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Beschreibung

Innersprachliche Mehrsprachigkeit ist in Alltag und Schule präsent. Im Deutschunterricht spielt der Dialekt oft eine Doppelrolle: Denn zum einen ist Dialekt im Lernfeld Sprachbewusstsein etwa im österreichischen Lehrplan implizit als Unterrichtsthema verankert, was nicht nur sprachwissenschaftliche bzw. soziolinguistische Perspektiven eröffnet, sondern eine Reihe an kreativen Möglichkeiten und Materialien bietet. Dialekt kann darüber hinaus – neben seiner sozialen Funktion – aber auch Medium des Unterrichts sein, also Unterrichtssprache. Die Dialektverwendung im schulischen Kontext findet sich meist in einem Spannungsfeld zur Standardsprache und Lehrer:innen und Schüler:innen stehen ihr im Deutschunterricht oft ambivalent gegenüber. Das Potenzial der Beschäftigung mit dem Dialekt im (Deutsch-)Unterricht auszuloten, ist Thema dieses ide-Heftes.

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Seitenzahl: 262

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Editorial

URSULA ESTERL, JUTTA RANSMAYR: Darf’s auch ein bisserl Dialekt sein?

Dialekt und innere Mehrsprachigkeit in Österreich

MONIKA DANNERER: Dort, wo es auch noch die echten, tiefen Dialekte gibt? Zur sprachlichen Situation in Österreich

RUDOLF DE CILLIA: Innere Mehrsprachigkeit und Identitäten in Österreich

Dialekt und innere Mehrsprachigkeit in anderen deutschsprachigen Ländern und Regionen

REGULA SCHMIDLIN, MARTIN LUGINBÜHL, HELEN CHRISTEN: Standard- und Dialektgebrauch bei Schülerinnen und Schülern in der Deutschschweiz. Schulische Erwartung vs. gesellschaftliche Praxis

RUPERT HOCHHOLZER: Warum innere und äußere Mehrsprachigkeit nicht getrennt werden sollten. Ein Statement

ANDREA ABEL: Dialekt und Schule in Südtirol: eine ambivalente Beziehung? (Online)

Dialekt und innere Mehrsprachigkeit in der Literatur

SANDRA PECHTOLD: Mit dem Mundart-Bilderbuch zurück in die Kindheit. Vom Gratifikationsangebot einer besonderen Bilderbuchform (nicht nur) für erwachsene Leser:innen

SARA HÄGI-MEAD: Weil Bücher wie Pedro Lenz’ Primitivo »eim bim Nochedänke chönge häufe«. Eine Einladung zum Nachdenken über Sprachen, Varietäten und einen literarischen Sprachbegriff

URSULA ESTERL im Gespräch mit der Lyrikerin ULRIKE TITELBACH: »wie wenn zwei Farben sich im Wasser wirbelnd treffen«

Dialekt und innere Mehrsprachigkeit im schulischen Unterricht

LUCA MELCHIOR: Dialekt und Schule. Eine ressourcenorientierte Perspektive

IRMTRAUD KAISER: Dialekt-Standard-Variation in österreichischen Schulen

CORDULA PRIBYL-RESCH, EUGEN UNTERBERGER: Auch Dialekt hat Regeln! Unterrichtsmaterialien zum Aufbau von Sprachbewusstheit im Deutschunterricht

IRINA ELLMEIER: Der Einsatz von österreichischen Dialekt-Popsongs im DaZ-Unterricht

Service

TOBIAS AMON: Dialekt – Innere Mehrsprachigkeit – Deutschunterricht. Eine Auswahlbibliographie

Magazin

Kommentar PETER ERNST: Mehr Sprachigkeit!

ide empfiehlt ULRIKE KRIEG-HOLZ: A. Werani (2023): Sprache und Identität. Eine Einführung

Neu im Regal

 

 

»Dialekt und (innere) Mehrsprachigkeit« in anderen ide-Heften

ide 4-2023

Sprache(n) und Zugehörigkeiten

ide 2-2022

Österreich im Blick

ide 3-2021

Sprachbewusstsein

ide 4-2020

Spracherwerb und Sprachenlernen

ide 4-2018

Normen und Variation

ide 4-2015

Sprachliche Bildung im Kontext von Mehrsprachigkeit

ide 3-2014

Österreichisches Deutsch und Plurizentrik

ide 4-2009

Sprechen

ide 2-2008

Mehrsprachigkeit und Deutschunterricht

ide 2-2005

Sprachbegegnungen

ide 3-2002

Sprachaufmerksamkeit/Language Awareness

 

Das nächste ide-Heft

ide 4-2024

Friedensbildung und Deutschunterricht erscheint im Dezember 2024

 

Vorschau

ide 1-2025

Kinder- und Jugendliteratur zwischen Pragmatik und Ästhetik

ide 2-2025

Essen

 

 

 

 

 

https://ide.aau.at

Besuchen Sie die ide-Website! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften.

Sie können die ide auch online bestellen.

 

www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

Besuchen Sie auch die Website des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt:Informationen, Ansätze, Orientierungen.

Darf’s auch ein bisserl Dialekt sein?

Mehrsprachigkeit in all ihren Formen ist Teil der Gesellschaft, ist Teil des Systems Schule. Der Blick richtet sich dabei häufig auf Formen der äußeren Mehrsprachigkeit samt sprachdidaktischen Implikationen für Lehrende und Lernende. Ebenso ist innersprachliche Mehrsprachigkeit allgegenwärtig, in der Alltagskommunikation wie in Schulen, aber auch als Unterrichtsinhalt. Innersprachlicher Mehrsprachigkeit und dabei insbesondere dem Thema Dialekt soll ein eigenes ide-Heft gewidmet werden, wobei wir uns dessen durchaus bewusst sind, dass innere und äußere Mehrsprachigkeit vielerlei Schnittmengen haben und die sprachliche Lebenswelt der Schüler:innen ein breites Repertoire unterschiedlicher Sprachen und Varietäten aufweist.

