sein Wagen parkte. Keine zwei Minuten später ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen. Del Pino wischte sich die fettigen Finger an der Hose ab und fuhr los.
»Zwölf Minuten«, sagte er mit Blick auf das Navi.
»Das muss schneller gehen«, erwiderte Di Bernardo und lehnte sich zurück.
Zwei Tote vor den Toren der ältesten päpstlichen Erzbasilika Roms. Ausgerechnet! Dunkel erinnerte er sich, dass die Kirche schon seit der Antike eine wichtige Rolle in der wechselhaften Geschichte Roms gespielt hatte. Wenn er sich nicht irrte, hatte Kaiser Nero das Gebiet von den eigentlichen Eigentümern, der Familie Lateranus, konfisziert. Irgendwann hatte ein anderer Kaiser, Konstantin der Große vermutlich, dort eine Kirche erbauen lassen. Jahrhunderte später hatte die Erde gebebt und sie zerstört.
Seine Gedanken wanderten zu Ricci. So sehr er den Arztfürseinen humanitären Einsatz bewunderte, irgendetwas sagte ihm, dass er ihn heute ganz besonders vermissen würde.
3
Blaulicht flackerte überdie Sandsteinfassade der Basilica di San Giovanni. Di Bernardo stieg aus dem Wagen, Del Pino folgte ihm. Mehrere Polizisten waren gerade dabei, den Platz weitläufig mit Flatterband abzusperren. Zwei Krankenwagen parkten seitlich, ein Mannschaftswagen der Polizei näherte sich soeben über die frontale Zufahrtsstraße.
Di Bernardo zog Einmalhandschuhe und Überschuhe an, nahm die flachen Stufen hinauf zum Vorplatz der Kirche und versuchte, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Hektik, Bestürzung, Tränen, Schreie prasselten auf ihn ein. Am schmiedeeisernen Portal scharten sich die Sanitäter, er spähte zwischen ihnen hindurch. Sah eine Frau neben einem reglos am Boden liegenden Mann.
»Tun Sie doch etwas«, schrie sie. Di Bernardo fing den Blick des Notarztes auf, der neben den beiden kniete. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Zu spät. Wieder einmal waren sie zu spät gekommen.
Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie die Rechtsmedizinerin und Federica sich an den Sanitätern vorbeischoben.
Di Bernardo spitzte die Lippen. Alle umkreisten den Toten und die Frau wie Motten das Licht. Aber wo war das zweite Opfer?
Er blickte sich um. Ein Polizist stand vielleicht sieben Meter entfernt im Halbdunkel und bewachte eine reglose Gestalt. Als Di Bernardo sich ihm näherte, sah er, dass die Tote, eine Frau, noch halb im Absperrgitter hing, das die Basilika vor einem ungeregelten Ansturm an Touristen schützen sollte.Ihr war es augenscheinlich zur Falle geworden. Ein zierlicher Arm ragte in die Luft, der Kopf war zur Seite gesunken. Die Frau wirkte, als wäre sie weggeworfen worden.
Di Bernardo schaltete die Taschenlampe seines Handys an und bückte sich. Das Licht fing sich in einem schmalen Goldkreuz, das um ihren Hals hing. Er ließ das Handy über den Leichnam wandern. Blut war aus dem Mund des Opfers getreten und in das aschblonde Haar gelaufen. Der Blick aus den grünen Augen war gebrochen. Aus ihrenZügen sprach Angst.
Er richtete sich auf und atmete hörbar aus. Die heilige Stätte hatte sich an diesem Abend in einen Tatort verwandelt. Gott hatte weggesehen.
»Ach je.« Federica war neben ihn getreten. »Sie sieht noch so jung aus, nicht mal zwanzig, würde ich sagen.« Sie lehnte sich kurz gegen seinen Arm. »Ich fange hier an. – Isabella?«, rief sie über die Schulter. Di Bernardo drehte sich um. Die Rechtsmedizinerin stand noch am Portal und redete auf die Frau ein, die den Toten nicht loslassen wollte. »Komm mal rüber!« Als sie Federicas Stimme hörte, sah Isabella auf und setzte sich in Bewegung. Federica wandte sich an Di Bernardo. »Das hier wird vermutlich schneller gehen.«
Der Commissario nickte.
»Roberto? Bleiben Sie bei den Frauen und geben Sie mir Bescheid, wenn Federica oder Isabella Neuigkeiten für uns haben. Vielleicht haben wir ja Glück, und sie hat einen Ausweis dabei.« Er deutete zu der Tasche, die halb unter dem Leichnam verborgen war. »Ist Sergio Granata irgendwo?«
»Hab ihn eben noch gesehen.«
»Er soll schon mal den Priester und den Küster befragen. Und nehmen Sie die Personalien der Zeugen auf.« Mit diesen Worten machte Di Bernardo sich auf den Weg zu Ferro.