Bedingt durch die Doppelfunktion von Sprache im Deutschunterricht – Sprache ist zugleich Gegenstand als auch Medium des Deutschunterrichts –, können verschiedene Varietäten und ein Dialekt-Standard-Kontinuum dort eine zentrale Rolle spielen: im Erarbeiten von Themen rund um Varietäten des Deutschen, unter Verwendung von Varietäten des Deutschen. So kann etwa Dialekt aus (sozio-)linguistischer Sicht im Lernfeld Sprachreflexion thematisiert werden; Dialekt ist vielleicht auch die bevorzugte Varietät, die Lernende oder Lehrende im Unterricht beim Ausverhandeln verschiedener Inhalte verwenden.

Diese Doppelgleisigkeit wird in unterschiedlicher Weise in den Beiträgen dieses Heftes implizit oder explizit mitgedacht. Es ist davon auszugehen, dass sich Standard- und Dialektverwendung im schulischen Kontext stets in einem Spannungsfeld bewegen: Im schulischen Umfeld stehen zumeist mehrere Varietäten, über die Lehrende und Lernende im Rahmen ihrer sprachlichen Repertoires verfügen, miteinander in Konkurrenz, wobei die Standardvarietät als Bildungssprache häufig höheres Prestige genießt. Zudem haben Befunde aus Forschungsprojekten gezeigt, dass Lehrer:innen und Schüler:innen ein ambivalentes Verhältnis zur Dialektverwendung im Deutschunterricht pflegen. Wenn auch die Unterrichtssprache stark an dem Ideal der Verwendung der Standardsprache und in zunehmendem Maße und mit ansteigenden Schulstufen insbesondere an der Bildungssprache orientiert ist und auch gesellschaftlich das Hinführen der Lernenden zum souveränen Beherrschen der Standardsprache erwartet wird, so ist Registervariabilität im schulischen Deutschunterricht trotzdem in unterschiedlichem Ausmaß präsent.

Das Spannungsfeld Standard- und Dialektverwendung (und das umstrittene, da schwer fassbare »Dazwischen«, das meist als Umgangssprache bezeichnet wird) als Unterrichtsinhalt eröffnet nicht nur sprachwissenschaftliche bzw. soziolinguistische Perspektiven, sondern bietet eine Reihe an kreativen Zugängen und Materialien, von unterschiedlichen Möglichkeiten der Entwicklung von Critical Language Awareness bis zu Musik und Literatur.

Einleitend bietet Monika Dannerer einen Überblick über die komplexe sprachliche Situation in Österreich und geht der Frage nach, ob es noch »die echten, tiefen Dialekte« gibt. Darüber hinaus lotet sie die Facetten der inneren Mehrsprachigkeit aus, zwischen Dialekt und Standardsprache, innerhalb von Österreich, aber auch mit Blick auf die Plurizentrik der deutschen Sprache. Im zweiten Teil ihres Beitrags geht sie auf Erwerb, Funktion und Verwendung der inneren Mehrsprachigkeit ein und zeigt auf, dass ein sicheres und situationsadäquates Verhalten im Dialekt-Standard-Kontinuum ein hohes Maß an Varietätenkompetenz der Sprecher:innen erfordert.

Rudolf de Cillia präsentiert in seinem Beitrag Befunde aus Forschungsprojekten zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten zum österreichischen Deutsch an Schulen. Die Ergebnisse zeigen die große Bedeutung der inneren Mehrsprachigkeit, insbesondere des österreichischen Deutsch sowie verschiedener Stufen des Dialekt-Standard-Kontinuums, für die Identitätskonstruktionen österreichischer Sprecher:innen auf, wie anhand von Beispielen anschaulich dargelegt wird.

Dialekt und innere Mehrsprachigkeit sind aber auch in anderen deutschsprachigen Ländern und Regionen ein wichtiges gesellschaftliches und somit auch für die Deutschdidaktik relevantes Thema. Das Mit- und Nebeneinander von Standardsprache und Dialekt in der Deutschschweiz aus soziolinguistischer Perspektive sowie im Spracherwerb und in der Schule untersuchen Regula Schmidlin, Martin Luginbühl und Helen Christen. Kinder in der Deutschschweiz erwerben zwar von klein auf sowohl Schweizerdeutsch, also den Dialekt, als auch Schweizer Standardsprache, verwenden jedoch in Gesprächssituationen vorrangig den Dialekt, während in der Schule der Standardgebrauch seit den 1990er Jahren mit kantonalen Richtlinien geregelt wird. Einblicke in die Varietätenwahl unter Schüler:innen bieten Auszüge aus einer Studie zu schulischen Gruppengesprächen, die im zweiten Teil des Beitrags präsentiert werden.

Befragungen zur Vitalität von Dialekten im deutschen Sprachraum belegen zumeist einen deutlich wahrzunehmenden Abbau von Ortsdialekten, vor allem in der jüngeren Generation, daran ändern auch Maßnahmen zur Dialektpflege, wie sie in Bayern und Baden-Württemberg auch in Bildungseinrichtungen ergriffen werden, zumeist wenig. Ausgehend von den Ergebnissen zum Sprachgebrauch von Jugendlichen kritisiert Rupert Hochholzer, dass die Erhebungen zumeist nur die innere Mehrsprachigkeit untersuchen, wodurch die sprachliche Praxis eines großen Teils von Schüler:innen, die in lebensweltlicher Mehrsprachigkeit aufwachsen, unberücksichtigt bleibt.

Der Beitrag von Andrea Abel führt in die Schule der autonomen Provinz Bozen-Südtirol und in die vielsprachige Welt der Südtiroler Sprachlandschaft. Dabei berücksichtigt sie sowohl institutionelle Vorgaben für den Dialektgebrauch als auch den sozio-linguistischen Kontext der Sprachverwendung der deutschsprachigen Bevölkerung zwischen dialektalen bzw. regiolektalen Varietäten und der Standardvarietät. In der vorliegenden Printausgabe diese ide-Heftes wird eine kurze Einführung in das Thema geboten, den gesamten Artikel finden Sie online auf der ide-Website www.ide.aau.at.

Im dritten Teil der Publikation steht die bewusste Verwendung des Dialekts in der Literatur im Fokus.

Sandra Pechtold nimmt das Mundart-Bilderbuch in den Blick, und zwar insbesondere Mundartübertragungen bekannter Bilderbuchklassiker, die gerne als Geschenkartikel erworben werden, da sie erwachsene Leser:innen an literar-ästhetische Erfahrungen der Kindheit anknüpfen lassen. Sam McBratneys und Anita Jerams Bilderbuch Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab? (1994) führt auch mit seiner emotionalen und optimistischen Botschaft in die Welt der Kindheit. Inwiefern die Übertragung in den Dialekt dabei die Entstehung emotionaler Nähe unterstützt, aber auch die Lektüreerfahrung verändert, wird von der Autorin kenntnisreich dargelegt.

Den Fragen, warum der Schweizer Schriftsteller Pedro Lenz seinen Roman Primitivo auf Schweizerdeutsch verfasst hat und warum er ihn nicht selbst ins Hochdeutsche übersetzt hat, geht Sara Hägi-Mead ich ihrem Beitrag nach. Der Roman erlaubt dabei gleichermaßen eine Auseinandersetzung mit dem Schweizerdeutschen als Literatursprache wie auch mit der Sprach(en)situation in der Deutschschweiz im Allgemeinen, indem er eine Fülle an Möglichkeiten bietet, über den Varietätengebrauch nachzudenken sowie sich verschiedenen Sprach- und Schreibsituationen in der Deutschschweiz anzunähern.

Das Kapitel über den Dialekt als Literatursprache beschließt das Interview, das Ursula Esterl mit der Autorin und Wissenschaftlerin Ulrike Titelbach geführt hat. In ihren »zweisprachig« verfassten Gedichten verwebt die Lyrikerin die deutsche Standardsprache mit dem Dialekt ihrer Kindheit, wodurch ungewöhnliche »Klangfarben« entstehen. Wir freuen uns, ihr mit dem Publikumspreis des Feldkircher Lyrikpreises 2023 ausgezeichnetes Gedicht BEINAHE NICHT auf dem Cover dieses ide-Heftes präsentieren zu dürfen.

Im abschließenden vierten Kapitel steht der Unterricht an Österreichs Schulen im Zentrum.

Luca Melchior plädiert einleitend für eine dialektfreundliche Deutschdidaktik, da die Einbindung von Dialekten in den Deutschunterricht und ein respektvoller Umgang mit unterschiedlichen Formen innerer Mehrsprachigkeit die (Critical) Language Awareness der Schüler:innen fördert und somit einen wertvolle Beitrag zum Aufbau von Ressourcenkompetenz leistet. Zudem legt er dar, dass eine positive Einstellung gegenüber Variation und ihren Erscheinungsformen zur »Überwindung von Standardismus, Homogenismus und ›Muttersprachlerismus‹« führt, und betont die Bedeutung eines konstruktiven Umgangs mit innerer, aber auch äußerer Mehrsprachigkeit für ein positives Spracherleben und die Partizipation aller Schüler:innen am Unterrichts- und Schulgeschehen.

Wie bereits die Beiträge aus den unterschiedlichen deutschsprachigen Ländern und Regionen setzt sich auch Irmtraud Kaiser mit nonstandardsprachlichem Sprechen in Alltag und Schule auseinander. Sie nimmt dabei sowohl die rechtlichen Rahmenbedingungen an Österreichs Schulen als auch den Sprachgebrauch im Unterricht in den Blick und belegt die Ergebnisse unterschiedlicher Untersuchungen und Befragungen mit zahlreichen Beispielen.

In die Unterrichtspraxis führt der Beitrag von Cordula Pribyl-Resch und Eugen Unterberger, die anhand von zwei Unterrichtsmodulen vorstellen, wie stereotype Spracheinstellungen zu den Varietäten Dialekt und Standardsprache reflektiert und gegebenenfalls abgebaut werden können. Die von ihnen gewählte induktive Form der Aufgabengestaltung soll die Schüler:innen dazu anregen, persönliche Vorstellungen von Sprache und deren Sprecherinnen eigenständig zu bearbeiten und kritisch zu hinterfragen und den (Mehr-)Wert der unterschiedlichen sprachlichen Varietäten zu erkennen.

Abschließend unterbreitet Irina Ellmeier einen Vorschlag für den Unterricht, dem sie einen aktuellen Dialekt-Popsong des österreichischen Musikduos Edmund zugrunde legt, wobei sie bewusst auch für einen Einsatz im DaZ-Unterricht plädiert. Der fließende Übergang von Standard- zu Umgangssprache und Dialekt stellt Deutschlernende oft vor große Herausforderungen. Musik und insbesondere aktuelle Popsongs knüpfen mit ihren Themen oft an die Lebenswelt der Jugendlichen an und erleichtern so auch einen Zugang zur Sprache und ihren Varietäten.

Im Service- und Magazinteil präsentiert Tobias Amon in der von ihm gestalteten Bibliographie ausgewählte Publikationen zum Thema Dialekt und innere Mehrsprachigkeit in Verbindung mit dem Deutschunterricht. Für »m/Mehr Sprachigkeit« plädiert Peter Ernst in seinem Kommentar und nimmt dabei nicht nur das Verhältnis von Dialekt, Standard und dem, was dazwischen liegt, in den Blick, sondern betont den Mehrwert jeder Form von Mehrsprachigkeit für Individuum und Gemeinschaft. Abgerundet werden die Ausführungen mit Rezensionen von Ulrike Krieg-Holz, Matthias Pauldrach, Jürgen Struger und Ursula Esterl zu aktuellen Publikationen zum Thema dieser Ausgabe.