Es war eine eindringliche Szene, die sich ihm darbot. Auf dem hellen Steinboden lag der Tote in einer riesigen Lache Blut, die Füße in teuren Fratelli-Rossetti-Schuhen zeigten schräg zum Portal. Über ihn beugte sicheine schluchzende Frau mit gewelltem kastanienbraunem Haar, die dunkelgrüne Hose und der helle Pullover waren über und über mit Blut befleckt. Di Bernardos Blick fiel auf den Arm des Mannes, er war seitlich ausgestreckt. In der Hand befand sich eine zierliche Pistole mit Schalldämpfer. Davon hatte ihm niemand etwas gesagt!
Di Bernardo kniff die Augen zusammen und drehte sich um. Das zweite Opfer lag grob in der Schussrichtung, Genaueres würde die Ballistik ihm verratenkönnen. Wenn der Mann geschossen hatte – wie war er dann selbst zu Tode gekommen? Hatte die junge Frau ihn angegriffen, war zurückgewichen, und er hatte abgedrückt? Dann müsste doch Blut an ihr haften. Und wo war die Tatwaffe, womit könnte sie ihn derart verletzt haben?
Grübelnd wandte er sich wieder dem Toten zu. Hinter ihm befand sich eine kleine Nische in der Fassade. Links ragte das mächtige Säulenpodest auf, rechts schloss sich das äußere Portal der Kirche an. Ein Stück nach hinten versetzt, in der hölzernen Eingangstür, stand eine hochgewachsene Frau mit unbewegtem Blick.
Er prägte sich das Bild ein wie eine Momentaufnahme. Wünschte sich, das alles wäre bloß ein Film, den er zurückspulen könnte, bis zur Tat, und noch ein Stück weiter zurück, zu den Sekunden, in denen man sie noch hätte verhindernkönnen.
Ein Polizist trat an seine Seite. »Die Frau, die da drüben steht, hat den Notruf gewählt, sie ist die Organistin. Die Rothaarige ist die Freundin des Toten, sie hatte hier mit der Organistin eine Probe. Der Tote selbst ist Alessandro Ferro, ein Komponist.«
»Die Organistin soll sich bereithalten«, bat Di Bernardo. »Und die junge tote Frau dort hinten?«
»Die kennt niemand.«
»Der Name der Frau, die sich über das Opfer beugt?«
»Elisa Ballarin.«
»Danke.«
Einen Herzschlag langwünschte Di Bernardo sich Giorgia herbei, die frühere Psychologin der Questura. Sie hätte die Lage rasch in den Griff bekommen. Doch er schaffte es auch ohne sie. Er schaffte eine ganze Menge ohne sie.
Langsam bewegte er sich auf Elisa Ballarin zu und beugte sich zu ihr.
»Signora Ballarin?« Er spürte ihre Reaktion mehr, als dass er sie sah. »Ich bin Commissario Di Bernardo und leite die Ermittlungen. Das muss ein großer Schock für Sie sein. Es tut mir sehr leid … Nehmen Sie sich noch einen Moment Zeit. Und dann lassen Sie uns bitte unsere Arbeit machen.«
Sie schluchzte auf, schließlich nickte sie.
Geduldig wartete er ab. Sah, wie sie sich schließlich aufrichtete, mit der Hand über den leblosen Körper strich. Er half ihr auf.
Als sie sich umwandte, waren ihre Pupillen geweitet. Dünne schwarze Rinnsale liefen über ihre Wangen. Edvard Munchs Schrei, dachte er. Wie oft hatte er diesen Gesichtsausdruck gesehen. Opfer, Angehörige, Täter … gezeichnet von den Schockwellen der Gewalt.
Ein junger Rettungssanitäter brachte der Frau eine Wärmedecke, sie hüllte sich darin ein. Er fühlte ihren Puls, bot ihr an, sich auf die leere Trage zu setzen.
»Ich bin sofort wieder bei Ihnen«, sagte Di Bernardo und kniete sich neben Ferro. Blutgeruch stieg ihm in die Nase, er atmete flach. Das Gesicht des Mannes war fahl. Er schien völlig ausgeblutet zu sein. Di Bernardo verfolgte die Spur des Blutes zurück, von der Lache am Boden zu dem dunkel getränkten grauen Sakko, dem ehemals weißen Hemdkragen bis hin zum Hals. Ein Messer oder etwas ähnlich Spitzes schien seine Halsschlagader aufgerissen zu haben.