Dieses ide-Heft kann nur eine kleine Auswahl an Möglichkeiten bieten, sich den vielfältigen Bereichen, die Dialekt und innere Mehrsprachigkeit eröffnen, anzunähern, und lädt zu weiteren Erkundungen ein.

Wir wünschen eine (viel)stimmige Lektüre.

URSULA ESTERLJUTTA RANSMAYR

________________

URSULA ESTERL ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für GermanistikAECC, Abteilung Fachdidaktik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Ihre Arbeitsgebiete sind: Mehrsprachigkeit, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Schreibforschung.

E-Mail: [email protected]

JUTTA RANSMAYR ist assoziierte Professorin für Sprachdidaktik Deutsch am Institut für Germanistik und am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Sprachdidaktik, österreichisches Deutsch, Varietäten des Deutschen und Deutschunterricht, Sprachenpolitik, Korpuslinguistik und Lernerkorpora sowie Orthographie und Grammatik.

E-Mail: [email protected]

Monika Dannerer

Dort, wo es auch noch die echten, tiefen Dialekte gibt?

Zur sprachlichen Situation in Österreich

Der vorliegende Beitrag, der einen groben Überblick über die sprachliche Situation in Österreich im Hinblick auf die innere Mehrsprachigkeit skizzieren möchte, geht im ersten Abschnitt auf die grundlegenden Begrifflichkeiten und die schwierige Abgrenzung von Dialekt, Standardsprache und Umgangssprache ein, bevor er im zweiten Abschnitt Verwendungsdomänen, Funktionen und Erwerb von Varietäten thematisiert.

Um die sprachliche Situation in Österreich in ihrer Komplexität und Vielfalt auch nur annähernd angemessen darstellen zu können bedürfte es nicht nur eines anderen Umfangs für diesen Artikel, sondern auch eines wesentlich umfassenderen Ansatzes, denn dazu gehören selbstverständlich auch andere Sprachen als Deutsch und seine Varietäten. Sie treten als Erstsprachen/Herkunftssprachen/Familiensprachen auf, als in der Schule oder in Kursen gelernte Fremdsprachen oder als autochthone Minderheitensprachen. Sie alle tragen zum sprachlichen Repertoire (Busch 2012) in Österreich bei. Dem Fokus des Heftes geschuldet geht es in diesem Beitrag jedoch ausschließlich um (areale) Varietäten des Deutschen. Dass dies eine Beschränkung darstellt, soll jedoch an dieser Stelle erwähnt werden. Auch eine Beschränkung insofern als die Schnittstellen zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit – zum Beispiel die Aufnahme von »Fremd«wörtern oder die Entwicklung einer ethnolektalen Syntax (Siegel 2018) in eine/r der Varietäten – damit nicht ausreichend berücksichtigt werden kann.

1. Dialekt – Standardsprache – und das Dazwischen

1.1 Was ist Dialekt?

Der Titel des Beitrags möchte bereits signalisieren, dass Dialekte regional verortet sind (»dort«), dass sie zeitlich verortet sind bzw. als (besonders) stark im Wandel begriffen werden (»noch«), dass streng über ihre Reinheit gewacht wird (»echt«), die teilweise auch als Ausweis »richtiger« Zugehörigkeit interpretiert wird, und dass sie metaphorisch »unten« bzw. »unterhalb« der Standardsprache angesiedelt werden (»tief«).

Das Lexikon der Sprachwissenschaft definiert »Dialekt« als

Sprachsystem […] das (a) zu anderen Systemen ein hohes Maß an Ähnlichkeit aufweist, sodass eine – zumindest partielle – wechselseitige Verstehbarkeit möglich ist, (b) regional gebunden ist in dem Sinne, dass die regionale Verbreitung dieses Systems nicht das Gebrauchsgebiet eines anderen Systems überlappt, und (c) keine Schriftlichkeit bzw. Standardisierung im Sinne offiziell normierter orthographischer und grammatischer Regeln aufweist. (Bußmann 2008, S. 131)

Als Bedrohung für die »Echtheit«, »Reinheit« und »Ursprünglichkeit« von Dialekten wird vor allem eine »Kontamination« mit der oder eine Verdrängung durch die Standardsprache gesehen. Bereits Georg Wenker hat in seiner umfassenden Bemühung um die Erhebung von Dialekten im gesamten deutschen Sprachraum (1876–1887) auch ihr Verschwinden prognostiziert. Dialektabbau oder auch Dialektverlust gelten als ständiger Begleiter aller Bemühungen um die Erfassung und den Erhalt eines Dialekts als Merkmal einer Region. Das hat nicht zuletzt auch zur Folge, dass Dialekte lange Zeit hindurch durch eine Befragung der sogenannten »NORMs« oder »NORFs« dokumentiert wurden, der »Nonmobile, Old Rural Males« oder »Females«, d.h. alter Menschen eines Dorfes, die aus einer ortsansässigen Familie stammend möglichst ihr gesamtes Leben am gleichen Ort verbracht und nie längere Zeit hindurch woanders gelebt haben.

Will man die Veränderung in den Dialekten einer Region dokumentieren und analysiert, so werden in der Regel entweder die NORM:Fs mit einer Gruppe jüngerer Personen verglichen oder aber es werden die gleichen Personen Jahrzehnte nach einer ersten Erhebung noch einmal befragt.

Dialektologische Untersuchungen, die das spontane Gesprächsverhalten in Gruppen erheben, waren lange Zeit eher die Ausnahme (vgl. aber z. B. Lenzhofer 2017).1 Die Verwendung von Varietäten in Institutionen (z. B. Kindergarten, Schule, Universität) wird häufig nicht so sehr aus einer dialektologischen wie aus einer sozio- und variationslinguistischen Perspektive betrachtet, das heißt, nicht der Dialekt und seine Beschreibung stehen im Fokus, sondern die Beschreibung der Funktionen der Dialektverwendung (vgl. Abschnitt 2). Zu unterscheiden ist dabei zwischen Untersuchungen, die anhand von Aufnahmen das sprachliche Verhalten erheben, und Fragebogen- oder Interviewstudien zu Sprachgebrauch und Spracheinstellungen, die damit auf Selbstauskünften basieren.

Abb. 1: Dialektregionen Österreichs; Karte erstellt im SprachGIS auf der Grundlage der Dialekteinteilung nach Wiesinger (1983) von Kathrein (2024)2

Unterschiede zwischen Dialekten und Standardvarietäten sind auf allen Ebenen des sprachlichen Systems zu finden, auf der Lautebene sowohl bei Vokalen als auch bei Konsonanten, in der Morphologie, der Lexik und der Syntax. Besonders prominent für die Wahrnehmung von Dialekten scheinen dabei sowohl die phonetischen als auch die lexikalischen Unterschiede zu sein.

Darauf, dass Dialekte in Regionen, in denen sie noch gesprochen werden und ihre Verwendung nicht sozial markiert ist, ein hohes Prestige genießen, deuten u. a. zahlreiche Bemühungen von linguistischen Laien zur Dokumentation (und zum Erhalt) von Dialekten hin, wie zum Beispiel eine beachtliche Zahl an existierenden Dialektwörterbüchern, deren Erstellung bzw. Pflege mit einem sehr hohen zeitlichen Aufwand betrieben und erst jüngst auch von dialektologischer Seite tatsächlich wahrgenommen wird (vgl. Kathrein i. Dr.). Neben Adjektiven wie »rein«, »schön«, »echt« und »unverfälscht«, die im Kontext von Dialekten häufig verwendet werden (vgl. Christen 2010, S. 283) und zu diesem Bild passen, gibt es aber durchaus auch metaphorische Ausdrücke, die auf Dialekte bzw. Dialektverwendung bezogen werden, und sie als »unten« verorten: Man spricht einen »tiefen« Dialekt, man »rutscht« oder »(ver)fällt« in den Dialekt. Die Oben-unten-Metapher spiegelt sich durchaus auch in vielen linguistischen Darstellungen, die etwa in einem Kegelmodell eine Standardsprache oben, die Dialekte unten ansiedeln.

1.2 Welche Dialekte gibt es in Österreich?

Es ist üblich, den Dialektraum in Österreich im Wesentlichen in drei Dialektregionen zu gliedern: Mittelbairisch, Südbairisch und Alemannisch, wobei es jeweils Übergangszonen gibt (vgl. Abb 1).

Die Ortsdialekte (oder Basisdialekte), die sich anhand unterschiedlicher Merkmale teilweise sehr kleinräumig unterscheiden lassen, sind diesen Dialekträumen ebenso zuordenbar wie regionale Ausgleichsdialekte.

Die Darstellung von Unterschieden zwischen einzelnen Dialekten erfolgt in der Regel in sogenannten »Dialektatlanten«, typischerweise in einer großformatigen Buchform, die nach einzelnen Merkmalen geordnete Karten anbieten. Dazu gehören zum Beispiel der VALTS (Vorarlberger Sprachatlas), der TirolSA (Tirolischer Sprachatlas), der SAO (Sprachatlas von Oberösterreich). Sie setzen die Kenntnis der Lautschrift (IPA bzw. Teuthonista) voraus. »Sprechende Dialektatlanten«, zum Beispiel auf CD-ROM (z. B. »insre sproch«; Scheutz 2016) oder mit QR-Codes im Buch, die auch mit einer Online-Seite kombiniert werden können (z. B. Mauser 2021 und https://pfeifenberger.at/wiarach/landkarte/) und Online-Atlanten (z. B. Deutsche Dialekte im Alpenraum [sprachatlas.at]; StifterHaus: OÖTon; Alle Karten | Tiroler Dialektarchiv [tiroler-dialektarchiv.at]), sind demgegenüber intuitiv zugänglich und bieten Hörbeispiele, die teilweise auch mit Quizaufgaben verbunden werden (z. B. StifterHaus: OÖTon). All diese Formen basieren auf Ergebnissen einer systematischen dialektologischen Forschung, die meistens mit sogenannten »Fragebüchern« durchgeführt wird, um bestimmte Phänomene ganz gezielt zu erheben. Auf diese Weise können Unterschiede innerhalb eines Ortes (z. B. nach Alter) oder einer Region (nach Orten) erfasst werden. Neuerdings werden auch Dialekt-Apps angeboten, mit denen man sich unmittelbar an Erhebungen beteiligen und Dialektvarianten in Aussprache, Grammatik und Lexik einsprechen oder eintippen und anschließend auf Karten mit anderen Ergebnissen vergleichen kann, zum Beispiel OeDA (Wenker 2.0 – Paris Lodron Universität Salzburg; plus.ac.at, 15.6.2024). Gerade die Online-Angebote richten sich oft an einen breiteren Leser:innenkreis, so dass die Beschreibungen der Phänomene und teilweise auch das dialektologische Vorgehen auch für Schüler:innen gut nachvollziehbar sind.