Der Polizeifotograf war aufgetaucht. Paolo und Agata, zwei von Federicas Leuten, machten sich am Tatort zu schaffen, sicherten die Waffe und nahmen erste Spuren. Sobald die Rechtsmedizinerin den Toten in Augenschein genommen hatte, wüssten sie mehr.
Di Bernardo stand auf, näherte sich Agata. Mit dem Kopf deutete er hinter sich, zum Rettungswagen. »Was ist mit der Freundin des Opfers? Können Sie diskret Spuren nehmen?«
»Diskret wäre gut«, sagte sie und zog die Brauen zusammen.
Di Bernardo drehte sich um. Der Rettungssanitäter goss der Frau soeben großzügig Wasser über die blutverschmierten Hände und reichte ihr einen Stapel Papiertücher. Sie wischte sich die Hände ab und reinigte sich anschließend das Gesicht.
»Verdammt«, murmelte Di Bernardo. »Ist der neu, oder was?«
»Muss wohl so sein. Stümper.«
»Was war das?«, fragte Di Bernardo und deutete auf die Wunde an Ferros Hals. »Ein Messer?«
Paolo zuckte die Schultern. »So wie der Hals aufgerissen ist, wohl eher eine Machete.«
»Irgendwo eine Stichwaffe?«, fragte Di Bernardo.
»Negativ«, sagte Paolo. »Vielleicht liegt er drauf.«
Di Bernardo sah sich um. In der Nische hinter dem Toten ragte in vielleicht fünfzig Zentimeter Höhe ein Kranz aus eisernen Zacken empor. Im Schein der Taschenlampe meinte er Feuchtigkeit daran schimmern zu sehen.
»Schauen Sie mal da!«, sagte er und deutete mit dem Finger darauf. »Das ist doch Blut!«
»Sei meinen, er könnte auf die Zacken gestürzt sein?«, überlegte Agata.
»Das kann uns hoffentlich die Rechtsmedizinerin sagen.« Di Bernardo betrachtete den Zackenkranz. Augenscheinlich diente er dazu, Bettler vom Portal der Basilika zu vertreiben. Was für ein Zynismus, so etwas vor einer Kirche anzubringen, und ein doppelter gleich dazu, falls hier und heute jemand daran zu Tode gekommen war.
»Wo bleibt sie denn?«, wollte Paolo wissen.
»Ist noch bei dem anderen Opfer«, meinte Agata.
»Schauen Sie bitte, ob Sie dennoch Spuren bei Signora Ballarin finden, wenn ich mit der Befragung fertig bin«, sagte Di Bernardo. Dann trat er zu der Freundin des Toten; sie lehnte an der Trage und trank soeben etwas Wasser aus der Flasche, die der junge Sanitäter ihr gereicht hatte. Di Bernardo schätzte sie auf Ende dreißig, mit ausdrucksvollen Augenbrauen und einer kleinen Zornesfalte.
»Fühlen Sie sich in der Lage, mit mir zu sprechen?«, fragte er und legte den Kopf ein wenig schief.
Sie zog die Nase hoch, dann nickte sie.
»Könnten Sie mir der Reihe nach beschreiben, was vorgefallen ist?«
Er rechnete damit, dass sie erneut in Tränen ausbrechen würde. Die Konfrontation mit dem Erlebten war hart, das wusste er selbst nur zu genau. So wie er wusste, dass sich sämtliche Eindrücke der vergangenen Minuten in das Gedächtnis der Frau eingebrannt hatten. Die Frage war bloß, ob sie diese abrufen konnte. Und ob sie sie so schilderte, wie sie sich zugetragen hatten.
»Wir haben geprobt …«, begann sie und nickte in Richtung Kirche. »Für das Konzert. Alessandro hatte versprochen zu kommen und zuzuhören. Ich brauchte seinen Rat wegen der Akustik …« Ihr Blick verlor sich. Sie nahm noch einen Schluck Wasser, dann stellte sie die Flasche auf dem Boden ab und versuchte sich zu sammeln. »Als ich mit meinem Stück fertig war, habe ich ihn gesucht. Aber er war nirgends. Da … da … habe ich gesehen, dass das Portal offen stand. Also bin ich raus. Und da …« Sie fing an zu zittern, zog die Decke enger um sich.
Di Bernardo gab ihr Zeit. Insgeheim war er froh, dass Roberto noch bei dem anderen Opfer stand. Sein Ispettore hatte weniger Geduld, grätschte mit Vorliebe dazwischen und bevorzugte es, die Befragten zu provozieren. Ein spannender Kontrast zu seinem eigenen recht besonnenen Stil, der es ihnen ermöglichte, ganz unterschiedliche Reaktionen der Befragten hervorzurufen. Doch in diesem Fall kämen sie mit Drängen und Provozieren wohl kaum weiter.