1.3 Was ist Standardsprache?

Die Frage, was denn Standardsprache sei, lässt sich nicht einfach beantworten und die Diskussionen um die Rolle der Variation innerhalb der Standardsprache bzw. in Abgrenzung zu anderen Varietäten, besonders auch unter Einbezug des gesamten deutschen Sprachraums, ist ebenso umfangreich wie kontrovers. Wie schwierig es ist, darauf Antworten zu finden, sei anhand des Modells von Naomi Shafer (2018) dargelegt, auf das ich hier zurückgreifen möchte, da es die grundlegenden Probleme sehr anschaulich macht. Shafer (2018, S. 246) stellt in ihrem »Regionationalen 3D-Modell diatopischer Variation im DACH-Raum« das Verhältnis der Standard- und Dialektvarietäten in den drei großen deutschsprachigen Ländern als Tetraeder dar. Je eine Seitenfläche steht für eines der Länder, wobei die Verbindung zu den beiden anderen Ländern durch die Kanten, aber auch im Inneren des Tetraeders gegeben ist (vgl. Abb. 2). An der Spitze befindet sich eine konstruierte Standardsprache, die klar von den anderen Varietäten abgegrenzt ist. Darunter liegen nationale Standardvarietäten und regionale Standards, ganz unten die Dialekte und dazwischen ein Bereich der Umgangs-, Alltags oder Regionalsprachen, die allesamt nicht klar voneinander abgegrenzt sind. Dieses Modell hat den Vorteil, dass es alle drei nationalen Varietäten als gleichberechtigte Flächen des Tetraeders darstellt und alle drei auch Berührungspunkte miteinander haben. Je nachdem, wie der Tetraeder gedreht ist, nimmt man eine der Varietäten vordergründig wahr und blickt gleichsam von dort aus auf die anderen. Dieses Modell hat allerdings auch zwei Nachteile: Zum einen räumt es den Nationen als Bezugspunkte der Betrachtung einen sehr hohen Stellenwert ein, denn auch wenn es die Verbindungen im Inneren der Figur gibt, nimmt man sie vorrangig über ihre Außenfläche – die klar begrenzten Flächen und geraden Kanten – wahr. Für eine erste Annäherung jedoch kann dieses Modell, das aus dem Bereich DaF/DaZ kommt, hilfreich sein.

Abb. 2: Das regionationale 3D-Modell diatopischer Variation im DACH-Raum, eigene Darstellung nach Shafer (2018, S. 246)

Zum zweiten verfügt es lediglich über eine einzige Spitze, die »konstruierte« Standardsprache, die in einem letztlich unklaren Verhältnis zur nationalen Standardvariation steht, zu der aber ebenfalls alle drei Seiten des Tetraeders beitragen (Abb. 2).

Shafer (2018) bezeichnet die deutsche Standardsprache als »Konstrukt«, da sie so, wie sie kodifiziert (Aussprache, Lexikon, Morphosyntax) und zum Teil normiert (Orthographie) ist, in der Realität der Sprecher:innen vor allem in der spontanen gesprochenen Sprache nicht auftritt. Das bedeutet, dass alle nicht professionell ausgebildeten Sprecher:innen sich nicht als Sprecher:innen der deutschen Standardsprache bezeichnen könnten. Dieser Befund hat u. a. dazu geführt, dass zunehmend von »Gebrauchsstandards« gesprochen wird (was zum Teil der nationalen Standardvariation bei Shafer entspricht), die die Vorleseaussprache von nicht für Sprechberufe ausgebildeten (jungen) Menschen mit einem guten, aber nicht dem höchsten Bildungsniveau (Matura/Abitur/Matur) repräsentiert (zum »Deutsch heute«-Korpus vgl. Kleiner 2011). Allerdings ist auch ein solches Konzept nicht ganz ohne Schwierigkeiten: Die Definition des Gebrauchsstandards von Berend als »geographisch definierte Varietäten- und Sprachgebrauchsmuster […], die im jeweiligen regionalen Kontext ein entsprechend hohes Prestige tragen und die sowohl im informellen als auch im formellen Sprachgebrauch angemessen sind und akzeptiert werden« (Berend 2005, S. 143; zit. nach Buchner/Fuchs/Elspaß 2022, S. 60), liegt dem Variantenwörterbuch und auch der Variantengrammatik zugrunde (ebd.). Letztlich geht sie aber davon aus, dass beispielsweise in der Schule in allen deutschsprachigen Ländern (nur) der Gebrauchsstandard als angemessen und akzeptiert gelten würde. Untersuchungen zeigen, dass das zumindest in der Praxis offenbar nicht unbedingt der Fall ist.

In Österreich wird die Standardvarietät aus einer plurizentrischen Perspektive als österreichisches Deutsch bezeichnet (de Cillia/Ransmayr 2019), aus einer pluriarealen Perspektive heraus als Deutsch in Österreich (Koppensteiner/Lenz 2020, S. 74), je nachdem, ob der Fokus auf die nationalen Grenzen und die entsprechenden Kodices (z. B. Österreichisches Wörterbuch) gelegt wird oder aber darauf, dass viele standardsprachliche Varianten in Aussprache, Lexik und Morphosyntax nicht entlang der nationalen Grenzen unterschieden werden können und entweder nicht in ganz Österreich (Sessel, Paradeiser, Erdäpfel) oder aber zum Beispiel im gesamten süddeutschen Raum als uneingeschränkt und unmarkiert standardsprachlich gelten (z. B. die Perfektbildung mit sein für die Positionsverben stehen, sitzen, liegen).3 Für beide Positionen wird jeweils argumentiert, dass sie auch aus der Perspektive von Sprachteilnehmer:innen Gültigkeit haben. Die Diskussion ist hier noch fortzuführen und zu vertiefen.

Die Bezeichnung »regionale Standards« wird verwendet, um Varianten innerhalb einer nationalen Standardvarietät zu bezeichnen. Im Variantenwörterbuch beispielsweise werden für Österreich vier Regionen ausgewiesen (Ost, Südost, Mitte, West), für Deutschland sechs (Ammon/Bickel/Lenz 2016, S. LXIII, LIII). Während sich für den standardsprachlichen Wortschatz eine zunehmende Konvergenz zu ergeben scheint, wobei sich Lexeme nicht nur vom Norden in den Süden des deutschen Sprachraums, sondern auch umgekehrt verbreiten (Schmidlin 2022, S. 104), zeigt die Aussprache aufgrund der staatlichen Rundfunkeinrichtungen nach wie vor eine starke Variation in der Standardsprache (ebd., S. 107).4

Als Nachschlagewerke für die Variation im Standard im gesamten deutschsprachigen Raum sind u. a. der Ausspracheduden in seiner aktuellen Auflage (Kleiner/Knöbl 2023), das Variantenwörterbuch (Ammon/Bickel/Lenz 2016) und die Variantengrammatik (Dürscheid/Elspaß/Ziegler 2018) zu nennen.