»Als Sie vor die Kirche traten … Was haben Sie da gesehen, Signora Ballarin?«, fragte er nun doch, als ihr Blick ihm verriet, dass sie sich in ihrer Trauer, dem Schock verlor. »Teilen Sie es mit mir.«
Sie fuhr sich mit beiden Händen über die Augen und atmete hörbar aus.
»Alessandro lag am Boden. Um ihn herum war überall Blut. So viel Blut. Ich glaube, ich habe geschrien. Ja, ganz sicher habe ich geschrien. Bin zu ihm, hab die Wunde gesucht, um die Blutung irgendwie zu stoppen. Sein Hals …« Sie presste die Handflächen gegen die Schläfen.
»Hat er da noch gelebt?«, fragte Di Bernardo.
Sie ließ die Hände in den Schoß sinken, schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Nein. Ich habe die Hand auf die Wunde am Hals gepresst, aber da war kein Puls … Seine Augen … sie waren schon tot.« Sie griff hinter sich nach den Papiertüchern, wischte sich das Gesicht trocken.
»Es ist meine Schuld. Alles ist meine Schuld!«
Di Bernardo fixierte sie. »Wie meinen Sie das?«
»Er … er wollte nicht herkommen, hat gesagt, er hätte was anderes vor. Aber ich brauchte seinen Rat. Die verdammte Orgel … sie war so laut, ich hatte Sorge, dass man meine Geige nicht hört … Und ich dachte … dachte …«
»Was dachten Sie?«
Elisa Ballarin zog die Schultern hoch. »Ich dachte, er könnte mir einen Rat geben, ob ich woanders stehen soll. Oder er würde mit der Organistin reden.« Sie ließ die Schultern fallen. »Jetzt ist das alles egal.«
Di Bernardo ließ ihre Worte unkommentiert. Er würde später darüber nachdenken. Für den Augenblick interessierte ihn etwas ganz anderes.
»Ich weiß, es ist viel verlangt, aber als Sie aus der Basilika traten … Können Sie sich erinnern, ob da jemand war? Haben Sie einen Mann oder eine Frau gesehen? Vielleicht ist der Täter ja gerade weggelaufen?«
Elisa Ballarin schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur Augen für ihn«, sagte sie leise. »Das war immer so, seit wir uns kennengelernt haben.« Sie sah auf, ihr Blick war leer. »Ich weiß nicht, was jetzt werden soll. Alessandro war ein großer Künstler. Wir …« Sie brach ab, schüttelte den Kopf.
»An diesem Abend ist noch eine andere Person gestorben«, sagte Di Bernardo. »Kannten Sie sie?«
Elisa Ballarin runzelte die Stirn. »Das habe ich gar nicht mitbekommen.«
»In der Hand Ihres Freundes lag eine Waffe.«
Verständnislos blickte sie ihn an. »Eine Waffe? Ich … Was denn für eine Waffe?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich kann nicht mehr klar denken.«
»Das ist nur zu verständlich«, sagte Di Bernardo. »Darf ich Sie rasch zu dem anderen Opfer führen? Vielleicht haben Sie ja einen Hinweis für uns, möglicherweise haben Sie die Person schon einmal gesehen …«
Entschlossen streckte Elisa Ballarin die Hände von sich. »Bitte, ich kann nicht mehr … Ich kann heute nicht noch einen Toten sehen. Ich bin fertig, völlig fertig. Alessandro und ich … wir …« Sie schluchzte laut.
So hatte das keinen Sinn. Ob sie die Frau kannte oder nicht, sie würde es ihnen nicht verraten. Nicht an diesem Abend.
»In Ordnung. Wir benötigen allerdings Ihre Kleidung, da Sie mit dem Opfer in Kontakt gekommen sind. Falls Spuren des Täters oder der Täterin an ihm waren und nun auch an Ihnen zu finden wären …«
Er sah sich um, gab Agata ein Zeichen. »Meine Kollegin wird sich um Sie kümmern. In Ordnung?« Sie sah durch ihn hindurch, nickte dann. »Hier ist meine Telefonnummer …« Er reichte ihr seine Karte. »Darf ich Sie ansonsten bitten, morgen früh in die Questura zu kommen? Dann werden wir uns in Ruhe unterhalten. Gegen zehn? In die Via di San Vitale?«
Elisa Ballarin drehte die Karte in der Hand. »In Ordnung.«
»Bitte zögern Sie nicht, sich an uns zu wenden, wenn Sie etwas brauchen«, sagte er noch.
Federica trat zu ihm. »Isabella ist drüben fertig«, flüsterte er und deutete auf Ferro und Ballarin. »Ich kümmere mich jetzt um das hier.«