1.4 Das »Dazwischen«: Umgangssprache/Alltagssprache/Regionalsprache/Regiolekt

Zwischen den beiden Polen Dialekt und Standard gibt es einen »intermediären Bereich«, soweit geht laut Niebaum/Macha (1999, S. 7) der Minimalkonsens in der Forschung. Zwar wird dieser Bereich als »ausgesprochen kommunikationsrelevant« angesehen, aber seine Modellierung gilt als schwierig. Ender/Kaiser (2021, S. 396) sind der Meinung, dass es »alles andere als klar [ist], ob Laien über den Terminus verfügen und welches Konzept sie damit verbinden«.

Dass es ein Dazwischen gibt, ist in den meisten deutschsprachigen Regionen deutlich, man geht nicht von einer Zweiteilung in Dialekt und Standardsprache (= Diglossie) aus, wie sie zum Beispiel in der Schweiz gilt,5 sondern von einem fließenden Übergangsbereich, einem Dialekt-Standard-Kontinuum (DSK) (= Diaglossie), in dem Personen flexibel shiften können, wobei solche Verschiebungen des Dialektalisierungsgrades funktional sein können (Auer 1986, S. 119).

Während Auer (1986, S. 99) es ablehnt, von »Umgangssprache« zu sprechen, weil ein solcher Terminus zumindest eine klar definierte Stufe zwischen Dialekt und Standard voraussetzt bzw. suggeriert, gibt es viele andere Vorschläge für Abstufungen, die auch jeweils nicht nur unterschiedliche Termini, sondern auch eine unterschiedliche Zahl an Stufen annehmen (vgl. z. B. Dannerer 2019, S. 123). Für Österreich hat Wiesinger versucht, Beispiele für Abstufungen zwischen Standardsprache und Dialekt auszuformulieren – er benennt sie als Basisdialekt, Verkehrsdialekt, Umgangssprache, Standardsprache –, indem er den Satz »Mein Bruder kommt heute Abend nach Hause« für einen Ort im Weinviertel entsprechend »realisiert« (z. B. Wiesinger 2014, S. 76–84). Hier sei eine Umschrift von Wiesingers Beispielen mit dem herkömmlichen Alphabet versucht:

Basisdialekt:

Haid af d’Nocht kimmt mei Bruida hoam.

Verkehrsdialekt:

Hait auf d’Nocht kummt mei Bruada ha:m.

Umgangssprache:

Heut O:md kommt mei Bruda z’Haus.

Standardsprache:

Heut A:md kommt mein Bruda nach_Haus.

Lesesprache:

Heute Abend kommt mein Bruda nach Hause.

Ein solches Vorgehen ist in gewisser Weise attraktiv, um einen Orientierungsrahmen zu bieten, es stellt allerdings eine konstruierte Varietät dar. In empirischen Analysen von Sprachgebrauch kann hingegen nachgewiesen werden, welche Merkmale von Dialekt oder Umgangssprache tatsächlich kookkurieren, denn unterschiedliche Merkmale wie Elision (heut < heute) oder Diphthongierung (bruida, bruada < Bruder), Monophthongierung (ha:m < heim), l-Vokalisierung (in diesen Beispielen nicht, aber z. B. woin < wollen) können nicht beliebig kombiniert werden (zu Kookkurrenzrestriktionen vgl. bereits Auer 1986, S. 105–111 oder auch Vergeiner 2019), so dass es zum Beispiel nicht »hoam gekommen« heißen kann.

Insgesamt gilt für alle Ebenen, dass eine klare Abgrenzung schwierig und im Detail wohl unmöglich ist. Besonders auffallende (saliente) Merkmale in Aussprache oder Lexik führen zum Beispiel leicht dazu, dass Äußerungen als dialektal bezeichnet werden, auch wenn es sich noch um Variation im Standard handelt. Dass die Abgrenzung selbst für die Autor:innen von Wörterbüchern nicht immer einfach ist, belegt zum Beispiel die »berühmte« 35. Auflage des Österreichischen Wörterbuchs (1979), der vielfach vorgeworfen wurde, Lexeme aus der Umgangssprache oder auch dialektale Wörter ungekennzeichnet in den standardsprachlichen Bestand aufgenommen zu haben (Wiesinger 2014, S. 234).

Für die Dokumentation von Alltagssprache bzw. der regionalen Variation in der Alltagssprache wird inzwischen häufig der Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) (Elspaß/Möller 2023 ff.) herangezogen, der online Belege aus dem gesamten deutschen Sprachraum sammelt, auswertet und die Ergebnisse in Karten dokumentiert und in kurzen begleitenden Texten erläutert. Neben Lexik werden Aussprache, Morphosyntax und Pragmatik erhoben. Auch der AdA versammelt Beispiele, die stärker Richtung Dialekt gehen (z. B. Varianten von »hab ich«; atlas-alltagssprache, 2.6.2024) oder aber Variation im Standard (z. B. Tomate/Paradeiser) darstellen.

2. Verwendung, Funktionen und Erwerb von innerer Mehrsprachigkeit

Die Frage »wer spricht wann was mit wem und warum«, d.h. die Verwendung unterschiedlicher Varietäten, hängt von der Varietätenkompetenz der jeweiligen Gesprächsteilnehmer:innen ab, aber auch von Region, Institution, Situation und Thema und der sozialen Beziehung zwischen den Sprecher:innen. Varietätenverwendung wird interaktional ausgehandelt, sie unterliegt aber auch gesellschaftlichen Normen.

Die Varietätenkompetenz gilt insgesamt als im Süden des deutschsprachigen Raumes (noch) höher ausgeprägt als im Norden, wobei zu unterscheiden ist, ob solche Darstellungen auf Selbsteinschätzungen oder auf Ergebnissen von Tests beruhen. Insgesamt ist sie aber in allen Regionen in Veränderung bzw. als rückläufig zu sehen (vgl. Lameli i. Dr.). Ob Personen zwischen Varietäten switchen (d.h. gleichsam Hin- und Herschalten), shiften (d. h. sich graduell in die eine oder andere Richtung bewegen) oder aber keine Variation in ihren Sprechlagen zeigen, hängt nicht nur davon ab, ob sie über Varietätenkompetenz verfügen,6 sondern auch davon, wie sich das Varietätengefüge darstellt, das heißt, ob es ein »Dazwischen« gibt und ob es auch sozial anerkannt ist.7

In ein und derselben Institution (z. B. Schule oder Universität) kann die Verwendung von Varietäten in einer Region erlaubt, in der anderen verpönt sein, wobei es sich um Stadt-Land-Differenzen, regionale Differenzen, aber auch um institutionell unterschiedliche Vorgaben handeln kann. So etwa wird immer wieder festgehalten, dass der Standardgebrauch in den Schulen in Südtirol viel konsequenter eingefordert wird als beispielsweise in Österreich (vgl. Glück/Leonardi/Riehl 2019, S. 266 f.).

Die soziale Bedeutung der Verwendung von Varietäten im Dialekt-Standard-Kontinuum ist äußerst vielfältig. Ein Switchen oder Shiften von der Standardsprache in Richtung Dialekt kann in unterschiedlichen Kontexten vielfältig eingesetzt werden. In Interviews, gerade von politisch Tätigen, wird es häufig als Markierung von »Bürgernähe« eingesetzt, in Werbung und Verkauf kann es vertrauensbildend wirken (z. B. Heblich/Lameli/Riener 2015) und im Tourismus eine Authentifizierung der Destination darstellen (Dannerer 2022; Niehaus 2022). Für den Varietätengebrauch in der Schule ist häufig beschrieben worden, dass Lehrkräfte mit dem Shiften oder auch einem Switch unterschiedliche Personen adressieren oder auch verschiedene Situationen im Unterricht differenzieren können, zum Beispiel Vermittlung von Fachwissen in der Standardsprache, Disziplinäres im Dialekt (vgl. z. B. Hochholzer 2004; Knöbl 2012; de Cillia/Ransmayr 2019; Vergeiner u. a. 2019; Dannerer u. a. 2021, S. 51–68; Buchner/Fuchs/Elspaß 2022). Schließlich kann über die Varietätenverwendung auch Zugehörigkeit ausgedrückt und ausgehandelt werden (vgl. Dannerer u. a. 2021, S. 69–73; Dannerer/Esterl 2023, S. 5). Das kann auch mit ein Grund dafür sein, dass Personen, die Deutsch nicht als Erstsprache sprechen, die Verwendung von Nonstandardvarietäten für sich ablehnen, eine Ablehnung, die aber auch aus der Einstellung zur Variation in den Erstsprachen übertragen werden kann (Dannerer 2023a; Ender i. Dr.), oder umgekehrt, dass sie es für sich als selbstverständlich reklamieren, lokale Dialekte zu sprechen, es dabei aber auch immer wieder erleben müssen, als »Non-Natives« bzw. als »nicht-zugehörig« zurückgewiesen zu werden (Khakpour 2016; Perner 2020).

Die Frage, wer ausgehend von einer Zweitsprache Deutsch Dialekt sprechen »darf«, von wem er erwartet wird und wann und wie er erworben werden sollte, ist erst in jüngerer Zeit in den Fokus der Forschung geraten. Wenn Dialekt Teil der (interaktionalen) Primärsozialisation in dialektsprechenden Familien ist,8 geht man in der Regel von einem Spracherwerb beginnend beim Dialekt aus und von einer erst sekundären Aneignung von Standardsprache. Bei Sprecher:innen mit anderen Erstsprachen als Deutsch wird hingegen in formellen Erwerbskontexten in einem DaF- oder DaZ-Kurs, aber auch in Sprachförderklassen, zumeist davon ausgegangen, dass zuerst die Standardsprache erworben wird, danach erst (rezeptive) Kompetenzen von Nonstandardvarietäten (so auch die Darstellungen im GERS; vgl. Dannerer 2023b). Der Ausbau einer (rezeptiven) Varietätenkompetenz und vor allem einer Kompetenz der situationsangemessenen Varietätenverwendung ist eine Aufgabe, die je nach Kontaktintensität und Varietätenverwendung in der Peergroup sehr unterschiedlich (rasch) verläuft.

3. Fazit

Wenn Varietäten in Österreich im Alltag nach wie vor eine große Rolle spielen, bedeutet das nicht, dass es nicht – wie in anderen Regionen auch – ständig Veränderungen gibt: in der Ausprägung der Varietäten, durch Einflüsse anderer Varietäten und Sprachen und in ihrer Verbreitung und sozialen Funktion. Damit ist das sprachliche Repertoire in permanentem Wandel. »Tiefer« Dialekt geht verloren oder wird als »unpassend« erachtet, Standardvarietäten werden als »affektiert« oder »unauthentisch« abgelehnt oder aber (z. B. durch mediale Einflüsse) ganz selbstverständlich verwendet. Dialekt wird in sozialen Medien mehr denn je verschriftlicht, in Filmen und Synchronisierungen sowie in der mündlichen Kommunikation bewusst verwendet.

Die innere Mehrsprachigkeit in ihren vielfältigen Formen und Funktionen und in ihrer hohen Entwicklungsdynamik ist ein lohnendes Objekt für eine genauere Betrachtung im Deutschunterricht, für kleine Rechercheaufgabe im unmittelbaren sozialen Umfeld oder auch in den Medien.

Literatur

AMMON, ULRICH; BICKEL, HANS; LENZ, ALEXANDRA (2016): Variantenwörterbuch des Deutschen: Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. Berlin-Boston: De Gruyter.

AUER, PETER (1986): Konversationelle Standard/Dialekt-Kontinua (»code-shifting«). In: Deutsche Sprache 14 (2), S. 97–124.

BEREND, NINA